Upload
buicong
View
216
Download
0
Embed Size (px)
Citation preview
Tanz als Befähigung zu “sozialer Subjektivität“ in der
Ästhetischen Praxis mit Jugendlichen
Diplomarbeit vorgelegt von
Sarah Petry
Evangelische Fachhochschule Darmstadt
Fachbereich
Soziale Arbeit
Sommersemester 2010
Erstgutachterin:
Prof. Dr. phil. Katja Erdmann-Rajski
Zweitgutachter:
Prof. Dr. rer. pol. Frank Bettinger
„Wir fragen uns, wer bin ich,
mich brillant, großartig, talentiert,
phantastisch zu nennen?
Aber wer bist Du, Dich nicht so zu nennen?
Du bist ein Kind Gottes.“
Nelson Mandela
3
Inhaltsverzeichnis Einleitung.................................................................................................................... 5
1. Subjektivitätstheorie.............................................................................................. 6
1.1. Historische Blitzlichter des Subjektbegriffs...................................................... 7
1.2. Das Subjekt aus sozialisationstheoretischer Perspektive ................................ 10
1.3. Das Subjekt als Identitätskonstruktion............................................................ 11
1.4. Subjektentwicklung......................................................................................... 13
1.5. Subjektentwicklung als Befähigungs- und Bildungsprozess .......................... 15
1.6. Das schöpferische Subjekt .............................................................................. 16
1.7. Soziale Subjektivität versus Selbstversessenheit ............................................ 17
1.8. Das Subjekt in der Jugendphase...................................................................... 18
1.9. Subjektorientierung in der sozialpädagogischen Arbeit mit Jugendlichen..... 20
2. Tanz ....................................................................................................................... 23
2.1. Wichtige Aspekte des Zeitgenössischen Tanzes............................................. 24
2.1.1. Historische Betrachtungen....................................................................... 24
2.1.2. Körper......................................................................................................29
2.1.3. Bewegung................................................................................................. 30
2.1.4. Die Aspekte Raum, Zeit und Form im Tanz............................................. 31
2.2. Tanz und seine Wechsel-Wirkung mit dem Subjekt....................................... 32
2.2.1. Möglichkeiten der Sinnes- und Körpererfahrung im Tanz durch
Improvisation..................................................................................................... 33
2.2.2. Die harmonisierende Wirkung des Tanzes durch Rhythmus................... 34
2.2.3. Die sozialisierende Wirkung des Tanzes.................................................. 34
2.2.4. Tanz als Kollektiverfahrung..................................................................... 35
2.2.5 Bewegung als Differenzerfahrung............................................................. 37
3. Tanz in der Ästhetischen Praxis mit Jugendlichen........................................... 38
3.1. Ästhetische Praxis ........................................................................................... 38
3.1.1. Eine historische und terminologische Betrachtung................................. 39
3.1.2. Perspektiven der Ästhetischen Bildung als Kern Ästhetischer Praxis..... 41
3.2. Tanz als Ermöglichung ästhetischer Erfahrung .............................................. 46
4
3.3. Projektbeispiele............................................................................................... 47
3.3.1. TanzZeit.................................................................................................... 48
3.3.2. Die Arbeit von Royston Maldoom............................................................ 51
3.3.3 Faster-Than-Light-Dance-Company........................................................ 56
3.4. Potentiale im Tanz nach Lowinski und Klinge.............................................. 60
4. Tanzästhetische Projekte als Befähigung zu „sozialer Subjektivität“ ............ 62
4.1. Ein Resumee.................................................................................................... 63
4.1.1. Befähigung zu Selbstbewusstsein............................................................. 63
4.1.2. Befähigung zu (Selbst-) Reflexivität......................................................... 65
4.1.3. Befähigung zu Selbstbestimmung............................................................. 66
4.1.4. Befähigung zu sozialem Handeln............................................................. 67
4.1.5. Befähigung zur Lebenskunst.................................................................... 69
4.2. Beitrag der Sozialen Arbeit ............................................................................. 69
Schlussbemerkung ................................................................................................... 71
Abkürzungsverzeichnis ........................................................................................... 74
Literaturverzeichnis................................................................................................. 75
Internetquellen ......................................................................................................... 81
Anhang ...................................................................................................................... 83
Persönliche Erklärung............................................................................................. 90
Einleitung
5
Einleitung
Tanz bewegt und formt nicht nur den Körper, sondern bringt insbesondere das Innere
eines Menschen in Schwingung.
In der Bewegung liegt die Chance zur Veränderung.
In ihr kann die Veränderbarkeit der eigenen Lebensbedingungen sowie der eigenen
Persönlichkeit erlebt werden.
Um ein ‚Erlebbar- und Erfahrbar-Machen’ geht es auch in der Ästhetischen Praxis.
Was aber kann und soll erfahren werden?
Welche Möglichkeiten bietet die tanzästhetische Praxis für die Subjektentwicklung?
Vor dem Hintergrund dieser Fragen, möchte ich den Blick insbesondere auf die
Arbeit mit Jugendlichen richten. Mich interessiert dabei, wie die Befähigung zu
“sozialer Subjektivität“ durch Tanz in der Ästhetischen Praxis möglich ist. Da ich die
Stärkung Jugendlicher zu selbstbewussten, selbstbestimmten und sozial handelnden
Subjekten als zentrale Bildungsziele (sozial-) pädagogischer Praxis mit Jugendlichen
halte, mache ich diese Aspekte „sozialer Subjektivität“ zum Kern meiner
Auseinandersetzung mit Tanz in der Ästhetischen Praxis mit Jugendlichen.
Meiner Arbeit geht voraus, dass ich von der Bedeutsamkeit kreativer, künstlerischer
Bildungsangebote in der Sozialen Arbeit aufgrund eigener Erfahrungen überzeugt
bin. Soziale Arbeit, die ihre AdressatInnen als aktiv gestaltende Subjekte ernst
nimmt, sollte deren Gestaltungsspielraum und dadurch ihre gesellschaftlichen
Teilhabemöglichkeiten durch entsprechende Bildungsangebote erweitern. Ein
weiteres Ziel meiner Arbeit ist daher, eine Begründung und Berechtigung für die
Ästhetische Bildung durch Tanz als Bestandteil der Sozialen Arbeit mit Jugendlichen
zu liefern.
Zu Beginn möchte ich klären, welche wichtigsten Aspekte der Begriff der „sozialen
Subjektivität“ beinhaltet und was er für die Arbeit mit Jugendlichen bedeutet. Dazu
ist es nicht nur notwendig die Entwicklung des Subjektbegriffs zu betrachten,
sondern diesen auch aus verschiedenen sozialwissenschaftlichen Perspektiven zu
beleuchten. Abschließen möchte ich das erste Kapitel mit dem Blick auf das
jugendliche Subjekt.
1. Subjektivitätstheorie
6
Mit dem zweiten Kapitel möchte ich eine Hinführung zum ästhetischen Medium
Tanz geben, der sich im Rahmen des modernen und zeitgenössischen Tanzes bewegt.
Nach einer Betrachtung der Entstehungsgeschichte des modernen und
zeitgenössischen Tanzes, sollen elementare Aspekte, sowie subjekttheoretische
Bezüge im Tanz beschrieben werden.
Das dritte Kapitel gibt einen vertieften Einblick in die Arbeit mit Tanz in der
Ästhetischen Praxis mit Jugendlichen. Diesem voran geht eine Auseinandersetzung
mit dem Ästhetik-Begriff, sowie mit dem Kern Ästhetischer Bildung. Durch die
Auswahl dreier Praxisbeispiele sollen anschließend möglichst vielfältige
Perspektiven und Potentiale dieser Arbeit aufgezeigt werden. Ergänzt werden diese
durch die Darstellung einiger Ergebnisse der beiden Tanzwissenschaftlerinnen
Lowinski und Klinge und deren Auseinandersetzung mit der persönlichkeits-
stärkenden Wirkung des Tanzes.
In meinem abschließenden Kapitel möchte ich den Zusammenhang zwischen Tanz in
der Ästhetischen Praxis und der Subjektentwicklung bei Jugendlichen auf Grundlage
der zuvor erarbeiteten Folgerungen systematisch aufzeigen. Die Arbeit möchte ich
beenden mit einem Blick auf den Beitrag, den Soziale Arbeit in der Umsetzung
tanzästhetischer Projekte leisten kann und sollte.
1. Subjektivitätstheorie
Zu Anfang dieses Kapitels bedarf es der Konstituierung eines Bezugsrahmens des
Subjekt-/ Subjektivitätsbegriffs, welcher in der Tradition der Sozialphilosophie und
der Sozialwissenschaften vor dem jeweiligen historischen und gesellschaftlichen
Hintergrund zu verschiedenen Sinngehalten führte. Mit dem Aufkommen des
Subjekt-Begriffs wurde auf der einen Seite starke Kritik an diesem geübt, während
sich auf der anderen Seite Strömungen wiederfinden, welche diesen geradezu
fokussierten und damit gesellschaftliche Umstände ausblendeten.
In dem erziehungswissenschaftlichen Kontext, innerhalb dessen sich diese Arbeit
bewegt, steht der Subjektbegriff heute „als Chiffre für freiheitliches Fühlen, Denken,
Wollen, Handeln, selbstständige Entscheidungen. Er steht für Widerständigkeit,
Selbstbewusstheit und weitgehend selbstbestimmte Verfügung über Lebens-
aktivitäten. Es ist ein kämpferischer Begriff der Selbstermächtigung“1 Die
Befähigung des Subjekts im pädagogischen Bildungskontext muss daher als
1 Meueler (1993) S.8
1. Subjektivitätstheorie
7
Befähigung „zu einer eigenverantwortlichen und selbstbestimmten Lebenspraxis auf
der Grundlage einer kritischen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Zwängen,
Normen und Werten“2 gesehen werden.
1.1. Historische Blitzlichter des Subjektbegriffs
Die gesamte philosophische Geschichte des Subjektbegriffs im umfassenden
Rahmen darzustellen führt zu weit, doch möchte ich im folgenden Abschnitt
zumindest einige Blitzlichter der Entwicklung aufzeigen.
Die Zeit der Aufklärung im 18. Jh., als ‚Aufhellung von bisher Verdunkeltem’ ver-
standen, trägt den Wahlspruch: Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu
bedienen. Bereits Descartes realisierte im 17. Jh. deren Prinzipien. Als erster
entdeckt dieser „das Subjekt als eigentliche, denkende Substanz (..), als der
Beziehung zu sich selbst (..) wie allen Nachdenkens über die Wirklichkeit“3 und trifft
eine Unterscheidung zwischen dem Subjekt, als dem Menschen, und dem Objekt,
welchem das Subjekt in der Autonomie seines Denkens überlegen ist. Kant erweitert
die Tätigkeit des Subjekts, von dem selbst denkenden Subjekt zu einem sich selbst
reflektierenden Subjekt, das in der Lage ist sich kritisch mit den ihn umgebenden
Lebensbedingungen und den sie bestimmenden Machtverhältnissen auseinander zu
setzen. Das Subjekt im Sinne Kants „befähigt sich selbst zu selbstständigen,
vernünftig begründeten Handlungen und praktischen Entscheidungen.“4 Indem Kant
die Freiheit des Einzelnen postuliert, tritt er zur Gegenwehr der damaligen
gesellschaftlichen Verhältnisse des Absolutismus an. Da die Freiheit eines Jeden mit
der Freiheit eines Anderen kollidieren kann, weist Kant auf seinen ‚kategorischen
Imperativ’ hin. „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen
kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“5 Für ihn entfaltet sich Subjektivität
durch die „Gemeinschaft freier Subjekte, deren individuelles Handeln eine kollektive
Solidarität und Gerechtigkeit konstituiert“6.
Die Linie des Subjekt-Begriffs lässt sich weiter über die Begründer des
wissenschaftlichen Sozialismus im 19. Jh. Karl Marx und Friedrich Engels verfolgen.
Sie brechen den zunächst philosophischen Begriff auf einen Begriff der Praxis
herunter, der sich in den damaligen politisch, ökonomischen Bedingungen äußert. Sie
2 Scherr (2006) S.170 3 Meueler (1993) S.19 4 Meueler (1993) S.20 5 Kant (1968) Bd. 4 S.421 zit. n. Meueler (1993) S.22 6 Schülein (1981) S.1064 zit n. Meueler (1993) S. 22
1. Subjektivitätstheorie
8
gehen von den praktischen Verhältnissen aus, in denen sich das Subjekt bewegt, und
kritisieren auf dieser Ebene das bürgerliche Subjektverständnis. Das Subjekt ist darin
gesehen als Marionette innerhalb eines Systems zu verstehen, welches als neu
begründete bürgerliche Gesellschaft dennoch eine Klassengesellschaft mit struktur-
ellen Ungleichheiten darstellt.7 Als wesentlich bestimmendes Merkmal des
bürgerlichen Subjekts gilt die Arbeit. Subjekte sind zu dieser Zeit als ‚Person-
ifikation ökonomischer Kategorien’ zu verstehen. Mit ihrer Kritik dieser Verhältnisse
und an dem daraus resultierenden Subjektbegriff formulieren Marx und Engels die
Forderung „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein
geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“8
Während Marx und Engels die Unterdrückung des Subjekts an den ökonomischen
Bedingungen festmachen, sucht Siegmund Freud als Begründer der Psychoanalyse
im 19.Jh. die Unfreiheit des Subjekts in dessen innerer Realität. Damit erweitert
Freud „das Spektrum des Subjektbegriffs um die Facette unbewußter psychischer
Prozesse, deren Aufklärung Aufgabe der Psychoanalyse als Wissenschaft sei.“9 Nach
Freud gibt es kein autonomes Vernunftsubjekt. Vielmehr unterliegt dieses ver-
schiedenen innerpsychischen Kräften, die Freud als ‚Es’, ‚Über-Ich’ und ‚Ich’
bezeichnet. Dem ‚Ich’ kommt dabei die Aufgabe zu, zwischen dem ‚Es’, d.h. den
inneren Triebenergien und Triebwünschen nach Lust und Anerkennung, und dem
‚Über-Ich’, also den verinnerlichten gesellschaftlichen Verhaltensmustern, Normen
und Forderungen, zu vermitteln. Für Freud ist „Subjekthandeln, sei es gedanklich
reflexiv, verbal, nonverbal und körperlich zum Ausdruck gebracht, (..) immer durch
eine interne Balance zwischen diesen psychischen Instanzen bestimmt.“10 Die
Befreiung des Subjekts bedeutet für ihn, dass „durch einen professionell in Gang
gesetzten emotionalen Prozeß, (..) verdrängte und verleugnete Gefühle wieder
aktiviert, zum Ausdruck gebracht und für die heilende Erkenntnis genutzt werden.“11
Wo sich Freud positiv und hoffnungsvoll der Subjektentwicklung zuwendet, stellt
sich bei den Begründern der Kritischen Theorie Max Horkheimer und Theodor W.
Adorno Anfang des 20.Jh. Pessimismus ein. Ihre Kritik an der Aufklärung als
‚Selbstzerstörung’ richtet sich gegen die rein instrumentelle Selbstbezogenheit des
Menschen, die auf das rücksichtslose Streben nach Selbsterhaltung zielt. „Wenn auch
7 Vgl. Meueler (1993) S.25 8 Marx/Engels (Werke Bd.1) S.385 zit.n. Meueler (1993) S.29 9 Meueler (1993) S.30 10 Meueler (1993) S.32 11 Meueler (1993) S.33
1. Subjektivitätstheorie
9
die Philosophie der Aufklärung ganz bewusst einen Beitrag dazu liefern wollte, die
Machtausübung von Menschen über Menschen abzuschaffen, so begründete sie für
Horkheimer und Adorno zugleich doch eine sich immer wieder erneuernde Gewalt-
herrschaft, nämlich alles am Maßstab der Rationalität und damit an den Perspektiven
von Effektivität und Beherrschbarkeit auszurichten.“12 Dieser Pessimismus lässt sich
u.a. dadurch erklären, dass anstelle einer Gesellschaft autonomer Subjekte, wie es
sich die Aufklärer erträumten, eine totale Wirtschaftsgesellschaft getreten ist.
Gekennzeichnet ist diese durch eine Unterworfenheit des Einzelnen unter die Regeln
der Warentauschgesellschaft, die dem Subjekt vor allem bestimmte Funktionen
abverlangen. Seine einzige Hoffnung setzt Adorno „auf die gesellschaftlichen
Widersprüche, die für ihn voller Produktivität stecken.“13 Ohne diese Widersprüche
zu lösen, macht er das Nicht-Identische dieser totalen Marktwirtschaft und die
Verneinung des Bestehenden zum Ausgangspunkt neuer Möglichkeiten. Da Adorno
die Befreiung des Subjekts durch die reine Vernunft nicht für möglich hält, schreibt
er der Kunst in diesem Zusammenhang eine höhere Bedeutung zu.14
Beklagt Adorno noch den Verlust des Subjekts, so begrüßt der französische
Philosoph und Strukturalist Michel Foucault Mitte des 20. Jh. diese als ‚Tod des
Subjekts’ zu bezeichnenden Entwicklungen. Für ihn ist der Mensch vor allem als ein
in Strukturen Eingebetteter zu verstehen. Dies bedeutet, „dass das, was den
Menschen möglich macht, ein Ensemble von Strukturen ist, die er zwar denken und
beschreiben kann, deren Subjekt, deren souveränes Bewußstsein er jedoch nicht
ist.“15 Das Entschwinden des bisherigen, historisch konstruierten Subjekts nimmt
Foucault zum Ausgangspunkt für eine neue eigene Ausarbeitung von Subjektivität.
Für ihn besteht Subjektivität in dem reflexiven Prozess des ’Sich-zu-sich-selbst-
Verhalten-Könnens’. Das Subjekt, das unter bestimmte Macht- und Wissens-
komplexe unterworfen ist, hat die Möglichkeit sich zu diesen in Form von Anpas-
sung oder Widerstand zu verhalten. In seiner „Neubegründung der Ethik als
Lebenskunst, als Kunst der Existenz, (..) [fordert er den Einzelnen auf zur]
‚Formierung und Entwicklung einer Praktik seiner selbst, die zum Ziel hat, sich
selbst als den Arbeiter an der Schönheit des eigenen Lebens zu konstituieren’“16.
12 Meueler (1993) S.37 13 Meueler (1993) S.41 14 Vgl. Meueler (1993) S.41 15 Foucault (1987) S.14 zit. n. Meueler (1993) S.43 16 Meueler (1993) S.44-45
1. Subjektivitätstheorie
10
1.2. Das Subjekt aus sozialisationstheoretischer Perspektive
„ No man is an Island“ John Donne (Gedicht des englischen Dichters)17
„Sozialisation ist nichts Statisches, sondern eine höchst dynamische, prozeßhafte
Angelegenheit, die dem Mensch bereits in den ersten Minuten seines Lebens
widerfährt und ihn bis an sein Lebensende begleitet.“18 Mit ihr gehen die zentralen
Fragen „Wie und warum wird aus einem Neugeborenen ein autonomes,
gesellschaftliches Subjekt? Oder anders: Wie werden wir ein Mitglied der
Gesellschaft?“19 einher. Der Mensch, der im Vergleich zum Tier instinktarm zur
Welt kommt, besitzt einen weiten Entwicklungsspielraum innerhalb seiner Umwelt.
Im Unterschied zu höher entwickelten Tieren, vollziehen sich beim Menschen
entscheidende Entwicklungen erst nach der Geburt und sind daher von der Umwelt
stark beeinflussbar.20 Darin liegen sowohl Chancen als auch Benachteiligungen im
Sinne von Chancenungleichheiten für den Menschen. Der Soziologe Dieter Geulen
beschreibt Sozialisation als einen „Prozess der Persönlichkeitsentwicklung in
Abhängigkeit von der Umwelt, die stets historisch-gesellschaftlich vermittelt ist“21.
Der Begriff der Persönlichkeit wird von dem Sozialwissenschaftler Peter
Zimmermann als „spezifisches Gefüge von Merkmalen, Eigenschaften,
Einstellungen und Handlungskompetenzen, das einen einzelnen Menschen
kennzeichnet“22 beschrieben. Diese drücken sich in „von außen beobachtbare[n]
Verhaltensweisen, Werthaltungen, Wissen, Sprache, wie auch [in] innere[n]
Prozesse[n] und Zustände[n], Gefühle[n] und Motivationen“23 aus. Auch wenn sich
Sozialisationstheorien im Besonderen mit der Persönlichkeitsentwicklung im Kindes-
und Jugendalter auseinandersetzt, findet diese lebenslang immer dann statt, „wenn
Individuen an sozialen Kommunikations- und Handlungszusammenhängen
teilnehmen, die Veränderungen im Individuum veranlassen“24.
Sozialisation kann nicht allein als Prägung des Individuums durch seine Umwelt,
durch soziale Bezugsgruppen oder durch die Gesellschaft gesehen werden. Sie muss
vielmehr als Prozess verstanden werden, „in dem heterogene Erfahrungen und
17 Zit. n. Müller (1977) S.30 18 Lander (1976) S.1 19 Zimmermann (2003) S.13 20 Vgl. Müller (1977) S.30 21 Zimmermann (2003) S.13 22 Zimmermann (2003) S.17 23 Zimmermann (2003) S.17 24 Scherr (2006) S.26
1. Subjektivitätstheorie
11
Erwartungen emotional und kognitiv verarbeitet werden“25, in dem das Individuum
kein passives Objekt von Einwirkungen ist, sondern aktiv auf diese in eigensinniger
Weise reagiert.26 Diesen Eigenanteil des Subjekts im Sozialisationsprozess fasst der
Pädagoge Jürgen Zinnecker in den Begriff der ‚Selbstsozialisation’.27 Die Pers-
pektive der neueren Sozialisationsforschung auf das Individuum als handlungsfähig-
es, autonomes Subjekt, von dem Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann als Modell
des „produktiv realitätsverarbeitenden Subjekts“28 bezeichnet, stellt „das
menschliche Subjekt in einen sozialen und ökologischen Kontext, der subjektiv
aufgenommen und verarbeitet wird, der in diesem Sinn also auf das Individuum
einwirkt, aber zugleich immer auch durch das Individuum beeinflusst, verändert und
gestaltet wird.“29
Sozialisation kann demnach nicht als absolute Vergesellschaftung durch Anpassung
verstanden werden, sondern muss gleichrangig die individuelle Entfaltung und
Autonomie des Subjekts berücksichtigen. Es geht demnach vielmehr um eine Art
Abgleich und Vermittlung zwischen der inneren Realität des Subjekts und der
äußeren Realität der Umwelt, welche sich durch Interaktion, Kommunikation und
Tätigkeiten gestaltet.30 Der Spracherwerb, sowie die Entwicklung des eigenen
Denkvermögens sind für diesen subjektiven Prozess der Auseinandersetzung mit
sozialen und gesellschaftlichen Vorgaben und Erwartungen von großer Bedeutung.31
1.3. Das Subjekt als Identitätskonstruktion
„Die Annahme des einen Subjekts ist vielleicht nicht notwendig; vielleicht ist es ebenso gut erlaubt, eine Vielfalt von Subjekten anzunehmen.“
Friedrich Nietzsche32
Während sich die Moderne mit ihrer klassischen Identitätsforschung vorwiegend an
den Modellen der stufenweisen Identitätsentwicklung, wie es zum Beispiel Erik H.
Erikson oder Lawrence Kohlberg entwickelten, orientierte, sind für die Frage nach
Identität in der Postmoderne verstärkt die Prozesse von Individualisierung,
Pluralisierung und Globalisierung in den Blick zu nehmen. Der Sozialpsychologe
Heiner Keupp wendet sich in seiner Auseinandersetzung mit dem Identitätsbegriff im 25 Scherr (2006) S.25 26 Hervorgehoben wird diese Eigentätigkeit der Subjekte in einer konstruktivistischen Sozialisationsforschung. 27 Vgl. Zimmermann (2003) S.76-77 28 Hurrelmann (1993) S.64 zit. n. Zimmermann (2003) S.17 29 Hurrelmann (1993) S.64 zit. n. Zimmermann (2003) S.15 30 Vgl. Zimmermann(2003) S.17 31 Vgl. Scherr (2006) S.25 32 Zit. n. Keupp (2009) S.7
1. Subjektivitätstheorie
12
Besonderen diesen Themen zu. In seinem Vortrag der Tagung „Identitätsentwicklung
in der multioptionalen Gesellschaft“ 200933 lassen sich m.E. zeitgemäße Antworten
zum Identitätsbegriff heute finden, auf die ich im Folgenden einen Blick werfen
möchte.
Identitäten postmoderner Lebensverhältnisse sind in ihrer bruchstückhaften und
fragmentarischen Gestalt zu sehen. Von dem Subjekt ist eine hohe Eigenleistung
gefordert, wenn es um das Zusammenbringen von Erfahrungsfragmenten innerhalb
einer pluralistischen Gesellschaft in einen sinnhaften Zusammenhang geht. Der Titel
„Identitätsentwürfe zwischen postmoderner Diffusität und der Suche nach
Fundamenten“ (Keupp 1998) beschreibt deutlich, welchen Anforderungen sich das
Subjekt heute gegenüber sieht. Identitätsarbeit, als Prozess der konstruktiven
Selbstverortung und „der Herstellung einer Passung zwischen dem subjektiven
‚Innen’ und dem gesellschaftlichen ‚Außen’“34, bezeichnet Keupp als ‚Patchwork’.
Diese Passungsarbeit ist auch als Prozess zu verstehen, in dem die Subjekte mit
pluralen schöpferischen Möglichkeiten patchworkartige Identitätsmuster aus den
Erfahrungsmaterialien ihres Alltags herausbilden. Die Postmoderne löst Begriffe wie
Einheit, Kontinuität und Kohärenz mit den Begriffen Diskontinuität, Fragmentierung
und Zerstreuung ab. Die Idee von Identität, als abschließbare Entwicklung zum
eigentlichen Kern wird vor diesem Hintergrund abgelöst von der Idee beständiger,
alltäglicher Identitätsarbeit als permanente Passungsarbeit, von dem Bild der
Identitätskonstruktion als offenen immer wieder neu zu gestaltenden Prozess .35 Der
Soziologe Sennett spricht von dem Selbst, das sich nie vollendet, sondern sich in
einem Zustand endlosen Werdens befindet. Identität in der Postmoderne lässt sich
lediglich als einen Pluralitätsbegriff ohne Verbindlichkeit fassen.36 Ähnlich hat der
Philosoph Michel de Montaigne (16. Jh.) dieses Gefühl pluraler Möglichkeiten der
eigenen Identität mit folgenden Worten ausgedrückt.
„Ich gebe meiner Seele bald dieses, bald jenes Gesicht, je nach welcher Seite ich sie
wende. (..) Es gibt nichts Zutreffendes, Eindeutiges und Stichhaltiges, das ich über
mich sagen, gar ohne Wenn und Aber in einem einzigen Wort ausdrücken könnte.“
Michel de Montaigne37
33 http://www.ipp-muenchen.de/texte/keupp_09_freising04_text.pdf Abruf: 11.02.10 34 Keupp (2009) S.3 35Vgl. Keupp (2009) S.5 36 Vgl. Fuchs (2001) S.218 37 Zit. n. Keupp (2009) S.6
1. Subjektivitätstheorie
13
In seinem Vortrag gibt Keupp zwei bedeutende Anhaltspunkte dafür, wie es dem
Subjekt gelingen kann, innerhalb dieser komplexen gesellschaftlichen Verhältnisse
seinen eigenen selbstbestimmten Weg zu finden und zu beschreiten. Einerseits sieht
er für die Subjektentwicklung in Zeiten der Individualisierung einen Kontext der
Anerkennung in Form eines sozialen Netzwerks und einer tragenden Gemeinschaft
vonnöten. Zum Anderen das Finden eines eigenen Lebenssinns, welcher nicht
einfach übernommen, sondern in einem selbstreflexiven Prozess als Gefühl der
Kohärenz, d.h. als Gefühl für einen inneren Zusammenhang und ein zusammen-
gehöriges Ganzes, entwickelt werden muss.38
Nicht zuletzt möchte ich auf drei weitere bedeutsame Bestandteile des Identitäts-
konzepts hinweisen. Zum Einen das Selbstkonzept, welches das Wissen über die
eigene Person meint, außerdem der Selbstwert, d.h „die Wertung der eigenen Person
im Verhältnis zu den Normen und Wertesystemen der Gemeinschaft und (..) die
Kontrollüberzeugung, die subjektive Zuversicht, auf die Lebensumstände einwirken
zu können“39.
1.4. Subjektentwicklung
Die Bildung des Subjekts beschreibt der Erziehungswissenschaftler und Theologe
Erhard Meueler in Anlehnung an den Soziologen Leo Löwenthal als stufenweise
Entwicklung vom ‚kleinen zum großen Ich’. „Das kleine Ich sei das instrumentelle,
das auf das ‚Nächste’ ausgerichtete, grob lustbezogene subjektive Verlangen, mit
dem der Einzelne in einer nicht als solidarisch konzipierten Gesellschaft sich rein auf
sich selbst bezogen zu bestätigen versuche.“40 Im Bemühen um die eigene
Selbsterhaltung, stellt sich das ‚kleine Ich’ der eigenen Lebens- und Alltags-
bewältigung durch ein Wechselspiel von Anpassungsleistungen und Widerständig-
keit gegenüber dem gegebenen Anpassungsdruck, vermittelt durch Triebwünsche
oder Über-Ich Forderungen. Dies bezeichnet Meueler als eher funktionale
Subjekthaftigkeit, die durch eine funktionale Selbstreflexion zustande kommt. Sie
wird bestimmt durch das Bedürfnis nach Handlungssicherheit, die in einer Art
Routinehandlung von ständigen Einzelentscheidungen entlastet wird.
