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Technik statt Inhalt? Zu den Orientierungen von Stencil-Aktivisten CHRISTOPH PILZ Der Bericht ist ein stark gekürzte, geringfügig überarbeitete Fassung der B.A. Arbeit „Aneig- nungspraktiken des öffentlichen Raumes. Am Beispiel Street Art“ (2012)von Christoph Pilz; angefertigt am Institut für Soziologie der Leibniz Universität Hannover. Forschungsinteresse Das städtische Phänomen Street Art entstand in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts und hat sich seitdem als Aktionsform in urbanen Räumen auf der ganzen Welt verbreitet (Jakob 2009). Mittlerweile hat sich die Street Art als Kunstform auch auf dem Kunst- markt etabliert. Ein prominentes Beispiel dafür ist der Londoner Street Art-Aktivist Banksy, dessen Arbei- ten mittlerweile zu Rekordsummen verkauft werden. So wurde beispielsweise sein Werk Bombing Middle England bei Sotheby’s versteigert und erzielte einen Erlös von rund 150.000 Euro (Menden 2007). Auch die Werbeindustrie hat die Street Art für sich ent- deckt und übernimmt deren Motive und Gestaltungs- formen für kommerzielle Zwecke. Konzerne wie Nike, Adidas und Sony nutzen die Street Art vor allem zur Imagepflege und um neue Konsumenten- gruppen zu erreichen (Göbel 2007). Diese Vereinnahmungen sollen hier jedoch nicht näher betrachtet werden. Obwohl Themen der Kom- merzialisierung sicherlich bedeutend für die heutige Beschaffenheit des Phänomens sind, geht der folgen- de Bericht davon aus, dass das Phänomen Street Art vor allem über das Verhältnis der beteiligten Akteure zum öffentlichen Raum zu verstehen ist. Im An- schluss an Riggle (2010) wird die Auseinanderset- zung mit und Verarbeitung des öffentlichen Raumes innerhalb der jeweiligen Werke als Definitionsmerk- mal der Street Art begriffen. Der öffentliche Raum wird hier als ein soziales Produkt verstanden, das sich Menschen im Laufe ihrer Sozialisation aneignen. Definitionen von Street Art legen nahe, dass sich die beteiligten Akteure durch ein spezifisches Muster der Raumaneignung auszeichnen. Es wird davon ausgegangen, dass dieses Muster durch Einflüsse der Graffiti-Bewegung und der Reclaim the Streets-Bewegung geprägt ist und sich mit Hilfe dieser zwei Kategorien beschreiben lässt. Der Ausgangspunkt dieser Arbeit sind daher die räumlichen Orientierungen der beteiligten Akteure. Welche Orientierungen prägen die Verbreitung von Street Art in den Straßen? Wie wird der öffentliche Raum durch Street Art angeeignet? Folgen die Ak- teure den Orientierungen der Graffiti- oder der Rec- laim the Streets-Bewegung? Oder findet eine Vermi- schung statt? Dazu wurden jene Passagen aus Interviews mit aktiven Stencil-Aktivisten 1 untersucht, die ihre Motivation und die Aneignung des Raumes thematisierten. Das Thema Raumaneignung wurde dazu nicht immer explizit in einer eigenen Frage angesprochen, sondern aus den Interviews entnom- men, wenn darin Erlebnisse und Praktiken mit Street Art im öffentlichen Raum geschildert wurden. Diese Textstellen sollen Hinweise auf die zugrundeliegen- den Aneignungsstrategien geben. Die Studie wird in diesem Zusammenhang zu einem ganz unerwarteten Ergebnis kommen. In den Interviews spielt der Raum 1 Aus Gründen der Lesbarkeit wird bei personenbezogenen Begriffen auf die gleichzeitige Nennung der männlichen und weiblichen Sprachform verzichtet. Die männliche Sprachform schliesst hier beide Geschlechter mit ein. LFS-Arbeitsbericht Nr. 7 (Februar 2013)

Technik statt Inhalt? Zu den Orientierungen von …schen Verb »sgraffiare« für einkratzen oder einritzen ab (Siegl 2009). Norbert Siegl definiert Graffiti wie folgt: »Graffiti

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Technik statt Inhalt? Zu den Orientierungen von Stencil-Aktivisten CHRISTOPH PILZ Der Bericht ist ein stark gekürzte, geringfügig überarbeitete Fassung der B.A. Arbeit „Aneig-nungspraktiken des öffentlichen Raumes. Am Beispiel Street Art“ (2012)von Christoph Pilz; angefertigt am Institut für Soziologie der Leibniz Universität Hannover. Forschungsinteresse

