34
Scherben des Glücks Ein historischer Roman über die Schwester Friedrichs des Großen Cornelia Naumann Das Leben der Wilhelmine von Bayreuth

Sutton Verlag Leseprobe: "Scherben des Glücks"

Embed Size (px)

DESCRIPTION

Wilhelmine wächst als Tochter des strengen „Soldatenkönigs“ am Hof in Berlin auf, hin und her gerissen zwischen den widerstreitenden Interessen ihrer Eltern. Die Mutter drängt auf eine Heirat mit dem englischen Kronprinzen, der Vater hat Wilhelmine dem Erbprinzen von Bayreuth versprochen. Als sich die beiden kennenlernen, verliebt sich die junge preußische Prinzessin Hals über Kopf in den charmanten Bayreuther. Zugleich hofft Wilhelmine, durch diese Heirat dem von Intrigen geprägten Berliner Hof entfliehen zu können. Die einzigen Lichtblicke in ihrem bisherigen Leben sind ihr Bruder Friedrich, mit dem die leidenschaftliche Komponistin die Liebe zu Musik und Philosophie teilt, und ihre Hofmeisterin Fräulein von Sonsfeld, genannt Sonsine. Voller Hoffnung machen sich die jungen Frauen auf den Weg ins ferne Bayreuth.

Citation preview

Page 1: Sutton Verlag Leseprobe: "Scherben des Glücks"

Scherben des Glücks

Ein historischer Roman über die Schwester Friedrichs des Großen

Cornelia Naumann

Das Leben der Wilhelmine

von Bayreuth

Page 2: Sutton Verlag Leseprobe: "Scherben des Glücks"
Page 3: Sutton Verlag Leseprobe: "Scherben des Glücks"

Scherben des Glücks

Ein historischer Roman

Cornelia Naumann

Das Leben der Wilhelmine von Bayreuth

Page 4: Sutton Verlag Leseprobe: "Scherben des Glücks"

Sutton Verlag GmbHHochheimer Straße 59

99094 Erfurthttp//:www.suttonverlag.de

Copyright © Sutton Verlag, 2009

Buch: 978-3-86680-460-9E-Book: 978-3-86680-771-6

Titelbild: unter Verwendung eines Gemäldes von Jean-Étienne Liotard (1702–1789)

Gestaltung: Markus Drapatz

Page 5: Sutton Verlag Leseprobe: "Scherben des Glücks"

Inhalt

Prolog Spiegelscherbe 7

Teil I: Berlin 1731 9

Teil II: Die Reise 1732 121

Teil III: Baireuth 1734–1754 175

Spiegelscherbe Epilog 426

Danksagung 429

Page 6: Sutton Verlag Leseprobe: "Scherben des Glücks"

„Wir geben zuviel Geld für Kriege aus. Es wäre besser, wenn wir mehr Opern aufführen würden.“ LucianoPavarotti(1935–2007)

Page 7: Sutton Verlag Leseprobe: "Scherben des Glücks"

Prolog SpiegelscherbeSie wusste nicht, ob sie von ihren Schmerzen oder vom Mond erwachte, der als silberne Scheibe am Himmel stand und eine breite Bahn weißen Lichtes in ihr Schlafzimmer warf. Einen Moment blieb sie benommen liegen und starrte in dieses Licht, das den weißen Damast ihres Bettes in ein fahles Blau tauchte. Ein Leichentuch, dachte sie erschrocken, ich liege bereits unter meinem Leichentuch. Die weißen Nächte bringen den Tod – wer hatte das gesagt? So ein alberner Aberglaube. Es ist doch nur Vollmond.

Sie versuchte sich aufzurichten. Ihr geschwollener Körper, ihre durchlöcherten, mit Wasser gefüllten Lungen wehrten sich rasselnd. Aber sie gab nicht auf, bis sie sich mit einer kleinen schmerzhaften Drehung in den Rollstuhl sacken lassen konnte, der neben ihrem Bett stand. Gestern hatte sie die Lager ölen lassen, sie wollte nie-manden aufwecken, wenn sie in der Nacht durch die Gemächer ihres Schlosses fuhr, schlaflos vor Schmerz. Sie brachte die wider-spenstigen Räder dazu, sich unter ihren sehnigen, mager gewordenen Händen zu drehen. Lautlos setzte sich der Rollstuhl in Bewegung. Der Schmerz brachte sie fast um die Besinnung, aber sie musste in ihr geliebtes chinesisches Spiegelscherbenkabinett. Sie spürte, dass etwas geschehen war.

Ich bin Wilhelmine, dachte sie, Wilhelmine, Prinzessin von Preußen, Königstochter und Markgräfin von einem Misthaufen, der sich Baireuth nennt. Ich gehe in mein fünfzigstes Lebensjahr und ich werde sterben. In dieser letzten weißen Nacht werde ich sterben und vorher muss ich noch mit meinem Bruder ins Reine kommen. Er begeht Unrecht, nur ich kann ihn davon abhalten, und Voltaire muss mir helfen. Preußen ist in Gefahr, mutwillig hat es der König in Gefahr gebracht, er muss Frieden schließen. Bevor nicht Frieden ist, darf ich nicht aus dieser Welt scheiden.

Es knirschte, sie schreckte zusammen. Sie war über eine Schne-cke gefahren. Nun kriechen diese schleimigen Biester also schon bis

7

Page 8: Sutton Verlag Leseprobe: "Scherben des Glücks"

ins Schloss. Der Ekel ließ ihren Körper erschaudern. Die Tür zum Musikzimmer war offen. Mühsam rollte sie ans Cembalo. Es stand aufgeschlagen da, das tat ihm nicht gut. Aber würde sie sterben, wer sollte darauf noch spielen? Zart berührte sie die beiden Manuale. Mon orage pièce, flüsterte sie, mein liebes Gewitterteil, funkele für mich! Als hätte der Mond sie erhört, schickte er einen Strahl hinein, der die Einlegearbeit aus Perlmutt silbern aufblitzen ließ. Wilhelmine lächelte und berührte das Manual. Sie konnte es nicht mehr ziehen. Verächtlich betrachtete sie die gemalte Schäferszene auf dem hoch-geklappten Flügel. Heitere Menschen, die in einer sanft-welligen Landschaft unter Bäumen promenierten. Alles Lüge, dachte sie, alles Illusion. Es gibt keine Idylle und keinen Parnass, es gibt nur Schlech-tigkeit, Untreue und Lüge in der Welt. Nichts als Verachtung hatte sie dafür übrig. Ihre Pilgerreise hatte längst darüber hinaus geführt, sie war auf dem Weg zur Wahrheit – und der führte über die Einsamkeit des Herzens.

Sie schloss die Augen und spielte die Cavatine ihrer letzten Oper. Ihr Atem rasselte, kaum wollten die Hände gehorchen. L’Uomo, dachte sie, der Mensch. Frei muss er sein von all diesen schrecklichen Trieben, die unser Leben beherrschen und in grausame Bahnen len-ken. Dieses Thema musste sie in Moll ausführen. Einzugsmarsch für meinen Sarg, dachte sie, das geliebte Fis für den schwarzen Marmor, einen zarten Akkord für meinen lächerlichen, ausgezehrten Körper, den der Marmor wie eine kalte Grotte einschließen wird. Duster klang die Tonfolge auf dem Cembalo.

Notieren Sie, befahl sie, notieren Sie, Pfeiffer! Sie setzte ihr kleines, sardonisches Lächeln auf, jene Mischung aus Schurkerei und Intelligenz, für die sie immer als hochmütig verschrien worden war. Meine Opern müssen feiner ausgeführt werden, die Konzerte brau-chen einen neuen Schliff, sie sind zu brav, wir müssen alles sortieren, Pfeiffer, und binden lassen, keiner weiß mehr, welche Noten von mir sind. Notieren Sie, Pfeiffer, ich kann meine Zeit nicht mit Sterben verplempern, ich muss Unsterbliches hinterlassen.

8

Page 9: Sutton Verlag Leseprobe: "Scherben des Glücks"

Teil i

Berlin 1731

Page 10: Sutton Verlag Leseprobe: "Scherben des Glücks"

Am 23. Oktober 1721 wurde Dorothea Freiin von Wittenhorst-Sons-feld zur Hofmeisterin der kleinen Prinzessin von Preußen ernannt, und heute, zehn Jahre später, am 11. Mai 1731, sollte sie öffentlich an allen Straßenecken Berlins ausgepeitscht werden.

Dorothea von Sonsfeld hatte den Tisch im Vorraum des Gemaches der Prinzessin Wilhelmine im Berliner Stadtschloss vorbereitet. Mit einem kritischen Blick auf die Damasttischdecke und das schwere Silberbesteck setzte sie sich auf einen der zierlichen Sessel und war-tete auf das Frühstück. Ihr Blick fiel auf das türhohe Fenster, das in sechzehn große Quadrate gegliedert war, aber dennoch nur einen Ausblick auf die schwarzen Fensterlöcher der gegenüberliegenden Schlossseite bot. Kein Stück Himmel war zu sehen.