Subjektentwicklung ist für Meueler nicht denkbar ohne die Entwicklung von
funktionaler zu emanzipatorischer Selbstreflexion. Letztere zielt auf das vollständige
38 Vgl. Keupp (2009) S.23 39 Cabrera-Rivas (2002) S.24 40 Meueler (1993) S.90
1. Subjektivitätstheorie
14
Begreifen von Handlungen und Interaktionssystemen, auf praktizierte Wider-
ständigkeit gegen Herrschaftsverhältnisse und kann nur durch aktive Selbstver-
änderung entwickelt werden. Die Entwicklung zum ‚großen Ich’ bedeutet demnach,
dass „in eigener Verantwortung unrealisierte Möglichkeiten realisiert, Festgefahrenes
gelockert, Unerschlossenes erschlossen werden kann.“41
Subjektivitätsentwicklung gestaltet sich in einer nach oben offenen Richter-Skala,
kann nicht zielbestimmt geplant werden und ist in der Außenwahrnehmung nicht
immer nachvollziehbar. Sie lässt sich beschreiben, als Ausbau von Widerständigkeit
in der Auseinandersetzung mit der äußeren, der inneren und der sozialen Welt,
welche zur Herstellung von Subjektivität im Sinne einer selbstbewussten
Individualität führt.42
Die Genese von Subjektivität wird von dem Kulturwissenschaftler Max Fuchs als ein
innerer Entwicklungsprozess beschrieben, „der unter konkreten gesellschaftlichen
Bedingungen stattfindet und der über ein aktives Tätigwerden des Einzelnen in
seinem Kontext vorangetrieben wird“43. Dieses selbstinitiierte Tätigwerden des
Subjekts wird durch das Bedürfnis nach „einer immer weitergehenden Verfügung
über die eigenen Lebensbedingungen“44 und durch die Fähigkeit dies umzusetzen,
bedingt.
Subjektivität kann in diesem Sinne als Entwicklung der Möglichkeit verstanden
werden, gestaltend in die eigenen Lebensumstände einzugreifen und diese zu
beherrschen. Grundlage von Subjektentwicklung sind dabei „Handlungsfähigkeit und
-bereitschaft auf der Grundlage der Analyse von Hindernissen, auf der Basis einer
gemeinschaftlich koordinierten Strategie“45 Handlungsfähigkeit wird nicht
ausschließlich durch die Bereitschaft der Subjekte und ihre Handlungsressourcen
bestimmt, sondern hängt auch im Wesentlich von den (Selbst-) Wirksamkeits-
erfahrungen der Subjekte ab. Erleben diese ihre Handlungen als nicht wirksam oder
erfolglos, haben diese negativen Erfahrungen Einfluss auf die Eigeninitiative der
Subjekte. Eine große Rolle für das Wirksamkeitserleben von Individuen spielen
gesellschaftliche Definitionen von Leistung und Defizit, von Erfolg und Misserfolg.
Auch gesellschaftliche Rollenzuschreibungen können dazu führen, dass sich die
Betroffenen kaum handlungswirksam erleben und sich daher weniger für ihre
41 Meueler (1993) S.91 42 Vgl. Meueler (1993) S.89-97 43 Fuchs (2001) S.12 44 Fuchs (2001) S.38 45 Fuchs (2001) S.39
1. Subjektivitätstheorie
15
Bedürfnisse oder Ziele einsetzen. Das eigene Handlungserleben hängt daher
besonders von dem eigenen sozialen Kontext, sowie von Handlungsbewertungen
anderer ab.46
1.5. Subjektentwicklung als Befähigungs- und Bildungsprozess
Der Begriff der Befähigung findet sich im sozialwissenschaftlichen Kontext vor
allem in dem Empowerment Ansatz, maßgeblich durch den Sozialwissenschaftler
Julian Rappaport hervorgebracht, und in dem von dem Ökonomen Amartya Sen und
der Moralphilosophin Martha Nussbauch hervorgebrachten capability approach
wieder. Empowerment, als Selbstbefähigung und Selbstermächtigung verstanden, ist
ein Ansatz, der Menschen dazu ermächtigen soll, verlorengegangene Fähigkeiten
zurückzuerlangen, sowie die Unüberschaubarkeiten und Belastungen des Alltags in
eigener Kraft zu bewältigen, indem er das Vertrauen in die Stärken des Menschen
setzt.47 Der capability approach oder auch Befähigungsansatz richtet sich auf die
Möglichkeiten der Menschen, ein gelingendes, selbstbestimmtes Leben zu führen.
Der Ansatz setzt nicht nur mit Befähigung an den individuellen Fähigkeiten des
Subjekts ans, sondern auch an den gesellschaftlichen und von der Umwelt bedingten
Möglichkeiten, diese Fähigkeiten hervorzubringen.48 In dieser Doppelbedeutung von
Befähigung liegt m.E. ein wichtiger Schlüssel für die Entwicklung des Subjekts. Die
Entfaltung von Subjektivität durch die Stärkung von Selbstbestimmung und
Selbstbewusstsein bedarf nicht nur der Orientierung an den Fähigkeiten des Subjekts,
sondern insbesondere auch der Schaffung von Bedingungen, welche diesen Raum
geben, sich zu entfalten.
Befähigung sollte sich demnach nicht nur auf Handlungsbefähigung richten, sondern
insbesondere die freie Entfaltung des Subjekts ermöglichen, indem es gesellschaft-
liche Freiräume dazu schafft. Solche Freiräume können im Besonderen durch
Bildungsprozesse initiiert werden. Da sich diese Arbeit der Ästhetischen Praxis
zuwendet, sind hier vor allem ästhetisch-kulturelle Bildungsprozesse gemeint.
Eine passende Umschreibung kultureller Bildung liefert Max Fuchs mit der
Metapher vom ‚aufrechten Gang’, angelehnt an den deutschen Philosophen Ernst
Bloch. Diese erinnert an das Bild, das Meueler von Subjektivität als Entwicklung
‚vom kleinen zum großen Ich’ zeichnet. In dieser Metapher steckt zunächst das Bild
46 Vgl. Grundmann (2008) S.133-135 47 Vgl. Herriger (1997) S.13-14 48 Vgl. Heinrichs (2008) S.54
1. Subjektivitätstheorie
16
des Gehens. Gehen ist nicht nur zielgerichtet, in dem Sinne, dass man sein Ziel selbst
auswählt oder sich dieses zumindest zu Eigen macht, sondern es ist auch ein Prozess,
bei dem man gegebenenfalls Orientierungshilfen und Wegweiser braucht oder die
Richtung im Gehen selbstbestimmt ändert. Der zweite Aspekt der Metapher, das
Aufrechte beim Gehen, zeugt nicht nur von Selbstbewusstsein, sondern ermöglicht
dem Subjekt auch sich einen Überblick zu verschaffen und sich damit die
Orientierung zu erleichtern.49 Bildung in diesem Sinne ist also „ein Prozeß, ist
Tätigkeit, ist selbstbewusst und selbstbestimmend“50. Das Bild des ‚aufrechten
Ganges’ richtet sich gegen alle Formen von Unterdrückung und ist ein ständiger Akt
der Emanzipation. Es richtet sich außerdem auf die „Verwirklichung von Menschsein
auf dem je höchsten Niveau“51 und schließt dabei insbesondere die ästhetisch-
kulturellen Bedürfnisse des Menschen mit ein.
Fuchs beschreibt noch weitere Facetten von Bildung. Sie ist ein „Ganzheitsbegriff,
der alle Dimensionen von Menschsein (..) einschließt[;] (..) Bildung schließt ein die
Herstellung eines bewussten Verhältnisses zu sich, zu seiner Vergangenheit und
Zukunft, zu seiner natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt[;] (..) Bildung ist
gelebte Subjektivität, wenn mit dieser ein Verständnis gemeint ist (..) [,] das den
Aspekt, Aktivitätszentrum des eigenen Lebens zu sein, hervorbringt.“52
„Bildung geschieht ausschließlich in der Wechselwirkung zwischen Ich und Welt,
durch die subjektive Gestaltung der Welt und ihre Rückwirkung auf das gestaltende
Subjekt, also im Hin und Her, das nicht planbar ist.“53 Deshalb sind
Bildungsprozesse notwendig, in denen sowohl die Aneignung von Neuem, als auch
die kreative, selbstgestalterische Fähigkeit des Subjekts gefordert sind.
1.6. Das schöpferische Subjekt
In der historischen Entwicklung des Subjektbegriffs liegt die Betonung meist auf
dem aufklärerischen vernunftorientierten Denken, Wollen und Handeln. Eine Wende
vom denkenden Subjekt zum empfindenden Subjekt findet jedoch in der Romantik
Anfang des 19. Jh. statt. Hier wird die „Freisetzung der Kräfte groß und tief
empfundener Gefühle“54 betont. Nicht nur die unberührte Natur, sowie die Einheit
49 Vgl. Fuchs (1998) S.13-14 50 Fuchs (1998) S.14 51 Fuchs (1998) S.14 52 Fuchs (1998) S.15 53 http://www.paedagogik.phil.uni-erlangen.de/mitarbeiter/liebau/kultur-und-geist.pdf Abruf:01.02.10. S.9 54 Meueler (1993) S.108
1. Subjektivitätstheorie
17
von Leib und Seele wird neu entdeckt, sondern auch die schöpferische Freiheit des
Subjekts durch Phantasie, Poesie, Spontanität, Intuition und Inspiration. „Spontanität
erscheint als denkbarer Kern aller Subjekthaftigkeit, weil sie das Objektsein, das Sein
als berechenbares Objekt, durchdringt und überspringt.“55
In einer vernunftbetonten Zeit bedarf es demnach für die Subjektentwicklung der
Schaffung von Frei- und Spielräumen zur Wiedererlangung und Aneignung
spontaner und kreativer Kräfte. Das Subjekt ist mit neuem kreativen
Aktivitätspotential auszustatten, das erkennbar ist „an Vitalität, Initiative und
Ausdauer, Neugier, Impulsivität, Intuition, Inspiration, Freude an unkonventionellen
Einfällen, Witzigkeit, Auffassungstempo, Flüssigkeit im Einfall.“56 Da das Ausleben
persönlicher Kreativität von sozialen Chancen, sowie von der eigenen Biographie
abhängig ist, sind zum einen gesellschaftliche Experimentierräume zu schaffen und
zum andern ist der Einzelne in seiner Bereitschaft zur bewussten Subjektentwicklung
zu ermutigen. Foucault spricht davon „sich selbst zum Objekt einer komplexen und
schwierigen Ausarbeitung zu machen, statt sich als der zu belassen, der man ist.“57
Dazu verwendet er den Begriff der Lebenskunst, die für ihn maßgeblich durch
Reflexivität bestimmt ist. Sie lässt sich beschreiben „als die Erarbeitung neuer
Formen des Lebens, als die Formung und Transformation seiner selbst, als der
Versuch zur Durchdringung und Intensivierung der Existenz“58.
1.7. Soziale Subjektivität versus Selbstversessenheit
„Autonomie nenne ich das Vermögen der Selbsterhaltung, Souveränität das Vermögen der Selbstverschwendung. Ohne Souveränität wird Autonomie zum
Verhängnis.“ Dietmar Kamper, Soziologe59
Der Mensch, der von Kind an auf Kommunikation und Interaktion angewiesen ist,
erlebt seine Realität vor allem als eine durch Beziehungen vermittelte und gedeutete
Wirklichkeit. Subjekte sind im gesellschaftlichen Lebenszusammenhang vor allem
Träger beruflicher und sozialer Rollen. Eine Marktgesellschaft, die durch
Konkurrenz, Selbstbehauptung und Selbstdurchsetzung geprägt ist, fordert in erster
Linie in diesen Rollen Funktionalität von ihren Subjekten. Ich-Identität, die dem
Philosophen und Sozialpsychologen George H. Mead zufolge „in der
55 Meueler (1993) S.109 56 Meueler (1993) S.110 57 Schmid (1991) S.28 zit.n. Meueler (1993) S.110 58 Schmid (1991) S.29 zit. n. Meueler (1993) S.111 59 Zit. n. Meueler (1993) S.102
1. Subjektivitätstheorie
18
Auseinandersetzung mit den Erwartungen bedeutsamer anderer entsteht“60, verlangt
jedoch mehr als ein reines Funktionieren in vorgegebenen Strukturen. Hier kommen
Bedürfnisse nach Anerkennung, danach geliebt und glücklich zu sein, zum Tragen
die einer Antwort bedürfen. Diese Antwort findet sich in der wechselseitigen
Anerkennung der Subjekte, welche Vorraussetzung für deren Entwicklung ist und
damit die Grundlage für die Entwicklung von Selbstständigkeit, Selbstvertrauen,
Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung bildet.61
Mit dem Aufkommen des New Age und der damit verbundenen Selbstverwirk-
lichungsideologie entwickelte sich eine Überbetonung des Selbstbezugs, der sich in
der Herauslösung des Einzelnen aus gesellschaftlichen und sozialen Verhältnissen
und die Fokussierung auf das ‚Mit- sich- selbst- Experimentierens’ kennzeichnet.
Der Psychoanalytiker Horst E. Richter bezeichnet den Glauben, „neben der
Gesellschaft, in deren Prozesse man durchgängig verwickelt ist, eine gesonderte
humanitäre Psychokultur pflegen zu können“62 als ‚narzisstische Selbsttäuschung’
und Meueler spricht von einer ‚Verklärung von Individualisierung als Vereinzelung’.
Subjektivität strebt demnach keine absolute Autonomie an, sondern „realisiert sich in
der Dialektik von angestrebter Selbstbestimmung und Angewiesensein auf andere“63.
Sie ist nicht lediglich auf sich selbst bezogen, sondern bewegt sich in
verantwortender Haltung auf den anderen zu. Diese Übernahme von Verantwortung
beschreibt der Theologe K.E. Logstrup als wichtigen ‚Beitrag zum Mündigwerden
der Person’.64
1.8. Das Subjekt in der Jugendphase
Die Entstehung der Jugendphase, als eine Art ‚Schonraum’ in dem sich die Subjekte
spezifischen Entwicklungsaufgaben zu stellen haben, geht mit der Industrialisierung
Ende des 19. Jh./ Anfang des 20. Jh. einher. Aufgrund technologischer Entwicklung-
en, die bestimmte Qualifikationen forderten, wurde eine längere Vorbereitungszeit
auf das Berufsleben eingeräumt und damit ein neuer Entfaltungsspielraum für Junge
Erwachsene. Dieser konzentrierte sich jedoch in erster Linie auf das wohlhabende
Bürgertum, sodass die Lebensphase Jugend, „als von den Zwängen der Arbeit
60 Meueler (1993) S.98 61 Vgl. Meueler (1993) S.97-99 62 Meueler (1993) S.106 63 Meueler (1993) S.100 64 Vgl. Meueler (1993) S.101
1. Subjektivitätstheorie
19
freigesetzte Phase des Lernens und der Entwicklung“65, zunächst als Konstruktion
des Bürgertums gesehen werden kann.66
Innerhalb der industriellen Modernisierungsumbrüche konzentrierte sich der Staat
jedoch vor allem auf proletarische Großstadtjugendliche, die er als „krisengefährdete
und bedrohte Opfer“67 in den Blick nahm. Der pädagogischen Arbeit mit dem
Jugendlichen „ging es stets um Einpassung, Anpassung, Integration, Normen- und
Verhaltenskontrolle, Unterordnung, Disziplinierung und Vereinheitlichung“68, sodass
der Jugendliche „oftmals universalisierend unreflektiert als verwahrloste, kriminelle,
verbrecherische, gottlose und (..) als lebenskorrektionsbedürftige Person
stigmatisiert“69 wurde. Auch wenn diese negativen Konnotationen seit den 1920ern
vermehrt verschwanden, hat sich die sozialpädagogische Arbeit mit Jugendlichen
dieser Stigmatisierungsgefahr auch heute stets bewusst zu sein, dieser entgegen-
zuwirken, und Jugendliche immer im Zusammenhang mit den jeweiligen
gesellschaftlichen Strukturen und Lebensbedingungen zu sehen.
So sind auch die komplexen Entwicklungsanforderungen, welche die Jugendphase
kennzeichnen, „als soziale Anforderungen [zu betrachten], deren legitime
Bewältigungsformen sozial festgelegt werden und die vor dem Hintergrund
spezifischer und ungleicher Lebensbedingungen bewältigt werden“70.
Folgende besonderen Anforderungen der Jugendphase betont der Sozialwissen-
schaftler Klaus Hurrelmann: Die Entwicklung eines eigenen Wert- und Normen-
systems, eines ethischen Bewusstseins, eigener Handlungsmuster, der eigenen
Geschlechterrolle, eines sozialen Bindungsverhaltens sowie interkultureller und
sozialer Kompetenzen.71
Die Erziehungswissenschaftler Wilfried Ferchhoff und Georg Neubauer beschreiben
in ihrem Katalog von Entwicklungsaufgaben weitere Herausforderungen der
Jugendphase. Jugendliche stehen demnach folgenden Anforderungen gegenüber: Der
Akzeptanz der eigenen körperlichen Erscheinung und dessen effektiver Nutzung, der
Lockerung, Ablösung und Gewinnung emotionaler Unabhängigkeit von den Eltern,
einer qualifikationsbezogenen Vorbereitung der beruflichen Karriere, der
Vorbereitung auf Heirat und Familienleben, der Gewinnung eines sozial-
65 Scherr (2006) S.86 66 Vgl. Hurrelmann (1985) S.29-30 67 Ferchhoff (2007) S.28 68 Ferchhoff (2007) S.29 69 Ferchhoff (2007) S.29 70 Scherr (2006) S.88 71 Vgl. Fuchs (2001) S. 96-98 nach Hurrelmann (1985) S.125
1. Subjektivitätstheorie
20
verantwortungsvollen Verhaltens, der Entwicklung eines relativ stabilen
Selbstkonzeptes, der Aufnahme intimer und emotionaler Beziehungen zum Partner
sowie dem Entwurf eines eigenen Lebensplans.72
Der Sozialwissenschaftler Lothar Böhnisch beschreibt die Jugendphase als „eine
personale Konstellation, die wesentlich durch die Pubertät und ihre soziale Resonanz
strukturiert ist“73, mit dem Begriff der ‚Bedürftigkeit’. „Es handelt sich hierbei um
eine leibseelische, geschlechtstypisch geprägte Zustandsbefindlichkeit Jugendlicher,
in der sich Ungewissheit, Unwirklichkeit, Minderwertigkeit, Omnipotenzgefühl und
Selbstbehauptung gleichermaßen mengen.“74 Damit ist kein Defizit gemeint, sondern
ein innerer Antrieb, der als „ein Suchen nach dem eigenen Selbst bei sich und mit
anderen, immer in der Spannung zu den gesellschaftlichen Erwartungen“75 gewertet
werden kann. Angesichts der Individualierungs- und Pluralisierungsprozesse besteht
die größte Herausforderung für Jugendliche in der Postmoderne darin, „ihre Identität,
Biographie und ihren Sinn - im Rahmen gesellschaftlicher Vorgaben und Zumu-
tungen und einem beständigen Stilwandel der Jugendkulturen im Zugriff von Markt
und Massenmedien, (..) – selbst [zu] ‚basteln’, (..) den ‚Faden ihres Lebens’ selbst zu
finden.“76
1.9. Subjektorientierung in der sozialpädagogischen Arbeit mit Jugendlichen
Das neue subjektorientierte Denken sowohl zum Individuum hin, als auch zu den
Verhältnissen in denen es lebt, sowie das Fördern von Zutrauen des Menschen zu
sich selbst, kann als ein Beitrag des Humanismus gewertet werden.77 Welche
Bedeutung hat aber die Subjektorientierung in der sozialpädagogischen Arbeit mit
Jugendlichen?
Subjektivität kann weder als sozial determiniert, noch als naturgegeben gesehen
werden. Subjekttheorien gehen demnach nicht von dem Subjekt als Marionette
gesellschaftlicher oder naturgegebener Verhältnisse aus, sondern setzen an der
Selbstbestimmungsfähigkeit des Einzelnen an.78 Die Subjekte sollen demnach dazu
berechtigt und befähigt werden, ihr „Leben auf der Grundlage einer bewußten
Auseinandersetzung mit den vorgegebenen gesellschaftlichen Lebensbedingungen
72 Ferchhoff/ Neubauer (1989) S.121-122 73 Böhnisch (2001) S.197 74 Böhnisch (2001) S.197 75 Böhnisch (2001) S.197 76 Hafeneger (2003) S.115 77 Vgl. Abels (2006) S.94 78 Vgl. Scherr (2006) S.170-171
1. Subjektivitätstheorie
21
selbst bewußt zu gestalten.“79 Die gesellschaftlichen Strukturen können dabei nicht
einseitig als Begrenzung der Selbstbestimmungs- und Selbstbewusstseinsfähigkeit
betrachtet werden, da sie diese Fähigkeiten ebenso hervorbringen, indem sie die
Bedingungen der Entwicklung des Subjekts schaffen.
Als wichtiger Ausgangspunkt für die Entfaltung von Subjektivität gilt die Erfahrung
von sozialer Anerkennung. „Nur wenn wir die Erfahrung machen, daß unsere
besonderen Eigenschaften, das, was uns als Person ausmacht, sozial anerkannt und
respektiert wird, können wir auch uns selbst als Person anerkennen und achten,
Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen entwickeln“80. Anerkennungsverhältnisse sind
fern von Macht- und Herrschaftsstrukturen als wechselseitiges Respektieren zu
charakterisieren. Das Menschenwürde-Axiom, dass die Würde des Menschen
unantastbar ist, verweist darauf, dass jede Person ausnahmslos als „ein
unverwechselbares und besonderes Individuum“81 zu sehen ist. Dieser Grundsatz der
Menschwürde wird in vielen, auch in unseren gesellschaftlichen Strukturen nicht
immer umgesetzt. Deshalb sind soziale Konflikte nicht nur „Auseinandersetzung
über die Verteilung materieller Güter und Ressourcen, sondern [ebenso] Versuche,
dem Anspruch auf Anerkennung der eigenen Person Geltung zu verschaffen.“82
Da in der Lebensphase Jugend Wertschätzung und Selbstachtung aufgrund ihrer
Charakterisierung als Übergangsphase von ‚nicht mehr Kind zu noch nicht
Erwachsener sein‘ und der damit verbundenen Unsicherheit besonders in Frage
gestellt werden, sind diese Themen für Jugendliche besonders zentral. Sie müssen
sich der Aufgabe stellen, „jene Fähigkeiten, Qualifikationen und Persönlichkeits-
eigenschaften zu erwerben, über die man verfügen muß, um als sozial respektabler
Erwachsener gelten zu können.“83
Die sozialpädagogische Aufgabe besteht demnach darin, Jugendlichen zu
ermöglichen, „mehr oder weniger experimentell, mehr oder weniger spielerisch oder
ernsthaft, für sie selbst akzeptable und sozial anerkennungsfähige Lebensentwürfe
[zu] erproben.“84
Als weiterer zentraler Begriff für die Entwicklung von Subjektivität steht neben
Selbstachtung und Anerkennung die Entwicklung von Selbstbewusstsein. Dieser
79 Scherr (1997) S.46 80 Scherr (1997) S.51 81 Scherr (1997) S.51 82 Scherr (1997) S.52 83 Scherr (1997) S.52 84 Scherr (1997) S.54
1. Subjektivitätstheorie
22
Begriff bezeichnet zum einen die emotionale Haltung, die wir uns selbst gegenüber
haben und zum anderen das Wissen, das wir von uns selbst haben, das sich in der
Fähigkeit ausdrückt „in Reaktion auf äußere Reize nicht einfach nur zu handeln und
zu empfinden, sondern sich selbst zum Gegenstand distanzierter Betrachtung zu
machen.“85 In einem reflexiven Vorgang können eigene Bedürfnisse, Motive,
Gründe oder Interessen in ein sprachlich fassbares Wissen überführt werden, sodass
das Subjekt in der Lage ist, „zwischen Handlungsalternativen abzuwägen, eigene
Bedürfnisse bezüglich ihrer Ursachen und Folgen zu bedenken, sowie das aktuelle
Handeln in Bezug zur eigenen Vergangenheit und Zukunft zu setzen.“86
Selbstbewusstsein drückt sich insbesondere darin aus, in der Lage zu sein, innere und
äußere Zwänge situativ außer Kraft zu setzen.
Für die Arbeit mit Jugendlichen bedeutet dies, Angebote zu schaffen, die den
Jugendlichen eine Auseinandersetzung mit der eigenen Person und dem eigenen
Lebensentwurf ermöglichen. Es sollten Bildungsprozesse initiiert werden, in denen
die Entwicklung von Selbstbewusstsein angeregt und ermöglicht wird.
Als einen letzten bedeutenden Aspekt für die Bildung von Subjekten möchte ich den
Begriff der Selbstbestimmung betrachten. Selbstbestimmung, zu verstehen als
Fähigkeit das eigene Leben selbst und bewusst zu gestalten, sowie sich an
gesellschaftlicher und politischer Gestaltung zu beteiligen, kann durch materielle
Unterversorgung, politische, soziale und kulturelle Bedingungen begrenzt werden.
Eine besondere Rolle spielt dabei die berufliche Rolle der Subjekte und deren
Handlungs- und Entscheidungsautonomie. Kulturelle Selbstbestimmung beinhaltet
die Fähigkeit, „über Sprache und Medien verfügen zu können, in denen Erlebnisse,
Bedürfnisse, Wünsche und Hoffnungen artikuliert werden können.“87 Soziale
Selbstbestimmung ist durch das Vorhandensein von sozialen Netzwerken,
Freundschafts- und Kooperationsbeziehungen, sowie den bewussten Umgang mit
den Beziehungen, in denen man lebt, zu beschreiben.
Die Arbeit mit Jugendlichen hat sich an deren Lebenswirklichkeit zu orientieren, mit
dem Ziel, Beschränkungen eines selbstbestimmten Lebens aufzudecken und diese
abzubauen. Soziale und materielle Lebensbedingungen der Jugendlichen sind in den
Blick zu nehmen und zu verbessern. Ebenso sind durch partizipative Strukturen die
gesellschaftliche und alltagsbezogene Mitgestaltung der Jugendlichen zu fördern.
85 Scherr (1997) S.54 86 Scherr (1997) S.55 87 Scherr (1997) S.58
2. Tanz
23
Abschließend lassen sich folgende Aspekte für eine subjektorientierte sozial-
pädagogische Arbeit mit Jugendlichen, die auf eine Kultur der Anerkennung, auf
Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung zielt, festhalten. Es geht um die
Herstellung sozialer Handlungsstrukturen, die durch Anerkennung gekennzeichnet
sind und in denen autonomen Subjekten zum Einen gemeinsames Handeln und zum
Anderen Erfahrungen als gestaltungsfähiges Subjekt ermöglicht wird. Egalitäre
Entscheidungsstrukturen in denen Erfahrungen der Teilhabe gemacht werden können
sind ebenso wichtig wie das Erleben der eigenen Stärke als Gegenerfahrung zu
gesellschaftlichen Ohnmachtserfahrungen. Das Initiieren von Bildungsprozessen zur
Förderung und Entfaltung der eigenen Fähigkeiten und zur reflexiven
Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte und –situation bildet den
wichtigsten Kern in der Arbeit mit Jugendlichen.88
Bildungsprozesse, die zu sozialer Subjektivität befähigen, lassen sich m.E. im
Besonderen in der Ästhetischen Praxis wiederfinden. Ich möchte mich im Speziellen
der Praxis zuwenden, die sich mit dem Medium Tanz auseinandersetzt. Bevor ich
den Zusammenhang zwischen Bildung zu Subjektivität und der Durchführung
tanzästhetischer Projekte herstelle, möchte ich im folgenden Kapitel genauer
konstituieren um welche Tanzform es sich hier handelt. Diese werde ich anhand
wichtiger Aspekte und Wirkungsweisen charakterisieren.
2. Tanz
„Nichts offenbart die menschliche Seele so klar und unvermeidbar wie Bewegung und Gestik. (..) in dem Moment, in dem Du Dich bewegst, stehst du offen da, ob
gesund oder krank, so wie du bist.“ Doris Humphry89
Tanz bewegt nicht nur den Körper, sondern er „betrifft den ganzen Menschen, sein
Erleben, seine Emotionalität, sein Verhalten, seine Kognition und seine sozialen
Bezüge.“90 Er kann als ‚Quelle der Freude’ nicht nur zur stützenden Ressource der
alltäglichen Lebensbewältigung werden91, sondern ermöglicht, wie die Tänzerin
Doris Humphry es in dem obigen Zitat ausdrückt, auch einen persönlichen,
authentischen Selbstausdruck.
88 Vgl. Scherr (1997) S.139 89 Zit. n. Willke/ Hölter/ Petzold (1991) S.79 90 Jäger/ Kuckhermann (2004) S.204 91 Vgl. Jäger/ Kuckhermann (2004) S.205
2. Tanz
24
Hier sei die Rede vom Zeitgenössischen Tanz, auf dessen historische Entwicklung
ich im Folgenden einen Blick werfen möchte, da dieser für das Verständnis der
Zusammenhänge dieser Tanzform unabdingbar ist. Nach einer Auseinandersetzung
mit dem Körper als Kern menschlicher Bewegung sollen weitere bewegungs-
theoretische Aspekte des Tanzes betrachtet werden. Abschließen möchte ich dieses
Kapitel mit verschiedenen Perspektiven auf die Wechselwirkungen zwischen Tanz
und dem Subjekt. Auch wenn ich nicht immer explizit den Zeitgenössischen Tanz
benenne, sondern von dem Tanz allgemein spreche, beziehen sich die Überlegungen
auf den Kontext des Zeitgenössischen und Modernen Tanzes.
2.1. Wichtige Aspekte des Zeitgenössischen Tanzes
Die künstlerische Kategorie Tanz, welche durch ihre vielseitigen Facetten und
pluralen Erscheinungsformen gekennzeichnet ist, bedarf für diese Arbeit einer
Einschränkung. Ich möchte mich an dieser Stelle dem künstlerischen
Zeitgenössischen Bühnentanz zuwenden, der sich insbesondere von Formen des
Gesellschafts- und Volkstanzes abgrenzt und an der Bewegung des Ausdruckstanzes
anknüpft. Er lässt sich kennzeichnen durch Aspekte des Modernen Tanzes, des
kreativen Tanzes, des New Dane, sowie des Tanztheaters.