Das städtische Phänomen Street Art entstand in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts und hat sich seitdem als Aktionsform in urbanen Räumen auf der ganzen Welt verbreitet (Jakob 2009). Mittlerweile hat sich die Street Art als Kunstform auch auf dem Kunst-markt etabliert. Ein prominentes Beispiel dafür ist der Londoner Street Art-Aktivist Banksy, dessen Arbei-ten mittlerweile zu Rekordsummen verkauft werden. So wurde beispielsweise sein Werk Bombing Middle England bei Sotheby’s versteigert und erzielte einen Erlös von rund 150.000 Euro (Menden 2007). Auch die Werbeindustrie hat die Street Art für sich ent-deckt und übernimmt deren Motive und Gestaltungs-formen für kommerzielle Zwecke. Konzerne wie Nike, Adidas und Sony nutzen die Street Art vor allem zur Imagepflege und um neue Konsumenten-gruppen zu erreichen (Göbel 2007).

Diese Vereinnahmungen sollen hier jedoch nicht näher betrachtet werden. Obwohl Themen der Kom-merzialisierung sicherlich bedeutend für die heutige Beschaffenheit des Phänomens sind, geht der folgen-de Bericht davon aus, dass das Phänomen Street Art vor allem über das Verhältnis der beteiligten Akteure zum öffentlichen Raum zu verstehen ist. Im An-schluss an Riggle (2010) wird die Auseinanderset-zung mit und Verarbeitung des öffentlichen Raumes

innerhalb der jeweiligen Werke als Definitionsmerk-mal der Street Art begriffen.

Der öffentliche Raum wird hier als ein soziales Produkt verstanden, das sich Menschen im Laufe ihrer Sozialisation aneignen. Definitionen von Street Art legen nahe, dass sich die beteiligten Akteure durch ein spezifisches Muster der Raumaneignung auszeichnen. Es wird davon ausgegangen, dass dieses Muster durch Einflüsse der Graffiti-Bewegung und der Reclaim the Streets-Bewegung geprägt ist und sich mit Hilfe dieser zwei Kategorien beschreiben lässt.

Der Ausgangspunkt dieser Arbeit sind daher die räumlichen Orientierungen der beteiligten Akteure. Welche Orientierungen prägen die Verbreitung von Street Art in den Straßen? Wie wird der öffentliche Raum durch Street Art angeeignet? Folgen die Ak-teure den Orientierungen der Graffiti- oder der Rec-laim the Streets-Bewegung? Oder findet eine Vermi-schung statt? Dazu wurden jene Passagen aus Interviews mit aktiven Stencil-Aktivisten1 untersucht, die ihre Motivation und die Aneignung des Raumes thematisierten. Das Thema Raumaneignung wurde dazu nicht immer explizit in einer eigenen Frage angesprochen, sondern aus den Interviews entnom-men, wenn darin Erlebnisse und Praktiken mit Street Art im öffentlichen Raum geschildert wurden. Diese Textstellen sollen Hinweise auf die zugrundeliegen-den Aneignungsstrategien geben. Die Studie wird in diesem Zusammenhang zu einem ganz unerwarteten Ergebnis kommen. In den Interviews spielt der Raum

1 Aus Gründen der Lesbarkeit wird bei personenbezogenen Begriffen auf die gleichzeitige Nennung der männlichen und weiblichen Sprachform verzichtet. Die männliche Sprachform schliesst hier beide Geschlechter mit ein.

LFS-Arbeitsbericht

Nr. 7 (Februar 2013)

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für die Street Art eine geringere Rolle als die einge-setzte Technik.

Zunächst wird das Phänomen Street Art unter Berücksichtigung des Raumbezugs dargestellt. Da-rauf folgen Ausführungen zur Graffiti- und zur Rec-laim the Streets-Bewegung sowie zu dem jeweils zugrundeliegenden Raumaneignungsmuster. Nach einer kurzen Darstellung der Vorgehensweise erfolgt die Analyse des Interviewmaterials, mit der die räum-lichen Orientierungen rekonstruiert werden sollen. Im Fazit wird versucht, die Ergebnisse im Kontext der Street Art-Forschung einzuordnen. Das Phänomen Street Art

Street Art lässt sich allgemein als eine Kunstform im öffentlichen Raum verstehen. Als »post-museum art« (Riggle 2010: 243) zeichnet sich Street Art aber durch eine Distanz zum etablierten Kunstbetrieb aus und ist stattdessen im städtischen Alltagsleben veran-kert. Die Nicht-Zugehörigkeit zum Kunstfeld ist ein konstitutives Merkmal von Street Art, dieses wird nach Riggle nicht in den Produktions- und Anbrin-gungsprozess einbezogen (Riggle 2010: 254). Auch Jakob definiert Street Art als »für jeden zugängliche künstlerische Ausdrucksform im öffentlichen Raum« (Jakob 2009: 73).