Eines der oberen Fensterquadrate war gesprungen. Seit Jahren hätte sie den Sprung sehen können, doch erst seit die Gemächer zu ihrem Gefängnis geworden waren, hatte sie jeden Tag Zeit ihn zu betrachten. Ein alter Sprung eines alten Fensters in einem alten hässlichen Schloss, dachte sie. Die Dienstmägde hatten das gesprungene Fensterquadrat nie richtig geputzt, vielleicht aus Angst sich zu schneiden, wahrschein-lich aber, weil sie fürchteten, das Fenster zu zerbrechen oder auch nur den Putzlumpen an der scharfen Kante zu zerreißen. Selbst Letzteres hätte der knauserige Hausherr unerbittlich bestraft. Geizig ist er, dachte sie, geizig und hartherzig. Ein altes, düsteres Haus, das einem alten, bösen Mann gehört. Wie konnte ein Vater sein Kind monatelang einsperren? Die ungerechte Behandlung der Prinzessin versetzte das Fräulein Dorothea von Sonsfeld – sie hatte nie geheiratet – in Zorn. Sie wusste, dass der König nicht spaßte. Niemals.

Es klopfte. Der königliche Kammerdiener Eversmann steckte sein abscheuliches Gesicht durch die Türöffnung. Das charakterlose Fak-totum des alten bösen Mannes, dachte die Hofmeisterin.

„Ich wünsche untertänigst einen Guten Morgen. Oh, Hoch-wohlgeboren haben sich umsonst um das Frühstück der Prinzessin bemüht“, sagte er, während seine unangenehm kleinen Augen den Raum durchsuchten. Wie ein Wiesel, überlegte die Hofmeisterin. Nein, schlimmer, wie eine Ratte, die aus ihrem Loch gekrochen ist.

„Gibt es heute nicht mal Frühstück?“, fragte sie Eversmann sar-kastisch. Nach all den Widerwärtigkeiten, welche man der Prinzessin

10

Page 11: Sutton Verlag Leseprobe: "Scherben des Glücks"

und ihr in den letzten Monaten vorgesetzt hatte, hätte sie das nicht weiter erstaunt. Gestern hatte es zum Mittagessen verdorbenen Hering gegeben.

„Aber ganz im Gegenteil, Durchlauchtigste! Ich habe Order vom König, Sie nach vorn in die königlichen Gemächer zu führen.“

Noch im Morgengewand kam Wilhelmine aus ihrem Schlafzim-mer. Offenbar hatte sie sich eilig allein frisiert und Puder aufgelegt. Die Hofmeisterin betrachtete ihren Schützling mit einer Mischung aus Stolz und Besorgnis und lächelte nachsichtig. In Gegenwart des königlichen Kammerdieners hätte sie ihr Morgenhabillée anlegen müssen. Aber das Fräulein konnte verstehen, dass sich die Prinzessin dem umständlichen und schmerzhaften Korsett verweigerte. Seit Beginn ihrer Gefangenschaft hatte es auch keinen offiziellen Anlass mehr gegeben, der korrekte Kleidung erfordert hätte. Außerdem sah sie in dem cremefarbenen, seidenen Morgengewand mit weit geschnittenen Ärmeln sehr vornehm aus. Das Gewand mit Schleifen an der lang gezogenen, spitz zulaufenden Taille erweckte den Ein-druck, die Prinzessin sei tatsächlich geschnürt.

Unter dem Gewand aber war sie abgemagert, auch ihre Haut war für ihr Alter zu welk und trotz des reichlich aufgetragenen Rouges blass. Es war nicht Wilhelmines Schuld, mit einundzwanzig Jahren noch immer nicht verheiratet zu sein. Zu lang zieht sich das Prozedere schon hin und schuld allein ist das elterliche Gezänk, dachte das Fräulein. Die Prinzessin drohte zwischen den Befehlen eines bösen Haustyrannen und einer Mutter, die ihre Tochter auf-grund angsterfüllter Intrigen gegen den Vater ausspielt, zerrissen zu werden.

Eversmann verbeugte sich – nicht tief genug, wie das Fräulein missbilligend feststellte. Vermutlich war er der Meinung, eine gefan-gene, nicht in der königlichen Gunst stehende Prinzessin habe nur eine halbe Verbeugung verdient.

„Guten Morgen, Königliche Hoheit, wünschen wohl geruht zu haben.“

„Danke, Eversmann. Was gibt es?“, fragte Wilhelmine kurz. Ihre Haltung ist königlich, frohlockte die Hofmeisterin, für die

mangelhafte Verbeugung hat sie ihn abgestraft, indem sie ihm keinen Guten Morgen wünscht. Wenn sie nur korrekt gekleidet wäre!

11

Page 12: Sutton Verlag Leseprobe: "Scherben des Glücks"

„Der König wünscht, dass Sie Ihr Frühstück heute in den könig-lichen Gemächern an der Vorderseite einnehmen. In Begleitung von Fräulein von Sonsfeld selbstverständlich.“

Die Prinzessin und ihre langjährige Hofmeisterin sahen sich lang an. Was hatte das zu bedeuten? War das Ende der Gefangenschaft zu erhoffen?

„Der König hat Croissants und Schokolade befohlen. Sie möch-ten die vordere Aussicht zur Allee unter den Linden genießen. Ich bitte untertänigst, mir bitte folgen zu wollen …“

Nein, wollte das Fräulein rufen, die Prinzessin muss für einen solchen Anlass erst angekleidet werden!

Wilhelmine aber dachte nur: Schokolade! Croissants! Dass es das noch gibt. Der König hat mir verziehen. Mein Vater liebt mich wieder!

In ihrer freudigen Überraschung schenkte sie sogar dem ver-hassten Eversmann ein Lächeln. Dieser öffnete die Tür weit und prallte auf die Mermann, Wilhelmines Amme, die ihre Schutzbefoh-lene nie verlassen hatte und inzwischen an die sechzig Jahre zählte. Anna Mermann war Nachfahrin einer im Dreißigjährigen Krieg von marodierenden Soldaten vergewaltigten, mecklenburgischen Bauerntochter, die bei ausgeplünderten Brandenburger Bauern eine neue Heimat gefunden hatte und nach überstandenen Schrecken ihre Kinder zu starken und selbstbewussten Menschen erzogen hatte. Sie stemmte ihre Hände in die füllige Leibesmitte und fragte in unver-kennbarem Berlinerisch: „Und wie isse, die Schokolade für meen Prinzesschen?“

Ratlos starrte der Kammerdiener die Amme, die heimlich gelauscht hatte und daraus nicht mal einen Hehl machte, an. Wil-helmine konnte ein Kichern nicht unterdrücken. Die Hofmeisterin übersetzte süffisant: „Für die Frage einer besorgten Amme müssen Sie Verständnis haben, Herr Eversmann. Sie möchte wissen, wie die Schokolade zubereitet ist.“

Eversmann wandte sich zur Amme: „Mit Milch, Frau Mermann, selbstverständlich mit Kuhmilch! Und die Croissants mit guter But-ter, alles ganz frisch. Wie immer.“

Mit einem letzten, unwilligen Blick auf Eversmanns schlechte Haut gab die Amme den Weg frei, ging zu Wilhelmine und tätschelte

12

Page 13: Sutton Verlag Leseprobe: "Scherben des Glücks"

ihr die Wange. „Siehste Kleene, nu’ wird et wieder. Der Herr Papa zeigt Güte, wa?“

Die Hofmeisterin blieb skeptisch. Wilhelmine, die ihre Amme zärtlich liebte, nickte jedoch eifrig. Endlich durfte sie diese Gemächer verlassen, die seit fast einem Jahr ihr Gefängnis waren. Und nun gleich zum Dejeuner in die königlichen Gemächer, welch Auszeich-nung! Ihre Wangen röteten sich, ihre Bewegungen wurden lebhaft, ja sie verspürte sogar Appetit.

Mit schnellen Schritten ging Eversmann voran. Wilhelmine bemühte sich ihm zu folgen und erkundigte sich nach dem Befinden ihres Vaters. Sie brachte den Kammerdiener damit in eine schwierige Situ-ation. Die Etikette erforderte, dass er die Hoheiten ansah, wenn er mit ihnen sprach. Wilhelmine Worte aber prallten auf seinen Rücken. So musste er sich umdrehen und bemühte sich krampfhaft, im Rück-wärtsgang seine steife Würde zu bewahren: „Nicht sehr gut, Euer Hoheit. Die Gicht plagte Seine Majestät heute Nacht.“

Wilhelmine bat, dem König Genesungswünsche zu bestellen: „Verbinden Sie dies mit der Bitte einer liebenden Tochter, mit meinem geliebten Papa am Samstag wieder gemeinsam das Abend-mahl einnehmen zu dürfen, denn ich habe seit Monaten nicht kom-muniziert.“

Eversmann, der noch immer rückwärts laufend den Weg suchte, versprach, sich für die Bitte zu verwenden und drehte sich erleichtert wieder um. Wilhelmine grinste ihre Hofmeisterin an, ein kurzes, schurkisches Lächeln. Für einen Augenblick sah sie ihrem Vater verblüffend ähnlich. Genau dieses Grinsen hatte der knapp vierzehn-jährige Friedrich Wilhelm aufgesetzt, nachdem er seinen Pagen die Kellertreppe hinuntergestoßen hatte. Wilhelmine tänzelte den Gang entlang wie ein Pferd, das nach einem langen Winter wieder auf die Weide darf. Gebe Gott, dass ihre Hoffnungen berechtigt sind und der König endlich ein Einsehen hat, betete die Hofmeisterin, und dass er seine Tochter wieder hinaus unter die Menschen lässt, wo sie hingehört.