2.1.1. Historische Betrachtungen
Die Ausdruckstanzbewegung und auch der Moderne Tanz fanden ihren Anfang in
den 1920er Jahren in „Zusammenhang mit anderen künstlerischen, sozialen und
pädagogischen Reformbestrebungen“92 als eine Art Protest gegenüber „den
sinnentleerten, erstarrten Ausdrucksformen und Bewegungsmustern des Klassischen
Balletts, gegenüber den gesellschaftlichen Zwängen, gegenüber den vorherrschenden
bürgerlichen Werten, Ordnungen und Moralvorstellungen.“93 Während Isadora
Duncan (1878-1927) und Martha Graham (1894-1991) in den Vereinigten Staaten als
Pioniere des Modern Dance stehen, stellen in der deutschen Tanzbewegung Rudolf
von Laban (1879-1958) und seine Schülerin Mary Wigman (1886-1973) die
Leitfiguren des Ausdruckstanzes und des Modernen Tanzes dar.94 Durch die
Dominanz des Klassischen Balletts, sowie aufgrund der Behinderungen durch den
Nationalsozialismus, kämpfte der Moderne Tanz in Deutschland um Anerkennung,
92 Fleischle-Braun (2000) S.23 93 Fleischle-Braun (2000) S.27 94 Vgl. Fleischle-Braun (2000) S.23 und Postuwka (1999) S.21
2. Tanz
25
während sich die Bewegung in den Vereinigten Staaten schneller und ungebrochener
entwickelte.95
Der sich im Aufbruch ins 20. Jh. vollzogene Wandel kann als „Epoche der Wendung
zum Menschen hin“ 96 bezeichnet werden. Die „verschiedenen Kulturkritiken, die sich
gegen die erstarrten Konventionen, die Vermassung der Gesellschaft, die Unter-
drückung der Gefühle und der Phantasie zugunsten des Verstandes und gegen den
Intellektualismus wandten“97, bewegten einen Sinneswandel in Europa und den
USA.
Duncan wendete sich gegen diese gesellschaftlichen Zwänge, indem sie „für einen
freieren Umgang mit dem Körper“98 eintrat. Dafür machte sie sich auf die Suche
nach ‚natürlichen und ursprünglichen’ Bewegungen, indem sie sich im Besonderen
mit der Natur auseinandersetzte. Tanz war für Duncan entweder ein Akt der Selbst-
entäußerung, inspiriert durch innere emotionale Stimmungen, oder eine Visualisier-
ung der Musik durch Einfühlung.
Bei Laban zeigte sich ebenfalls, dass die subjektivistische Ausrichtung und
Orientierung am Individuum zur Jahrhundertwende Einzug in die Tanzkunst erhielt.
Für ihn stand „die Persönlichkeitsbildung durch den Tanz von Anfang an im
Zentrum des Blickfelds.“99 Laban formulierte nicht nur „grundlegende Gedanken zur
Tanzpädagogik und einer systematischen Bewegungsanalyse“100, sondern trug in den
1930er Jahren vor allem erheblich zu einer verbesserten gesellschaftlichen Lage und
Anerkennung von TänzerInnen bei, indem er nicht nur Kongresse für TänzerInnen
organisierte, sondern auch eine Berufsorganisation, sowie eine Tanzhochschule
gründete.101 Sein Interesse galt dem Erforschen jeglicher, der Natur des Körpers
innewohnenden, menschlichen Bewegungsmöglichkeiten, insbesondere unter den
Aspekten von Raum und Dynamik.102 Da Laban sich auf die intensive Beschäftigung
mit menschlichem Bewegungsvokabular konzentrierte, löste er den Tanz aus seiner
Abhängigkeit zur Musik und strebte in seinen Choreographien ein ebenbürtiges
Verhältnis dieser an.103
95 Vgl. Kaltenbrunner (2009) S.15-16 96 Postuwka (1999) S.73 97 Postuwka (1999) S.73 98 Lampert (2007) S.110 99 Postuwka (1999) S.73 100 Fleischle-Braun (2000) S.53 101 Vgl. Fleischle-Braun (2000) S.53-54 102 Mit Dynamik meint Laban immer auch die Aspekte von Antrieb und Ausdruck. 103 Vgl. Fleischle-Braun (2000) S.55-59
2. Tanz
26
Auch wenn ich hier in Kürze nur auf die Arbeit von Duncan als amerikanische
Vertreterin und Laban als europäischen Vertreter der Bewegung des Modernen
Tanzes eingegangen bin, lohnt es sich die Arbeit vieler weiterer Mitbegründer des
Modernen Tanzes zu betrachten, was jedoch für diese Arbeit zu weit greifen würde.
Vielmehr möchte ich die Entwicklungen des Tanzes noch etwas weiter zeichnen.
Im Gegenzug zum Klassischen Ballett gestaltet sich der Moderne Tanz insbesondere
durch „weniger Körperkontrolle durch Muskelspannung; mehr elementare
Bewegungen wie Laufen, Hüpfen, Springen; mehr Fluss durch das Einbringen der
Atmung in der Bewegung; mehr Bewegung im Oberkörper (..); weniger
Körperformung durch die stete Wiederholung eines fixierten Bewegungsvokabulars
in Angesicht von Schweiß und Schmerz“104, sowie durch den Verzicht auf
Spitzentanz aus, an dessen Stelle der Barfuß Tanz titt. Moderner Tanz ist weniger an
Leistung und Körperformung interessiert, sondern zeichnet „sich vielmehr durch
inhaltliche Ziele, wie etwa dem Ideal der Erlangung eines ‚natürlichen’
selbstbestimmten Körpers“105 aus. Dennoch entwickeln sich in den USA, anders als
in der deutschen Ausdruckstanzbewegung, ab den 1930er Jahren normierte
Tanztechniken mit einem fixierten Bewegungsvokabular, die benannt sind nach
deren BegründerInnen Doris Humphrey, Lester Horton, Martha Graham, José Limon
und Merce Cunningham.106
Durch eine radikale Neudefinierung von Tanz „hinsichtlich des Umgangs mit Raum,
der Musik, der Thematik und der Bewegung“107, gründet sich in den 1950er und
1960er Jahren in den USA mit dem Choreographen Merce Cunningham und dem
New Yorker Tänzerkollektiv Judson Church Dance Theatre der Postmodern Dance.
Während der Modern Dance „aus einem starken inneren Ausdrucksbedürfnis
entstanden war“108, standen nun für den Postmodern Dance, insbesondere für
Cunningham „abstrakte, formale, entsymbolisierte Bewegungen (..) ästhetisch im
Vordergrund.“109 „Bewegung sollte nichts mehr ‚bedeuten’, sondern ‚reine’
Bewegung ‚sein’ und sich selbst genügen. (..) Zufall trat an die Stelle von Sinn.“110
Das Judson Dance Theatre verabschiedete sich schließlich ganz von besonderer
Tanztechnik und spezifischem Tanzvokabular. Sie „benutzten in ihren
104 Lampert (2007) S.111 105 Lampert (2007) S.111 106 Vgl. Lampert (2007) S.112 107 Postuwka (1999) S.64 108 Postuwka (1999) S.64 109 Lampert (2007) S.115 110 Kaltenbrunner (2009) S.17
2. Tanz
27
Improvisationen alltägliche Bewegungen, wie Sitzen, Liegen, Rollen, Fallen.
Bewegungen, die kein Tanztraining benötigen, sodass jeder sie aufführen (..)
kann.“111 Neben der Zusammenarbeit mit verschiedenen MusikerInnen,
PerformancekünstlerInnen und anderen Kunstrichtungen, experimentierte dieses
Tanzkollektiv auch mit surrealen Dingen. „Aus diesen Experimenten wiederum
fanden neue Tanztechniken ihren Namen: die Contact Improvisation und New
Dance.“112
Steve Paxton, der Teil der Judson Church Group war, gilt als Begründer der Contact
Improvisation. „Die Prinzipien der Contact Improvisation, die sich durch das
Erforschen des Verhältnisses des Körpers zur Schwerkraft und zu anderen Körpern
auszeichnet, fordert von den Tänzer [!] einen Körper, der über den Tastsinn (den
Kontakt) und über das Spüren, Bewegung generiert und weniger über das
Visuelle.“113 Durch ständigen Körperkontakt, dem Spiel mit der Balance, sowie
Gewichtsverlagerungen und -übertragungen entstehen in einem kreativen Prozess
zwischen den TänzerInnen gemeinsame Roll- und Hebefiguren, sowie ein
gemeinsamer Bewegungsfluss.
Der New Dance, auch als Neuer Tanz bezeichnet, entwickelte sich Anfang der
1970er Jahre durch eine Gruppe experimenteller TänzerInnen in England.
„Wichtigste dem New Dance zugrunde liegende Idee ist, dass jeder Mensch
einzigartig in seinem Bewegungspotenzial ist und die Quellen für die Bewegungen
im eigenen Körper liegen.“114 „Die Technik des Neuen Tanzes besteht aus einem
Wechselspiel von Spannung und Entspannung im Körper und fokussiert den
minimalen Kraftaufwand in der Bewegung.“115 Durch eine Abwendung von
technischer Perfektion und extremen Leistungsanforderungen, findet im New Dance
eine Demokratisierung des Tanzes statt, der sich dadurch vor allem auch im Laien-
Tanz Bereich verbreitet.116
Hier mündet nun die Linie der Ausdruckstanzbewegung, die sich über den
Modernen Tanz bzw. Modern Dance, den Postmodern Dance, die Contact
Improvisation und den New Dance verfolgen lässt, in den 1980er Jahren in den
Zeitgenössischen Tanz, der auch als Contemporary Dance bezeichnet wird. Der
111 Kaltenbrunner (2009) S.20 112 Lampert (2007) S.115 113 Lampert (2007) S.115 114 Lampert (2007) S.116 115 Lilo Stahl zit. n. Kaltenbrunner (2009) S.22 116 Vgl. Kaltenbrunner (2009) S.22
2. Tanz
28
Zeitgenössische Tanz lässt sich nicht mehr wie die Avantgardebewegung Anfang des
20. Jh. als reine Gegenkultur verstehen, sondern ist eher als ein gesellschaftlicher
Spiegel zu charakterisieren. Er versucht „die bisherigen ästhetischen und stilistischen
Kategorien bewusst zu überschreiten und zu überwinden“117, was sich zum einen in
den vielen Mischformen bisheriger Tanztechniken erkennen lässt und zum anderen
in der Integration verschiedener anderer Künste, insbesondere von Film- und
Bildproduktionen. Im Zeitgenössischen Tanz lässt sich „eine Tendenz zum
‚Dekonstruktivismus’ der tänzerischen Bewegungsformen und –strukturen“ erken-
nen, der als Grundlage zur Erforschung neuer physikalischer Gesetze und Möglich-
keiten menschlicher Bewegung dient. Im Fokus steht dabei „eine subjektiv-
bestimmte, schöpferische Entwicklung des Bewegungspotentials- und materials“118.
Der professionelle zeitgenössische Tänzer definiert sich nicht über eine bestimmte
Tanztechnik, sondern birgt verschiedene Techniken, mit internationalem Einfluss in
sich und setzt diese situativ different ein.119 Als ein künstlerisch-dramaturgisches
Inszenierungskonzept des Zeitgenössischen Tanzes gilt das Tanztheater. Dieses lässt
sich kennzeichnen als „desillusionierendes, körperliches und sinnliches Theater,
dessen künstlerische Mittel aus der Tradition von Berthold Brechts epischem Theater
kommen, wie beispielsweise Montage, Verfremdung, Anwendung der Collage-
Technik bei der Reihung von Bildern und Szenen (..).“120 Pina Bausch (1940-2009),
als bedeutendste Vertreterin des deutschen Tanztheaters, versuchte in ihren Stücken
‚das Unsichtbare sichtbar zu machen’ indem sie sich auf die Suche nach
unterschiedlichen Ausdrucksformen des Körpers, sowie nach Alltagsbewegungen
machte, und das Denken und Sprechen ebenso mit einschloss.121 Zeitgenössischer
Tanz kann demnach als eine Form gekennzeichnet werden, die verschiedenste
künstlerische, tänzerische Aspekte integriert und daher in einer Vielfalt an
Erscheinungsformen vorkommt.
Als Grundlage im Tanz dient die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper,
weshalb ich mich diesem Aspekt folgend widmen möchte.
117 Fleischle-Braun (2000) S.145 118 Fleischle-Braun (2000) S.151 119 Vgl. Lampert (2007) S.117 120 Fleischle-Braun (2000) S.114 121 Vgl. Fleischle-Braun (2000) S.115
2. Tanz
29
2.1.2. Körper
Wenn man den Umgang mit Körper, Leib und der Bewegungskultur gegenwärtig
betrachtet, kann man eine doppelte Beobachtung machen. Die Postmoderne ist
gekennzeichnet durch ‚Körpervergessenheit’ und gleichzeitige ‚Körperver-
sessenheit’. Durch eine fortschreitende Entwicklung von Maschinen, Autos und
Computern gerät der Alltag in eine Art Bewegungslosigkeit.122 „Für die zunehmend
komplexer werdenden Probleme [der Gesellschaft] werden immer komplexere Ant-
worten benötigt. Die körperliche Komponente ist bei den anstehenden Lösungs-
versuchen aufgrund ihrer Langsamkeit, Emotionalität, Sinnlichkeit etc. ein
Störfaktor.“123 Sie wird zur ‚Schwundmasse der Moderne’. Die Vergesellschaftung
des Körpers, welche sich in der Forderung nach Konformität, Perfektion, Disziplin
und Gefühlsbeherrschung ausdrückt, verhindert den Zugang zu Selbsterfahrung und
damit den ‚authentischen Selbstausdruck’.124
Demgegenüber steht eine Vermehrung an Bewegungs- und Erlebnisaktivitäten
besonders im Bereich der Extrem-Sportarten, sowie eine Pluralisierung an
expressiven Körperstilen und bunten Selbstinszenierungen besonders im Bereich der
jugendlichen Subkulturen. Als Motiv für die Verlagerung der Bewegungs- und
Körperkultur in den Extrem- und Freizeitbereich nennt Liebau den Versuch „einen
über den Leib vermittelten Zugang zur eigenen Person zu finden – Ersatz für einen
auch leiblich erfahrbaren Alltag.“125 Die Herausforderung in der bewegungsorien-
tierten Arbeit mit Menschen liegt demnach darin, „eine zukunftsoffene
lebenspraktische Körper- und Bewegungssicherheit zu vermitteln, die gegen eine
Entfremdung vom eigenen Körper gerichtet ist.“126
Während der Körper in der empirischen Wissenschaft hauptsächlich als Träger von
Funktionen betrachtet wird, gehen geisteswissenschaftliche Ansätze von dem Körper
als ‚Bedeutungsträger’ aus und fassen dies in den Begriff der Leiblichkeit. Die
Integrative Therapie spricht von dem Leib „als beseelter, lebendiger Körper, der sich
selbst erlebt, seine Erlebnisse speichern kann, und ein Bild von sich selbst hat. Der
Leib nimmt sich selbst und die Welt wahr, ist sich seiner Selbst bewusst und kann
sich an Vergangenes erinnern. Er ist die Verbindung von materieller und
122 Vgl. Liebau (1999) S.111 123 Koch/ Rosse/ Schirp/ Vieth (2003) S.10 124 Vgl. Peter-Bolaender (1991) S.465 125 Liebau (1999) S.111 126 Becker (2000) S.474 zit.n. Koch/ Rosse/ Schirp/ Vieth (2003) S.11
2. Tanz
30
transmaterieller Realität.“127 Der Leib ist auch gesellschaftlich durchdrungen, da wir
als „leibliche Wesen auf eine gemeinsame Welt [bezogen sind], selbst wenn diese
nicht für uns alle dasselbe bedeutet“128.
Damit umschreibt der Leib-Begriff nicht nur die somatischen Dimensionen, sondern
auch die kognitiven, psychischen und geistigen und gesellschaftlichen Aspekte der
Persönlichkeit. „Das Leibliche findet im Handeln, Lernen, in Kreativität und in der
Bewegung seinen Ausdruck und seine Verbindung zur Außenwelt.“129
Als weiteren elementaren Aspekt des Tanzes, möchte ich die Bewegung folgend
betrachten.
2.1.3. Bewegung
„Bewegungssequenzen sind wie Sätze in einer Sprache, sie sind die eigentlichen
Übermittler jener Dinge, die aus der Welt der Stille empordrängen.“130 Der Körper
dient der Bewegung als Mittler zwischen dem Innen und dem Außen. Durch ihn
werden in der Bewegung die eigene Veränderungsfähigkeit, sowie die Veränder-
barkeit der Umwelt begriffen.131 Im ‚Sichbewegen’ von Innen nach Außen wird die
Willensbewegung zur Lebensäußerung.132 Dies bedeutet jedoch nicht, dass die
körperliche Außenbewegung allein von einer durch Emotionen und Atmung
gesteuerten Innenbewegung bestimmt wird. Vielmehr bedingen diese sich gegen-
seitig. Eine Bewegung des Körpers ist nur möglich, wenn das seelische ‚Innere’ sich
wandeln will. Umgekehrt ist die Änderung des ‚Inneren’ nur möglich durch eine
körperliche Lebensänderung.133 Menschliche Bewegung kann also als Dialog des
Subjekts mit der Umwelt gesehen werden. Sie ist damit nicht von ihrem situativen
Kontext abzukoppeln. Der Bewegungsforscher J. Tamboer spricht von der
Bewegung als eine Art ‚Befragung’. „In der Bewegungshandlung »befragen« wir
unseren Dialogpartner nach seinen Möglichkeiten. Wir befragen beim Gehen den
Boden nach seiner Beschaffenheit oder beim Prellen den Ball nach seiner
Springfähigkeit.“134 In diesem Dialog entstehen subjektive ‚Bedeutungsrelationen’
die Einfluss auf das Erleben des Subjekts haben.
127 Rahm (19939 S.76 zit. n. Haas (1999) S.47 128 Meyer-Drawe zit.n. Klinge (2001) S.246 129 Haas (1999) S.49 130 Laban (1988) S.94-95 131 Vgl. Cabrera-Rivas (2001a) S.182 132 Vgl. Jacobs (1985) S.29 133 Vgl. Jacobs (1985) S.127 134 Rosenberg (1997) S.197
2. Tanz
31
Jede Bewegung ist dem Axiom unterworfen, welches auch für die rein sprachliche
Kommunikation gilt: ‚Man kann nicht nicht kommunizieren’. Bewegung ist immer
Selbstoffenbarung und bringt das Sein des sich Bewegenden zum Ausdruck. Das
Hineinlegen eines bestimmten Ausdrucks in die Bewegung hat die Absicht etwas
bewusst zu vermitteln und findet sich im Besonderen im Bühnentanz wieder.
Bewegung kann jedoch nicht nur Ausdruck haben, sondern sie ist auch Ausdruck.
„Jeder Mensch hat seine individuelle Bewegungsweise, und jeder spricht mit seiner
Bewegung aus, was in ihm lebt.“135 Für den Tanz bedeutet dies, dass er sich nicht
allein in der Bewegung von Körperteilen ausgestaltet, sondern sich vor allem auf den
Menschen bezieht, der sich in seinem Weltbezug tanzend ausdrückt.136 „Tanz ist
Einheit von Ausdruck und Funktion, durchleuchtete Körperlichkeit, beseelte
Form.“137
2.1.4. Die Aspekte Raum, Zeit und Form im Tanz
Bewegung im Tanz ist immer unter räumlichen, zeitlichen und formgebenden
Aspekten zu betrachten. Zunächst möchte ich mich der Auseinandersetzung mit dem
Aspekt Raum im Zeitgenössischen Tanz widmen. Hierbei sind die Erschließung des
Raumes durch Tanz in allen Ebenen und Dimensionen, die Ausgestaltung des
Raumes durch Tanz, sowie die Erschließung neuer Tanzräume zu betrachten.
Wesentliche Raumkonzepte im Modernen Tanz gehen dabei auf die Erkenntnisse
von Laban zurück. Dieser trennte zunächst den Raum in den persönlichen Raum,
damit ist der die TänzerInnen umgebende Raum, bezeichnet als Kinesphäre, gemeint,
und in den Umgebungs- oder Tanzraum, den er als allgemeinen Raum bezeichnete.138
Der Moderne Tanz experimentiert sowohl mit Bewegungen innerhalb der
Kinesphäre, die sich insbesondere auf die eigene Wahrnehmung physischer
Bewegungsmöglichkeiten konzentrieren, als auch mit Raumrichtungen und Dimen-
sionen des allgemeinen Raums. Ausgangspunkt ist dabei die Idee eines Bewegungs-
zentrums im Körper, bei dessen Verlagerung die eigene Körperachse verlassen wird
und in sogenanntem ‚off-center-work’ neue Bewegungen in der Raumdiagonale, in
der Horizontale und in der Senkrechte erforscht werden. Auch das Oben, Unten,
insbesondere der Boden, und die mittlere Ebene des Raumes werden erforscht, sowie
die Bewegungsrichtungen nach Innen, Außen, Vorn und Hinten. Raumwege und
135 Jacobs (1985) S.99 136 Vgl. Rosenberg (1997) S.207 137 Wigman in Bach (1933) zit.n. Erdmann-Rajski (2001) S.137 138 Vgl. Postuwka (1999) S.102
2. Tanz
32
Raumform können gerade, rund, eckig, direkt, indirekt, weit oder eng gestaltet
werden. Unter dem Aspekt ‚Space-Design’ wurde der Raum für den Tanz
choreographisch neu genutzt, indem man Bewegungen hinsichtlich ihrer
Wirkungsweise für den Raum neu betrachtete. Da Tanz nicht mehr allein auf
Theaterbühnen aufgeführt wurde, sondern auch zunehmend in Probenräumen, alten
Fabrikgeländen oder im öffentlichen Raum, konnten neue Tanzräume erschlossen
werden.
Der Tanz gestaltet sich in der Auswahl unterschiedlicher Tempi und Rhythmen, in
der Synchronisierung oder Nacheinanderreihung von Bewegungen, sowie in der
Arbeit mit Musik auch in zeitlichen Dimensionen. Zeitgenössischer Tanz bildet nicht
mehr einfach die zeitlichen Strukturen von Musik ab, sondern richtet sich auch nach
dem subjektiven Zeitempfinden der TänzerInnen. Indem nicht mehr nur der objektive
Rhythmus der Musik als Maßstab gilt, sondern Bewegungen auch kontrastierend
dazu gestaltet werden können, wird ein neues Bewusstsein für langsame und
schnelle, plötzliche und allmähliche Bewegungen geschaffen, die nicht mehr allein
aus musikalischen Impulsen gewonnen werden, sondern die auch aus dem Subjekt
selbst oder aus dem gemeinsamen Tanz entstehen können.139
Die Formgebung im Tanz ist sowohl an den Körper als auch an den Raum gebunden.
Mit dem Körper können Formen gestaltet werden, die an geometrische Formen wie
den Kreis, die Kugel, die Spirale, das Viereck oder die Linie erinnern. Diese können
sich sowohl in der Körperhaltung, als auch in der Bewegung ausdrücken. Neue
Formen im Modernen Tanz werden vor allem durch Drehen, Beugen oder Neigen
des Rumpfes erzeugt.140 Formen im Raum lassen sich im Besonderen durch
Symmetrie und Assymmetrie, durch Spiegelung und Verschiebung, sowie durch
verschiedene Aufstellungsformen und Nutzung des Raums gestalten.
2.2. Tanz und seine Wechsel-Wirkung mit dem Subjekt
Während ich in dem vorangegangenen Abschnitt allgemeine Grundlagen des Tanzes
betrachtet habe, möchte ich nun die Verbindung des Tanzes zum Subjekt näher
beleuchten. Dabei muss ich mich zwischen den vielfältigen Betrachtungs-
möglichkeiten durch eine Auswahl auf einige wenige Aspekte beschränken.
139 Vgl. Postuwka (1999) S.107 140 Vgl. Postuwka (1999) S.110
2. Tanz
33
2.2.1. Möglichkeiten der Sinnes- und Körpererfahrung im Tanz durch Improvisation
Tanz, der als Selbsterfahrungsmedium die Persönlichkeitsentwicklung fördern soll,
muss durch Offenheit für die individuelle Auseinandersetzung mit Bewegungs-
möglichkeiten gekennzeichnet sein. Tanzimprovisation bietet vielfältige Möglich-
keiten für Körper- und Sinneserfahrungen, die nicht funktional vorbestimmt sind. Im
Zentrum sollte hier die Förderung des authentischen Selbstausdrucks stehen. Durch
die gesellschaftlich bedingte ‚Körpervergessenheit’ liegt die Herausforderung darin,
den Umgang und das Erleben mit dem eigenen Körper neu zu ermöglichen. Es geht
dabei um eine „Rückkehr zur Einfachheit und Ursprünglichkeit leiblicher
Präsenz“141. Anzustreben ist eine Einheit von Empfindung und Bewegung, die zur
Harmonisierung von Bewegungsabläufen und damit zu einem Bewegungsfluss
beiträgt. Hierfür sind die Erarbeitung von technischen körperlichen Grundlagen, von
Bewegungsgrundformen, sowie das ‚Spiel mit den Sinnen’ notwendig. „Ansatz,
Verlauf und die Wirkungsweise von Bewegungsvorgängen sollen bewusst gemacht
werden, um ein wichtiges Maß an Selbstkontrolle zu ermöglichen.“142
Der Kern der Improvisation im Tanz liegt jedoch in der explorativen, spielerischen
und neugierigen Auseinandersetzung des Tanzenden mit den eigenen
Bewegungsmöglichkeiten, dem eigenen und den fremden Körpern, dem Raum, der
Musik sowie mit bestimmten Themen.143 Es geht sowohl um ein zielgerichtetes
Erkunden, als auch um ein absichtsloses Experimentieren in der Bewegung.144
Improvisation, welche von hoher kreativer Anforderung gekennzeichnet ist, bedarf
gleichzeitig der Anregungen und Impulse, sowie einer klaren Anleitung eines
Außenstehenden, damit es für den Improvisierenden nicht zu Unsicherheit oder
Frustration kommt.145
Erst der Paradigmenwechsel reform-pädagogischer Strömungen von ‚äußerer
Schulung’ zu ‚innerer Formung’ machte die Improvisation als pädagogisches Prinzip
möglich. Improvisation als expressiver Ausdruck und als die Gestaltung des innerlich
Erlebten verstanden, kann als Leitprinzip der Ausruckstanz-Bewegung gesehen
werden.146
141 Becker/Fritsch (1998) S.73f. zit.n. Kirsch (2005) S.144 142 Kirsch (2005) S.145 143 Vgl. Kirsch (2005) S.166 144 Vgl. Kaltenbrunner (2009) S.174 145 Vgl. Kirsch (2005) S.166 146 Vgl. Postuwka (1999) S.114-115
2. Tanz
34
2.2.2. Die harmonisierende Wirkung des Tanzes durch Rhythmus
Rhythmus als „ein fließendes Ebenmaß in der Zeit“147 verstanden, setzt ordnende
Akzente zwischen die entgegenwirkenden Kräfte eines jeden Lebens und ist in seiner
jeweiligen Eigenart dem Menschen naturgemäß gegeben bzw. wird von diesem
angeeignet.148 Befindet sich der eigene Lebensrhythmus als Wechselspiel zwischen
Spannung und Entspannung im Gleichgewicht, so ist die Rede von ‚Harmonie’.
Tanz, als rhythmisch-musikalische Bewegung bietet besonderes Potential für die
Harmonisierung der Persönlichkeit, da sich in ihm das Räumliche und Zeitliche als
wichtige Pole des Lebens verbindet. Als eine gestaltbildende, ordnende und
gliedernde Kraft führt Rhythmus nach Haas den Menschen „in die größtmögliche
fundamentale Resonanz der Dinge und ihrer Gesetzmäßigkeiten“149, er belebt und
berührt den Menschen in seinem Inneren, jenseits von Sprache und Verstand. Der
Mensch kann im Tanz ganzheitlich angesprochen werden, „der Leib in der
Bewegung, der Geist in der metrischen Gliederung und die Psyche im Ausdruck“150.
Dies befähigt den Menschen dazu, sich mit sich und der Umwelt in Einklang zu
bringen.151 Tanz verhilft „dem Menschen zur Entfaltung und Gesundung seiner
Kräfte und Funktionen; Trieb-, Schwung- und Spannkräfte, die den angeborenen
Rhythmus jedes Einzelnen mit ausmachen, werden geweckt und veredelt.“152 Der
persönlichkeitsbildende Prozess im Tanz kann demnach als ‚Wiederfinden des
eigenen Rhythmus’ bezeichnet werden.
2.2.3. Die sozialisierende Wirkung des Tanzes
Ein wichtiger Aspekt von Sozialisation ist die Kommunikation, das In-Kontakt-
Treten mit der Umwelt und der Aufbau von Beziehungen. Als wichtigstes Mittel
hierfür dient die Sprache. Während diese in erster Linie kognitive, rationale
Kommunikation ermöglicht, stellt der Körper eine Vielfalt an emotionalen
Ausdrucksmitteln zur Verfügung, welche jedoch gesellschaftlich vernachlässigend
wahrgenommen und reflektiert werden. Im nichtsprachlichen Raum kann Tanz als
ausdruckstärkstes Mittel für Kommunikation gesehen werden.153 Er ist „reich an
Ausdrucksymbolen wie Annäherung, Abwehr, Dominanz, Unterwerfung, 147 Claudi (1976) S.1 148 Auf den Prozess der Aneignung gibt der Aufsatz von Claudi keinen Hinweis, mir scheint er an dieser Stelle aber als wichtige Ergänzung. 149 Haas (2002) S.47 150 Claudi (1976) S.4 151 Vgl. Claudi (1976) S.4 152 Claudi (1976) S.3-4 153 Vgl. Lander (1976) S.3-6
2. Tanz
35
Einzeldarstellung, Kollektivdarstellung, Darstellung von Gefühlszuständen (..)“154.