Die Bezeichnung Street Art dient als Sammel-begriff für den Gebrauch verschiedener Techniken und Materialien. Meist werden Aufkleber bedruckt oder bemalt, oder die Oberfläche wird mithilfe vorher angefertigter Schablonen, sogenannter Stencils, di-rekt besprüht. Weitere Ausprägungsformen sind der direkte Farbauftrag, Kreidezeichnungen, »Paste-Ups«2 und »Murals«3. Street Art stellt sich damit als sehr vielfältige Kunstform dar.4 Die Anbringung geschieht dabei zumeist illegal, selbstautorisiert und anonym bzw. unter einem Pseudonym. Aufgrund von Witterungseinflüssen und Säuberungsarbeiten durch Stadtdienste sind die im öffentlichen Raum platzier-ten Werke oft sehr kurzlebig. Diese Vergänglichkeit wird als Definitionsmerkmal von Street Art angese-

2 Paste-Ups sind Plakate, die mit Kleister oder Leim an Wänden befestigt werden. 3 Als Murals werden überdimensional große Bilder an Hauswänden bezeichnet. 4 Für eine detailliertere Darstellung der verschiedenen Techniken siehe Jakob (2009).

hen. So sagt Riggle, Street Art brauche ein »com-mitment to ephemerality« (Riggle 2010: 254).

Müller und Uhlig (2011) beschreiben schema-tisch den Verlauf einer Street Art-Aktion. Am An-fang stehen Skizzen und Entwürfe, die anschließend in den öffentlichen Raum gebracht werden müssen. Dabei können die Werke entweder direkt vor Ort entstehen, oder sie werden vorher angefertigt und anschließend angebracht. Da die Anbringung meist sehr schnell vonstattengehen muss, ist eine genaue Planung und Begutachtung des gewählten Ortes nö-tig. Nach der Anbringung wird das Werk oft weiter beobachtet, da es nun für äußere Einflüsse offensteht. Oft werden die Werke übermalt oder durch Hinzufü-gen weiterer Elemente umgestaltet. Gleichzeitig wer-den die Arbeiten dokumentiert, meist in Form von Fotografien. Diese werden dann in bestimmten Onli-ne-Communities gesammelt und archiviert (Mül-ler/Uhlig 2011: 8f).

Die historische Entwicklung der Street Art steht in engem Zusammenhang zur Graffitibewegung. Zwar sind die beiden Phänomene zu unterscheiden, es besteht aber eine historische Verbindung: »graffiti culture was the driving force behind the development of street art« (Riggle 2010: 253). Reinecke sagt, dass ein Großteil der Street Art-Aktivisten in der Graffiti-Kultur sozialisiert wurde:

»Die größte Gruppe der Street-Art-Subkultur besteht aus jungen Erwachsenen, die von der Graffitikultur […] kommen (oder damit aufgewachsen sind) […] und nun Logos, Schriftzüge oder Characters in die Straßen kleben, plakatieren, sprühen oder malen« (Reinecke 2007: 105).

Die Beweggründe der Graffiti-Writer für die Zuwen-dung zur Street Art sieht Reinecke zum einen im »Risiko des illegalen Arbeitens« (ebd.), welches während ihrer Graffiti-Aktivität oftmals in Strafan-zeigen und Auseinandersetzungen mit den Polizeibe-hörden gipfelte. Daneben gibt es Writer, die »im fortgeschrittenen Alter einen größeren Kreis von Menschen ansprechen wollen, die dazu noch ihre Arbeit positiv bewertet [sic]« (ebd.). Ehemalige Graf-fiti-Writer verfügen üblicherweise über gute Kennt-nisse des städtischen Raumes, was sich nach Rein-ecke positiv auf ihre Street Art-Tätigkeit auswirkt, »da sie die Straßen gut kennen und vom Graffiti […]

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wissen, wie man den urbanen Raum für sich auf eine neue Weise nutzen kann« (Reinecke 2007: 106).

Street Art entstammt also dem Graffiti, hat sich mittlerweile aber als »eigenständige und zu unter-scheidende Bewegung« (Müller/Uhlig 2011: 4) etab-liert. Ein Unterscheidungsmerkmal ist die größere Offenheit der Street Art gegenüber ihrem Publikum. Während es im Graffiti vor allem um Anerkennung und Respekt innerhalb der Writer-Kultur geht, ist es gerade ein Merkmal von Street Art, diese Grenzen zu überschreiten und mit dem Publikum in eine offene Kommunikation zu treten. Ein Street Art-Aktivist bedient sich »dem kommunikativen Potential des öffentlichen Raums und eignet sich diesen an für die eigenen Zwecke« (Jakob 2009: 90), nutzt also den öffentlichen Raum für die Kommunikation mit dem Betrachter.