Missbilligend bemerkte sie, dass Wilhelmine ihr Morgengewand mit einer Hand zusammengerafft hatte und die Schleppe hinter ihr Wolken von Staub und Unrat aufwirbelte. Die empfindliche, helle

13

Page 14: Sutton Verlag Leseprobe: "Scherben des Glücks"

Seide war mit Sicherheit ruiniert. Das Fräulein hasste die endlosen und düsteren Gänge des Stadtschlosses, das die Spreepiraten von Brandenburg erbaut hatten, nachdem sie die Freie Hansestadt Ber-lin erobert hatten. „Mehr Schein als Sein!“ hieß seit Jahrhunderten die Devise, und so hatten die prunkliebenden Kurfürsten an ihren mittelalterlichen Turm, den „Grünen Hut“, immer wieder etwas anbauen lassen – hier einen Damentrakt, dort einen Festsaal, daneben einen Lustgartenflügel …

Mit Erlangung der Königswürde hatte Wilhelmines Großva-ter, Friedrich I., Prunkportale von gigantischen Ausmaßen vor die Einfahrten setzen lassen. Sogar den Bau eines Münzturmes hatte man begonnen, gleichwohl der im märkischen Treibsand wieder umgestürzt war. Dann wurde Friedrich Wilhelm König. In seiner soldatischen Sparsamkeit stellte er alle Arbeiten von einem Tag auf den anderen ein. Übrig blieb ein riesiges, unvollendetes Schloss, außen voll mit kaltem Prunk, innen verwahrlost noch vor seiner Vollendung, dazu feucht, zugig und nicht beheizbar. „Außen hui, innen pfui!“, pflegte die Mermann zu sagen. Mit ihrer Ansicht, die beiden Prinzen, Wilhelmines Brüder, hätten die ersten Tage nach ihrer Geburt nicht überlebt, weil es zwischen den Schlossmauern zu kalt und zu feucht war, hielt sie in diesem Zusammenhang nicht hinter dem Berg.

Königin Charlotte, die erste Herrin des Fräuleins und Mutter von König Friedrich Wilhelm I., hatte den Bau ebenfalls gehasst. Nach ihren Entwürfen baute man die heitere, lichtdurchflutete Lietzen-burg, die später nach ihr Charlottenburg genannt wurde. Ach, war das ein Leben dort gewesen, sinnierte das Fräulein wehmütig, und dieser Blick in den prachtvollen Park! Und hier? Seit der geizige König das Personal um die Hälfte reduziert sowie Teile des Schlosses geschlossen oder verpachtet hatte, konnte man die heruntergekom-menen Flure und die mittlerweile achthundert Räume nicht einmal mehr sauber halten. Häuser sind wie ihre Herren, dachte sie.

„Bitte sehr, Hoheit. – Meine Damen.“ Eversmann wies auf eine hohe Tür.

Sie waren endlich in den Gemächern des Königs angekommen, die sich im dritten Stock des Nordflügels befanden. Hier wiesen

14

Page 15: Sutton Verlag Leseprobe: "Scherben des Glücks"

die Fenster nicht zum steinernen, sonnenlosen Innenhof, sondern zur Straße. Ein Tisch war in den Alkoven gestellt und mit weißem Damast gedeckt worden. Silbernes Frühstücksgeschirr spiegelte sich in der Maisonne. Stumm standen zwei Diener neben der Tür. Wil-helmine flog förmlich ans Fenster.

„Ach! Wie die Sonne scheint! Sieh mal, Sonsine, die Linden sind schon fast grün.“

Die so zärtlich Benannte betrachtete misstrauisch das fürstliche Arrangement. Sie sollten also hinausschauen dürfen. Was für ein Schauspiel wollte der König ihnen bieten?

„Menschen“, rief Wilhelmine begeistert, „und wie frühlingshaft sie angezogen sind!“

Sonsine hatte sie bereits gesehen: Frauen in Leinenkleidern mit gestärkten Hauben, Kinder in den verbotenen Holzpantinen, einige vornehme Damen und Herren, die sich in Portechaisen zu ihren Geschäften tragen ließen. Die Mermann, die schnaufend gefolgt war, sah auf die breite, von Linden gesäumte Prachtstrasse, eine Idee des großen Kurfürsten, damit sich niemand verirrte. Alle Berliner Aus-fallstraßen waren in Alleen verwandelt worden. Die Mermann sah die Hofmeisterin an und zog eine Augenbraue hoch. Da ist was im Busche, signalisierte ihr Blick.

Für einen gewöhnlichen Werktag war tatsächlich viel Volk unter-wegs. Öffentliches Leben in der rasch gewachsenen Stadt bestand sonst oft nur aus Militärparaden und Wachablösungen. Es gab Tage, an denen Berlin ausschließlich von Soldaten bevölkert war. Der König höchstselbst beförderte diesen Zustand, wenn er mit dem Stock, den er stets bei sich trug, die Frauen auf der Straße schlug und sie anherrschte, was sie in den Gassen zu suchen hätten und ob sie daheim nicht genug Arbeit hätten.

Eversmann klatschte in die Hände, zwei Diener erschienen mit einem Teewagen. Nicht die übliche Morgensuppe erwartete sie, nein, man hatte sich große Mühe gegeben, ein Petit Dejeuner nach der neuesten Mode zuzubereiten: Knusprige Schrippen und Croissants, Butter, frisches Gebäck nach holländischer Art, duftende Orangen-konfitüre, eine Kanne mit dunkelbrauner Schokolade. Auf einer sil-bernen Schale lagen neben hauchdünnen Zitronenscheibchen auf Eis ein halbes Dutzend geöffneter Austern, Wilhelmines Lieblingsspeise.

15

Page 16: Sutton Verlag Leseprobe: "Scherben des Glücks"

Die Mermann sah erst auf den voll beladenen Wagen, dann auf die korrekt livrierten Diener und knurrte: „Kiek dir det an, und de janze Zeit ham’se det Prinzesschen jefüttert wie im Dreißigjährigen Kriege, wa?“

Ihr böser Blick traf die Diener, die verlegen zu Boden blickten. Wilhelmine hob den zierlichen, hohen Schokoladenbecher und flü-sterte: „Das Lieblingsporzellan der Königin! Wie lange habe ich das nicht gesehen.“

Sogleich griff sie nach einem Löffel und kleckste sich genüsslich eine große Portion Sahne in die Schokolade. Dem Fräulein entging dabei nicht, dass dem Diener, der ihr die Schale reichte, Tränen in die Augen traten. Scharf blickte sie ihn an, er aber wich ihrem Blick aus. Er hatte Angst! Hier stimmte etwas nicht, aber was?

Endlich flohen die Diener, nur Eversmann machte keine Anstalten, das Zimmer zu verlassen. Schade, dachte Wilhelmine, ohne seine Argusaugen könnte es jetzt richtig komfortabel werden. Sie griff nach einem Croissant und biss mit Genuss in das zarte, duftende Gebäck. Mit dem Silberlöffel langte sie in die Orangenkonfitüre und bestrich damit die angebissene Seite des Croissants.

„Greif zu, Sonsine!“, ermunterte sie auch das Fräulein, das zögernd nach der Schokolade griff.

„Komm, Anna! Du bist doch sonst nicht so schüchtern!“ Sie hielt der Amme ein Croissant unter die Nase und murmelte mit vollem Mund: „Du musst endlich mal essen wie in der französischen Kolo-nie. Das ist savoir-vivre!“

„Ick bedien’ mir lieba mit ’ner Schrippe“, murmelte die Amme und tauschte einen kurzen Blick mit der Hofmeisterin.

In diesem Moment war von der Straße Trommelwirbel zu hören. Eversmann schlenderte ans Fenster und sagte wie beiläufig: „Richtig, Euer Hoheit. Ich versprach Ihnen ein Schauspiel. Hier ist es!“

Eine Auster schlürfend sah Wilhelmine zum Fenster hinaus. Zwei Trommler bogen um die Ecke des Schlosses. Ein Trupp Sol-daten in preußisch-blauen Uniformen und mit hohen Blechkappen folgte ihnen. In ihrer Mitte führten sie ein Mädchen von höchstens sechzehn Jahren, das sich kaum auf den Beinen halten konnte. Sie lief barfuß, war an den Händen gefesselt, ihre offenen, braunen Haare hingen wirr in ein Gesicht, das sicher einmal hübsch gewe-

16

Page 17: Sutton Verlag Leseprobe: "Scherben des Glücks"

sen war, nun aber vor Angst und Schmerz dunkel und verzerrt aussah. Ihr einfaches, hellblaues Leinenkleid war verschmutzt und zerrissen.

Die Soldaten zerrten das Mädchen zu dem Schandpfahl an der Ecke, zu der die Menge der Gaffer schon geströmt war, und banden es mit gefesselten Händen an einen Eisenring am Pfahl, der hoch über ihrem Kopf angebracht war. Der Offizier entrollte ein Papier und verlas mit lauter Stimme: Er tue allen kund und zu wissen, dass diese schandbare Metze namens Dorothea Ritter den Kronprinzen verführt und ihn zur Flucht verleitet habe. Wegen Unzucht mit einem Mitglied des Königshauses und gemeingefährlicher Verschwö-rung solle sie an allen Straßenecken Berlins ausgepeitscht und danach ins Spinnhaus der Festung Spandau verbracht werden, um dort zu lernen, womit sich eine achtbare preußische Jungfer zu beschäftigen habe. Damit wolle Seine Majestät, der Allergnädigste König Friedrich Wilhelm I., ein Zeichen setzen für alle verwerflichen Subjekte, jene Verschwörer, die Sympathie für den Kronprinzen und seine schänd-liche Fahnenflucht gezeigt hatten.