Über ihn werden die emotionalen Bereiche des Menschen angesprochen, „die ihn
über seine individuellen Eigenheiten hinaus in Kontakt mit der Umwelt und den
Mitmenschen bringen.“155
Eine weitere Herausforderung des Sozialisationsprozesses ist die Anpassung an
Ordnungs- und Normensysteme, die meist mit einem Aufschub bzw. der Unter-
drückung eigener Bedürfnisse einhergeht. Mit einer gesellschaftlichen Verkümmer-
ung der Bewegung wird besonders für Kinder und Jugendliche der Drang nach einem
‚wilden Sich-Austoben-Dürfen’ verstärkt.156 Für die Subjektentwicklung ist gerade
dieses Bewegungsbedürfnis von besonderer Bedeutung. „Ein Kind, das einen Teil
seiner Konflikte ab-tanzen, sein Darstellungsbedürfnis vor-tanzen, eine Freude aus-
tanzen, seine Verspanntheit in ein erträgliches Gleichgewicht entspannend ein-
tanzen, seine Aggressionen konstruktiv um-tanzen kann, (..) ist eher bereit, nicht nur
sich, sondern auch äußere Zwänge zu verändern.“157
Ein weiterer Aspekt der Sozialisation ist der Erwerb von Rollen, insbesondere
innerhalb bestimmter Gruppen. Wichtig für die Erweiterung von Subjektivität, ist
hierbei, dass gesellschaftlich vorgegebene Rollen nicht einfach übernommen werden
und unverändert am Subjekt lebenslang haften bleiben. Vielmehr muss eine Rollen-
flexibiltität erworben werden, durch die „verschiedene Rollen nach eigenen
Bedürfnissen und nicht nach vorgegebenem Muster“158 ausgefüllt werden können.
Im Tanz, als neuem Erfahrungsraum können verinnerlichte Rollenbilder
aufgebrochen werden, da andere als die gewohnten Kompetenzen gefragt sind.
Jemand, der eher als verbal zurückhaltend gilt, kann sich plötzlich im Mittelpunkt
erleben, wenn hohe körperliche Konzentration und Aufmerksamkeit gefragt sind.
Genauso kann ein Jugendlicher, der negativ als überaktiver ‚Zappelphilipp’ bewertet
wird, im Tanz erfahren, dass diese innerliche und körperliche Kraft zur positiven
Dynamik im Tanz beiträgt.
2.2.4. Tanz als Kollektiverfahrung
„Auftrieb erhält die Tanzkunst, sobald Tänzer sich als Komplizen verstehen.“159 Mit
diesem Satz beginnt der Tanzjournalist Arnd Wesemann seinen Artikel ‚Komplizen’
154 Lander (1976) S.4 155 Claudi (1976) S.10 156 Vgl. Lander (1976) S.7 157 Lander (1976) S.7 158 Lander (1976) S.9 159 Wesemann (2009) S. 10
2. Tanz
36
der Zeitschrift Ballettanz in der Ausgabe 12.09., der mit einer Beschreibung der
Installation ‚Scattered Crowd’ des Choreographen William Forsythe beginnt. In
dieser Installation lässt Forsythe siebentausend heliumgefüllte weiße Luftballons in
einem Londoner Lagerhaus aufsteigen. Während die Besucher sich einen Weg durch
die Luftballons bahnen, wird selbst von den kleinsten Berührungen ein Luftballon
nach dem anderen angestoßen. Bald schon beginnt, von nur wenigen Luftballons in
Bewegung gesetzt, der ganze Raum zu tanzen.
TänzerInnen, die sich dem Bühnentanz widmen, tragen Verantwortung für die
Umsetzung der Choreographie, die sie in langen Proben erarbeitet haben. Sie
verschreiben sich einer ganz bestimmten Ordnung und man könnte meinen, dass es
keinen Raum für Wechselwirkungen unter ihnen gibt, wie sie in der Ballon-
Installation zu beobachten sind. Forsythe jedoch geht eher von einer Gleichzeitigkeit
aus. „Einerseits gehorcht der Tänzer der Choreographie so wie der Ballon der
Physik, andererseits nimmt er sich wie der Flug eines Ballons die Freiheit, etwas
Unvorhersehbares zu tun.“160
Der Tanz entwickelt sich also nicht nur durch eine gemeinsame Idee, sondern jeder
Einzelne gibt Impulse an die Gruppe, die zu einem gemeinsamen Tanz führen. Die
TänzerInnen werden wie die Luftballons voneinander und miteinander bewegt. Die
Kulturwissenschaftlerin Gesa Ziemer beobachtet, „wie sich in Projektgruppen
schnell sehr intime Beziehungen herstellen“161 Die gemeinsame Arbeit an einem
Stück verlangt körperliche, wie intime Selbstoffenbarung der TänzerInnen, die
Verschwiegenheit nach Außen verlangt. Dadurch entsteht eine Art Komplizenschaft,
die die Gruppe zusammenschweißt.162
In dem Tanztheaterprojekt ‚Freaks’, das Studierende der Evangelischen
Fachhochschule Darmstadt im Januar 2010 unter der Anleitung von Inga Pickel und
Katja Erdmann-Rajski in einem Darmstädter Theater auf die Bühne gebracht haben,
und an dem ich selbst teilgenommen habe, konnte ich ähnliche Beobachtungen
machen. Die Beziehungen der heterogenen Gruppe wurden während der
Probenzeiten durch das gemeinsame Tun, das gemeinsame Bewegen, durch das
Teilen neuer Erfahrungen und das gemeinsame Ziel der Aufführung intensiver und
der Zusammenhalt wurde gestärkt. Man lernte die Mitstudierenden auf eine neue
Weise kennen, bisher verstecktes Potential kam zum Vorschein und da man ein Ziel
160 Wesemann (2009) S.11 161 Wesemann (2009) S.13 162 Wesemann (2009) S.13
2. Tanz
37
erreichen wollte, wurde ein gemeinsamer Enthusiasmus geweckt. In der
gemeinsamen Auswertung des Projektes gab es viele Stimmen, die dieses
Gemeinschaftsgefühl als besonderen Wert der Arbeit herausstellten.
2.2.5 Bewegung als Differenzerfahrung
Tanz trägt durch Bewegung zur Auseinandersetzung mit sich verändernden Struktur-
en bei. Den Wert dieser Erfahrung möchte ich folgend verdeutlichen.
Während die eigene Identität vor einigen Jahrzehnten noch durch familiäre und
soziale Herkunft, sowie durch Bildung vorgeformt wurde, lösen, wie bereits in
Kapitel 1.3. aufgezeigt, postmoderne Strukturen diese Passformen der eigenen Ich-
Entwicklung auf. Das Verschwinden fester Traditionen empfinden die einen daher
als Befreiungsschlag, während andere von einem Gefühl der Verunsicherung,
Orientierungslosigkeit, Diffusität und der Unbehaustheit begleitet werden.163
Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper im Tanz als ein authentischer
Zugang zur eigenen Leiblichkeit, Ganzheit oder Selbstbestimmung, scheint als eine
Möglichkeit, dieser Orientierungslosigkeit in Form von Selbstvergewisserung
entgegenzuwirken.
Der Motologe Jürgen Seewald denkt die Tendenz zur Auflösung des Tradierten und
das Gefühl für Ganzheit und Kernhaftigkeit in der Bewegung zusammen und
bezeichnet dies als eine ‚dialektische Widerspruchseinheit’. Es geht auf der einen
Seite darum, sich auch in der Bewegung auf eine Weltsicht einzulassen, die ‚im Fluss
ist’ und auf der anderen Seite geht es im Aufspüren der Eigenbefindlichkeit um eine
Selbstvergewisserung und ein ganzheitliches Erleben. Dies ist nach Seewald
möglich, indem sogenannte Differenzerfahrungen betont werden. „Spüren, was ich
mit meiner Bewegung mache und was meine Bewegung mit mir macht, (..)
Gewärtigen der Auswirkungen des Raumes oder anderer Menschen auf die
Eigenbefindlichkeit, (..) Hineinspüren in Ähnlichkeiten und Unterschiede zu den
Bewegungen und Körperhaltungen anderer.“164 Indem sich das eigene Erleben in der
Bewegung auf Veränderungen konzentriert, bleiben diese offen für Neues und
Unvorhergesehenes. Gleichzeitig kann in dem Aufspüren von Unterschieden, die
Eigenbefindlichkeit intensiver erlebt und reflektiert werden. „Erkennen wir die
Kontraste in uns selbst, in den anderen, zwischen uns und den anderen, dann erst sind
163 Vgl. Stelter (2006) S.65 164 Seewald (2000) S.100
3. Tanz in der Ästhetischen Praxis mit Jugendlichen
38
wir in der Lage, an der eigenen Identitätsentwicklung zu arbeiten.“165
Der Sozialwissenschaftler Keupp bezweifelt, dass durch eine Hinwendung zur
eigenen Leiblichkeit „Erfahrungen gesellschaftlicher Entfremdungen, Entsinnlichung
und Zerrissenheit ferngehalten werden“166 können. „Der Körper ist heute zum
Medium subjektiver Selbstvergewisserung und -darstellung geworden. Aber auch
gesellschaftliche Macht und Kontrolle vollzieht sich in diesem Medium.“167 Für
Keupp kann daher „der Leib auch kein sicherer Zufluchtsort auf der Flucht vor der
‚ontologischen Bodenlosigkeit’“168 sein. Die Auseinandersetzung mit Veränderbar-
keiten im und mit dem eigenen Körper durch die Bewegung stellt m.E. jedoch eine
wichtige Voraussetzung dar, Unsicherheiten und gesellschaftliche Machtausübung
reflektieren und sie schließlich überwinden zu können.
3. Tanz in der Ästhetischen Praxis mit Jugendlichen
Die bereits in Ansätzen beschriebenen subjektbildenden Aspekte des Tanzes lassen
sich erst dann weiter vervollständigen, wenn man den Blick allgemeiner auf den
Kern Ästhetischer Praxis richtet. Diese umfasst als übergeordnete Kategorie des
Tanzes deren Erfahrungs- und Bildungswerte auf allgemeiner Ebene. Deshalb
möchte ich an dieser Stelle wichtige Aspekte der Ästhetischen Praxis herausarbeiten,
um anschließend den Bogen zum Tanz zu schließen. Als wichtigen Teil dieser Arbeit
möchte ich meinen theoretischen Ausführungen drei repräsentative Beispiele aus der
tanzästhetischen Praxis mit Jugendlichen folgen lassen und wichtige subjekt-
stärkende Aspekte herausarbeiten. Abschließen werde ich dieses Kapitel mit den
Ergebnissen zweier Tanz- und Sozialwissenschaftlerinnen, die sich mit der
persönlichkeitsbildenden Wirkung des Tanzes auseinandergesetzt haben.
3.1. Ästhetische Praxis
„Wann immer wir uns dem ‚ästhetischen Genuss’ hingeben, führt dies zu einem intensiven Erleben der eigenen Person. (…) In der ästhetischen Erfahrung gehen
Ich-Erfahrung und Welt-Erfahrung eine Einheit ein.“ Ursula Brandstätter169
165 Cabrera-Rivas (2001b) S.229 166 Keupp (2000) S. 118 zit. n. Stelter (2006) S.65 167 Keupp (2000) S. 118 zit. n. Stelter (2006) S.65 168 Seewald (2000) S.100 169 Zit. n. Schwarzbauer/ Hofbauer (2007) S.28
3. Tanz in der Ästhetischen Praxis mit Jugendlichen
39
3.1.1. Eine historische und terminologische Betrachtung
Um in das Feld der Ästhetischen Praxis einzutauchen, ist ein Blick auf begriffliche
und geschichtliche Zusammenhänge unabdingbar und soll hier in Kürze dargestellt
werden. Besonders treffend erscheint mir hierfür die Beschreibung des
Erziehungswissenschaftlers Hans-Rüdiger Müller: „Mit dem Begriff Ästhetik
(griechisch aisthesis = sinnliche Wahrnehmung) wird in einem allgemeinen Sinne
das Feld jener Welt-Selbstbezüge des Menschen bezeichnet, die sich zwischen den
sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften von Dingen in der Außenwelt und der
leibseelisch-geistigen Wahrnehmungstätigkeit des Subjekts konturieren.“170
Ausgehend von dem Philosophen Alexander G. Baumgarten, der die Ästhetik 1750-
1758 als eigenständige Disziplin begründete und der Ästhetik, d.h. der Aktivität der
menschlichen Sinne, die Chance zu besonderem Verstehen beigemessen hat, griff
Kant dieses Motiv auf, indem er die Sinne als Grundlage für alles setzte, das Einzug
in Verstand und Vernunft erhält. Daran angelehnt begründete Schiller das Potential
für Erziehung und Bildung in der Ästhetik.171 Laut Schiller bewirkt „Kunst (..) die
Erweiterung des rezipierenden Subjekts zu welthafter Ganzheit (..) in ‚möglichster
Harmonie’“.172
„Die Schönheit ist es, durch welche man zur Freiheit wandert.“ Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Friedrich Schiller
Hier wird bereits deutlich, dass es eine Unterscheidung zwischen dem
philosophischen Aisthetik-Begriff, als Lehre der sinnlichen Wahrnehmung und
Erkenntnis verstanden, und dem kunsttheoretischen Ästhetik-Begriff, nämlich der
Lehre der Kunst gibt. Die Ästhetik reicht in alle Gebiete menschlicher
Lebensgestaltung 173 und dennoch nimmt die Kunst einen besonderen Platz innerhalb
dieser ein. Sie ist sozusagen ein Teilgebiet dieser. Der Kunstwissenschaftler H.
Böhringer beschreibt Ästhetik als ein ‚Fahrzeug der Erfahrung’ und die
Kunsttheoretikerin C. Pries betrachtet sie als ein ‚Experimentierfeld der
Wahrnehmung’.174
Die Strömungen der Postmoderne, die sich durch eine Pluralität an Wirklichkeits-
konstruktionen auszeichnen, rufen drei notwendige Konsequenzen für ästhetisches
Denken hervor. Ästhetische Wahrnehmung kann erstens immer nur als subjektive
170 Marquardt/ Krieger (2007) S.11 171 Zacharias (2009) S.243 172 Brockhaus Enzyklopädie Bnd 2 APU-BEC S.218 173 Vgl. Brockhaus Enzyklopädie Bnd 2 APU-BEC S.217 174 Vgl. Krieger (2004) S.46
3. Tanz in der Ästhetischen Praxis mit Jugendlichen
40
Wahrheit gesehen werden. Ästhetik hat es zweitens immer mit aktiven, autonomen,
wirklichkeitsproduzierenden Subjekten und Rezipienten zu tun, welche drittens
lediglich durch Provokation zu beeinflussen sind.175
Ästhetische Wahrnehmung, als zentraler Begriff der Ästhetischen Praxis, steht „im
Dienste einer vielschichtigen und ständig dem Gegenstand neue Aspekte abringen-
den Erkenntnisleistung.“176 Was im Wahrnehmungsprozess als Moment der
Faszination auftritt, kann als eine besondere Form gesteigerter, bewusster
Aufmerksamkeit gesehen werden.177
Der Begriff der ästhetischen Erfahrung, welcher nahezu bedeutungsgleich dem
Begriff der ästhetischen Wahrnehmung verwendet wird, kann als ein weiterer
Kernbegriff der Ästhetischen Praxis benannt werden. Die Erfahrung des
Ästhetischen richtet sich auf die sinnlichen Qualitäten eines Gegenstandes und
mündet durch die Reflexion des Erlebten in ein ästhetisches Urteil.178 Dieses Urteil
kommt durch die Wahrnehmung der Sinne und das sie begleitende Gefühl zustande.
Dabei erhebt es keinen Anspruch auf bestimmte, richtige Sachverhalte, sondern
urteilt über das Verhältnis der eigenen sinnlichen Vorstellung über etwas und den
subjektiven Gefühlszustand. Damit ist es mehr als ein Wahrnehmungsurteil, weil es
zusätzlich das eigene Gefühl für das Wahrgenommene ins Verhältnis setzt.179
Ästhetische Erfahrung entsteht also in der Beziehung zwischen Subjekt und
Gegenstand180 und vollzieht sich sowohl auf der Ebene des unmittelbaren
emotionalen Erlebens, als auch auf Ebene des bewussten Erkennens.181 Während
ästhetische Wahrnehmung einen sensorischen und bedeutungszuweisenden Prozess
innerhalb ästhetischer Erfahrung darstellt, ist letzteres als summative Erfahrung von
Ästhetik im Ganzen zu verstehen.182 In der ästhetischen Erfahrung spielt nicht nur
das Erkunden der menschlichen Sinne, des Hörens, Sehens, Riechens, Schmeckens
und Fühlens eine Rolle, sondern auch das Denken, Erkennen und Handeln.183 Wird
die ästhetische Erfahrung durch den Vorgang der Reflexion ergänzt, so ist nicht mehr
175 Vgl. Krieger (2004) S.51 176 Krieger (2004) S.57 177 Vgl. Marquardt/ Krieger (2007) S.13 178 Vgl. Krieger (2004) S.62-63 179 Vgl. Koch (1994) S.10 180 Mit Gegenstand kann auch ein Ereignis, wie z.B. der Tanz, Musik oder Poesie gemeint sein. 181 Vgl. Jäger/ Kuckhermann (2004) S.13 182 Vgl. Krieger (2004) S.64 183 Vgl. Liebau (1999) S.133
3. Tanz in der Ästhetischen Praxis mit Jugendlichen
41
nur die Rede von einem ästhetischen Erfahrungsprozess, sondern man spricht dann
von einem ästhetischen Bildungsprozess.184
Ästhetische Objekte oder Zeichen weisen sich durch Originalität, Mehrdeutigkeit
und Entfremdung aus. Sie lösen dann eine Faszination auf das ‚verstehenswillige
Subjekt’, den Rezipienten aus, wenn dieser sich bewusst von den Aufgaben der
perspektivischen Innovation, von kognitiver Verunsicherung und von einem
Fiktionalitätsbewusstsein ansprechen lässt. Eine solche Offenheit des Rezipienten
kann als ästhetische Einstellung bezeichnet werden.185 Diese Erfahrung des ganz
Anderen, Neuen wird in der Literatur als Differenzerfahrung zu den im Alltag
gemachten Erfahrungen bezeichnet.186
Da der Begriff der Kreativität (lat. creare = etwas erschaffen) der Ästhetik nahe steht,
möchte ich auf diesen kurz eingehen. Der wesentlich jüngere Begriff Kreativität,
entstanden in den 1950ern, kann als „Allgemeine Bezeichnung für das Auffinden
neuer und origineller Problemlösungen bzw. Mittel des künstlerischen Ausdrucks
durch Synthese von Erfahrung und Phantasie“187 definiert werden. Der
Erziehungswissenschaftler Eckart Liebau kritisiert, dass Kreativität heute aus
wirtschaftlichen, politischen, sozialen oder wissenschaftlichen Gründen oft als Mittel
zum Zweck missbraucht wird. Die Bedeutung von Kreativität für das
Zusammenleben im Alltag und für den Umgang mit dem Chaos der subjektiven
Innenwelt findet sich zwar in den Künsten, nicht aber in der breiten Gesellschaft
wieder.188
3.1.2. Perspektiven der Ästhetischen Bildung als Kern Ästhetischer Praxis
Die Verwendung unterschiedlicher Begrifflichkeiten wie Ästhetische Bildung,
Ästhetische Erziehung, Ästhetisches Lernen, kulturelle Bildung, Schlüssel-
kompetenzen, Lernziele usw. spiegelt die Vielfalt der Autoren wieder, welche sich
dem Thema der Ästhetischen Praxis gewidmet haben. In meinen Ausführungen
möchte ich diese Begrifflichkeiten aufgrund der Komplexität nicht stringent
voneinander abgrenzen, sondern sie vielmehr in ihrer Vielfalt als Perspektiven auf
ein und denselben Kern, nämlich den der Ästhetischen Praxis verwenden.
184 Vgl. Peez (2005) S.16 185 Vgl. Krieger (2004) S.71 186 Vgl. Jäger/ Kuckhermann (2004) S.278-280 187 Fröhlich (2002) S.393 zit.n. Jäger/ Kuckhermann (2004) S.34-35 188 Vgl. http://www.paedagogik.phil.uni-erlangen.de/mitarbeiter/liebau/kultur-und-geist.pdf Abruf:01.02.10. S.3
3. Tanz in der Ästhetischen Praxis mit Jugendlichen
42
Jutta Jäger und Ralf Kuckhermann verdeutlichen die Ausgestaltung der Ästhetischen
Praxis mit einem Model, das durch eine Unterteilung in drei Ebenen gekennzeichnet
ist. Die gegenständliche Ebene beinhaltet die spezifische Symbolik verschiedener
ästhetischer Medien wie Bild, Musik, Tanz usw., welche durch ihre ganzheitliche
Wirkung auf die menschlichen Sinne gekennzeichnet sind. Die Handlungsebene, die
sich durch die Begriffe Mimesis (Nachahmung) und Poesie (schöpferische
Neugestaltung) beschreiben lässt, schafft durch ästhetische Produktion, Rezeption
und Kommunikation verschiedene Zugänge zu den ästhetischen Medien. Ergänzt
werden diese Ebenen durch die Subjektebene, auf der sich durch ästhetische
Tätigkeiten ästhetische Erfahrungen herausbilden, welche durch eine Urteilsbildung
in eine persönliche Stilbildung münden.189
Ästhetische Erziehung kann als Förderung „eines basalen Teilvermögens der
menschlichen Erkenntnis- und Erlebnisfähigkeit“190 betrachtet werden. Lutz Koch
sieht den Kern der Ästhetischen Bildung darin, „für das intersubjektiv Schöne und
Erhabene aufgeschlossen zu machen“.191 In dem Erkennen des Schönen und
Erhabenen liegt für Koch in Anlehnung an Kant und Schiller eine doppelte
Bildungsbedeutung. Es bildet den Menschen zu einem in sich harmonischen und
identischen Wesen, sowie zu einem politischen, moralischen Vernunftwesen.192
Liebau sieht folgende Kriterien als die Aufgabe Ästhetischer Erziehung: Die
Förderung abstrakter Kreativität, die Entfaltung von Leiblichkeit, eine kulturelle
Formgebung für das Zusammenleben im Alltag und die Entwicklung der Person.
Vorraussetzung dafür sind die Bereitstellung eines Entfaltungsraumes für
individuelle Ausdrucksformen, die Vermittlung der Fähigkeit sich bestimmter
Medien zu bedienen, eine Prozess- und Produktorientierung, die Bildung zu
subjektiver Wahrnehmungsfähigkeit, eine Bereitstellung an ästhetischem Wissen und
Können, sowie der Bezug zu einer Öffentlichkeit.193
189 Vgl. Jäger/ Kuckhermann (2004) S.15 190 Krieger (2004) S.123 191 Koch (1994) S.11 192 Vgl. Koch (1994) S.15 Kant hat in seiner Analytik des Schönen aufgezeigt, dass das Schöne und Erhabene in einem besonderen Verhältnis zu unserer Seele steht und deren beiden Seiten Sinnlichkeit und Verstand in ein harmonisches Verhältnis setzt. Auch Schiller erklärt in seinem ästhetischen Brief, dass der Mensch nur da ganz Mensch sei, wo er sich dem Schönen öffnet. In der Lust am Schönen, an der sinnlichen Form liegt eine Befreiung vom Selbstbezüglichen der Empfindung, des bloßen Privatvergnügens und darin eine Aufgeschlossenheit „für das Allgemeine und das Verbindende des moralisch und politisch Guten“. Vgl. Koch (1994) S.13-14 193 Vgl. Liebau (1999) S. 120-122
3. Tanz in der Ästhetischen Praxis mit Jugendlichen
43
Der Germanist, Kunstgeschichtler und Pädagoge Kaspar H. Spinner entwickelte
zwölf Thesen, die ein umfangreiches Bild Ästhetischer Bildung zeichnen und dabei
deren Kern treffend fassen. Ich möchte diese folgend verkürzt darstellen.
1. Da sinnliche Wahrnehmung die Grundlage ästhetischer Erfahrung bildet, ist es die
Aufgabe Ästhetischer Bildung intensivere, differenziertere und sensiblere
Wahrnehmungserfahrungen zu vermitteln. In Anlehnung an Böhme beschreibt
Spinner Aufmerksamkeit als höchste ästhetische Qualität. Dies bedeutet, dass es im
Wahrnehmungsprozess immer um eine gesteigerte geistige Präsenz gehen muss.194 2.
Die Synästehsie195 ästhetischer Wahrnehmungen, die sich nicht auf einen einzigen
Sinneskanal beschränken, können zu einer wechselseitigen Intensivierung der
Sinneseindrücke führen. Bei der Verbindung dieser Sinneseindrücke ist jedoch die
Gefahr der Reizüberflutung zu beachten.196 3. Ein weiteres wichtiges Merkmal ist die
ästhetische Zeit-Erfahrung, die sich für den Philosophen Martin Seel darin ausdrückt,
dass wir uns ‚Zeit für den Augenblick’ nehmen.197 Der gewohnte Ablauf des Alltags
wird unterbrochen und durch eine intensive Erfahrung des Hier und Jetzt oder durch
das Eintauchen in eine andere Zeit bzw. durch ein anderes Zeiterleben ersetzt.198 4.
Ästhetische Objekte wirken nicht nur durch ihre sinnlich erfahrbare Präsenz, sondern
können vor allem auch Imaginationen wachrufen. Durch Imagination bzw.
Vorstellungskraft werden die Beschränkungen auf das Hier und Jetzt überwunden.
Ästhetische Bildung hat damit die Aufgabe, die Entfaltung subjektiver Imaginations-
fähigkeit zu ermöglichen.199 5. Sie stellt als Unterbrechung der Alltagsroutine ein
Verfremden des Gewohnten dar. Ihr sollte es darum gehen, Offenheit für
Überraschendes, Neugier auf Ungewohntes und die ‚Bereitschaft sich dem
Rätselhaften, Ambivalenten und Irritierenden auszusetzen’, zu fördern.200 6. Diese
Offenheit für Fremdes bietet Möglichkeiten für die Begegnung verschiedener
Kulturen. Durch ästhetische Austauschprozesse zwischen Kulturen findet eine
Annäherung an das Andere statt, die eine Offenheit für kulturelle Vielfalt schafft.201
7. Das gesellschaftskritische und persönlichkeitsstärkende Potential Ästhetischer
Bildung liegt in der Verbindung von Wahrnehmung, Emotion, Imagination und
194 Vgl. Vorst/ Grosser/ Eckardt/ Burrichter (2008) S.9-10 195 In weiterer Literatur findet sich für den Begriff der Synästhesie der Begriff der Polyästhetik wieder. 196 Vgl. Vorst/ Grosser/ Eckardt/ Burrichter (2008) S.10-12 197 Vgl. Vorst/ Grosser/ Eckardt/ Burrichter (2008) S.12 198 Vgl. Vorst/ Grosser/ Eckardt/ Burrichter (2008) S.12-13 199 Vgl. Vorst/ Grosser/ Eckardt/ Burrichter (2008) S.13-14 200 Vgl. Vorst/ Grosser/ Eckardt/ Burrichter (2008) S.14 201 Vgl. Vorst/ Grosser/ Eckardt/ Burrichter (2008) S.16
3. Tanz in der Ästhetischen Praxis mit Jugendlichen
44
Kognition, welche in dem Vorgang der Reflexion ihren Zusammenschluss finden.
Reflexion schafft in der Ästhetischen Praxis „ein Bewusstsein dafür, dass die
gegebenen wirklichen Verhältnisse nicht die einzig vorstellbaren sind.“202 8.
Ästhetische Bildung verhilft im eigenen kreativen Gestalten, aber auch in der
Rezeption von Kunst zu einem tieferen symbolischen Verstehen. Die Bedeutung der
Symbolbildung liegt in der Zusammenführung des Einzelnen, Verstreuten und
Zufälligen in einen größeren Zusammenhang, was wiederum zu einem intensiveren
Verstehen führt.203 9. Sie vermittelt einen Einblick in kulturelle Traditionen, der
nicht nur für das Verstehen und Entdecken tradierter kultureller und künstlerischer
Vorstellungsbilder von Bedeutung ist, sondern auch für die Schärfung des Blicks auf
kulturelle und gesellschaftliche Wandlungen.204 10. Ästhetische Erfahrungen führen
erst durch einen kommunikativen Austausch zu einer Vertiefung im Subjekt. Für
einen solchen Austausch in der Ästhetischen Praxis ist eine Gesprächskultur
vonnöten, in der die Beteiligten nicht nur ihre eigenen subjektiven Sichtweisen
einbringen dürfen, sondern sich in abwägender Weise auf den ästhetischen
Gegenstand beziehen können und insbesondere den Respekt für abweichende
Sichtweisen aufbringen. Es geht sowohl um die Fähigkeit eine Sprache für die
eigenen Eindrücke zu finden, als auch um die Bereitschaft die eigene Auffassung
durch Äußerungen anderer zu revidieren oder genauer zu rechtfertigen.205
11. Dass Ästhetische Bildung vor allem auch Identitätsbildung bedeutet, lässt sich an
vier Punkten aufzeigen.
Wie bereits mit dem Model von Jäger/Kuckhermann dargestellt, geht es in der
Ästhetischen Praxis um die Auseinandersetzung des Subjekts mit einem Ästhetischen
Gegenstand durch eine Ästhetische Tätigkeit. Da der Gegenstand immer persönliche
Anteile des Subjekts enthält, ergibt sich in der Auseinandersetzung des Subjekts mit
diesem erstens ein reflektiertes Verhältnis zur eigenen Subjektivität.
Durch die eben beschriebene Gesprächskultur, steht das Subjekt immer in einem
kommunikativen Zusammenhang, in dem vorwiegend Persönliches, d.h. eigene
Emotionen und Gedanken ausgetauscht werden. Identitätsentwicklung ist gerade auf
solche Interaktion angewiesen.
202 Vorst/ Grosser/ Eckardt/ Burrichter (2008) S.17 203 Vgl. Vorst/ Grosser/ Eckardt/ Burrichter (2008) S.18 204 Vgl. Vorst/ Grosser/ Eckardt/ Burrichter (2008) S.19 205 Vgl. Vorst/ Grosser/ Eckardt/ Burrichter (2008) S.19-21
3. Tanz in der Ästhetischen Praxis mit Jugendlichen
45
Ästhetische Praxis hängt aber vor allem mit Selbstwerterfahrung zusammen. Sie
bedeutet für den Rezipienten oder Produzenten, dass er es wert ist, eine „zwecklose“,
ästhetische Erfahrung zu machen.
Spinner bezeichnet ästhetische Erfahrung als eine ‚Bejahung des eigenen Lebens’.
Weiter kann ästhetisches Gestalten demnach auch Ausdruck für das eigene erfahrene
Leid sein und bietet damit die Möglichkeit, das Leidvolle zu verarbeiten und in das
eigene Leben zu integrieren.206
12. Sie bietet nicht zuletzt einen alternativen Zugang zur Welt, der sich von dem
dominierenden zweckrationalen, wissenschaftlich-objektivierenden Zugang
unterscheidet und gerade durch seine subjektive, sich von der Norm
unterscheidenden Gestalt seine Berechtigung erhalten sollte.207
Die folgende Auseinandersetzung mit dem Begriff der Kulturellen Bildung soll wie
bereits erwähnt nicht als Unterscheidung, sondern als erweiternde Beschreibung der
Ästhetischen Praxis verstanden werden. In der kulturellen Bildung geht es laut
Liebau um die ganze Bandbreite an freien und praktischen Künsten, um die
Entwicklung der subjektiven Wahrnehmungs-, Denk-, Urteils-, Handlungs-,
Ausdrucks-, und Darstellungsformen in ihrer gesamten Vielfalt.208 „Sie beansprucht
eine besondere Affinität oder auch Statthalterschaft zugunsten von Phantasie,
Kreativität, Imagination, Transformation bis zu Grenzüberschreitungen,
Fremdheitserfahrung, Utopie, Spiel und Experiment."209
Die Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) setzt sich nicht
nur für jugend-, bildungs- und kulturpolitische Interessen ein, sondern sie führt auch
regelmäßige Modellprojekte, sowie Evaluationen in diesem Bereich durch.210 Einer
ausführlichen Auseinandersetzung mit der Arbeit der BKJ kann diese Arbeit nicht
gerecht werden, dennoch möchte ich auf die durch die BKJ eingeführte
Systematisierung von Schlüsselkompetenzen211 hinweisen, welche nicht nur
bedeutsam für die Entfaltung der Persönlichkeit, sondern auch für die Befähigung
des Subjekts zur aktiven Teilhabe an der Gesellschaft sind. Sie lassen sich in
folgende fünf Kerngebiete einteilen: Selbstkompetenzen, Sozialkompetenzen,
206 Vgl. Vorst/ Grosser/ Eckardt/ Burrichter (2008) S.21-22 207 Vgl. Vorst/ Grosser/ Eckardt/ Burrichter (2008) S.22-23 208 http://www.paedagogik.phil.uni-erlangen.de/mitarbeiter/liebau/kultur-und-geist.pdf Abruf: 01.02.10. S.5 209 Zacharias (2009) S.241 210 http://www.bkj-remscheid.de/ Abruf: 23.02.10 211 Diese wurden im Rahmen des Projektes Kompetenznachweis Kultur der BKJ entwickelt. Der Kompetenznachweis Kultur lässt sich als Bildungspass verstehen, der die von Jugendlichen erfassten Schlüsselkompetenzen in der Kulturarbeit nachweist.
3. Tanz in der Ästhetischen Praxis mit Jugendlichen
46
Kulturelle Kompetenzen, Methodenkompetenzen und allgemeine künstlerische
Kompetenzen.212 Ästhetische Bildung, die auf die Persönlichkeitsentfaltung von
Subjekten zielt, sollte sich immer an der Förderung dieser Kompetenzen orientieren.
Schließen möchte ich dieses Kapitel mit dem Begriff der Lebenskunst, den Zacharias
als mögliche Schlüsselkompetenz aller Teilkompetenzen in der Kulturpädagogik
setzt. Mit dem Beitrag Foucaults über die Ästhetik der Existenz als Frage nach den
Möglichkeiten gelingenden Lebens, wird diese, aufgegriffen von Schmid in dem
Begriff der Lebenskunst, zu einem wichtigen Paradigma der Kulturpädagogik.213
Lebenskunst lernen, im Sinne einer aktiven und kreativen Gestaltung des eigenen
Lebens entsprechend der eigenen Potenziale, mit der Orientierung daran “sich selbst
biografisch verantwortlich zu formen und zu entwickeln“214, sieht Zacharias als
„konzeptionelles Leitmotiv gerade subjektorientierter kulturell-künstlerischer
Bildung ohne Wirklichkeitsverlust und mit politischen Dimensionen.“215 Damit wird
hier eine Trennung von Kunst und Leben aufgehoben.
3.2. Tanz als Ermöglichung ästhetischer Erfahrung
„Ich lobe den Tanz, denn er befreit den Menschen von der Schwere der Dinge, bindet den Vereinzelten zu Gemeinschaft. (..) Der Tanz fordert den befreiten, den
schwingenden Menschen im Gleichgewicht aller Kräfte. Ich lobe den Tanz! O Mensch, lerne tanzen, sonst wissen die Engel im Himmel mit dir nichts anzufangen.“
Augustinus, 400 n. Chr.216
Ästhetische Praxis bietet die Möglichkeit „die [eigene] Erfahrungswirklichkeit
gestaltend zu reflektieren“. Diese Bearbeitung und Reflexion findet „weder im
praktisch-zweckorientierten Handeln, noch im theoretischen Erkennen, sondern
allein im expressiven Umgang mit präsentativen Medien“217 wie dem Tanz statt. „Im
ästhetischen Spiel mit der Tanzkunst kann sich der Mensch ein wenig über seine
Wirklichkeit erheben“218. „Dabei sind die Bewegungselemente des Tanzes so [zu]
erarbeiten, dass sie ganz von innen her durchlebt werden.“219 Dann ermöglicht Tanz
„die Unbefangenheit, in der der Mensch sich und die Umwelt vergisst und nur die
212 Vgl. BKJ (Hrsg.) (2006) Der Kompetenznachweis Kultur. S.55-66 Diese Kernkompetenzen lassen sich in eine Vielzahl weiterer Teilkompetenzen unterteilen. 213 Vgl. Jäger/ Kuckhermann (2004) S.25 214 Zacharias (2009) S.248 215 Zacharias (2009) S.249 216 Zit. n. Lowinski (2007) S.118 217 Bannmüller/ Röthig (1990) S.103 218 Lowinski (2007) S.117 219 Jacobs (1985) S.185
3. Tanz in der Ästhetischen Praxis mit Jugendlichen
47
Bewegung spürt, die Lebendigkeit in der Ruhe, das Maß und die innere Haltung in
der Geschwindigkeit“220.
Diese Intensität des Erlebens in der Bewegung beschreibt der Psychologe Mihaly
Csikszentmihalyi als „‘flow‘, ein ‚Fließen‘, das innerlich wie äußerlich als
hochbefriedigend erlebt werden kann“221. Csikszentmihalyi beschäftigte sich mit
dem Phänomen ‚Freude‘ und deren Bedeutung für den Menschen. Er geht davon aus,
dass Freude zusammenhängt mit der eigenen Wirkmächtigkeit, Dinge tun zu können
die fernab von alltäglicher Lebensbewältigung nicht lebenswichtig erscheinen.
Wichtig erscheint ihm dabei die Erfahrung der eigenen Kompetenzen, des
Wachstums, der Selbststeigerung sowie der Überschreitung des Selbst. „Ein Mensch
sollte seine Fähigkeiten voll in eine Situation einbringen können, wo die
Anforderungen das Wachstum neuer Fähigkeiten stimulieren.“222
3.3. Projektbeispiele
Im folgenden Abschnitt möchte ich mich einigen Beispielen der Ästhetischen Praxis
zuwenden, die mit der Inszenierung künstlerischer Tanzprojekte m.E. einen
erheblichen Beitrag zur Subjektentwicklung von Jugendlichen leisten. Wie genau ich
dieser Beitrag aussehen kann, soll dabei aufgezeigt werden.
Zunächst möchte ich das Projekt ‚TanzZeit – Zeit für Tanz in Schulen’ in Berlin
vorstellen. Besonders interessant sind hierbei Stimmen von ProjektteilnehmerInnen,
die ich an dieser Stelle betrachten möchte. Des Weiteren werde ich auf die Arbeit
von Royston Maldoom eingehen, der weltweit Tanzprojekte mit in der Gesellschaft
benachteiligten Menschen, als Community Dance bezeichnet, initiiert und diese als
Choreograph leitet. Auf Grundlage seiner Autobiographie, einiger Interviews und
Projektbeschreibungen, lassen sich aus seiner Arbeit konzeptionelle und
pädagogische Leitprinzipien ableiten.
Abschließen möchte ich dieses Kapitel mit einem Experteninterview, das ich mit
Volker Eisenach, dem künstlerischen Leiter der Faster-Than-Light-Dance-Company
Berlin, führte. Auch diese Company widmet sich künstlerischen Tanzprojekten, die
barrierefrei Jugendlichen der Stadt Berlin den Zugang zu ästhetischen Erfahrungen in
Form von zeitgenössischem Bühnentanz ermöglichen sollen.
220 Jacobs (1985) S.185 221 Meueler (1993) S.126 222 Csikszentmihalyi (1985) S.231 zit. n. Meueler (1993) S.130
3. Tanz in der Ästhetischen Praxis mit Jugendlichen
48
Die Auswahl dieser drei Beispiele habe ich aufgrund deren langjährigen Erfahrungen
und vielfältigen Projektdurchführungen gewählt.
3.3.1. TanzZeit
Das Projekt ‚TanzZeit – Zeit für Tanz in Schulen’ wurde 2005 gegründet und ist dem
Dachverband Zeitgenössischer Tanz Berlin e. V. (ZTB) angegliedert. In der
Zusammenarbeit zwischen KünstlerInnen und PädagogInnen wurden bereits in den
ersten zwei Jahren Projekte in über 200 Schulklassen Berlins durchgeführt. Die
Motivation der Durchführenden dieser Projekte rührt aus der Überzeugung, dass
Tanz nicht nur die Integration junger Menschen unterschiedlicher Herkunft fördert,
sondern durch die Vermittlung von Bewegungsvielfalt und Körperbewusstsein auch
das Selbstbewusstsein der Kinder und Jugendlichen stärkt. Dies ist wiederum eine
wichtige Vorraussetzung für andere positive Lernprozesse. Neben dieser
ganzheitlichen Förderung von jungen Menschen durch die Vermittlung von Tanz,
Kultur und Bühnenerfahrung, geht es dem Projekt TanzZeit auch um eine
Etablierung des Tanzes im Bildungswesen.223
Aus der Projektarbeit an Schulen hat sich 2008 die TanzZeit Jugendcompany
gegründet. Sie richtet sich an diejenigen Jugendlichen, die durch die Teilnahme an
ersten Projekten daran interessiert sind, weitere Erfahrungen in kontinuierlichem
Training zu sammeln, was zu weiteren regelmäßigen Tanzproduktionen führt. Sie
sollen dabei nicht nur ihre Tanzerfahrungen und neu gewonnenen Sozialkompe-
tenzen weiterentwickeln. TanzZeit geht es auch darum, die Jugendlichen auf der
‚Schwelle zwischen Schule und Beruf’ zu begleiten und ihnen alternative Wege
aufzuzeigen. Welche Veränderungen und Entwicklungen die Jugendlichen innerhalb
solcher Projekte durchmachen, lässt sich am ehesten herausfinden, indem man diese
selbst befragt. In einem Kurzvideo, das die Projektarbeit der Jugendcompany
dokumentiert, kommen die Jugendlichen selbst zu Wort.224 Einigen Stimmen möchte
ich hier beispielhaft Raum geben.
Teilnehmer 1:
„Ich kann meine Geschichte ni erzählen, so, weil die mir einfach viel zu Nahe liegt. Ich sag den Menschen nicht wirklich was passiert is so, drück meine Geschichte im
223 Vgl. http://www.tanzzeit-schule.de/tanzzeit/tanzzeit.php?PHPSESSID= d8478f8a8edd3b7adb46e5c5a1852828 Abruf: 25.03.2010 224 Vgl. http://www.tanzzeit-schule.de/tanzzeit/jugendcompany.php?PHPSESSID= d8478f8a8edd3b7adb46e5c5a1852828 Abruf: 25.03.2010; siehe auch CD-Anhang
3. Tanz in der Ästhetischen Praxis mit Jugendlichen
49
Tanz aus. Mit meinen Bewegungen. Zu meinem Vater hab ich ken Kontakt mehr so, und meine Mutter findet so, dass ich eh nichts auf die Reihe kriege. Dass ich en
hoffnungsloser Fall bin. Ich hab ja auch immer gesagt, oh ich kann nischts und ich bin total Scheiße ich kann das ni und na dann bin ich zum Breakdance gekommen
und so hab ich meinem Leben nen neuen Sinn gegeben. Vom Breakdance bin ich zum HipHop zum Rappen, vom Rappen zum Frame und jetzt bin ich hier.
Ich muss sagen, dass ich am Anfang ziemlich skeptisch war. So von wegen Barfuss tanzen und so. Boah Alter ich hab übelst abgekotzt. Vor allen Dingen hatte ich dann
übelste Fussschmerzen.“
Auf drei Aspekte möchte ich in diesem Zitat Bezug nehmen. Der Junge berichtet
davon, dass nicht nur er selbst, sondern auch seine Eltern von ihrem Sohn das Bild
eines Versagers im Kopf haben. Dar Tanz liefert ihm eine direkte Gegenerfahrung
zu diesen verinnerlichten Erfahrungen und diesem negativen Selbstbild. Durch ihn
erlebt der Junge sein eigenes Können. Dort wo er seine eigene Geschichte, seine
Gefühle mit Worten nicht zu äußern vermag, schenkt ihm der Tanz eine neue
Ausrucksmöglichkeit. Das, was er anfangs im zeitgenössischen Tanz als fremd und
anstrengend erlebt, nimmt er für die neuen Erfahrungen in Kauf. Dies schenkt ihm
nicht nur eine Horizonterweiterung, sondern stärkt auch sein Durchhaltevermögen,
da die harte Arbeit in ein Tanzstück mündet, auf das er später stolz zurück schauen
kann.
Teilnehmerin 2: „Das ist ja hier mit viel Improvisation, hätte ich so nen Kurs mitgemacht, so mit nem Tanzlehrer so richtig, hätte ich eigentlich nur nachgemacht. Dann wär ich vielleicht
nicht ich selbst gewesen, sondern hätte nur versucht Schritte irgendwie zu verfolgen.“
Die Teilnehmerin macht deutlich, dass durch die Arbeit mit Improvisation ein Teil
ihres Selbst zum Vorschein kommt. Sie schätzt den authentischen Selbstausdruck
gegenüber dem einfachen Nachahmen von Bewegungen.
Teilnehmerin 3:
„Und das Tanzen verbindet einen dann schon. Vor allem wenn man sich jetzt nicht so gut kennt, und dann zusammen jetzt aber auch irgendwie Gemeinsamkeiten findet
wie man sich ausdrücken kann oder wie man ohne Worte sozusagen miteinander kommunizieren kann.“
Tanz verbindet, das kommt hier deutlich zum Ausdruck. Dort wo scheinbar keine
Gemeinsamkeiten zu finden sind, lässt sich plötzlich über einen neuen
Kommunikationsweg, über den Körper, Verbindendes ausmachen. Neue Erfahrungen
3. Tanz in der Ästhetischen Praxis mit Jugendlichen
50
werden geteilt und bringen die Teilnehmer emotional näher zueinander. Indem
Schranken zwischen den TeilnehmerInnen durchbrochen werden, wird diesen ein
Zugehen auf zunächst Fremdes ermöglicht.
Teilnehmer 4:
„Also ich hab mich eigentlich sehr gut entwickelt, weil davor war ich eigentlich so
nen Typ der nicht so gern im Mittelpunkt steht. Hab ich jetzt auch ein Solo am Ende bekommen. Und jetzt bin ich auch mehr selbstbewusster geworden und geh auch
mehr auf die Leute zu.“
Die neue Erfahrung des Jungen, bei einer Tanzaufführung im Mittelpunkt zu stehen
befähigt ihn, dieses Erleben in seinen Alltag zu übertragen. Auch außerhalb des
Tanzraums fällt es ihm nun leichter auf andere zuzugehen. Der Tanz stärkt dabei
nicht nur das Vertrauen des Jungen in sich selbst, sondern auch sein Vertrauen
darein, von anderen anerkannt und angenommen zu sein.
Teilnehmerin 5:
„Tanzen heißt für mich, ich selbst sein zu können und sich nicht unterkriegen zu lassen. Wenn ich tanze, fühle ich mich wie ein anderer Mensch, wie eine bessere
Version von mir.“
Die Teilnehmerin spricht hier von einem starken Freiheitsgefühl. Das, was im Alltag
nicht realisierbar zu sein scheint, wird durch den Tanz möglich. Dieses Gefühl der
Ermächtigung ‚sich nicht unterkriegen zu lassen’, kann im Tanz gestärkt und
schließlich in den Alltag mit hinein genommen werden. Die Teilnehmerin lernt im
Tanz eine neue positive Seite von sich selbst kennen. Damit wird ihre
Selbstwahrnehmung positiv erweitert.
Teilnehmer 6:
„Im zeitgenössischen Tanz fand ich eine ganz neue Welt für mich, denn er zeigte mir
alltägliche ganz selbstverständliche Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu sehen.“ Eine neue Welt erschließt sich diesem Teilnehmer im Tanz. Zur Routine gewordener
Alltag wird plötzlich aus anderen Blickwinkeln wahrgenommen und kann sich
schließlich interessanter, inspirierter und kreativer gestalten lassen. In dem
Entdecken von Neuem liegen verschiedene Chancen: das Finden neuer Lösungs-
wege, die Erweiterung der eigenen ‚Weltsicht’ sowie die Entfaltung von Freude im
schöpferischen Tun.
3. Tanz in der Ästhetischen Praxis mit Jugendlichen
51
3.3.2. Die Arbeit von Royston Maldoom
“Dance can give a voice to the voiceless.” Royston Maldoom225
Als wichtigsten Kern der Arbeit des britischen Choreographen Royston Maldoom,
der inzwischen in Berlin lebt und daher viele seiner Projekte auch in Deutschland
durchführt, soll hier die Philosophie und die Bewegung des Community Dance, als
deren wichtiger Mitbegründer Maldoom gilt, betrachtet werden.
„Royston Maldoom engagiert sich weltweit und ist fasziniert davon, mit Menschen
unter verschiedensten Voraussetzung [!] zu arbeiten, d.h. mit Problem- und
Straßenkindern, Behinderten, Gefangenen, mit Menschen in Kriegs- und
Krisengebieten, und ihnen dabei die Möglichkeit zu geben, sich selbst zu entdecken,
ihre Leidenschaften und ihr Können. Er ist davon überzeugt, dass Kunst Leben und
Gesellschaften verändert und gegenseitiges Verständnis und Zusammenleben
unterstützen und fördern kann.“226 So heißt es auf seiner Internetseite. Dass
Maldoom mit der Kunst tatsächlich einen gesellschaftsrelevanten neuen Weg
beschreitet, wird nicht allein durch die Vielzahl seiner Projekte deutlich, sondern
auch durch die öffentliche Resonanz, welche diese erhalten. Angefangen durch den
Dokumentarfilm ‚Rhythm is it’ 2005, der das Tanzprojekt ‚Le Sacre du Printemps’
mit 250 Berliner SchülerInnen in Zusammenarbeit mit den Berlinern Philharmo-
nikern begleitete, über das Community Dance Projekt mit der Adunga Tanz
Company in Äthiopien, das mit 18 Straßenkindern durchgeführt wurde und anderen
politisch und sozial relevanten Projekten, die Maldoom in Deutschland und weltweit
u.a. in Nordirland, USA, Peru, Kroatien, initiierte.
Was bedeutet nun Community Dance? Die Idee dieser Ende der 1970er Jahre in
England startenden Bewegung „hatte zunächst nichts mit Tanz zu tun, sondern mit
Entwicklungen im Erziehungs- und Gesellschaftssystem unter Aspekten von
chancengleicher Ausbildung, kommunikativer Nachbarschaft und kultureller
Toleranz.“227 Für den Tanz bedeutete dies, die Abschirmung des elitären,
professionellen Tanzes zu durchbrechen und Tanz für jedermann zugänglich zu
machen. Dabei sollte die Qualität jedoch nicht leiden. Die Mitbegründerin des
Community Dance Tamara McLorg spricht in ihrem Vortrag, eingebunden in das
Projekt ‚Can Do Can Dance’ in Hamburg 2006, davon. „If we are working with 225 Zit. n. http://www.royston-maldoom.net/about/philosophie.php?id_language=1 Abruf: 23.3.2010 226 http://www.royston-maldoom.net/about/philosophie.php?id_language=1 Abruf: 23.03.2010 227 http://www.abendblatt.de/kultur-live/article415945/Was-ist-denn-Community-Dance.html Abruf: 23.03.2010; Artikel des Hamburger Abendblatts von Klaus Witzeling
3. Tanz in der Ästhetischen Praxis mit Jugendlichen
52
people in the community, we have to take them the best, not second best.“228
Hauptmotivation des Community Dances ist es, Menschen unterschiedlichen Alters
und Geschlechts, ethnischer Zugehörigkeit oder sozialer Herkunft, unabhängig von
Talent oder Erfahrung im Tanz zusammenzubringen und in dieser Diversität die
Entwicklung neuer Ausrucksformen zu ermöglichen.229 Dabei steht u.a. im
Vordergrund, Etikettierungen entgegenzuwirken, die bestimmten Personengruppen
gesellschaftlich angehaftet werden. „(..) I think we will achieve something, when we
got rid of the labels. That we´re not saying: ‘I`m working with someone with
disabilities’ or ‘I`m working with a group of immigrants’ (..) No! - ‘I`m working
with a group of people!’”230
Maldoom stellte in einer Veranstaltung des Heidelberger Deutsch-Amerikanischen
Instituts am 18.03.2010 seine Autobiographie ‘Tanz um dein Leben’ vor. Da ich die
Gelegenheit hatte an dieser Buchvorstellung teilzunehmen, möchte ich folgendes
Beispiel wiedergeben, das Maldoom während seines Vortrags erzählte.
Nach einem Projekt mit Frauen aus dem Holloway-Gefängnis in London fragt er
diese, warum sie daran teilgenommen haben. Eine Frau erklärt ihm, dass sie im
Rahmen des Resozialisierungsprogramms monatlich eine Auswahl auf einer Art
‚Möglichkeiten-Markt’ zu treffen hat. In einer Halle befinden sich Stände
verschiedener Organisationen, die den Frauen verschiedene Angebote machen. Da
lassen sich beispielsweise Angebote für alleinerziehende Mütter finden, Beratung für
Drogenabhängige oder Unterstützungen bei der Arbeitssuche nach der Entlassung
werden angeboten. Und dann war da dieser Stand, beschreibt diese eine Frau, der
‚einfach nur’ Tänzerinnen suchte. Sie war sichtlich berührt davon, in einer ganz
anderen Rolle angesprochen zu werden, welche sie nicht auf Defizite oder gar ihren
kriminellen Status reduzierte.
Dieses Ziel verfolgt der Community Dance, indem er den Tänzer, den Künstler im
Menschen ansprechen möchte. Maldoom sagt in einem Interview für die Zeitschrift
‚Psychologie Heute’: „Wenn ich also in einem Gefängnis arbeite, dann arbeite ich
mit den Menschen nicht als Gefangenen, sondern als potentiellen [!] Tänzern.“231
Denn „Kunst erlaubt es uns, über stereotypische Bilder der Gemeinschaft und die
228 http://www.candocandance.de/history.html Abruf: 23.03.2010 229 Vgl. http://www.royston-maldoom.net/about/philosophie.php?id_language=1 Abruf: 23.03.2010 230 http://www.candocandance.de/history.html Abruf: 23.03.2010 231 http://www.royston-maldoom.net/service/download.php?id_language=1 Abruf: 01.02.2010
3. Tanz in der Ästhetischen Praxis mit Jugendlichen
53
Begrenzungen des Selbst hinauszugehen.“232 Weniger die Alltagsthemen der
Teilnehmer stehen im Mittelpunkt, als vielmehr ein gemeinsamer künstlerischer
Prozess. Denn für Maldoom hat das gemeinsame Tanzen „per se eine soziale und
politische Aussage, wenn man es mit einer gewissen Strenge und Disziplin betreibt.
Ein gemeinsamer Tanz bedeutet gemeinsames Wachstum. Übergreifende Themen
ermutigen die Teilnehmer, sich auch außerhalb stärker zu engagieren, denn die
Tänzer machen die Erfahrung, dass sie nicht machtlos sind, ganz egal unter welchen
Umständen sie leben.“233
Der Community Dance richtet sich nicht allein an spezifische Zielgruppen. Vielmehr
ist es ihm ein Anliegen, Menschen unterschiedlichen Hintergrunds zusammen-
zuführen. „Wenn mehrere Gruppen zusammenarbeiten, entdecken die Teilnehmer,
dass sie ein Teil einer größeren Gemeinschaft sind, die Neues und Überraschendes
bereithält – und das lässt sie unter Umständen ihre eigene Stellung in der
Gesellschaft mit ganz neuen Augen sehen.“234 Die Arbeit sollte möglichst im
öffentlichen Leben stattfinden, dort wo Nachbarschaftsbegegnungen möglich sind,
Menschen aus Neugier dazu stoßen können, um spontan selbst mitzutanzen oder das
Projekt aus Begeisterung organisatorisch unterstützen.235
Eines seiner Projekte, das Maldoom 1994 im südafrikanischen Durban kurz nach der
Abschaffung der Apartheid und der Wahl Nelson Mandelas zum Staatspräsidenten
durchführte, widmete sich der Vision, in dem Theater der Stadt, das bisher nur der
weißen Bevölkerung Zutritt verschaffte, eine Aufführung mit Menschen sowohl der
weißen, als auch der schwarzen Bevölkerung auf die Beine zu stellen. Während
seiner Arbeit machte Maldoom in den Pausen folgende wunderbaren Beobachtungen:
„Die weiblichen Teenager setzten sich in die Mitte und tratschten, während die
älteren Jungen draußen die fußballerischen Fähigkeiten der jeweils anderen auf die
Probe stellten. Wieder einmal konnte ich sehen, wie Grenzen überwunden wurden,
wenn der negative und trennende Einfluss der Politik wegfiel und ein gemeinsames
Interesse bestand. Und zweifellos hat die Körperlichkeit des Tanzes ebenfalls eine
Rolle gespielt.“236
Community Dance kann zum Durchbrechen von Grenzen und zu Integration
beitragen, indem es ein gemeinsames Tun in den Mittelpunkt stellt, das allen
232 Maldoom (2010) S.146 233 Maldoom (2010) S.146-147 234 Carley (2010) S.18 235 Vgl. Carley (2010) S.18-19 236 Maldoom (2010) S.189-190
3. Tanz in der Ästhetischen Praxis mit Jugendlichen
54
Beteiligten neue Erfahrungen vermittelt. Die zwischenmenschlichen Begegnungen in
den Probenpausen, wie sie Maldoom beschreibt, können dazu einen ebenso großen
Beitrag leisten, wie der gemeinsame kreative Schaffensprozess selbst.
In einem Interview mit der Sprachwissenschaftlerin und Bühnentänzerin Alexandra
L. Zepter spricht Maldoom u.a. darüber, wie Tanz das Durchbrechen von negativen
Haltungen gegenüber unterschiedlichen ökonomischen, sozialen, religiösen und
kulturellen Hintergründen vermag. Zum einen mag es nach Maldoom daran liegen,
„dass wir uns [im Tanz] sehr körperlich engagieren und es sehr schwer ist,
voreingenommen zu bleiben, ein Vorurteil gegen andere Menschen zu haben, mit
denen du physisch zusammengearbeitet hast, um Lösungen für Probleme zu
finden.“237 Zum anderen gibt Tanz „außerhalb vorurteilsbehafteter Sprache (..) viel
weniger Gelegenheit für Missverständnisse. Es ist die nonverbale Kommunikation,
die sehr stark ist, Körpersprache, ergreifend; und das ist es, wenn wir miteinander
tanzen, wir verhandeln Raum, wir teilen Zeit, wir müssen uns sehr bewusst über die
Situation der anderen im Raum sein oder über den Platz, wenn wir alle zusammen
auf der Bühne sind. Es ist ziemlich raffiniert im sozialen Zusammenhang: Wir
müssen vertrauen, sehr oft heben wir, stützen wir, vermeiden wir, dass wir alle
zusammenstoßen – und das ist eine sehr differenzierte soziale Aktivität.“238
Über die Rolle des Tanzes in der Erziehung und in der Entwicklung von Lern- und
Verstehensstrategien sagt Maldoom, dass dieser uns auf das Lernen vorbereitet; „er
macht uns offen für das Lernen. Einer der Weisen, in der er das tut, ist, dass er uns
ein Gefühl der Selbstachtung vermittelt, ein Gefühl von Wert, der Idee, dass wir
wichtig sind, dass wir lernen können, dass wir Einfluss auf unser eigenes Leben
haben können.“239
Maldoom spricht außerdem in diesem Interview über seine Arbeit mit Jugendlichen.