Die Soldaten ließen den Henker – ein zwar kurz geratener, aber kräftiger Mann, der eine neunschwänzige Katze hervorzog – durch. Mit kräftigen Schlägen drosch er auf den Rücken des Mädchens ein, während die Soldaten laut mitzählten. Noch bevor der Henker die Zahl Zwanzig erreicht hatten, brach die Unglückliche lautlos zusam-men. Sie wurde losgebunden, die Soldaten nahmen sie wieder in ihre Mitte und schleiften sie mit sich. Der Henker folgte.

Wilhelmine war kreidebleich geworden. „Sonsine! Bring mich weg von hier!“

Voller Verachtung sah das Fräulein den Kammerdiener an und trug die halb Ohnmächtige mithilfe der Mermann zu ihrem Stuhl zurück. Wilhelmine erbrach sich über das kostbare Frühstück, das sie hatte genießen wollen. Die Amme hielt der Prinzessin den Kopf und strich ihr sanft über die Haare.

„So lauten also die Befehle des Königs“, fragte die Hofmeisterin, außer sich vor Zorn, „ein Frühstück mit Henker?“

„Genau so“, erwiderte Eversmann ungerührt, „der König zwang auch den Kronprinzen, der gerechten Bestrafung eines Verschwörers zuzusehen …“

17

Page 18: Sutton Verlag Leseprobe: "Scherben des Glücks"

„Verschwörer? Der Enthauptung seines besten Freundes Leutnant Katte musste der arme Prinz zusehen!“

„… analog dazu wünscht der König, dass die Prinzessin der Auspeitschung der Mätresse ihres Bruders, einer Mitverschwörerin, zusehe. Sie solle begreifen, welche Strafe weibliche Verräter und Ver-schwörerinnen erwartet“, beendete Eversmann kalt seinen Auftrag.

Wilhelmine griff nach einer Serviette, wischte sich den Mund ab und fragte ungläubig: „Die Mätresse meines Bruders?“

„Ja, diese Dorothea Ritter, mit der er fliehen wollte.“Wilhelmine sah ihn ungläubig an, dann geschah etwas Merkwür-

diges. Blass, beschmutzt und mit wirren Haaren fing sie an zu lachen. Sie lachte ein so schreckliches Lachen, dass alle verstummten. Dann hielt sie plötzlich inne und sagte sehr ruhig: „Das arme Mädchen, arme Doris. Sie war niemals die Mätresse meines Bruders und sie wollte auch nie mit ihm fliehen. Das weiß ich am allerbesten. Was will der König wirklich?“

„Der König befahl mir, im Verlauf des Tages alle Vorbereitungen für Ihre Hochzeit zu treffen, Euer Hoheit. Er schwur bei Tod und Hölle, dass er auch Sie, seine eigene Tochter, in die Festung Spandau sperren werde, sollten Sie sich seinem Willen nicht unterwerfen.“

Dann wandte er sich an die Hofmeisterin und sagte: „Auch Sie sollen sich die Auspeitschung genau ansehen, weil Sie die Ursache für den Ungehorsam der Prinzessin seien. Vorher jedoch wird er Sie an allen Straßenecken Berlins auspeitschen lassen, genau wie Demoi-selle Ritter.“

Wilhelmine erhob sich von ihrem Stuhl. Als sie die Lehne losließ, schwankte sie. Aber sie verfügte über die Würde, mit Domestiken nicht zu streiten. Bestimmt sagte sie: „Ich möchte in meine Gemä-cher zurückkehren.“

„Aber selbstverständlich, Euer Hoheit.“Eversmann öffnete die Tür, offenbar hatte er genaue Order. Mit

raschem Blick überzeugte er sich, ob Wilhelmine ihm zuhörte, um dann überdeutlich und laut zum Fräulein zu sagen: „Sie tun mir herz-lich leid. Eine so schimpfliche Verurteilung zu erfahren, und das in Ihrer Position. Aber es ist an der Prinzessin, sie Ihnen zu ersparen.“

Leise zischte er ihr danach zu: „Wenn das Blut Ihren Rücken hinunterläuft, werden Sie einen schöneren Anblick abgeben als diese

18

Page 19: Sutton Verlag Leseprobe: "Scherben des Glücks"

gemeine Bürgerdirne! Sicher ist Ihr Rücken schön und weiß, das Blut wird ihn noch blendender hervorheben. Wie verlockend …“

Stumm half das zu Tode erschrockene Fräulein der Amme, die Prinzessin aus dem königlichen Gemach zu tragen. Wie eine Puppe nahmen sie sie in ihre Mitte. Schweigend traten sie den Rückweg an. Die Gänge und Treppen des Schlosses erschienen ihnen dabei noch schmutziger und kälter und unendlich lang.

„Ne ne ne, so kann man seine Kinners doch nich’ behandeln“, stöhnte die Mermann und wischte sich die Tränen ab. Sie war auf das Höckerchen im Vorzimmer gesunken, das Wilhelmine benutzte, wenn sie sich die Stiefel zuknöpfen ließ. „Seit der Fritze versucht hat zu fliehen, is’ der König nich’ janz bei sich, wa?“

Das Fräulein nickte. War der König irre geworden? Aber seine Drohung war völlig klar: Sie, die Hofmeisterin, sollte ausgepeitscht werden, wenn sie Wilhelmine nicht zu dem Ehemann überreden konnte, der dem König passte.

Die Mermann verfügte über einen gesunden Verstand und viel Mitgefühl. Sie redete weiter: „Eine Heidenangst hatte die Königin vor dem König, da hatt’se ihm immer ins Felde geschrieben. Die traute sich nicht zu schreiben, det et nur’n Mädgen is’, die schrieb immer: Dem Kinde jeht et jut. Det schrieb die. Dem Kinde jeht et jut. Aba nu’ hat er einen Thronfolger, und wat macht er damit? Er sperrt den Fritze in die Festung! Herrjeh, wat soll denn aus dem Jungen werden? Glauben’se Duchlaucht, det kann doch kein juter König mal nich’ werden. So ’ne Prügel, die hat ja mein Oller unsere Kinners nich’ jejeben, und det is’n oller Kommisskopp. Ick sage Ihnen, Durchlaucht, ick wäre sonst mit meine Kinners durchjebrannt, wenn er die anje-rührt hätte. Zurück zu Muttern! Aba die Königin, det arme Mädchen, wohin soll’se denn durchbrennen mit ihre janze Prinzen un’ Prin-zessinnen? Und denn wollte der König sich immer scheiden lassen, hatter jedroht, und hatt’se der Untreue verdächtigt, die Königin!“

Die Mermann tippte sich an die Stirn und sah die Sonsfeld bedeutungsvoll an. „Die Königin der Untreue! Herrjott noch mal, wer hätte die Traute jehabt, mit Olympia wat anzufangen?“

19

Page 20: Sutton Verlag Leseprobe: "Scherben des Glücks"

Nun musste die Hofmeisterin, die sich über dem Gebrabbel der Alten langsam von ihrem Schrecken erholt hatte, lachen. Der Spitz-name der in die Breite gegangenen Königin war zu treffend.

„Sehn’se, nu’ lachen’se wieder, Durchlaucht!“Aus den tiefen Falten ihres Gewandes zog die Mermann eine

Flasche heraus und nahm einen kräftigen Schluck. Sie bemerkte das Erstaunen des Fräuleins und murmelte: „’tschulligung, Frol-lein, aba det musste auf den Schrecken mal sein. Wenn Se ooch een wollen …“

Sie hielt der Hofmeisterin die Flasche hin. Die griff zu und nahm einen tiefen Schluck. Hustend reichte sie der Amme die Flasche: „Schmeckt ja grauenhaft!“

„Soll et ja ooch“, meinte die Amme, „is’ ja zum Abjewöhnen, nich’ zum Anjewöhnen, wa?“

Sie verkorkte die Flasche sorgfältig und verstaute sie wieder irgendwo an ihrem umfangreichen Körper. Das Fräulein fragte sich, welche Geheimnisse unter diesen Röcken noch lagern mochten. Ächzend erhob sich die Amme.