„Mit den Jugendlichen kämpfst du richtig. Bei ihnen findet sich bereits eine kurze
Lebenszeit der Abkopplung, sehr oft eine Spur von Scheitern oder Unsicherheit sich
selbst gegenüber, dem Leben gegenüber. Deshalb musst du eine ganze Menge
Abbauarbeit machen, bevor du wiederaufbauen kannst. Du musst dich mit der
237 http://www.worthaus.com/Worthaus_NEU/Interview%20Royston%20Maldoom.pdf Abruf: 23.03.2010; S.6 238 http://www.worthaus.com/Worthaus_NEU/Interview%20Royston%20Maldoom.pdf Abruf: 23.03.2010; S.6-7 239 http://www.worthaus.com/Worthaus_NEU/Interview%20Royston%20Maldoom.pdf Abruf: 23.03.2010; S.7
3. Tanz in der Ästhetischen Praxis mit Jugendlichen
55
Haltung auseinandersetzen, die sie bereits angenommen haben, und diese Gefühle
und Einstellungen eintauschen gegen etwas Positiveres.“240
Eines der wichtigsten Grundprinzipien für die Arbeit mit jungen Menschen ist für
Maldoom der Glaube an deren Potential. In seinem Vortrag ‚Bildung durch
Bewegung’ auf dem McKinsey Kongress über Frühkindliche Bildung im Oktober
2006 in Berlin widmet er sich diesem Thema. „Fühlen (..) [die Jugendlichen] nur
einen Augenblick, dass man nicht an ihr Potential glaubt und so Teil derjenigen Welt
wird, der sie so häufig ausgesetzt sind und die sie nicht anerkennt, sie nicht
respektiert, kein Vertrauen in ihre Potenziale setzt, fallen sie sofort zurück auf ihre
gewohnte Meinung von sich, die viele Kinder, aber auch viele unter uns von sich
haben, nach der man ein Versager ist, jemand, dem nichts gelingt.“241 Das
Selbstvertrauen junger Menschen hängt demnach stark von den Haltungen der sie
umgebenden Erwachsenen ab. „Ich genieße den Augenblick nach einer Vorstellung,
wenn ein Lehrer oder ein Elternteil sagt: »Ich hätte nie gedacht, dass mein Kind
(oder mein Schüler) solche Fähigkeiten hat.« Dann darf ich antworten: »Nun wissen
sie, was das eigentliche Problem ist.«“242
Junge Menschen tragen oft ein bestimmtes Selbstbild mit sich, das davon bestimmt
ist sich nicht geliebt, angenommen und wertvoll zu fühlen. Dieses Bild tragen sie
häufig als Selbstschutz vor sich und verhindern damit wirkliche Nähe zu anderen.
Maldoom nennt dieses Bild das ‚Adoptivkind’. „Das ‚Adoptivkind’ ist eine Collage
aus den Äußerungen von Erwachsenen und Gleichaltrigen und wird von einer allzu
menschlichen Verwundbarkeit zusammengehalten. (..) Ich arbeite nicht mit dem
‚Adoptivkind’. Ich arbeite nur mit der wirklichen Person – dem talentierten,
kreativen Wesen, dem Menschen mit dem außergewöhnlichen Potential.“243
Die besondere Macht des Tanzes beschreibt Maldoom folgendermaßen. „Die
wortlose Sprache des Tanzes ist (..) eine weitere Möglichkeit das Selbst zu
erforschen, verborgene Wünsche zu entdecken und mit anderen in Kontakt zu treten.
Fehlt beispielsweise aufgrund einer besonderen Bedürftigkeit oder geringer Bildung
240 http://www.worthaus.com/Worthaus_NEU/Interview%20Royston%20Maldoom.pdf Abruf: 23.03.2010; S.5-6 241 http://www.royston-maldoom.net/service/download.php?id_language=1 Abruf: 01.02.2010; lecture_maldoom_oct06.pdf 242 Maldoom (2010) S.59 243 Maldoom (2010) S.61
3. Tanz in der Ästhetischen Praxis mit Jugendlichen
56
die Fähigkeit, sich mit konventionellen Mitteln mitzuteilen, kann der Tanz ein
wertvolles Hilfsmittel sein sich darzustellen und mit anderen zu kommunizieren.“244
In seinem Vortrag für das European Foundation Centre in Istanbul 2008 heißt es:
„Tanz integriert den Körper, die am stärksten vernachlässigte Komponente der
menschlichen Persönlichkeit, die aber eine immens wichtige Rolle in der
Kommunikation mit uns selbst, mit anderen und mit der Umwelt spielt. Ohne die
harmonische Interaktion des physischen, emotionalen und kognitiven Selbst sind
Kommunikation, Selbstbewusstsein und Verstehen zutiefst gehemmt.“245
3.3.3 Faster-Than-Light-Dance-Company
Nun möchte ich einen Blick auf die Arbeit der Faster-Than-Light-Dance-Company
(FTL)246 werfen, mit dessen künstlerischem Leiter Volker Eisenach ich am
26.03.2010 über Telefonkonferenz ein 30-minütiges Interview geführt habe.
Während das Interview im Anhang vollständig aufgeführt ist, möchte ich an dieser
Stelle eine Zusammenfassung bzw. Auswertung dessen folgen lassen.
Die FTL produziert seit 1992 in Berlin professionelle Tanzstücke im Bereich des
zeitgenössischen Bühnentanzes mit Jugendlichen unterschiedlicher sozialer und
kultureller Herkunft. Jährlich finden mehrfach Projekte in unterschiedlichster
Ausgestaltung statt und Jugendliche der Stadt Berlin erhalten in jedem Projekt neu
die Möglichkeit, daran teilzunehmen.
Zunächst interessierte mich, wie Eisenach selbst zum zeitgenössischen Tanz kam,
worin er professionell in London ausgebildet wurde. Durch spannende Tanz-
aufführungen an seiner damaligen Oberschule wurde er angelockt, selbst einmal an
einer der Tanz AGs teilzunehmen. Ohne zu wissen, was ihn erwarten würde, traute er
sich eines Tages und machte so begeistert seine ersten Tanzschritte. Als seine
Tanzlehrerin und Choreographin einen Aushang über ein Projekt mit dem damals in
Deutschland noch eher unbekannten Royston Maldoom sieht, ermutigte sie Eisenach,
dort mitzumachen. Es handelte sich um ein Jugendprojekt für SchülerInnen, das in
den Sommerferien statt fand, auf 3 Jahre angelegt war und eine Brücke zwischen den
damaligen Kulturhauptstädten Berlin (1988) und Glasgow (1990) schlagen sollte.
Eisenach meldete sich an und blieb auch während der Verlängerung auf 4 Jahre bei
dem Projekt dabei. „Das war so eine ganz andere Herangehensweise, ein anderes
244 Maldoom (2010) S.39 245 Carley (2010) S.154 246 Vgl. http://www.ftl-online.com/FTL/start Abruf: 29.03.2010
3. Tanz in der Ästhetischen Praxis mit Jugendlichen
57
Bewegungsvokabular, was mir sehr gefallen hat und was sehr kraftvoll war.“247 So
entschied er auf die Anfrage von Maldoom, auch in weiteren Projekten in Duisburg
mitzutanzen bis dieser ihn schließlich motivierte, eine professionelle Ausbildung zu
durchlaufen. Während Eisenach bis dahin als Jugendlicher rein hobbymäßig tanzte,
ging er gleichzeitig seine ersten kleinen Schritte als Choreograph, indem er mit 18
Jahren die Leitung der Tanz Gruppe seiner Schule übernahm. Was aus heutiger Sicht
sehr bewundernswert ist, machte er damals kaum öffentlich und brachte dennoch
zusammen mit Freunden viele, kleine Stücke auf die Bühne. Schließlich begann er
seine Ausbildung nach einer Aufnahmeprüfung an der Rambert School of Ballet and
Contemporary Dance in London.
Befragt nach seiner Arbeit mit der FTL und den Zielen, die er mit seinen Projekten
verfolgt, antwortete Eisenach: „Die Arbeit der (..) FTL richtet sich an alle Leute, die
grundsätzlich Interesse am Tanzen haben, egal ob Vorkenntnisse vorhanden sind
oder nicht. Und bei uns ist es sehr, sehr wichtig, dass wir keine Aufnahmeprüfung
haben oder Audition oder Casting (..) Unsere Projekte sind grundsätzlich auch
kostenlos und wir schicken niemanden wieder nach Hause, weil er zu wenig, zu viel
oder zu was auch immer getanzt hat.“248 Die Projekte mit den 15- bis 25-Jährigen
können als 2-wöchige Ferienprojekte oder auch als über Monate langfristig angelegte
Projekte gestaltet werden, in denen nicht nur Grundkenntnisse des zeitgenössischen
Tanzes vermittelt werden, sondern auf die am Ende immer auch eine große
Aufführung folgt. Die Jugendlichen sollen dabei die Gelegenheit bekommen, ihre
harte Arbeit einem Publikum in professionellem Rahmen zu präsentieren, um ein
Feedback und Anerkennung für ihre Arbeit zu erhalten.
Die FTL geht dabei weg von „MTV oder VIVA“ und widmet sich dem
zeitgenössischen Bühnentanz, der kaum unter den Jugendlichen verbreitet ist. Mich
interessiert, wie die Jugendlichen auf das für sie Fremde und Neue reagieren.
Für Eisenach besitzt Tanz mit Jugendlichen nicht mehr Berührungsängste, als andere
Freizeitaktivitäten. „Man muss natürlich den ersten Schritt über die Schwelle machen
und danach ist Tanzen für die auch sehr, sehr einfach.“249 Die Jugendlichen
gewinnen schnell einen Zugang und können dadurch „sehr große Fortschritte machen
und beachtliche Leistungen auf die Bühne bringen, die sie selber nicht erwartet
hätten und die auch die Zuschauer nicht erwartet hätten. Das ist für uns natürlich
247 Volker Eisenach zit. n. Interview vom 26.03.2010 s. Anhang S.2 248 Volker Eisenach zit. n. Interview vom 26.03.2010 s. Anhang S.3 249 Volker Eisenach zit. n. Interview vom 26.03.2010 s. Anhang S.4
3. Tanz in der Ästhetischen Praxis mit Jugendlichen
58
immer faszinierend zu sehen, wie sich Teilnehmer und Teilnehmerinnen innerhalb
von sehr kurzer Zeit tänzerisch, menschlich entwickeln.“250
Ich wollte noch etwas genauer wissen, welche Entwicklungen die Jugendlichen
während eines Probenprozesses durchmachen. Eisenach spricht insbesondere die
soziale Entwicklung an, welche die Gruppe in der gemeinsamen Erarbeitung eines
Stücks durchmacht. „Man kann nicht allein nur auf der Bühne tanzen, es reicht nicht,
wenn nur eine Person auf der Bühne richtig ist (..), sondern ein Ensemble muss ein
Ergebnis auf die Bühne bringen, mit dem alle Beteiligten zufrieden sind oder wo alle
gleich gut sind und gleich wichtig sind. (..) Man muss sich gegenseitig vertrauen,
man muss aufeinander Rücksicht nehmen, man muss natürlich auch seinen eigenen
Körper kennenlernen"251 Damit spricht Eisenach die Auseinandersetzung der
TeilnehmerInnen nicht nur mit den anderen an, sondern insbesondere auch mit der
eigenen körperlichen Situiertheit, mit Fähigkeiten, Begrenzungen und Bedürfnissen.
Diese selbstreflexiven Vorgänge werden nicht immer offen oder verbal thematisiert,
sondern werden unterschwellig mitgenommen. „Dadurch, dass wir nicht jedes Mal
den Finger drauf halten und sagen, guck mal, jetzt passiert gerade das und das, (..)
haben die Jugendlichen es viel einfacher, damit umzugehen und viel weniger
Hemmschwelle, vielleicht Sachen auch anzunehmen.“252 Die Jugendlichen machen
demnach keine ‚pädagogisierten’ Lernschritte, sondern dürfen sich spielerisch und
gestalterisch in ihrer Persönlichkeit entfalten.
Auch wenn Eisenach als Künstler und Choreograph arbeitet, kommen seine Projekte
ohne pädagogisches Arbeiten nicht aus. „Man muss immer ein Gleichgewicht
zwischen künstlerischem Arbeiten und pädagogischem Arbeiten haben, weil man
sonst keine einzige Bewegung den Leuten beibringen kann oder furchtbare
Probenatmosphäre schafft.“253
Ich wollte wissen, ob Eisenach in seinen Projekten eine Veränderung im Selbstbe-
wusstsein der Jugendlichen beobachten kann. Er sprach von Entwicklungen, die
nicht von einem Moment auf den nächsten passieren, sondern die sich in einem
längeren Prozess, vielleicht auch erst nach Projektende beobachten lassen. Er ist
davon überzeugt, dass es kein Tanzprojekt gibt, das nicht irgendwie einen positiven
Effekt auf das Leben der TeilnehmerInnen hat. „Und wenn es nur ist, (..) dass sie dir
250 Volker Eisenach zit. n. Interview vom 26.03.2010 s. Anhang S.4 251 Volker Eisenach zit. n. Interview vom 26.03.2010 s. Anhang S.5 252 Volker Eisenach zit. n. Interview vom 26.03.2010 s. Anhang S.5 253 Volker Eisenach zit. n. Interview vom 26.03.2010 s. Anhang S.5
3. Tanz in der Ästhetischen Praxis mit Jugendlichen
59
dann plötzlich nach Wochen der Arbeit das erste Mal ins Gesicht schauen oder dir in
die Augen schauen, oder einfach nur ein bisschen mehr lächeln, oder sich gerade
halten.“254 Selbst wenn die Jugendlichen keinen weiteren Tanzweg einschlagen oder
ihn gar zum Berufswunsch machen, lässt ein solches Projekt diese nicht unberührt.
„Und wenn es nur ist, dass man die Musik dann nach 5 Jahren mal wieder hört oder
sich dran erinnert oder Fotos sieht oder sich das Video anguckt.“255 Diese positiven
Erfahrungen können demnach auch in Form von Erinnerungen in den Jugendlichen
weiter wirken und sie in ihrer Alltagsroutine ermutigen.
Die FTL schafft einen barrierefreien Zugang zu Bildung und ästhetischen
Erfahrungen, indem sie bewusst auf Aufnahmeprüfungen verzichtet, die Möglichkeit
zur kostenfreien Teilnahme schafft und Anfänger gemeinsam mit Fortgeschrittenen
auf die Bühne bringt. Da es auch ein Kern Sozialer Arbeit sein sollte, gesellschaft-
liche Teilhabe zu ermöglichen und Chancenungerechtigkeiten abzubauen, interessiert
mich, welchen Beitrag Soziale Arbeit leisten kann, wenn es um die Umsetzung der
bisher beschriebenen Projekte geht. Eisenach beschrieb zwei Projektformen, die
unterschiedliche Herangehensweisen benötigen: „Wenn ich ein Projekt mit fünf
Leuten habe, dann brauche ich da eine andere Herangehensweise, als wenn ich 200
Leute habe, die über zwei Monate zusammen arbeiten.“256 Ihm ist dabei wichtig, dass
das jeweilige Projekt „choreographisch auf die Jugendlichen zugeschnitten ist, dass
sie nicht überfordert sind, sondern nur gefordert, dass sie ihre besten Sachen zeigen
können, ohne (..) das Gefühl zu haben, ‚oh, sie machen sich hier lächerlich’, sondern
dass sie am Tag der Aufführung einfach ein sicheres Gefühl haben.“257
Wenn es um die Umsetzung großer Projekte geht, benötigt man nicht nur Lehrer die
betreuend helfen, sondern auch viele weitere Personen, die das Projekt im
Hintergrund unterstützen. Ein Ansatzpunkt Sozialer Arbeit sollte m.E. in der
Wegbereitung dieser Projekte liegen. Dies kann durch Netzwerkarbeit,
Öffentlichkeitsarbeit, organisatorische und personelle Unterstützung geschehen.
Wenn junge Menschen durch Projekte, wie sie die FTL in Berlin durchführt, die
Chance bekommen, unabhängig von ihrem sozialen oder kulturellen Hintergrund
unter professioneller Anleitung künstlerische, ästhetische Erfahrungen zu sammeln,
werden dadurch nicht nur neue Bildungschancen geschaffen und gesellschaftliche
254 Volker Eisenach zit. n. Interview vom 26.03.2010 s. Anhang S.6 255 Volker Eisenach zit. n. Interview vom 26.03.2010 s. Anhang S.6-7 256 Volker Eisenach zit. n. Interview vom 26.03.2010 s. Anhang S.7 257 Volker Eisenach zit. n. Interview vom 26.03.2010 s. Anhang S.7
3. Tanz in der Ästhetischen Praxis mit Jugendlichen
60
Partizipation ermöglicht, sondern auch ganz individuell wichtige Impulse für die
biographische Entwicklung einzelner Jugendlicher gesetzt
3.4. Potentiale im Tanz nach Lowinski und Klinge
Die Sozialwissenschaftlerin und Tanzpädagogin Felicitas Lowinski entwirft in ihrem
Buch ‚Bewegung im Dazwischen’ eine Projektkonzeption, die einen körperorien-
tierten, kulturpädagogischen Ansatz für die Arbeit mit benachteiligten Jugendlichen
verfolgt. Dafür setzt sie sich ausführlich mit der Lebenswelt benachteiligter
Jugendlicher, mit der körperlichen Dimension von Kulturpädagogik, sowie mit den
Wirkungsweisen von Tanz auseinander. In einem Resümee richtet sie ihren Blick
darauf, welches Potential Tanz für die kulturpädagogische Arbeit mit Jugendlichen
birgt. Ihre Ergebnisse möchte ich an dieser Stelle verkürzt darstellen.
Durch eine körperliche Selbstvergewisserung und die Bewältigung kreativer
Aufgaben im Tanz wird das Kompetenz- und Selbstwirksamkeitsgefühl der
Jugendlichen gestärkt.258 Da das Körperbewusstsein unmittelbar mit dem Selbst-
bewusstsein zusammenhängt, bietet der Tanz Entwicklungspotential zu einem
selbstbewussten Subjekt. Durch das Sich-Erproben und Gestalten im tanzästhe-
tischen Projekt, entfaltet das Subjekt Schlüsselqualifikationen, die es ihm ermöglich-
en, sich als kompetent und wirksam zu erleben.259 „Durch den bewussten Eigen-
kontakt im Experimentieren mit Bewegungsmöglichkeiten“260 wird das Außen neu
wahrgenommen und zuvor Fremdes kann für den Jugendlichen nun einen
berechtigten Platz erhalten. Das kreative Schaffen und die Bewegung im Tanz
bewirken eine Veränderung des rezeptiven, trägen Verhaltens, das Jugendliche zum
Teil begleitet. Auch unruhiges, aggressives Verhalten kann verändert werden, sobald
die Wahrnehmung und Aufmerksamkeit auf einen selbst gerichtet wird. Durch einen
spielerischen Umgang mit Bewegungen werden festgefahrene Bewegungs- und
Beziehungsmuster aufgebrochen, und ein Gefühl für mögliche Alternativen kann
geweckt werden.
Des Weiteren werden interaktionelle Fähigkeiten gestärkt, da die tanzästhetische
Praxis in gruppenbezogenen Kontexten immer auf Kommunikation angelegt ist.
Partizipationsmöglichkeiten werden geschaffen und durch das Entdecken und
Präsentieren neuer Fähigkeiten, erhalten die Jugendlichen soziale Anerkennung.
258 Vgl. Lowinski (2007) S.142 und S.214 259 Vgl. Lowinski (2007) S.150 260 Lowinski (2007) S.214
3. Tanz in der Ästhetischen Praxis mit Jugendlichen
61
Im Tanz sieht Lowinski einen Beitrag zur Lebenskunst, die ich bereits in
vorangegangenen Kapiteln als einen von Foucault und Zacharias verwendeten
Begriff, beschrieben habe. Als Lebenskunst ist in ihrem Sinne „eine Anwendung von
Kunst aufs Leben (..), also die bewusste und unbewusste Anwendung von
Erfahrungen und Können aus einem körperorientierten kulturpädagogischen Projekt
auf die persönliche Lebensweise“261 gemeint. Körperorientierte Kulturpädagogik
muss demnach nicht nur als ein künstlerischer Erfahrungsprozess, sondern auch als
„bescheidene und mühevolle Arbeit einer punktuellen Verbesserung spezifischer
Verhältnisse“262 betrachtet werden.
Tanz bietet Jugendlichen das Erkennen und Erleben eigener Handlungs-
möglichkeiten. Dadurch werden „Erfahrungen aufgearbeitet, die den Jugendlichen
verstehen lassen, dass jeder Mensch auf seine Art mit Brüchen, Unwahrscheinlich-
keiten und Widerständen leben muss und kann.“263 Durch die Auseinandersetzung
mit zunächst Neuem und Fremdem, sowie durch die Vernetzung verschiedener
Träger in kulturpädagogischen Projekten, wird der Horizont der Jugendlichen
erweitert. Die Jugendlichen können sich ein neues Bild von sich und der Welt
machen und erhalten „die Chance für neue Wege und andere Gangarten“264.
In ihrem Aufsatz ‚Tanz als Medium kultureller Bildung’ schlüsselt die Tanzwissen-
schaftlerin Antje Klinge auf, welche Bildungs- und Entwicklungschancen ihrer
Meinung nach im Tanz liegen. Einige ihrer Thesen möchte ich wiedergeben.
„Jede Konfrontation des vorhandenen Bewegungsvokabulars mit neuen, bislang
unbekannten und mitunter fremden Bewegungsmöglichkeiten löst Irritationen und
[damit] Reflexionen mit dem eigenen Körper- und Selbstbild aus.“265 Durch
„räumliche(n) oder zeitliche(n) Modifizierung bekannter oder vertrauter Bewegungs-
weisen“266 wird der Erfahrungsspielraum vergrößert. Die Auseinandersetzung mit
dem eigenen Körper lehrt nicht nur über dessen Funktionalität, sondern vermittelt
auch die Grenzen und den Spielraum der eigenen Möglichkeiten „auf eine
unmittelbar sinnliche Weise“267. Auf diese Weise wird nicht nur das eigene Körper-
bild, sondern auch das Selbstbild erweitert. Selbstvertrauen kann im Tanz dadurch
261 Lowinski (2007) S.216 262 Lowinski (2007) S.217 263 Lowinski (2007) S.217 264 Lowinski (2007) S.218 265 Klinge (2004) S.174 266 Klinge (2004) S.174 267 Klinge (2004) S.174
4. Tanzästhetische Projekte als Befähigung zu „sozialer Subjektivität“
62
gestärkt werden, „indem (..) bislang ungeordnete Eindrücke und vage Vorstellungen
in zunehmend deutlichere Ausrucksformen“268 gebracht werden.
Tanz als ‚Verstehen mit dem Körper’ kann zunächst als eine vorreflexive Form des
Verstehens bezeichnet werden, worauf jedoch ein Nachvollziehen und Aufspüren der
Logik des Bewegens folgt. Tanzen im Miteinander fordert immer auch die Fähigkeit
des Einfühlens in menschliches Verhalten und vermag daher auch die Logik
menschlichen Verhaltens im ästhetischen Prozess aufzudecken. Auf diese Weise
kann die Reflexionsfähigkeit im Tanz gestärkt werden. Erfolgt ein tanzästhetisches
Projekt, das in eine Aufführung mündet, werden die TeilnehmerInnen aufgefordert
„für das entstandene Gestaltungsergebnis Verantwortung zu übernehmen, um die
Aussage als [ihren] (..) Standpunkt vor anderen vertreten zu können.“269 Dies
verlangt insbesondere Reflexionsfähigkeit hinsichtlich möglicher Wirkungen.
Neben der bisher beschriebenen Wirkung von Tanz auf die Persönlichkeitsentfaltung
und die Reflexionsfähigkeit, sieht Klinge weitere wichtige Aspekte im Tanz in
dessen Befähigung zu kulturellem Verstehen, sowie zu Ausdrucks- und
Kommunikationsfähigkeit. Weitere wichtige Chancen im Tanz liegen für Klinge in
dessen Unmittelbarkeit. Da lebensweltliche und biographische Erfahrungen im
Körper verankert sind, und daher eine Distanzierung von ihnen im Tanz unmöglich
ist, findet immer eine zum Teil spielerische Auseinandersetzung mit der eigenen
Biographie und Lebenswelt statt. Durch den individuellen und subjektiven Charakter
des Tanzes, können diese darin auf die je eigene Weise verarbeitet und ausgedrückt
werden.270
4. Tanzästhetische Projekte als Befähigung zu „sozialer Subjektivität“
Mit diesem abschließenden Kapitel möchte ich die Fäden meiner Arbeit zusammen-
führen und das Potential tanzästhetischer Projekte mit Jugendlichen für deren
Entwicklung zu mehr Selbstbewusstsein, Selbstbestimmungsfähigkeit und sozialer
Kompetenz systematisch aufzeigen.
Dies soll auf der Grundlage der in dieser Arbeit erarbeiteten subjekttheoretischen und
tanztheoretischen Aspekte sowie mit Hilfe meiner Ausführungen zur Ästhetischen
Praxis und Betrachtungen dreier repräsentativer Praxisbeispiele geschehen. Zuletzt
268 Klinge (2004) S.174 269 Klinge (2004) S.174 270 Vgl. Klinge (2004) S.172-173
4. Tanzästhetische Projekte als Befähigung zu „sozialer Subjektivität“
63
möchte ich Bezug zur Sozialen Arbeit nehmen und aufzeigen, welchen Beitrag diese
im Rahmen der Ästhetischen Praxis mit Jugendlichen leisten kann.
4.1. Ein Resumee
Die Verästelungen dieser Arbeit sollen nun zu einem Bild zusammengefügt werden,
das den Zusammenhang von ‚sozialer Subjektivität’ und ‚Tanz in der Ästhetischen
Praxis mit Jugendlichen’ noch einmal deutlich nachzeichnet.
Durch das Aufzeigen verschiedener sozialwissenschaftlicher Perspektiven
hinsichtlich des Subjektbegriffs, sowie die Subjektentwicklung in Kapitel 1, bemühte
ich mich um eine Annäherung an die Frage: Was bedeutet Befähigung zu „sozialer
Subjektivität“ insbesondere für Jugendliche im Einzelnen? Aus den verschiedenen
Aspekten möchte ich für diese Schlussbetrachtung fünf Hauptaspekte herausgreifen
und sie in Bezug zu meinen weiteren Ausführungen, betreffend den Tanz in der
Ästhetischen Praxis, setzen.
4.1.1. Befähigung zu Selbstbewusstsein
Selbstbewusstsein, das als Zutrauen zu sich selbst bezeichnet werden kann, bedarf
insbesondere Erfahrungen von sozialer Anerkennung sowie das Gefühl für den
eigenen Wert, nämlich ein unverwechselbares und besonderes Individuum zu sein.
Für Jugendliche bedeutet dies aufgrund besonderer Entwicklungsansprüche und
Bedürftigkeit die Überwindung von Unsicherheiten und Omnipotenzgefühlen hin zu
einem stabilen und realistischen Selbstkonzept. Dieses wird durch einen Prozess
konstruktiver Selbstverortung in alltäglicher Passungsarbeit zwischen dem
subjektiven Innen und dem gesellschaftlichen Außen erlangt. Eine besondere Rolle
spielen dabei die Auseinandersetzung und der Umgang mit der eigenen körperlichen
Erscheinung, sowie das Erleben der eigenen Stärken und der (Selbst-)
Wirksamkeitserfahrungen.
Wie ich versucht habe aufzudecken, liegen in der tanzästhetischen Praxis mehrere
Potentiale zur Befähigung Jugendlicher zu mehr Selbstbewusstsein. Im Tanz wird
nicht nur ein über den Leib vermittelter Zugang zur eigenen Person ermöglicht,
sondern auch eine Ausdrucksform geschaffen, in der sich der Jugendliche neu
erfinden oder erklären kann. Ein Teilnehmer der TanzZeit Jugendcompany erzählt
eindrücklich in seinen eigenen Worten, welche Gegenerfahrungen er zu seinem
Alltag im Tanz machen konnte. Er entdeckt nicht nur zum ersten Mal seine
Fähigkeiten und kann dadurch eine Zuschreibungsänderung vornehmen und sein
4. Tanzästhetische Projekte als Befähigung zu „sozialer Subjektivität“
64
negatives Selbstbild auf den Kopf stellen, sondern er findet auch eine neue Form,
seine eigene Geschichte zu erzählen sowie seine Gefühle zu äußern. Was ihm mit
Worten nur schwer gelingt, findet im Tanz eine neue Ausrucksmöglichkeit.
Die Ästhetische Praxis ermöglicht als Experimentierfeld der Wahrnehmung die
spielerische Erkundung der Selbst-Weltbezüge, die nicht allein über den Verstand
erfahrbar sind. Ästhetische Erfahrungen über die menschlichen Sinne ermöglichen
ein tieferes Erleben und Verstehen dieser und verhelfen dem Jugendlichen dadurch
zu einer bewussten Selbstverortung. Für Spinner liegt die Selbstwerterfahrung in der
Ästhetischen Praxis in dem Wert, eine zwecklose Erfahrung machen zu dürfen, die
nicht auf Effizienz oder Leistung ausgerichtet ist. Das Bewältigen kreativer
Aufgaben, sowie das Sich-Erproben im Gestaltungsprozess verhelfen über das
Erlangen von Schlüsselqualifikationen zu einem Kompetenz- und (Selbst-)
Wirksamkeitsgefühl. Zu diesen gehören die Selbstkompetenzen, Sozialkompetenzen,
Kulturelle Kompetenzen, Methodenkompetenzen und allgemeinen künstlerischen
Kompetenzen.
Indem ungeordnete Eindrücke und vage Vorstellungen im Tanz durch innere
Formung eine deutlichere Ausdrucksform finden, kann nach Klinge das
Selbstvertrauen gestärkt werden. Tanz kann dann einen inneren Klärungs- und
Sortierungsprozess in Gang setzen. Rhythmus im Tanz ermöglicht durch seine
ordnende und belebende Kraft dem Subjekt innere Sicherheit und Freude.
Für Maldoom ist der Glaube an das Potential von Jugendlichen der wichtigste
Schlüssel zur Stärkung ihres Selbstvertrauens. PädagogInnen besitzen demnach eine
besonders hohe Verantwortung für das Selbstbild, das Jugendliche von sich
entwickeln. Oft ist dieses negativ geprägt und dient als Selbstschutz. Unsere Aufgabe
ist es nach Maldoom, mit dem Talent und der Kreativität hinter dieser Maske zu
arbeiten.
Mit Hilfe der angeführten Praxisbeispiele konnte ich verdeutlichen, welche
Bedeutung Aufführungen für die Jugendlichen haben. Die eigene Arbeit auf einer
Bühne in professionellem Rahmen zeigen zu dürfen, dafür ein Feedback,
Anerkennung und Applaus zu bekommen, nimmt direkten Einfluss auf das
Selbstwertgefühl der Jugendlichen. Eisenach beschreibt auch körperliche Verände-
rungen, die er teilweise während der Probenzeiten erkennen kann: Ein erstes In-die-
Augen-Schauen, ein Lächeln oder eine plötzlich gerade Haltung. Es zeigt sich
außerdem, dass sich diese veränderten Selbstwerterfahrungen in den Alltag hinein
4. Tanzästhetische Projekte als Befähigung zu „sozialer Subjektivität“
65
nehmen lassen. So beschreibt ein weiterer Teilnehmer der TanzZeit Jugendcompany,
dass es ihm nun nach seinem ersten getanzten Solo leichter fällt, auf andere
Jugendliche zuzugehen.
4.1.2. Befähigung zu (Selbst-) Reflexivität
Selbstbewusstsein beinhaltet über das Gefühl für den eigenen Wert hinaus auch das
Wissen über die eigene Person und die eigenen Lebensbedingungen. Gemeint ist hier
die Fähigkeit zur (Selbst-) Reflexion, zum ‚Sich-zu-sich-selbst-Verhalten-Können’,
das sich in der Auseinandersetzung mit der eigenen Person, den gesellschaftlichen
Strukturen, sowie dem eigenen Lebensentwurf entwickelt. Jugendliche können nur
auf Grundlage einer Reflexionsfähigkeit ein eigenes Wert- und Normensystem,
eigene Handlungsmuster sowie den eigenen Lebensplan entwerfen. Welchen Beitrag
können tanzästhetische Projekte leisten?
Die Auseinandersetzung mit verschiedenen Ausdrucksformen und die Konfrontation
mit bisher fremdem Bewegungsvokabular im Tanz löst Reflexionen mit dem eigenen
Körper und Selbstbild aus. Eigene Grenzen und Möglichkeiten werden auf diese
Weise erkundet und erweitert. Da lebensweltliche und biographische Erfahrungen im
Körper verankert sind, können diese unmittelbar von den Jugendlichen im Tanz
begriffen und verarbeitet werden. Am Ende eines jeden Tanzprojektes, in dem Sinne
wie ich sie hier beschrieben habe, steht eine Aufführung. Die Jugendlichen müssen
sich bereits während des Probenprozesses darüber bewusst werden, welche Aussagen
sie treffen möchten, d.h. was sie ihrem Publikum kommunizieren möchten. Dadurch
wird nicht nur die Reflexionsfähigkeit bezüglich der eigenen Ziele geschult, sondern
auch über mögliche Wirkungen nachgedacht.
Durch ästhetische Erfahrungen können nicht nur neue kreative Lösungsmöglich-
keiten gefunden werden, sondern auch alte Rollen, Bewegungs- und
Beziehungsmuster aufgebrochen werden. Dies wird möglich, indem ästhetische
Bildung auf das Verfremden von Gewohntem zielt. Wenn sich die Jugendlichen auf
Ungewohntes und Irritierendes einlassen, lernen sie neue Perspektiven auf sich
selbst, ihren Alltag sowie ihren eigenen Lebensentwurf kennen. Der gewohnte
Alltagsablauf wird unterbrochen und die Aufmerksamkeit auf die besonderen
Erfahrungen des Augenblicks gelenkt. Diese können sich zum Einen als
horizonterweiternde Gegenerfahrungen erweisen, die den Jugendlichen ein
Bewusstsein dafür schaffen, dass die gegebenen Verhältnisse, nicht die einzig
4. Tanzästhetische Projekte als Befähigung zu „sozialer Subjektivität“
66
vorstellbaren sind. Zum Anderen verhelfen sie den Jugendlichen zu einem tieferen
symbolischen Verstehen größerer Zusammenhänge.
Der Community Dance sieht seine besondere Aufgabe darin, Menschen
unterschiedlichster Herkunft im Tanz zusammenzubringen. Darin liegt eine
besondere Chance zur Auseinandersetzung mit der eigenen und fremden Kultur, den
unterschiedlichen Erfahrungen, Gewohnheiten und Einstellungen.
Ein besonderes Potential von Bewegung liegt in der Ermöglichung von
Differenzerfahrungen. Im Erleben von Unterschieden wird dem Subjekt ermöglicht
zu erkennen, ’was ist’ und ’was sein kann’. Durch die Konzentration auf
Unterschiede kann sowohl die Eigenbefindlichkeit reflektiert werden, als auch Neues
erprobt werden. Indem Bewegungen im Tanz als Veränderungen betrachtet und unter
dem Aspekt wahrgenommen werden, was diese bezüglich der Eigenbefindlichkeit
bewirken, kann die Reflexionsfähigkeit der Jugendlichen gefördert und gestärkt
werden.
4.1.3. Befähigung zu Selbstbestimmung
Selbstbestimmung bedeutet, nicht nur im Sinne der Selbstermächtigung, über eigene
Lebensaktivitäten zu verfügen und die eigenen Lebensbedingungen aktiv zu
gestalten, sondern auch gesellschaftliche und andere äußere oder innere Zwänge
außer Kraft setzen zu können. Für Jugendliche besteht die besondere Aufgabe auf
dem Weg zu einem selbstbestimmten Leben in der Gewinnung emotionaler
Unabhängigkeit von den Eltern sowie in der Verwirklichung eigener Berufswünsche
und eines eigenen Lebensplanes.
Die Ästhetische Praxis fördert diese Entwicklung, indem sie freie Erfahrungs- und
Experimentierräume zur Verfügung stellt. Die gesamte Ausdruckstanzbewegung
kann als Gegenentwurf gegenüber gesellschaftlicher Zwänge gesehen werden. Indem
diese sich weniger für körperliche Leistung und vorgegebene Formen interessierte,
rückten inhaltliche Ziele wie die Auseinandersetzung mit dem Inneren des Menschen
sowie die Erlangung eines selbstbestimmten Körpers in den Vordergrund.
Jugendliche werden in diesem Sinne in der tanzästhetischen Praxis dazu ermutigt,
sich dem eigenen Ausdrucksbedürfnis zu widmen und damit eigene Interessen und
Ziele zu verfolgen.
Bewegung ermöglicht den Jugendlichen mit den Worten Landers ausgedrückt,
Konflikte ab-zutanzen, ihr Darstellungsbedürfnis vor-zutanzen, Freude aus-zutanzen
und Aggressionen konstruktiv um-zutanzen. Dies befähigt die Subjekte nicht nur
4. Tanzästhetische Projekte als Befähigung zu „sozialer Subjektivität“
67
dazu, sich über innere Zwänge zu ermächtigen, sondern ermutigt diese auch äußere
Zwänge zu verändern. Maldoom spricht davon, dass Tanz uns nicht nur ein Gefühl
der Selbstachtung vermittelt, sondern auch die Idee, dass wir wichtig sind. Auf der
Grundlage dieses Selbstwertgefühls können die Jugendlichen unabhängiger von
äußeren und inneren Bedingungen lernen, Einfluss auf das eigene Leben zu nehmen.
Eine Teilnehmerin der TanzZeit Jugendcompany fasst das in die Worte: Tanzen heißt
für mich, ich selbst sein zu können und sich nicht unterkriegen zu lassen. Dieses
Gefühl von Ganzheit und Freiheit schreibt bereits Schiller als wichtigen Gewinn der
Kunst zu.
Tanzästhetische Projekte bieten dem Subjekt einen alternativen Zugang zur Welt, der
sich von dem dominierenden zweckrationalen Zugang unterscheidet und können
ihnen dadurch zur Durchdringung gesellschaftlicher Normen verhelfen. Durch die
Erlangung zahlreicher Schlüsselkompetenzen werden die Jugendlichen dazu
befähigt, sich auch außerhalb der Tanzpraxis als kompetente und wertvolle Subjekte
zu erleben. Die berufliche Orientierung der Jugendlichen kann unterstützt werden,
indem diese ihre eigenen Fähigkeiten und Stärken erkunden können. Selbst wenn ein
Projekt für die Jugendlichen ein einmaliges Erlebnis bleibt, können positive
Erinnerungen diese dazu ermutigen, die Alltagsroutine zu durchbrechen.
4.1.4. Befähigung zu sozialem Handeln
Wie der Soziologe Kamper es bereits ausdrückte, wird Autonomie ohne
Souveränität, ohne soziale Verantwortung zum Verhängnis. Auch Keupp verdeut-
lichte, dass Subjekte in Zeiten der Individualisierung auf tragende Gemeinschaften
und soziale Netzwerke angewiesen sind und die Sozialisationstheorie zeigt, dass wir
soziale Interaktion und Anerkennung brauchen.
Jugendliche stehen damit nicht nur vor der Herausforderung, selbstbestimmt einen
eigenen Lebensplan zu entwerfen und sich innerhalb unübersichtlicher gesellschaf-
tlicher Strukturen selbst zu verorten. Sie sind darüber hinaus auch gefordert,
Beziehungen einzugehen und ein soziales Bindungsverhalten sowie soziale Kompet-
enzen zu erlernen. Tanz und Bewegung bieten hierfür neue Kommunika-
tionsmöglichkeiten, einen alternativen emotionalen Zugang zu anderen Subjekten.
Durch tanzästhetische Projekte werden die Jugendlichen nicht nur gemeinsam
bewegt, sondern auch durch eine gemeinsame Idee zusammengehalten. Da andere als
die alltäglichen Kompetenzen angesprochen werden, kommt verstecktes Potential
4. Tanzästhetische Projekte als Befähigung zu „sozialer Subjektivität“
68
zum Vorschein und die TeilnehmerInnen können sich aus einer neuen Perspektive
kennenlernen.
Welches integrative Moment Tanz haben kann, beschreibt Maldoom mit seinen
Projekten besonders gut. Die TeilnehmerInnen, die mit ganz unterschiedlichen
Hintergründen an einem gemeinsamen Projekt arbeiten, können erkennen, dass sie
Teil einer größeren Gemeinschaft sind. Indem ein gemeinsames Tun im Mittelpunkt
steht, das neue Erfahrungen vermittelt, können Grenzen durchbrochen werden. Eine
Teilnehmerin der TanzZeit Jugendcompany berichtet, wie sich im Tanz
Gemeinsamkeiten entdecken lassen, die zuvor nicht sichtbar waren.
Auch Eisenach weist auf die sozialen Entwicklungen hin, die sich bei Jugendlichen
während eines Tanzprojektes beobachten lassen. Die Jugendlichen müssen
Rücksichtnahme und Vertrauen lernen, die Ziele des Projektes gemeinsam tragen.
Sie müssen lernen, sich während der Proben gegenseitig zu unterstützen, denn am
Ende stehen alle gemeinsam auf der Bühne und alle sollen mit diesem Ergebnis
zufrieden sein. Die Jugendlichen lernen sich gegenseitig zu heben, zu stützen und
Zusammenstöße zu vermeiden.
Tanz findet außerhalb vorurteilsbehafteter Sprache statt und bietet aufgrund dieser
nonverbalen Kommunikation weniger Gelegenheiten für Missverständnisse.
Tanzprojekte sind neben der nonverbalen Kommunikation in der Bewegung aber
auch auf eine Gesprächskultur angewiesen, in der eigene Sichtweisen, Eindrücke
sowie gegenseitige Anerkennung ausgetauscht werden. Hier können die
Jugendlichen lernen, eine Sprache für die eigenen Bedürfnisse und Sichtweisen zu
finden. Die Erfahrungen in der Gruppe ermöglichen es, eigene Auffassungen durch
die Meinung anderer zu revidieren oder genauer zu rechtfertigen. Eine Kultur
konstruktiver Kritik und sozialen Lernens kann geschaffen werden.
Die Postmoderne steht vor der Herausforderung den Subjektivierungsgewinn der
Moderne zu steigern und gleichzeitig einen durch Individualisierung bedingten
Vergemeinschaftungsverlust aufzufangen. Für die Ästhetische Praxis bedeutet dies
eine „Gratwanderung zwischen Gleichklang und Verschiedenheit des Ausdrucker-
lebens in der Bewegungsweise Tanz, die den Individualisierungswunsch im
Gemeinschaftserlebnis zugleich befriedigen soll.“271
271 Treptow (1993) S.93
4. Tanzästhetische Projekte als Befähigung zu „sozialer Subjektivität“
69
4.1.5. Befähigung zur Lebenskunst
Lebenskunst, mit Foucault gesprochen als Kunst der Existenz, zielt auf das Subjekt
als ‚Arbeiter an der Schönheit des eigenen Lebens’. Das Schöne, den Wert und den
Sinn des eigenen Lebens zu erkennen und zu verfolgen bedarf all dieser voran
beschriebenen Fähigkeiten. Selbstbewusstsein, (Selbst-) Reflexivität, Selbstbestim-
mung und soziale Kompetenzen sind die Grundlage für das Subjekt, um den Faden
des eigenen Lebens zu erkennen sowie dieses bewusst nach eigenen Vorstellungen
und Bedürfnissen verantwortungsvoll zu gestalten. In einer vernunftbetonten
Gesellschaft sind hierfür insbesondere die kreativen Kräfte wiederzubeleben.
Vitalität, Initiative, Ausdauer, Neugier, Intuition, Inspiration, Impulsivität und
Humor sind nur einige wichtige Vorraussetzungen um die ‚Schönheit des eigenen
Lebens’ zu erkennen und (aus) zu schöpfen. Die Ästhetische Praxis weckt diese
Kräfte, indem sie ihren Kern nicht an der Vernunft, sondern an der sinnlichen
Wahrnehmung festmacht. Subjekte können diese schlummernden Fähigkeiten durch
ästhetische Bildung wie dem Tanz neu beleben und ‚über sich hinaus wachsen’. Den
eigenen Potentialen entsprechend, werden die Subjekte ermutigt, das eigene Leben
aktiv und kreativ zu gestalten. Auch Leiderfahrungen können im kreativen Prozess
bearbeitet werden. Durch Erfahrungen des eigenen Wertes und der Gemeinschaft
können die Subjekte Kraft schöpfen, und das Leidvolle im eigenen Leben
bewältigen. Die Herausforderung besteht darin, die Erfahrungen und angesprochenen
Kompetenzen aus dem künstlerischen Prozess auf das eigene Leben zu übertragen.
Diese Brücke herzustellen und den Jugendlichen eine Anwendung des Erlebten im
eigenen Leben zu ermöglichen, muss Aufgabe der (Sozial-) Pädagogik sein.
4.2. Beitrag der Sozialen Arbeit
Beginnen möchte ich mit der Geschichte des 12-Jährigen Jeremy272, der an einem
Musical Projekt der Theodor-Heuss-Schule (THS) Marburg im Februar-März 2010
teilnahm. Ich begleitete dieses Projekt für den Bereich Tanz. Es fand in
Zusammenarbeit zwischen dem Marburger Bildungs- und Studienzentrum, dem
Verein passion1 und Lehrern der THS statt. In einem Zeitraum von sechs Wochen
probten die 60 SchülerInnen der 6. Klassen jeden Montag in der 7./8. Stunde in den
Bereichen Schauspiel, Tanz, Gesang und Bühnenbild, um schließlich ein Musical zu
272 Name wurde geändert.
4. Tanzästhetische Projekte als Befähigung zu „sozialer Subjektivität“
70
erarbeiten, das in drei Aufführungen vor Eltern, LehrerInnen, SchülerInnen und
anderen Interessierten aufgeführt wurde.
Jeremy, der als Schauspieler und Tänzer an dem Projekt teilnahm, fiel zunächst
durch harte verbale und körperliche Äußerungen gegenüber seinen MitschülerInnen
auf, und es fiel ihm schwer, sich für die Proben zu konzentrieren. Dennoch erschien
er zu jeder Probe, und es zeigte sich langsam, dass er Freude am Tanzen entwickelte.
Als ich in der letzten Probe mit den TänzeInnen die Stücke durchging, stellte ich
erstaunt fest, dass Jeremy nicht nur als Einziger jeden Schritt beherrschte, sondern
sich mit diesen auch exakt in die Musik einfühlen konnte. Die Musical Aufführung
endete mit einem Hip-Hop Stück, das alle 20 TänzerInnen gemeinsam auf der Bühne
aufführten. Jeremy war es, der in der ersten Reihe stand und allen 20 TänzerInnen
den Einsatz gab und diese mit seiner Sicherheit in den Schritten durch das Stück
führte. Seine Mutter, die dadurch auffiel, dass sie in der zweiten Reihe sitzend laut
telefonierte, während die Kinder ihr Bestes auf der Bühne gaben, verschwand mit
Jeremy unmittelbar nach der Aufführung ohne ein Wort der Anerkennung.
Bewegt von der Entwicklung des Jungen, der seine harte Coolness in den Proben
gegen positive Aufregung während der Aufführung eintauschte, da er ernsthaft
zeigen konnte welche Fähigkeiten in ihm stecken, ging ich gegen Projektende auf ihn
zu. Ich spiegelte ihm, welche Leistung er vollbracht hatte und fragte ihn, ob er daran
interessiert sei, Tanzunterricht zu nehmen. Er reagierte freudig und hatte dennoch die
Sorge, wie er zu einer Tanzschule kommen sollte. Seine Mutter um Unterstützung zu
bitten, schien ihm keine Option zu sein. Erst als ich sagte, dass ich ihn abholen und
wieder nach Hause bringen würde, willigte er strahlend ein.
Was möchte ich mit dieser Geschichte zum Ausdruck bringen? Ich möchte mit
meiner Arbeit aufzeigen, welche Bedeutsamkeit ästhetische Erfahrungen, wie sie im
Tanz gemacht werden können, für die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen
haben. Es wäre falsch zu denken, alle SozialpädgogInnen müssten dafür zu
KünstlerInnen werden. Vielmehr sehe ich die Aufgabe Sozialer Arbeit darin,
unterschiedlichste Möglichkeitsräume für solche Erfahrungen zu schaffen. Dies ist
m.E. durch zwei Wege möglich.
Zum Einen sollte es Aufgabe Sozialer Arbeit sein, Projekte, wie ich sie hier
beschrieben habe, selbst zu initiieren oder durch Netzwerkarbeit zu fördern. Dies
kann bedeuten sich in kommunale Politik einzuschalten, an Schulen und
KünstlerInnen heranzutreten, kreative Räume in der Jugendhilfe und in der
Schlussbemerkung
71
Jugendarbeit zu schaffen, sowie Orte zu errichten an denen Bildungsprozesse aus
dem kreativen künstlerischen Bereich regelmäßig stattfinden können. Schule,
Jugend- und Kulturarbeit weisen sich aus durch ihre „Verpflichtung auf ein starkes,
handlungsfähiges Subjekt, das sein eigenes Projekt des guten Lebens nur im Kontext
geeigneter sozialer und politischer Rahmenbedingungen definiert.“273
Zum Anderen, und das hoffe ich mit der Geschichte von Jeremy verdeutlicht zu
haben, sollte Soziale Arbeit den Blick auch auf das kreative Potential von
Jugendlichen gerichtet haben, das in einer ökonomisch ausgerichteten Gesellschaft
nicht sofort und vordergründig zum Vorschein kommt.
Für Zacharias ist das Zentralmotiv kultureller Bildung die Stärkung des Subjekts, die
in der Befähigung zu einer starken personalen Identität zugunsten eines gelingenden
Lebens liegt. Dazu sollte sich kulturelle Bildung dem ganzen Menschen, d.h. seiner
Biographie und seiner jeweiligen Kompetenz widmen.274 An der Geschichte von
Jeremy wird deutlich, welche Bedingungen den Zugang und die Chance auf Bildung
verhindern können. In dem Fall ist es die familiäre Unterstützung die fehlt, wenn es
um die regelmäßige Teilnahme an Bildungsangeboten geht. Hier wäre in Form von
Einzelhilfe Unterstützung zu leisten. In anderen Fällen liegen andere Hinderungs-
gründe vor, die passgenauer, individueller Unterstützung bedürfen.
Nur im Zusammenwirken von Einzel-, Gruppen-, und Gemeinwesenarbeit kann es
Sozialer Arbeit gelingen, sich an dem Abbau dieser Chancenungleichheiten zu
beteiligen. Es gilt sich für diejenigen einzusetzen, denen der Zugang zu, im Rahmen
dieser Arbeit besonders zu betonenden kreativen Bildungsangeboten, und damit auch
zu gesellschaftlicher Teilhabe, verwehrt bleibt.
Schlussbemerkung Ich hoffe, es ist mir gelungen, in dieser vorwiegend theoretischen Auseinandersetz-
ung mit Subjektbildung von Jugendlichen und der Ästhetischen Bildung durch
Zeitgenössischen Tanz, einige wichtige Aspekte, Zusammenhänge, Potentiale und
Perspektiven aufzuzeigen. Mir war es dabei besonders wichtig, einerseits den Blick
auch auf diejenigen Personen und Institutionen zu richten, die aus eigener Erfahrung
schöpfend, das Potential tanzästhetischer Projekte für Jugendliche benennen können,
da sie es in ihrer beruflichen Praxis täglich erleben. Zum Anderen sollten die
Stimmen teilnehmender Jugendlicher Gehör erhalten. Dass es sich hierbei nicht um
273 Fuchs in: Otto/Oelkers (2006) S.219 zit. n. AdB Zacharias (2009) S.242 274 Vgl. Zacharias (2009) S.242
Schlussbemerkung
72
eine empirische Erhebung, sondern um eine Verstärkung und Veranschaulichung
theoretischer Ausführungen durch einen Praxisbezug handelt, sollte evident sein.
Auch dass es sich lediglich um Ausschnitte der komplexen Themengebiete, sowie
um eine Auswahl noch weiter reichender Literaturquellen handelt, möchte ich an
dieser Stelle betonen. Vielen Autoren aus den Tanz- und Sozialwissenschaften, die
wertvolle Beiträge zum Thema dieser Arbeit verfassten, konnte ich an dieser Stelle
leider keinen Platz einräumen.
Zuletzt möchte ich bemerken, dass ich mich hier zwar für die künstlerische Kategorie
Tanz entschieden habe, viele subjektbildende Aspekte sich aber auch in anderen
Feldern der Ästhetischen Praxis wiederfinden lassen.
Bedauerlicher Weise werden gerade musisch-künstlerische Fächer aus dem Lehrplan
in Schulen gestrichen. Der Schwerpunkt schulischer Pädagogik wird somit auf
zweckrationale Ziele gelegt. Dabei – und das macht die Auseinandersetzung mit dem
Thema dieser Arbeit deutlich - ist es gerade diese Ästhetische Bildung, die unsere
Kinder und Jugendlichen zu starken, selbstbewussten und sozial kompetenten
Subjekten befähigt.
Daher gilt es für die Soziale Arbeit, sich für Projekte einzusetzen, die Jugendliche
ästhetisch bilden und sie dadurch zu “sozialer Subjektivität“ befähigen. Das Wissen
über die Potentiale der Ästhetischen Praxis und im Speziellen tanzästhetischer
Projektarbeit soll nicht einfach versiegen, sondern weitergehend noch stärker genutzt
werden. Dies kann bedeuten, im Gemeinwesen Bedingungen zu schaffen, welche
diese wertvollen Erfahrungen ermöglichen. Es kann auch bedeuten, konkrete
ästhetische Projekte zu initiieren und umzusetzen oder Einzelnen den Zugang zu
diesen zu ermöglichen.
Die Orientierung an bisher durchgeführten Modellprojekten kann dabei
Unterstützung und Motivation sein. Ebenso das Feedback der teilnehmenden
Jugendlichen, die, wie es diese Arbeit zeigt, in der Lage sind, ihre Erfahrungen in
tiefe, bedeutsame Worte zu fassen.
Da ich selbst erfahren und gesehen habe, welche bedeutsamen Entwicklungsschritte
Kinder und Jugendliche in künstlerischen Prozessen hin zu selbstbewussteren, sozial
kompetenten Subjekten gehen, bin ich nicht nur von dem Potential tanzästhetischer
Projekte überzeugt. Ich hege auch den persönlichen Wunsch, das Feld der
Ästhetischen Praxis in der Zukunft stärker von SozialpädagogInnen unterstützt,
gestaltet und in der Arbeit mit Jugendlichen etabliert zu sehen.
Schlussbemerkung
73
Ich träume davon, und damit schließe ich diese Arbeit, dass einem jeden
Jugendlichen das Erleben des eigenen Wertes, eigener Selbstbestimmungsfähigkeit
und sozialer Gemeinschaft ermöglicht wird. Die Bereitstellung ästhetischer
Erfahrungen, fernab eines ökonomischen, zweckorientierten Leistungsdrucks, sowie
die Nutzung, Erschließung und Etablierung (tanz-) ästhetischer Projektarbeit, ist dazu
m.E. ein bedeutsamer Schritt in die richtige Richtung.
Abkürzungsverzeichnis
74
Abkürzungsverzeichnis
bes. = besondere
BKJ = Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung
bzw. = beziehungsweise
d.h. = das heißt
etc. = et cetera
FTL = Faster-Than-Light-Dance-Company
Jh. = Jahrhundert
lat. = lateinisch
m.E. = meines Erachtens
sinnl. = sinnliche
u.a. = unter anderem
zit.n. = zitiert nach
Literaturverzeichnis
75
Literaturverzeichnis
Abels H. (2006): Identität. Lehrbuch. Wiesbaden: VS Verlag für
Sozialwissenschaften.
Bannmüller E./ Röthig P. (1990): Grundlagen und Perspektiven ästhetischer und
rhythmischer Bewegungserziehung. Stuttgart: Ernst Klett Verlag für Wissen und
Bildung.
Böhnisch L. (2001): Sozialpädagogik der Lebensalter. Eine Einführung. Weinheim:
Juventa Verlag, 2. überarbeitete Auflage.
Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung e.V. - BKJ (Hrsg.) (2006): Der
Kompetenznachweis Kultur. Ein Nachweis von Schlüsselkompetenzen durch
kulturelle Bildung. Schriftenreihe der Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung
e.V. Band 63. Remscheid, 3. Auflage.
Brockhaus Enzyklopädie Bnd 2 APU-BEC. Mannheim: Brockhaus Verlag,19.
völlig neu bearbeitete Auflage.
Cabrera-Rivas C. (2001a): Der Körper, das Medium zwischen innen und außen –
über die Möglichkeit, tanzend Bewegung zu erfahren. In: Moegling K. (Hrsg.):
Integrative Bewegungslehre Teil 2. Wahrnehmung, Ausdruck und
Bewegungsqualität. Reihe Bewegungslehre und Bewegungsforschung Band 14.
Immenhausen bei Kassel: Prolog Verlag. S.182-196.
Cabrera-Rivas C. (2001b): Fremde Tanzformen und vertraute Bewegungen.
Identitätsfindung in der interkulturellen Bewegungserziehung. In: Karoß S./ Welzin
L. (Hrsg.): Tanz – Politik – Identität. Jahrbuch Tanzforschung 11. Hamburg: LiT
Verlag. S.225-242.
Carley J. (2010): Royston Maldoom. Community Dance. Jeder kann tanzen. Das
Praxisbuch. Leipzig: Henschel Verlag.
Literaturverzeichnis
76
Claudi. I. (1976): Tanz und Sozialisation 1. In: Tanz und Erziehung. Der Frankfurter
Tanzkreis. Informationen 6. 2. Auflage. S.2-13.
Erdmann- Rajski K. (2001): Palucca. Künstlerische Identität in politischen
Systemen. In: Karoß S./ Welzin L. (Hrsg.): Tanz – Politik – Identität. Jahrbuch
Tanzforschung 11. Hamburg: LiT Verlag. S.135-158
Ferchhoff W. (2007): Jugend und Jugendkulturen im 21. Jahrhundert. Lebensformen
und Lebensstile. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.
Ferchhoff W./ Neubauer G. (1989): Jugend und Postmoderne. Analysen und
Reflexionen über die Suche nach neuen Lebensorientierungen. Weinheim und
München: Juventa Verlag.
Fleischle-Braun C. (2000): Der Moderne Tanz. Geschichte und
Vermittlungskonzepte. Butzbach-Griedel: Afra-Verlag.
Fuchs M. (1998): Kulturelle Bildung und der Körper. In: Gesellschaft für
Tanzforschung e.V. (Hrsg.): Jahrbuch Tanzforschung Band 9. Wilhelmshaven:
Verlag der Heinrichshofen-Bücher. S.9-24.
Fuchs M. (2001): Persönlichkeit und Subjektivität. Historische und systematische
Studien zu ihrer Genese. Opladen: Leske + Budrich Verlag.
Grundmann M. (2008): Handlungsbefähigung – eine sozialisationstheoretische
Perspektive. In: Otto H.-U./ Ziegler H. (Hrsg.): Capabilities – Handlungsbefähigung
und Verwirklichungschancen in der Erziehungswissenschaft. Wiesbaden: VS Verlag
für Sozialwissenschaften. S.131-142.
Haas R. (1999): Entwicklung und Bewegung. Der Entwurf einer angewandten
Motologie des Erwachsenenalters. Schorndorf: Hofmann Verlag.