„Ick muss mir beeilen, Durchlaucht, meine Jüngste kommt heute in die Wehen. Aba vorher wollte ick noch in die Küche, vastehn’se?“

„Was wollen Sie in der Küche, Mermann?“„Na, det Essen jestern und nu’ det Deschönee. Erst meinem

Prinzesschen den Mund wässerig machen und denn zu schalem Biere hungern lassen. Ne ne, nich’ mit der Mermann, da kriegen’se Ärger.“

„Lohnt sich das noch?“, meinte das Fräulein.Die Mermann beugte sich vor: „Wie meinen’se denn ditte?“„Nun, ich werde ausgepeitscht und die Prinzessin wird in die

Festung gebracht werden. Da brauchen wir uns doch nicht mehr über das Essen beschweren, oder?“

„Jotte doch und bei alle Heiligen“, rief die Mermann aus, „Frol-leinchen, nu’ sehn’se doch nich’ allet so schwarz! Et wird doch nich’ allet so heiß jejessen, wie et jekocht wird. Kommt doch immer allet lauwarm hier oben an, ooch de Jerüchteküche.“

Fräulein von Sonsfeld lachte. Gegen die Schlagfertigkeit der Amme war kein Kraut gewachsen. In ihrer Gegenwart konnte man nicht pessimistisch sein, und genau das hatte sie der kleinen Wil-

20

Page 21: Sutton Verlag Leseprobe: "Scherben des Glücks"

helmine in den ersten Lebensjahren auf den Weg gegeben. Dann allerdings war die kleine Prinzessin in die Hände der Leti, einer italienischen Erzieherin, geraten. Beim geringsten Anlass war sie geschlagen worden, sogar mit Gegenständen hatte diese Furie sie traktiert. Ernsthafte Verletzungen am Kopf waren die Folge gewesen. Als sie damals die Bildung der bereits Elfjährigen übernahm, war diese völlig eingeschüchtert. Den Mut, die brutale Erzieherin auszu-halten, hatte sie im wahrsten Sinne des Wortes mit der Muttermilch eingesogen – mit der Milch und dem Mutterwitz dieser aufrechten Anna Mermann.

„Sie kümmern sich ums Essen, ich kümmere mich um den König“, sagte das Fräulein entschlossen. „Ich werde zum König nach Potsdam fahren, so geht das hier nicht weiter.“

Die Mermann war schon in der Tür. „Tapfere Durchlaucht! Ick wünsche Ihnen Glück!“

Im August, nachdem der Kronprinz geflohen war, hatte das Fräulein die rasende Wut des Königs erlebt. Die harte Behandlung und die ständigen Demütigungen durch seinen Vater, die er seit seinem drei-zehnten Lebensjahr erdulden musste, hatte er satt gehabt. Mit seinem Pagen Keith und seinem Freund Katte hatte er fliehen wollen, war aber verraten und eingefangen worden.

Ohnmächtig war Wilhelmine in ihre Arme gesunken, als der König damals in die Gemächer der Königin stürmte und brüllte, ihr Sohn, der Schurke von einem Fritz sei tot. Das Fräulein brachte sie wieder zu Bewusstsein, voller Angst, der König hätte seinen eigenen Sohn umgebracht. Kaum wieder bei Besinnung wollte Wilhelmine den König begrüßen und demütig seine Hand küssen. Der aber lief vor Wut schwarz an, seine Augen funkelten und der Schaum trat ihm aus dem Mund.

„Infame Canaille!“, rief er. „Sie wagt es, vor mir zu erscheinen? Fort mit ihr! Sie mag ihrem Schurken von Bruder Gesellschaft lei-sten.“

Mit diesen Worten packte er sie an der Hand und versetzte ihr, bevor ihn jemand daran hindern konnte, einige Faustschläge ins Gesicht. Einer traf sie so heftig an der Schläfe, dass sie gegen den Kamin stürzte. Bewusstlos blieb Wilhelmine liegen, aber der Zorn

21

Page 22: Sutton Verlag Leseprobe: "Scherben des Glücks"

des Königs war nicht besänftigt. Er wollte sie weiterhin schlagen und sogar treten, wenn die Königin und ihre Hofdamen ihn daran nicht gehindert hätten. Schnell hoben die Hofdamen Wilhelmine auf und trugen sie zu einem Stuhl in der Fensternische.

Die Gemächer der Königin lagen im Erdgeschoss, es war warm, die Fenster waren geöffnet. Draußen drängte sich das Volk. Eini-ge, die das Geschehen gesehen oder gehört hatten, schrien auf im Glauben, der König habe in seiner hitzigen Wut die eigene Tochter erschlagen.

Die Königin dachte, ihr Sohn sei tot. Sie schrie und lief wie eine Wahnsinnige im Zimmer herum. Einen Stein hätte die Szene erweicht, nicht aber den König. Der Zorn hatte seine Züge entsetz-lich entstellt. Der jüngste Prinz, August Wilhelm, erst vier Jahre alt, umklammerte seine Knie und weinte. Das Fräulein hielt den Kopf Wilhelmines, der von den Schlägen wund und geschwollen war und versuchte, sie mithilfe ihres Riechfläschchens wiederzubeleben.

Kurz darauf schon hatte der König einen anderen Ton ange-schlagen, vielleicht hatten ihn die Tränen seines Jüngsten, den er zärtlich „Hulla“ nannte, gerührt. Der Kronprinz sei am Leben, sagte er etwas ruhiger, aber wegen Majestätsverbrechen werde er diesen Schurken hinrichten lassen. Die infame Wilhelmine werde er als Mitwisserin zeit ihres Lebens zwischen vier Mauern einsperren. Er beschuldigte sie, an der Verschwörung beteiligt gewesen zu sein. Weil sie eine Affäre mit dem Leutnant Katte habe, habe sie ebenfalls fliehen wollen. Dabei redete sich der König erneut in Rage. Sein Zorn gipfelte in der Beschimpfung, Wilhelmine habe ja bereits ein uneheliches Kind von Katte. Da konnte die Hofmeisterin nicht länger an sich halten, nun ging es auch um ihre Ehre. Sie trat vor, räusperte sich und versuchte trotz ihrer Angst, laut und ruhig zu sprechen: „Majestät, das ist eine Lüge. Wer Eurer Majestät solche Dinge hinterbrachte, hat gelogen.“

Der König hatte ihr darauf keine Antwort gegeben. Er hielt im Schimpfen und Fluchen nicht inne, stand inzwischen aber am Rand der Erschöpfung oder kurz vor einem Herzanfall.

Inzwischen war Wilhelmine wieder zu sich gekommen und schrie laut, sie wolle den Herzog von Weißenfels, oder wen auch immer

22

Page 23: Sutton Verlag Leseprobe: "Scherben des Glücks"

der König befehle, heiraten, er solle ihr nur das Leben ihres Bru-ders schenken. Sie hatte viele französische Romane gelesen, in der solch edle Regungen vorkommen. Sie vergaß, dass diese Tragödien immer tödlich enden. In seinem lärmenden Zorn hatte der König glücklicherweise nichts gehört, und bevor Wilhelmine ihre Stimme ein zweites Mal erheben konnte, drückte ihr das Fräulein fest ein Taschentuch vor den Mund. Wilhelmines edles Angebot hätte der Vater als Schuldgeständnis aufgefasst und sie sofort arretiert. Außer-dem hätte sich Wilhelmine den Zorn ihrer Mutter zugezogen, die trotz aller königlichen Drohungen an ihrer Heiratspolitik festhielt – und die sah eine Verbindung mit ihrem Neffen, dem künftigen König von England, vor. Der Herzog von Weißenfels! Mit diesem Hungerleider aus dem Anhaltinischen hätte nicht einmal das Fräulein – immerhin eine Freiin von Wittenhorst-Sonsfeld – eine standesge-mäße Verbindung eingehen können.

In jenem Moment wurde Leutnant Katte bleich und gebrochen über den Schlosshof zum Verhör geführt. Der König brüllte, er werde den Schurken von Fritz und die infame Wilhelmine köpfen lassen, das peinliche Verhör von Katte werde ausreichend Beweise erbringen. Damit stürzte er zur Tür. In diesem Augenblick richtete sich Frau von Kamecke auf und stellte sich dem König in den Weg.

Da stand sie: klein, weißhaarig, zart, aber voller Energie. Die alte Hofdame der Königinmutter sprach nun zum König, als wäre der immer noch der frühere Kronprinz, der seine Lektion nicht gelernt hatte: „Majestät! Sie haben sich bisher für einen gerechten und gottesfürchtigen Herrscher gehalten und Gott hat sie dafür mit Segnungen überhäuft.“

Der König blieb überrascht stehen und sah sie an.„Wehe Ihnen, wenn Sie seine Gebote übertreten“, fuhr sie fort,

„fürchten Sie die göttliche Vergeltung. Sie hat zwei Herrscher heim-gesucht, die das Blut ihrer eigenen Söhne vergossen. Philipp II. von Spanien und Peter I. von Russland schieden ohne männliche Erben dahin. Ihre Staaten fielen Kriegen zum Opfer und beide Monarchen wurden zu Schreckgestalten der Menschheit. Gehen Sie in sich, Majestät! Ihre ersten Zornesregungen sind noch entschuldbar, aber sie werden verbrecherisch, wenn sie nicht versuchen, sie zu über-winden.“

23

Page 24: Sutton Verlag Leseprobe: "Scherben des Glücks"

Der König unterbrach sie nicht. Eine Weile blickte er sie an. Als sie ausgeredet hatte, beendete er sein Schweigen.

„Sie sind sehr kühn, mir gegenüber solche Worte zu wagen“, sagte er, „doch verarge ich es Ihnen nicht. Ihre Absichten sind gut und Sie reden offen zu mir. Gehen Sie, die Königin zu beruhigen.“

Das Fräulein hatte den Mut der Frau von Kamecke damals zutiefst bewundert. Er hatte erstaunliche Veränderungen im Verhalten des Königs zur Folge. Vielleicht musste man auf diese Weise mit ihm reden? Sollte sie es wagen, bevor er sie auspeitschen und einkerkern ließ? Je länger sie darüber nachdachte, desto deutlicher wurde ihr, dass sie mit dem König sprechen musste. Was hatte sie schon zu ver-lieren? Eine schmerzvolle Auspeitschung und schandhafte Verban-nung blühten ihr auch so. Schlimmer konnte es nicht werden.

Im Potsdamer Schloss ließ sich das Fräulein beim König melden.„Was ist geschehen“, fragte Friedrich Wilhelm ohne große Vorre-

de, „ist das Mädgen krank?“Da fragte ein besorgter Vater, kein zorniger König. Hat er bereits ver-

gessen, was er heute Morgen befohlen hatte? Er trug seine abgewetzte blaue Uniform, die der umfangreiche Bauch spannte, rauchte seine lange holländische Pfeife aus weißem Ton, war offenbar schmerzfrei und daher entspannt. Er saß nicht in seinem Rollstuhl, sondern hinter seinem großen Schreibtisch auf einem gewöhnlichen Kontorstuhl. Bei den Regierungsgeschäften hatte es der König gern schlicht.

Wie sollte sie nur beginnen? Sie konnte ihn doch nicht wegen des grässlichen Ereignisses von heute Morgen beschimpfen. Sie begann, von Wilhelmines Fortschritten zu berichten, von ihrer raschen Auf-fassungsgabe, ihrer Intelligenz. Der König ließ seine Pfeife sinken und unterbrach das Fräulein mit umwölkter Stirn. „Minneken ist kein Schulkind mehr. Sie ist längst im heiratsfähigen Alter, aber sie weigert sich zu heiraten. Ich werde sie in die Festung schicken müssen.“

„Ich glaube nicht, dass das der richtige Ort für Wilhelmine ist“, sagte das Fräulein, ohne die Ironie ihrer Antwort zu bemerken, „außerdem möchte die Prinzessin heiraten, Majestät.“

24

Page 25: Sutton Verlag Leseprobe: "Scherben des Glücks"

„Sehe schon“, knurrte der König. Er zog die Schreibtischschub-lade auf und wühlte in einigen Papieren. Er reichte ihr einen Zettel und befahl: „Lese sie!“ An den steilen Buchstaben erkannte sie sofort Wilhelmines Schrift.

„Zu meiner Verzweiflung erfahre ich also, dass mein lieber Papa mich verheiraten will, denn ich habe stets aus mancherlei Gründen eine furchtbare Abneigung gegen alles gehegt, was Ehe heißt, und hege sie noch … Majestät“, unterbrach die Hofmeisterin ihre Lesung, „dieser Brief stammt vom 30. Januar des vergangenen Jahres!“

„Ich weiß, wie wankelmütig ihr Weiber seid“, knurrte er.„Damals ging es um eine Heirat Wilhelmines mit dem Mark-

grafen von Schwedt oder dem Herzog von Weißenfels“, fuhr sie tapfer fort.

„Mutige und hochdekorierte Leute wie ihr Vater, Sonsfeld!“, fuhr er auf.

„Ja, Majestät. Für eine verarmte Freifrau wie mich wären beide Herren eine gute Partie, zumal sie in meinem Alter sind. Aber für Ihre Tochter?“

„Zu alt, meint sie?“, grollte er, seine Pfeife frisch ansteckend. „Das hätte die Tochter auch sagen können statt sich hinter Ausreden zu verschanzen.“

„Majestät“, antwortete das Fräulein entschlossen, „dieser Brief ist eine weibliche Ausflucht, zu der ich, ich gestehe es, Ihrer Tochter geraten habe …“

„Sie, Sonsfeld?“, fragte der König überrascht. „Warum?“„Weil es nicht angeht, dass das Leben einer Königstochter von

einem Duodezfürsten vergeudet wird. Vor einem Jahr war die eng-lische Sache noch nicht entschieden und ich …“

„… die englische Sache?“ Mit der Faust schlug der König auf den Tisch, das Fräulein fuhr zusammen. „Dieser hannoversche Dünkel, dieses Getue, dieses Waschweibergetratsch! Ich kann meine Tochter verheiraten, wie mir es passt!“, brüllte er.

Das konnte er natürlich nicht, entschied das Fräulein im Stillen. Der König selbst hatte ein Gesetz erlassen, dass Töchter nicht gegen ihren Willen verheiratet werden durften. Ihn in diesem Moment daran zu erinnern, erschien ihr aber wenig diplomatisch.

25

Page 26: Sutton Verlag Leseprobe: "Scherben des Glücks"

„Ja, Majestät, das können Sie“, sagte sie ruhig, „Sie sind der könig-liche Vater. Als solcher sind Sie aber gehalten, weise und umsichtig zum Vorteil Ihrer erlauchten Kinder zu handeln.“

Während sein Zorn verrauchte, sah der König dem Fräulein in die Augen. Er mochte diese direkte Art, die Schmeicheleien bei Hofe konnte er nicht ausstehen – kein Wunder, dass er mit seiner Gattin nicht zurechtkam. Deren ständiges Schwanken zwischen Unter-würfigkeit und Arroganz produzierte ein Missverständnis nach dem anderen und brachte ihn regelmäßig zur Weißglut.

„Die Ausbildung der königlichen Kinder zeugt von Weisheit und Umsicht“, fuhr die Hofmeisterin fort, „dank ihres Lehrers La Croze ist Wilhelmine zur Regentin ausgebildet, sie spricht drei Sprachen, hat profunde Kenntnisse in Geschichte, Geographie, Philosophie …“

„Nicht einmal das Vaterunser konnte sie hersagen“, knurrte er, „und da zählte sie schon neun Lenze.“

„Majestät, Ihre Tochter ist sehr fromm“, log das Fräulein, „wahr-scheinlich hat sie der gestrenge Vater beim Abfragen durcheinander-gebracht. Als ich sie kennenlernte, war sie sehr eingeschüchtert.“

Das stimmte durchaus. Die vielen Schläge von Leti hatten Wilhel-mine damals dermaßen verängstigt, dass sie nicht einmal laut zu spre-chen wagte. Zum Leidwesen des Vaters waren aber weder Fritz noch Wilhelmine religiös – im Gegenteil. Oft hatte das Fräulein scharf eingreifen müssen, wenn sich beide mal wieder über den Pietismus des Vaters und seines Hofpredigers Francke lustig machten. Sie waren Freidenker, statt der Bibel lasen sie Racine. Religion wollten sie durch das ersetzt wissen, was sie unter Vernunft verstanden.

Prüfend betrachtete der König das Fräulein. „Was will sie eigent-lich von mir?“, fragte er.

„Majestät, Sie zwangen uns heute, einem Geschehen beizu-wohnen, dass der Kronprinzessin unzuträglich war. Sie ist ernsthaft erkrankt, ich fürchte um ihren Gemütszustand. Was meine beschei-dene Person angeht, kann ich mir nicht erklären, was Majestät damit bezwecken möchte, mich öffentlich auspeitschen zu lassen.“

„Meine Tochter kann ich nicht auspeitschen lassen. Also musste sie dieses Schauspiel zur Vernunft bringen. Heulen und Zähneklap-pern, was?“

26

Page 27: Sutton Verlag Leseprobe: "Scherben des Glücks"

„Was verlangen Sie von Ihrer Tochter?“„Dass sie endlich heiratet!“, schrie er und warf seine Pfeife

gegen die Wand. „Sie soll sich den Prinzen von Wales aus dem Kopf schlagen! Solange sie den Erbprinzen von Baireuth nicht geehelicht hat, wird sie gefangen bleiben. Oder sie landet in der Spandauer Festung.“

„Spandau? Die Prinzessin?“ Das Fräulein erschrak. Er nickte mit einer kleinen, bösen Falte zwischen den Augen und pochte mit seiner Feder auf den Tisch.

„Spandau, jawohl. Ihr glaubt alle, ich mache nicht ernst, nur weil ich bei meinem Sohn Gnade vor Recht ergehen ließ. Ich ließ ihn am Leben. Noch sitzt er in der Küstriner Festung, warum sollte seine Schwester nicht in Spandau residieren?“

Er lehnte sich vor und fixierte sie scharf: „Nicht wahr, Sonsfeld, sie hat Angst? Nach ihrer Auspeitschung kann sie betteln gehen. Als Hofmeisterin ist sie überflüssig, meine Tochter braucht in Spandau keine mehr. Und als Hofdame ist sie kompromittiert. Ich hätte noch einen Platz im Spinnhaus für sie.“

Nun war es genug. Als Hofdame hatte das Fräulein Diploma-tie, Selbstbeherrschung und formvollendete Manieren von früher Jugend an erlernt, aber diese Drohung stellte sie den Huren gleich. In den neugegründeten Spinnhäusern ließ er sie bis zum Umfallen schuften, um billigen Uniformstoff für seine stetig wachsende Armee zu produzieren. Sie spürte, wie ihr schweres westfälisches Blut in Wallung geriet und sprang auf.

„Ins Spinnhaus?“, schrie sie fassungslos. „Sie wagen es, das zu einer Sonsfeld zu sagen? Mein Vater diente schon Ihrem Großvater treu. Als die Franzosen einfielen und sein Schloss in Brand steckten, konnte er es nicht verteidigen, und warum? Weil er an der Seite sei-nes König in Schlesien kämpfte! Ja Majestät, stecken Sie die Tochter eines Erbdrosten ins Spinnhaus. Sie werden sehen, wie sie dort das Leinen für ihr Leichentuch spinnt.“

Voller Scham wollte die tapfere Hofmeisterin hinausstürzen. Tränen waren ihr in die Augen geschossen. Zu schnell war ihr Vater der Mutter ins Grab gefolgt. Als Waisenkind mit neun Geschwistern hatte er sie zurückgelassen. Ihre jüngste Schwester Florentine war damals erst vier Jahre alt.