Literaturverzeichnis
77
Hafeneger B. (2003): Lernen und Bildung im Prozess jugendkultureller
Modernisierung. In: Koch J./ Rose L./ Schirp J./ Vieth J. (Hrsg.): Bewegungs- und
körperorientierte Ansätze in der Sozialen Arbeit. BSJ-Jahrbuch 2002/2003. Opladen:
Leske + Budrich Verlag. S.107-132.
Heinrichs J-H. (2008): Capabilities: Egalitaristische Vorgaben einer Maßeinheit. In:
Otto H.-U./ Ziegler H. (Hrsg.): Capabilities – Handlungsbefähigung und
Verwirklichungschancen in der Erziehungswissenschaft. Wiesbaden: VS Verlag für
Sozialwissenschaften. S.54-68.
Herriger N. (1997): Empowerment in der Sozialen Arbeit – Eine Einführung.
Stuttgart: Kohlhammer Verlag.
Hurrelmann K. (1985): Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissen-
schaftliche Jugendforschung. Grundlagentexte Soziologie. Weinheim und München:
Juventa Verlag.
Jacobs D. (1985): Bewegungs-Bildung/ Menschenbildung. Wolfenbüttel: Georg
Kallmeyer Verlag.
Jäger J./ Kuckhermann R. (Hrsg.) (2004): Ästhetische Praxis in der Sozialen
Arbeit. Wahrnehmung, Gestaltung und Kommunikation. Weinheim und München:
Juventa Verlag.
Kaltenbrunner T. (2009): contact improvisation. bewegen – sich begegnen –
miteinander tanzen. Aachen: Meyer & Meyer Verlag, 3. überarbeitete Auflage.
Keupp H.(2008): Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der
Spätmoderne. Reinbeck bei Hamburg. Rowohlt-Taschenbuch-Verlag, 4. Auflage.
Kirsch S. (2005): Im Tanz die Sinne erfahren. Die Ausbildung der Identität durch
eine sinnesorientierte Tanzpädagogik. Hamburg: Dr. Kovac Verlag.
Literaturverzeichnis
78
Klinge A. (2001): Der Körper als Zugang subjektorientierten Lernens. In: Karoß S./
Welzin L. (Hrsg.): Tanz – Politik – Identität. Jahrbuch Tanzforschung 11. Hamburg:
LiT Verlag. S.243-256.
Klinge A. (2004): Tanz als Medium kultureller Bildung. In: Bundesvereinigung
Kulturelle Jugendbildung e.V. – BKJ (Hrsg.): Kultur leben lernen.
Bildungswirkungen und Bildungsauftrag der Kinder und Jugendkulturarbeit.
Schriftenreihe der Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung 60. Remscheid:
Topprint. S.171-177.
Koch L. (1994): Einleitende Bemerkungen zum Thema »Pädagogik und Ästhetik«.
In: Koch L./ Marotzki W. Peukert H. (Hrsg.): Pädagogik und Ästhetik. Schriften zur
Bildungs- und Erziehungsphilosophie. Weinheim: Deutscher Studienverlag. S.8-19.
Krieger W. (2004): Wahrnehmung und ästhetische Erziehung. Zur Neukonzept-
ionierung ästhetischer Erziehung im Paradigma der Selbstorganisation.
Bochum/ Freiburg: Projektverlag.
Laban R.v.(1988): Die Kunst der Bewegung. Wilhelmshafen: Florian Noetzel
Verlag.
Lander H.: Tanz und Sozialisation 2. In: Tanz und Erziehung. Der Frankfurter
Tanzkreis. Informationen 6. 2. Auflage. S.14-25.
Lampert F. (2007): Tanzimprovisation. Geschichte – Theorie – Verfahren –
Vermittlung. Bielefeld: Transcript Verlag.
Liebau E. (1999): Erfahrung und Verantwortung. Werteerziehung als Pädagogik der
Teilhabe. Weinheim: Juventa Verlag.
Lowinski F. (2007): Bewegung im Dazwischen. Ein körperorientierter Ansatz für
kulturpädagogische Projekte mit benachteiligten Jugendlichen. Bielefeld: Transcript
Verlag.
Literaturverzeichnis
79
Maldoom R. (2010): Tanz um dein Leben. Meine Arbeit, meine Geschichte.
Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag.
Marquardt P./ Krieger W. (2007): Potenziale Ästhetischer Praxis in der Sozialen
Arbeit. Eine Untersuchung zum Bereich Kultur-Ästhetik-Medien in Lehre und
Praxis. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
Meueler E. (1998): Die Türen des Käfigs. Wege zum Subjekt in der
Erwachsenenbildung. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag, 2. veränderte Auflage.
Müller H. (1977): Sozialisation und Individualität. München: Kösel Verlag.
Rosenberg C. (1997): Tanzen als Dialog mit der Welt – Zur Bedeutung eines
dialogischen Bewegungsverständnisses für die Tanzpädagogik. In: Gesellschaft für
Tanzforschung e.V. (Hrsg.): Jahrbuch Tanzforschung Band 7. 1996. Wilhelmshaven:
Verlag der Heinrichshofen-Bücher. S.195-209.
Peez G. (2005): Evaluation ästhetischer Erfahrungs- und Bildungsprozesse. Beispiele
zu ihrer empirischen Forschung. München: Kopaed Verlag.
Peter-Bolaender M.(1991): Persönlichkeitsentwicklung und Selbsterfahrung durch
Tanz. In: Willke E./ Hölter G./ Petzold H. (Hrsg.): Tanztherapie. Theorie und Praxis.
Ein Handbuch. Paderborn: Junfermannsche Verlagsbuchhandlung. S.465-486.
Postuwka G. (1999): Moderner Tanz und Tanzerziehung. Analyse historischer und
gegenwärtiger Entwicklungstendenzen. Schorndorf: Verlag Karl Hofmann.
Scherr A. (1997): Subjektorientierte Jugendarbeit. Eine Einführung in die
Grundlagen emanzipatorischer Jugendarbeit. Weinheim und München: Juventa
Verlag.
Scherr A. (Hrsg.) (2006): Soziologische Basics. Eine Einführung für Pädagogen und
Pädagoginnen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Literaturverzeichnis
80
Schwarzbauer M./ Hofbauer G. (Hrsg.) (2007): Polyästhetik im 21.Jahrhundert.
Chancen und Grenzen ästhetischer Erziehung. Frankfurt am Main: Peter Lang
Verlag.
Seewald J. (2000): Durch Bewegung zur Identität? Motologische Sichten auf das
Identitätsproblem. In: Motorik.23 (2000) Heft 3, S.94-101.
Stelter R. (2006): Sich –Bewegen – auf den Spuren von Selbst und Identität. In:
Motorik. 29 (2006) Heft 2, S.65-74.
Treptow R. (1993): Bewegung als Erlebnis und Gestaltung: Zum Wandel
jugendlicher Selbstbehauptung und Prinzipien moderner Jugendkulturarbeit.
Weinheim und München: Juventa Verlag.
Vorst C./ Grosser S./ Eckardt J./ Burrichter R. (Hrsg.) (2008): Ästhetisches
Lernen. Studien zur Germanistik und Anglistik. Frankfurt am Main: Peter Lang
Verlag.
Wesemann A.(2009): Komplizen. In: Ballettanz. Europe´s leading dance magazine.
Kreative Komplizen. Heft 12.09, S.8-13.
Zacharias W. (2009): Politische Aspekte kulturell-ästhetischer Bildung und
Dimensionen des Politischen in der Kulturellen Bildung. Oder: Alles hängt mit allem
zusammen, irgendwie und sowieso. In: Außerschulische Bildung. Arbeitskreis
deutscher Bildungsstätten e.V. AdB. Materialien zur politischen Jugend- und
Erwachsenenbildung. Ästhetische und künstlerische Dimensionen politischer
Bildung. Heft 3-2009, S.241-250.
Zimmermann P. (2003): Grundwissen Sozialisation. Opladen: Leske + Budrich
Verlag, 2. Auflage.
Internetquellen
81
Internetquellen
http://www.abendblatt.de/kultur-live/article415945/Was-ist-denn-Community-
Dance.html, Abruf: 23.03.2010
Artikel von Klaus Witzeling: Was ist Community Dance?
http://www.bkj-remscheid.de/, Abruf: 23.02.10
http://www.candocandance.de/history.html, Abruf: 23.03.2010
Vortrag von Tamara McLorg, 2006 in Hamburg.
http://www.ftl-online.com/FTL/start, Abruf: 29.03.2010
http://www.ipp-muenchen.de/texte/keupp_09_freising04_text.pdf, Abruf: 11.02.10
Vortrag von Heiner Keupp, 2009 in Freising. Fragmente oder Einheit? Wie heute
Identität geschaffen wird.
http://www.paedagogik.phil.uni-erlangen.de/mitarbeiter/liebau/kultur-und-geist.pdf,
Abruf: 01.02.10
Eckart Liebau: Kultur und Geist.
http://www.royston-maldoom.net/service/download.php?id_language=1,
Abruf: 01.02.10
im_gespräch-psychologieheute.pdf, Royston Maldoom im Gespräch mit Gabriele
Michel, erschienen in Psychologie Heute compact 2007 Heft 16: „Schule
verändern!“.
Lecture_maldoom_okt06.pdf, Kongress McKinsey Frühkindliche Bildung, Oktober
2006, Berlin. Lecture Royston Maldoom „Bildung durch Bewegung“.
http://www.royston-maldoom.net/about/philosophie.php?id_language=1
Abruf: 23.03.2010
http://www.tanzzeit-schule.de/tanzzeit/tanzzeit.php?PHPSESSID=
d8478f8a8edd3b7adb46e5c5a1852828, Abruf: 25.03.2010
82
http://www.tanzzeit-schule.de/tanzzeit/jugendcompany.php?PHPSESSID=
d8478f8a8edd3b7adb46e5c5a1852828
Abruf: 25.03.2010
TanzZeit – Jugendcompany
http://www.worthaus.com/Worthaus_NEU/Interview%20Royston%20Maldoom.pdf
Abruf: 23.03.2010
Interview mit Roysten Maldoom durchgeführt von Alexandra Lavinia Zepter.
Anhang
83
Anhang
1. Interviewtranskription
Interview geführt mit Volker Eisenach am 26.03.2010 über Telefonkonferenz
SP = Sarah Petry VE = Volker Eisenach SP:
Ich danke erstmal, dass sie sich Zeit nehmen für dieses Interview.
VE:
Bitte, Bitte.
SP:
Sie sind professioneller Tänzer und Choreograph, ich musste es nachlesen, ausgebildet an
der Rambert School of Ballet and Contemporary Dance und der Imperial Society of Teachers
of Dancing in London. Mich würde es interessieren, wie sie selbst zum Tanz gekommen
sind, vielleicht können sie einen kurzen Abriss darüber geben?
VE:
Ich bin zum Tanzen gekommen, weil an meiner Oberschule eine Tanz AG angeboten wurde.
Die haben viele Aufführungen gemacht, die sehr sehr toll waren zum Zuschauen. Da war
immer volles Haus, die haben immer richtig tolle Unterhaltung gemacht und ich fand das
sehr faszinierend und wollte irgendwie da mitmachen. Ich wusste aber gar nicht was mich da
so richtig erwartet und bin dann eines Tages einfach mal hingegangen und hab dadurch so
meine ersten Tanzschritte gemacht und fand das alles sehr sehr toll.
SP:
Das heißt sie haben auch eher spät angefangen mit Tanz?
VE:
Ja, spät wenn man das vergleicht mit Balletttänzern die mit vier oder fünf anfangen, ja klar.
SP:
Ende der 1980er sind sie dann auf die Arbeit von Royston Maldoom gestoßen, haben in
einigen Stücken selbst mitgetanzt und ihm auch in vielen seiner Projekten assistiert. Was hat
sie an dieser Arbeit fasziniert?
VE:
Ich bin zu Royston Maldooms Arbeit gekommen weil meine damalige Choreographin
irgendwie so einen Aushang gesehen hat und mir den Zettel in die Hand gedrückt hat. Ja da
kommt irgend so ein Brite nach Berlin, ob ich Lust da mitzumachen hätte. Joa, hab mich da
dann so formlos beworben, weil es so ein Jugendprojekt war für Schüler in den
Sommerferien; war über drei Jahre angelegt und sollte die Kulturhauptstädte Berlin und
Glasgow verbinden. Berlin war 1988, wenn ich mich nicht irre, Kulturhauptstadt und
Glasgow 1990. Und das sollte so ein Brückenschlag zwischen beiden Ländern sein und auch
Seite 1
Anhang
84
mit Jugendlichen aus beiden Ländern zusammenarbeiten. Und da hab ich halt das erste Mal
seine Arbeit kennen gelernt, hab mitgetanzt und das war so eine ganz andere
Herangehensweise, ein anderes Bewegungsvokabular, was mir sehr gefallen hat und was
sehr kraftvoll war. Dann wurde das Projekt noch auf 4 Jahre verlängert und als es dann in
Berlin irgendwann nicht mehr weiter geführt wurde, hat Royston mich gefragt, ob ich Lust
habe mit nach Duisburg zu kommen, weil er auch in Duisburg ähnliche Projekte macht. Und
dann meinte ich natürlich gern, weil ich seine Arbeit toll finde und ihn toll finde. Und hab
dann glaub für 3 Jahre auch in Duisburg bei seinen Projekten mitgetanzt, die er dort mit Ulla
Weltike zusammen gemacht hat. Irgendwann hat Royston mich dann gefragt ob ich schon
mal überlegt habe Tänzer zu werden, das war noch in Berlin, und ich musste sagen Nein,
weil ich das wirklich noch nie überlegt habe, und bin dann nach vielen Jahren Verspätung,
hab ich meine Aufnahmeprüfung in England gemacht und bin dann hingegangen.
SP:
Das heißt, sie haben ihre professionelle Tanzausbildung auch erst im Anschluss an diese
Projekte angefangen?
VE:
Ja, ich habe vorher rein hobbymäßig als Jugendlicher getanzt und hab aber immer mehr
choreographisch gearbeitet. Hab meine ersten zaghaften Schritte gemacht, weil die
Choreographin, die damals bei uns an der Schule war, konnte nur noch selten kommen oder
musste immer weniger kommen und dann hab ich halt so ganz langsam Schrittchen für
Schrittchen die Gruppe übernommen, ohne dass ich es eigentlich wollte oder wusste; und
war dann mit 18 eigentlich der Leiter von einer Tanzgruppe, was aus heutiger Sicht sehr
‚Wow’ ist, weil damit hab ich selber nicht gerechnet und hätte es damals auch nie so
bezeichnet und habs auch nie so öffentlich gemacht. Aber das waren halt so meine ersten, ja
Gehversuche als Choreograph, hab meine ersten Arbeiten gemacht und hatte halt nicht den
Druck, dass es nach so und so viel Tagen aufgeführt werden muss. Und hab da dann über
Jahre mit Freunden zusammen gearbeitet und viele kleine, tolle Sachen auf die Bühne
gebracht.
SP:
Jetzt bringen sie nicht nur kleine Sachen auf die Bühne, sondern seit 1992 bringen sie mit
ihrer Tanzcompany Faster-than-Light-Dance-Company professionelle Tanzstücke auf die
Bühne. Die Projekte sind zugänglich, ich würde jetzt mal sagen für Jedermann, also nicht nur
für professionelle Tänzer, sondern besonders auch für Anfänger ohne Aufnahmeprüfung.
Was ist die Absicht mit ihren Projekten oder wie kann ich mir so einen Projektverlauf
vorstellen?
VE:
Die Arbeit der Faster-than-Light-Dance-Company oder der FTL richtet sich an alle Leute,
Seite 2
Anhang
85
die grundsätzlich Interesse am Tanzen haben, egal ob Vorkenntnisse vorhanden sind oder
nicht. Und bei uns ist es sehr sehr wichtig, dass wir keine Aufnahmeprüfung haben oder
Audition oder Casting, sondern dass bei uns grundsätzlich alle mitmachen können. Unsere
Projekte sind grundsätzlich auch kostenlos und wir schicken niemanden wieder nach Hause,
weil er zu wenig, zu viel oder zu was auch immer getanzt hat. Wir möchten mit unserer
Arbeit alle Leute erreichen, sowohl Zuchauer als auch Darsteller, arbeiten hauptsächlich mit
Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 15 und 25 Jahren zusammen und bringen
denen Grundbegriffe, Grundkenntnisse des Tanzens bei, inszenieren kleine und große
Aufführungen mit denen. Wir machen Ferienprojekte einerseits, die eine oder zwei Wochen
dauern können, wir machen aber auch über Monate angelegte langfristige Projekte, die dann
in der Regel an den Wochenenden geprobt werden. Ziel ist es immer nach egal wie lange der
Probenprozess ist, eine Aufführung auf die Bühne zu bringen, dass die Jugendlichen ein
Ergebnis haben, was sie auch vor Publikum in einem professionellen Rahmen präsentieren
können und ein ganz eindeutiges Feedback auch bekommen für die Arbeit, die sie in der
Probenzeit geleistet haben. Wir gehen dabei etwas weg von MTV oder VIVA, sondern wir
machen zeitgenössischen Bühnentanz der bei Jugendlichen ja auch nicht primär verbreitet ist
und machen alles musikalisch, von Klassik über Rammstein, bis alte Musik bis Musical.
Alles wozu wir gerade Lust haben machen wir; sehr sehr ernste Themen, sehr lustige
Themen und versuchen durch ein breit gestreutes Angebot an unterschiedlichen Projekten,
an unterschiedlichen Themen ein sehr abwechslungsreiches Programm für die Zuschauer
und für die Darsteller zusammenstellen zu können.
SP:
Jetzt haben sie gerade gesagt zeitgenössischer Tanz, ist da nicht erstmal eine
Berührungsangst von Jugendlichen da? Das ist ja schon eher was ganz Neues, was sie bisher
noch nicht kennen. Wie erleben sie das, wie Jugendliche da ran gehen mit was ganz neuem
Fremden?
VE:
Also ich glaub diese Berührungsangst ist meistens von Menschen, die nicht so primär damit
arbeiten. Letztendlich hat man vor allem Berührungsangst. Egal ob es in den Bus steigen ist,
oder tanzen oder Brötchen backen. Klar ist es was Neues, wir haben ja nun nicht die Tänzer,
die seit zehn Jahren auf der Bühne tanzen, sondern wir haben sehr oft Anfänger und da ist es
glaub ich genauso als ob sie woanders hingehen. Man muss natürlich den ersten Schritt über
die Schwelle machen und danach ist Tanzen für die auch sehr, sehr einfach, dazu Zugang zu
gewinnen und wenn die Jugendlichen mitmachen wollen können sie sehr, sehr große
Fortschritte machen und beachtliche Leistungen auf die Bühne bringen, die sie selber nicht
erwartet hätten und die auch die Zuschauer nicht erwartet hätten. Das ist für uns natürlich
immer faszinierend zu sehen, wie sich Teilnehmer und Teilnehmerinnen innerhalb von sehr
Seite 3
Anhang
86
kurzer Zeit tänzerisch, menschlich verändern, verbessern und Ergebnisse auf die Bühne
bringen, mit denen sie oder die Zuschauer nicht gerechnet haben.
SP:
Das heißt es werden in den Projekten nicht nur körperliche Fähigkeiten herausgefordert,
angesprochen, sondern da passieren auch andere Dinge mit den Jugendlichen. Sie haben jetzt
gesagt menschlich verändern. Sind da Fähigkeiten die sie besonders beobachten, was in so
einem Projektprozess mit den Jugendlichen geschieht?
VE:
Wenn Tanzprojekte gemacht werden, werden viele Fähigkeiten von den Tänzern und
Tänzerinnen egal wie alt sie sind verlangt, gefördert und ausgebaut. Z.B. dass man ganz
offensichtlich miteinander arbeitet. Man kann nicht allein nur auf der Bühne tanzen, es reicht
nicht wenn nur eine Person auf der Bühne richtig ist oder eine Person falsch ist, sondern ein
Ensemble muss ein Ergebnis auf die Bühne bringen wo alle Beteiligten mit zufrieden sind
oder wo alle gleich gut sind und gleich wichtig sind. Wenn man nicht mit einem Partner
zusammenarbeiten kann, ist es natürlich schwierig. In unserer Arbeit ist es natürlich schön zu
sehen, dass es da nicht nennenswerte Schwierigkeiten gibt, sondern dass sie da sehr
unvoreingenommen und sehr offen an die Sachen ran gehen und viele Sachen, die von
Außen vielleicht etwas schwierig erscheinen relativ einfach meistern. Diese Zusammenarbeit
ist das Eine, man muss sich gegenseitig vertrauen, man muss aufeinander Rücksicht nehmen,
man muss natürlich auch seinen eigenen Körper kennen, kennenlernen. Dehnen,
Aufwärmen, tänzerisch verbessern, denen Tanztechnik beibringen. Wenn man das auf einem
Blatt Papier sieht, ist das vielleicht etwas abschreckend, weil da so vieles angesprochen wird.
Aber es sind auch oft Sachen, die unterschwellig oder unbewusst nur mitgenommen werden
und teilweise nicht verbal thematisiert werden, die einfach ganz automatisch passieren. Und
dadurch dass wir nicht jedes Mal den Finger drauf halten und sagen, guck mal, jetzt passiert
gerade das und das, und das und das und das, haben die Jugendlichen es viel einfacher damit
umzugehen und viel, viel weniger Hemmschwelle vielleicht Sachen auch anzunehmen.
SP:
Ich hab noch 2 Fragen, die auch ein bisschen den Bogen zu meiner Arbeit schließen oder
auch zur Sozialen Arbeit. Ich weiß, dass es ihnen immer auch wichtig ist zu sagen, dass sie
keine Pädagogen sind, sondern dass sie als Künstler arbeiten. Und dennoch passieren Dinge
so als Nebeneffekt in einem künstlerischen Prozess, was auch ein pädagogischer Beitrag
vielleicht in dem Sinn ist.
VE:
Also ich bin der Meinung dass man mit Anfängern und auch mit Profis niemals arbeiten
kann, wenn man nur künstlerisch arbeitet oder wenn man nur pädagogisch arbeitet. Man
muss immer ein Gleichgewicht zwischen künstlerischem Arbeiten und pädagogischem
Seite 4
Anhang
87
Arbeiten haben, weil man sonst keine einzige Bewegung den Leuten beibringen kann, oder
furchtbare Probenatmosphäre schafft. Das geht nicht auseinander und ich glaub jetzt die
Diskussion zu führen, wie sehr man Pädagoge und wie sehr man Künstler ist und wie viel
Prozent von dem einen und wie viel Prozent von dem anderen bringt glaub ich überhaupt
nichts. Man muss so arbeiten wie es einem am Besten und der Gruppe mit der man
zusammenarbeitet am Besten tut, aber es geht nicht das eine ohne das andere. Das ist diese
berühmte Frage was war zuerst da, die Henne oder das Ei? Es geht nicht das eine ohne das
andere.
SP:
Der Titel meiner Arbeit lautet "Taz als Befähigung zu „sozialer Subjektivität“ in der
Ästhetischen Praxis mit Jugendlichen". Langer Titel, d.h. für mich, ich gehe davon aus, dass
Tanz, wenn er in künstlerische Projekte eingebunden ist, Potential hat junge Menschen zu
fördern in ihren Fähigkeiten; Sie zu sozialem, verantwortungsvollen Handeln zu fördern,
indem sie ein Gemeinschaftsprojekt sind, zu mehr Selbstbewusst-sein und
Selbstbestimmung. Können sie aus ihrer Praxiserfahrung die Thesen bestätigen oder dazu
was sagen?
VE:
Naja, es ist ein sehr, sehr umfassender Titel der so 10 000 Sachen gleichzeitig anspricht. Ich
hab jetzt wenig gefunden, was dem was ich kennengelernt habe, widerspricht.
SP:
Also, was mir ganz besonders wichtig ist, ist was das Selbstbewusstsein angeht. Im Tanz
vorn zu stehen, sie haben auch noch mal gesagt, wie wichtig es ist, dass es in eine
Aufführung mündet, wo man Anerkennung bekommt. Das war mir das wichtigste, ob es
wirklich in einem Prozess zu beobachten ist, dass sich etwas an dem Selbstbewusstsein der
Jugendlichen verändert.
VE:
Ja auf jeden Fall, man hat ja nichts weiter auf die Bühne zu bringen, als sich selber. Man ist
ja nur mit seinem Körper da oben und das sind halt nicht Veränderungen, die von einer
Sekunde auf die nächste passieren, sondern die auch sehr stark längerfristig sind. Die dann
vielleicht nach Wochen oder Monaten passieren, oder auch sehr oft erst wenn die Proben
oder die Aufführungen vorbei sind. Aber ich bin fest der Meinung, dass es Niemanden gibt,
den so ein Tanzprojekt unberührt lässt und dass so ein Tanzprojekt immer positive
Auswirkungen auf das Leben des jeweiligen Teilnehmers oder der Teilnehmerin hat. Und
wenn es nur ist, wie man es bei einigen gesehen hat, dass sie dir dann plötzlich nach Wochen
der Arbeit das erste Mal ins Gesicht schauen oder dir in die Augen schauen, oder einfach nur
ein bisschen mehr lächeln, oder sich gerade halten. Das hat immer einen positiven Effekt,
auch wenn die Leute später nie was in die Richtung professioneller Tänzer machen wollen,
Seite 5
Anhang
88
also wenn sie nicht diesen Tanz als Berufswunsch wählen wollen, sondern wenn sie dann
ihren Job machen, der ihnen das tägliche Brot geben wird. Es hat immer ne positive
Auswirkung. Und wenn es nur ist, dass man die Musik dann nach 5 Jahren mal wieder hört
oder sich dran erinnert oder Fotos sieht. Oder sich das Video anguckt. Da nimmt jeder was
Positives von mit nach Hause.
SP:
Ja. Eine letzte Frage noch. Mich würde es interessieren welchen Beitrag Soziale Arbeit
leisten könnte. Indem sie keine Aufnahmeprüfungen haben, auch kostenlosen Zugang haben,
sind sie dabei, Bildungschancen zu schaffen, für Jedermann zugänglich. Das, denke ich
sollte auch Aufgabe Sozialer Arbeit sein, und mich würde es interessieren, ob es was gibt,
das Soziale Arbeit für die Projekte, die sie durchführen, tun kann, oder ob es da
Berührungspunkte gibt.
(VE fragt noch mal nach der konkreten Fragestellung)
SP:
Ich denke da an Unterstützungsmöglichkeiten in einem Projektverlauf oder an politische
Vorbereitung, ich weiß nicht wie viel Vorarbeit so ein Projekt ist, mit Ansprechpartnern oder
ob sie auch Pädagogen dabei haben in ihren Projekten.
VE:
Das hängt immer ganz davon ab, was das für ein Projekt ist und wie viel damit
zusammenhängt. Wenn ich ein Projekt mit 5 Leuten habe, dann brauche ich da eine andere
Herangehensweise, als wenn ich 200 Leute habe, die über 2 Monate zusammen arbeiten. Ich
mache 2 unterschiedliche Tanzrichtungen oder Projektrichtungen sowieso. Das eine ist die
Arbeit, die ich mit meiner Gruppe der FTL mache, wo Jugendliche zu mir kommen, die
tanzen wollen und das in ihrer Freizeit machen und die andere Arbeit ist, dass ich selber als
Choreograph in eine Schule oder künstlerische Einrichtung gehe, die dann über einen
bestimmten Zeitraum mit mir zusammenarbeiten, wo dann auch oft Leute dabei sind, die das
machen müssen, weil der Lehrer es z.B. gesagt hat. Das sind so zwei ganz unterschiedliche,
ja, Qualitäten von Arbeit und da gibt es natürlich immer andere Vorraussetzungen, die kann
man nicht so sehr über einen Kamm schehren. Klar muss man darauf achten, dass es
choreographisch auf die Jugendlichen zugeschnitten ist, dass sie nicht überfordert sind,
sondern nur gefordert, dass sie ihre besten Sachen zeigen können, ohne sich zu blamieren
oder das Gefühl haben, oh sie machen sich hier lächerlich, sondern dass sie am Tag der
Aufführung einfach ein sicheres Gefühl haben. Oder auch während des ganzen
Probenprozesses wissen, dass sie nicht Angst haben müssen, sondern dass der Mensch der da
vorn steht und die Menschen wissen wo es lang geht und sie in sicherer Umgebung sind. Bei
meinen Projekten, die ich allein mit der FTL mache, sind es meistens nur ein oder zwei
Menschen die mit mir künstlerisch zusammen arbeiten. Aber bei Projekten, die größer
Seite 6
Anhang
89
werden braucht man Leute, die sich um Kostüme kümmern, braucht man viele Lehrer die
noch betreuend helfen, je mehr Leute auf der Bühne sind, desto mehr Leute braucht man
natürlich auch im Hintergrund um das ganz Projekt zu unterstützen.
SP:
Ja, damit sind wir auch schon am Ende und ich bedanke mich ganz herzlich und wünsche
viel Erfolg und Freude weiter bei der Arbeit.
VE:
Das ist sehr nett. Ich hoffe es hat geholfen.
SP:
Ja vielen Dank.
VE:
Bitteschön.
2. CD Anhang – Video der TanzZeit-Jugendcompany
Alle Rechte sind TanzZeit - Tanz in Schulen unter der Leitung von Livia Patrizi
vorbehalten.
Das Video dient als Quellensicherung und ist für weitere Veröffentlichungen nur in
Rücksprache mit TanzZeit zu verwenden.
http://www.tanzzeit-schule.de/tanzzeit/impressum.php?PHPSESSID=
c13e4e38db07a069e1eb0564416a5a72
Seite 7
Persönliche Erklärung
90
Persönliche Erklärung
Ich versichere, dass ich diese Arbeit ohne fremde Hilfe angefertigt und mich anderer
als der von mir angegebenen Schriften und Hilfsmittel nicht bedient habe.
Datum
(Sarah Petry)