27

Page 28: Sutton Verlag Leseprobe: "Scherben des Glücks"

„Halt!“, brüllte der König. Das Fräulein wischte sich schnell die Tränen weg, drehte sich wieder um und sah ihn an. Er sollte nicht denken, sie habe Angst vor ihm.

„Sie ist die Tochter eines tapferen Generals, doch schlägt sie mich mit den Waffen der Weiber“, sagte der König grimmig, aber scheinbar bewegt. „Sie soll sie einsetzen, um meine Tochter zur Vernunft zu bringen. Gegen den Erbprinzen von Baireuth kann meine Willminne nichts einwenden. Er ist so jung wie sie, gebildet und ein galanter Mensch. Er parliert sogar Französisch.“

Sie wollte etwas sagen, aber eine Handbewegung des Königs ließ sie verstummen.

„Sie weiß, Sonsfeld, dass die englische Heirat nicht mehr möglich ist. Lasse sie sich von der Königin nichts einreden, sie ist doch eine vernünftige Person und kennt die politische Lage. Wenn sie dem Minneken gut zuredet, soll es ihr Schaden nicht sein. Ich weiß, dass sie nicht auf Rosen gebettet ist, eine unversorgte Hofdame mit einer verwachsenen Schwester. Ich ernenne sie zur Äbtissin des Stiftes Wolmirstedt, das ist nicht weit von hier bei Magdeburg. Da wird sie mit der Florentine ein ruhiges Leben führen und versorgt sein, wenn meine Tochter ihre Dienste nicht mehr benötigt.“

Fräulein von Sonsfeld war wie vor den Kopf geschlagen. Sollte sie sich jetzt auch noch bedanken? Sie hatte bewirken wollen, dass er die Gefangenschaft seiner Tochter aufhob. Nun war sie Äbtissin und hatte für die Prinzessin nichts erreicht.

Der König wühlte in seinen Papieren und machte eine ungedul-dige Handbewegung, die sie entließ. Sie dachte an Frau von Kamecke und nahm ihren ganzen Mut zusammen.

„Majestät, ich danke für Ihre Gnade“, sagte sie, „bitte schenken Sie mir noch fünf Minuten Gehör. Ich bin nicht um meiner selbst willen, sondern Ihrer Tochter wegen gekommen, für die ich mich mit Freuden öffentlich auspeitschen ließe, wenn es ihr hälfe.“

Er sah von seinen Papieren auf.„So ergeben ist sie dem Minneken? Diesem kleinen, blatternar-

bigen Luder?“Dem Fräulein verschlug es die Sprache. Vor zwei Jahren wäre die

Prinzessin beinahe an den Pocken gestorben. Wochenlang hatte sie mit der Mermann und ihr in Quarantäne gelebt. Wie durch ein Wun-

28

Page 29: Sutton Verlag Leseprobe: "Scherben des Glücks"

der genas sie, ihre Haut heilte, und als ob eine gütige, mitleidvolle Fee sie gestreichelt hätte, war sie zarter als zuvor, weiß wie Porzellan. Gut, Wilhelmine war keine Schönheit, dazu fehlte ihr die Sanftmut. Blatternarbig aber war sie wirklich nicht, und wenn, war es allein die Schuld des Königs, der zu geizig war, seine Kinder impfen zu lassen. Jetzt machte er seiner Tochter aus ihrer Krankheit auch noch einen Vorwurf! Er war wirklich herzlos.

„Sie hat keine Narben, Majestät. Sie ist die Tochter eines großen Königs und daher prädestiniert, einen König zu heiraten. Wenn ich als mein bescheidenes Verdienst hinzufügen darf: Sie ist auch gebildet und bewandert in allen Fragen der Etikette.“

„Etikette! Dieses französische Getue!“, rief er ungeduldig aus.„Ich meine die europäische Diplomatie, ohne die wir nicht aus-

kommen, wenn wir nicht ständig Kriege austragen wollen.“Das wollte er nicht, das wusste sie. Aufgrund seiner Vorliebe für

seine Langen Kerls verspottete man ihn zwar als „Soldatenkönig“, am wirtschaftlichen Aufschwung seiner „Streusandbüchse“ lag ihm aber mehr als an kostspieligen Eroberungsfeldzügen. Krieg hatte er bisher vermieden.

„Treiben die Weiber jetzt Politik?“, herrschte er sie an.„Nein, Majestät, Politik ist Männersache“, sagte das Fräulein

gehorsam, „aber Sie wissen, wie viel eine Nation mit einer klugen Königin gewinnt. Denken Sie an Ihre Frau Mutter.“

Er furchte die Stirn. „Meine Mutter war eine große Königin, aber eine schlechte Christin.“

Jeden Einwand mit einer Geste seiner dicken Hand abwehrend, fuhr er fort: „Sonsfeld, meine Tochter wird ihre Fähigkeiten nicht am Prinzen von Wales erproben. Der König von England hätte mein Minneken haben können, nur, er hat nicht gewollt.“

Nach dem königlichen Fußtritt in den englischen Diplomaten-hintern vor einem Jahr sah die in Etikette Bewanderte das anders, aber sie schwieg.

„Meine Tochter wird ihre Fähigkeiten als Regentin der Mark-grafschaft Baireuth erproben können, die wir als Bollwerk gegen die Habsburger dringend brauchen.“

Er sah das Fräulein Luft holen, hob wieder die Hand und fuhr fort: „Die Sache ist beschlossen. Die Kommission hat Befehl, heute

29

Page 30: Sutton Verlag Leseprobe: "Scherben des Glücks"

Abend nach Berlin zu fahren und der Kronprinzessin die Kabinetts-order vorzulegen. Meine Tochter kann mir ihre Unterwürfigkeit beweisen, indem sie unterschreibt. Dann werde ich sie in Gna-den wieder in die Familie aufnehmen …“ Er lehnte sich über den Schreibtisch und fixierte das Fräulein mit stechendem Blick: „… und auch ihren Bruder!“

Sehr bedeutsam hatte er die letzten Worte angefügt. Das Fräulein verneigte sich.

„Willminne hat das Schicksal ihres Bruders in der Hand, daran lasse sie, Sonsfeld, keinen Zweifel. Sie weiß, was sie zu tun hat, Äbtissin.“

Er lachte auf und fügte hinzu: „Schade, dass sie als Reformierte für ihre Verdienste an meiner Tochter nicht heiliggesprochen werden kann!“

Wie ich diesen Eversmann hasse, dachte Wilhelmine. Sie hatte die Augen aufgeschlagen und empfand die Ruhe als wohltuend nach dem morgendlichen Schock. Nun kann ich wenigstens erahnen, wie Fritz sich gefühlt hat, als sein Freund Katte vor seinen Augen enthauptet wurde. Enthaupten, dachte sie, welch edles Wort für diese schimpfliche Ermordung.

Sie wickelte sich eine Wolldecke um die Schultern und ging ins Ankleidezimmer. Die Amme hatte das Kleid für sie zurecht gelegt, mühsam schlüpfte sie hinein. Sie war es nicht gewohnt, sich allein anzukleiden, aber die einzige Dienerin, die der König ihr zugestan-den hatte, war im Entresol mit der Wäsche beschäftigt.

Doris Ritter eine Mätresse von Fritz, dachte sie bitter, während sie die Laute aus dem Schrank nahm. Wer das behauptet, weiß nichts über meinen Bruder. Armer Fritz, so sensibel, musik- und natur-wissenschaftlich begabt – es war wie ein Naturgesetz, dass der Vater ihn hasste. Der Vater ließ nur das Soldatische gelten, alles andere verachtete er als weibisch. Sonsine hatte ihr erzählt, wie er bereits als vierzehnjähriger Kronprinz exerziert hatte. Nicht einmal der eigenen Mutter, der klugen Charlotte Sophie, war es gelungen, ihren Sohn für die Seele des Lebens zu erwärmen. Zu früh war ihre Großmutter gestorben, Wilhelmine hätte sie gern kennengelernt.

30

Page 31: Sutton Verlag Leseprobe: "Scherben des Glücks"

Je härter der Drill wurde, desto sehnlicher hatte Fritz ein warmes Zuhause gesucht und es schließlich bei der Familie des Kantors Rit-ter gefunden. Er hatte ihr erzählt, wie formlos und gemütlich es in dem kleinen Haus zuging, wie die fünfköpfige Familie jeden Abend gemeinsam musizierte, obwohl sie so arm waren, dass Doris nicht einmal ein Seidenkleid besaß. Heimlich hatte er sich zur Familie Ritter geschlichen und war mit seiner neuen Traversflöte freundlich aufgenommen worden.

Zart schlug Wilhelmine die Saiten, horchte, stimmte und begann zu spielen – möglichst leise, damit die Wachsoldaten sie nicht hörten. Oh, sie hätten nicht gewagt, in ihre Gemächer zu kommen und ihr das Instrument zu nehmen, aber Meldung bei ihrem Vorgesetzten würden sie machen. Und der wiederum würde Meldung bei seinem Vorgesetzten machen, und der … das preußische Militär funktio-nierte tadellos!

Wilhelmine seufzte. Es war ja auch das einzige, was funktionie-ren musste. Alles andere, was ihr, ihrer Mutter und den Hofdamen Freude machte, hatte der König abgeschafft. Der Hofprediger Fran-cke, diese Laus im Pelz des religiösen Königs, hatte durchgesetzt, dass die Redouten und der Karneval eingeschränkt wurden, und der Vater, bemüht, die Schulden zu tilgen, die der Großvater in seiner verschwenderischen Lust für königlichen Prunk gemacht hatte, hatte alles entlassen, geschlossen oder verboten, was interessant war: Architekten, das Orchester, die Oper, französische Komödien. Die Akademie der Wissenschaften, von Großmutter Charlotte ins Leben gerufen, ließ er schließen und ihren Präsidenten, Professor Jakob von Gundling, degradierte er zum Hofnarren seiner Trink- und Tabakrunde. Nach einigen Fluchtversuchen war der inzwischen der Trunksucht verfallen. Ohne meinen Lehrer La Croze wäre ich dumm geblieben, dachte Wilhelmine. Wenn er seinen Benediktinern nicht entflohen und bei Hofe freundliche Aufnahme gefunden hätte, wäre ein angemessener Lehrer schwerlich verfügbar gewesen.

Erstaunt merkte sie, dass sie sich beim Räsonieren von den Noten gelöst hatte. Sie hat mich entführt, die Musik, wie schön die Welt sein kann! Sie freute sich und verband ihr kleines Motiv mit dem von Arcangelo Corelli. Ein Capriccio, dachte sie, wie fröhlich und kräftig die Tonfolge in Dur klang. Dabei war sie eigentlich so niedergeschla-

31

Page 32: Sutton Verlag Leseprobe: "Scherben des Glücks"

gen gewesen. Aus Einsamkeit entspringt Kraft, aus Trauer entsteht Hoffnung, aus Sehnsucht wird Musik.

Sie wühlte in ihrem Sekretär nach Notenpapier. Nichts. Der Furor des Königs machte offensichtlich vor nichts halt, nicht einmal Notenpapier durfte gekauft werden.

Stirnrunzelnd malte sie sich ein Notensystem, besorgt, über die-sem dummen Tun ihren kleinen Einfall zu vergessen. Dann schrieb sie die Noten auf, wiederholte sie und war recht zufrieden. Die unfreiwillige Zurückgezogenheit hatte auch ihre Vorzüge.

Sie wurde eifrig, ihre Wangen röteten sich, während sie spielte und ihrem Einfall den nächsten hinzufügte. Es ist wie eine Mathe-matikaufgabe von La Croze, dachte sie. Zur Lösung fehlt ein kleiner Kniff, die winzige logische Ermittlung – und die Aufgabe ist gelöst. Wenn doch der Bruder da wäre! Fedéric hätte das Motiv jetzt mit sei-ner Flöte aufgenommen und sie hätten zusammen musiziert. Tränen liefen ihr die Wangen hinunter, während sie das Motiv verwandelte und als Flötenstimme hinzufügte. Ein Flötenkonzert würde sie schreiben, für den Bruder!

Keinen Menschen vermisste sie so wie ihn, der so herrlich spot-ten, mit dem man so wundervoll über die ahnungslosen Hofschran-zen lästern konnte. Sie hatten Scarrons Roman „Komödianten“ gelesen und sich an Stellen vor Lachen gekugelt, die sich anhörten, als wäre Scarron Hofnarr am preußischen Hof und würde beschreiben, was er dort sah.

Den kaiserlichen Gesandten Seckendorff, der ihnen von allen am widerwärtigsten erschien, hatten sie nach Scarron den „Plünderer“ genannt. Der allgegenwärtige Minister Grumbkow, dieser Intrigant, der, wie sie vermutete, ein kaiserlicher Spion war, war Rancune. Stän-dig hatten sie gekichert über diese Geheimnamen, sogar die Königin hatte davon erfahren und mit ihren Kindern gelacht. Sie hatten ihr allerdings verschwiegen, dass sie nicht einmal den König verschont und ihn als „dicken Brummer“ bezeichnet hatten. Meine Mutter hat Geist und Humor, dachte Wilhelmine, und dennoch lebt sie in ständiger Angst vor ihrem Gatten, der Wissenschaftler und Künstler beschimpft und Musik bestenfalls als Truppenermunterung duldet.

Wenn ihr zukünftiger Mann auch so wäre? Wenn er ihr die Freu-de am Musizieren verderben, die Wissenschaften verbieten würde?

32

Page 33: Sutton Verlag Leseprobe: "Scherben des Glücks"

… mehr in Ihrer Buchhandlung …

Page 34: Sutton Verlag Leseprobe: "Scherben des Glücks"

Keinerlei Zerstreuungen, keine Redouten, nicht mal Mas-kenbälle an Karneval? Sie hatte von Höfen gehört, an denen cal-

vinistische Prediger die Fürsten beherrschten und ihnen das ewige Fegefeuer androhten, sollten sie nicht gottesfürchtig leben. Und sie allein bestimmten, was gottesfürchtig war und was nicht.

Mit der Laute im Arm trat Wilhelmine ans Fenster. Der Innen-hof des Schlosses sah schmutzig und vernachlässigt aus, wie immer, wenn der König in Potsdam war. Er wollte sie also zur Heirat zwin-gen. Hatte er einen neuen Kandidaten gefunden? Sie wusste, dass der König der Mutter befohlen hatte, eine Liste mit geeigneten Bewer-bern zu erstellen. Die Königin zögerte das aber ständig hinaus und wartete verzweifelt auf eine Antwort aus England.

England, dachte sie, ausgeträumt der Traum. Nicht wegen des Fußtritts, den der König dem englischen Gesandten, Chevalier Hotham, gegeben hatte; auch nicht wegen der Mutter, deren Starrsinn die Politik des Vaters ignorierte. Nein, die Wahrheit war einfach und schmeckte bitter: Die hatten sie nie gewollt. Keiner will mich, stellte Wilhelmine verbittert fest. Wer will schon eine Prinzessin, eine häss-liche obendrein? Schon bei meiner Geburt wurde ich äußerst ungnä-dig empfangen, alle wünschten sich leidenschaftlich einen Prinzen.

Gerade elf Jahre alt war sie gewesen, als die widerwärtigen Hofdamen aus Hannover anrückten, um sie in Augenschein zu nehmen. Sie schlug einen schrillen Ton auf der Laute an, so schrill wie die erste der Hofdamen geklungen hatte, als sie ausstieß: „Mein Gott, wie sieht die Prinzessin aus! Welche Figur! Wie ungraziös!“

Und ihre Mutter, die geistvolle, energische Königin mit dem hoheitsvollen Auftreten einer Welfin, sie wurde regelrecht verlegen! Entschuldigend entgegnete sie: „Indeed, she could look much better. Aber an ihrer Taille ist nichts auszusetzen, sie ist nur noch nicht ent-wickelt. Wenn Sie mit ihr Konversation machen, werden Sie sehen, was in ihr steckt.“

„Tatsächlich?“, hatte die erste Hofdame gesagt und sich mit hoch-gezogenen Augenbrauen Wilhelmine zugewendet: „Sagen Sie mir, Prinzessin, was ergibt zwei und zwei?“

Die behandelte sie wie ein Kleinkind! Wilhelmine sagte sehr höf-lich, denn von frühester Kindheit an hatte sie gelernt, die Etikette zu

34

ilhelmine wächst als Tochter des strengen „Soldatenkönigs“ am Hof in Berlin auf, hin und her gerissen zwischen den

wider streitenden Interessen ihrer Eltern. Die Mutter drängt auf eine Heirat mit dem englischen Kronprinzen, der Vater hat Wilhelmine dem Erbprinzen von Bayreuth versprochen. Als sich die beiden kennenlernen, verliebt sich die junge preußische Prinzessin Hals über Kopf in den charmanten Bayreuther.

Zugleich hofft Wilhelmine, durch diese Heirat dem von Intrigen geprägten Berliner Hof entfliehen zu können. Die einzigen Lichtblicke in ihrem bisherigen Leben sind ihr Bruder Friedrich, mit dem die leiden-schaftliche Komponistin die Liebe zu Musik und Philosophie teilt, und ihre Hofmeisterin Fräulein von Sonsfeld, genannt Sonsine. Voller Hoff-nung machen sich die jungen Frauen auf den Weg ins ferne Bayreuth.

In der markgräflichen Residenzstadt feiert das junge Paar rauschende Feste und lässt das Markgräfliche Opernhaus erbauen. Doch schon kurze Zeit später ziehen dunkle Wolken auf: Auch der Bayreuther Hof ist nicht frei von Intrigen …

Cornelia Naumann lebt als Dramaturgin, Theaterwissenschaft lerin und freie Autorin in München. Ihr großes Interesse gilt den geistigen und künstlerischen Strömungen des 18. Jahrhunderts. Naumann beschäftigte sich mehrere Jahre intensiv mit dem Leben Wilhelmines und ihrer Zeit. Ihr unterhaltsamer Roman zeichnet die wichtigsten Lebensabschnitte der Bayreuther Markgräfin und Lieblingsschwester Friedrichs des Großen nach.

Link: www.cornelia-naumann.de

Dieser spannende, farbige Roman entwirft das Porträt einer aufgeklärten Künstlerpersönlichkeit, die im falschen höfischen Leben das richtige sucht.

Münchner Abendzeitung

W

www.suttonverlag.de