Im Unterschied zu Graffiti-Writern, deren Ziel vor allem die Verbreitung des eigenen Synonyms ist, setzen sich Street Art-Aktivisten mit bestimmten Themen auseinander und reflektieren diese in ihren Arbeiten: »I see graffiti as superficial tagging and street art as a conceptual engagement with issues and the urban environment« (Tsilimpounidi o. J.: 2). Dementsprechend verwenden Street Art-Aktivisten hauptsächlich Motive, selten Namenszüge. Die Moti-ve sind oft medien- und konsumkritisch, meist geht es um Abgrenzung gegenüber einer »Mainstreamkul-tur« (Jakob 2009: 88). Häufig bearbeitete Themen sind Gentrifizierung, städtische Segregationsprozes-se, sowie die Kommerzialisierung und Überwachung des öffentlichen Raumes (Jakob 2009: 88f). Street Art ist eine »künstlerische Auseinandersetzung« (Müller/Uhlig 2011: 6) mit städtischen sozialen Pro-zessen. Gleichzeitig geht es immer auch darum, »das öffentliche Straßenbild individuell mitzugestalten« (Jakob 2009: 74). Dabei orientieren sich Street Art-Aktivisten überwiegend an qualitativen Aspekten: »Weniger die Quantität, sondern Innovation, Kreati-vität und qualitative Umsetzung werden den Akteu-ren hoch angerechnet« (Reinecke 2007: 41).

Um als Street Art definiert zu werden, muss das jeweilige Werk zwingend im öffentlichen Raum plat-ziert sein. Wie Riggle argumentiert, erhalten die Ar-beiten ihre Bedeutung erst durch ihr Vorhandensein im öffentlichen Raum: »a notable feature of much street art is that its meaning is severely compromised

when removed from the street« (Riggle 2010: 245). Gleichzeitig muss der künstlerische Gebrauch des öffentlichen Raums dem Werk gewissermaßen einge-schrieben sein. Riggle definiert Street Art deshalb wie folgt: »an artwork is street art if, and only if, its material use of the street is internal to its meaning« (Riggle 2010: 246).

Aufgrund dieses Zusammenhangs zwischen dem gewählten Ort und der Bedeutung des Werks muss davon ausgegangen werden, dass Street Art-Aktivisten sich gezielt im Raum bewegen und sich den Raum sehr bewusst aneignen, im Hinblick auf die Auswahl geeigneter Orte, die die Aussage der dort platzierten Werke tragen sollen. Auch Reinecke attestiert den Street Art-Aktivisten eine spezifische räumliche Orientierungsweise:

»Die Aktivisten sehen den öffentlichen Raum mit ei-nem speziellen Blick. Einerseits observieren sie den Raum ständig unter dem Aspekt, wie er sich für zu-künftige Arbeiten ideal nutzen lässt, andererseits sprechen die bereits vorhandenen Bilder […] eine Sprache, die nur den Mitgliedern der Street-Art-Subkultur […] vertraut ist« (Reinecke 2007: 110).

Die beschriebenen Befunde zum Phänomen Street Art erlauben Rückschlüsse auf die spezifischen Raumaneignungsmuster der beteiligten Akteure. Die Tatsache, dass ein Großteil der Aktivisten in der Wri-ter-Kultur sozialisiert wurde, lässt darauf schliessen, dass jene Muster der Raumaneignung, die aus der Graffiti-Tätigkeit stammen, auf die Street Art-Aktivität übertragen wurden und dort weiterhin zum Tragen kommen.

Wie erläutert, ist ein Unterscheidungsmerkmal der Street Art gegenüber dem klassischen Graffiti-Writing der Fokus auf die Vermittlung von reflektier-ten, kritischen Botschaften und Inhalten. Die verar-beiteten Themen zeigen Einflüsse der Reclaim the Streets-Bewegung (Jakob 2009). Reclaim the Streets ist eine kritische Stadtbewegung, die sich die Rück-eroberung städtischer Räume als Ziel gesetzt hat. Gleichzeitig wird Kritik an der Kommerzialisierung des Raumes sowie an den städtischen Besitzverhält-nissen geäußert (Klein 2001; Gebhardt/Holm 2011). Reclaim the Streets- und Street Art-Aktivisten stre-ben nach einer autonomen Gestaltung des öffentli-chen Raumes, um ihre Ideen dort zu verwirklichen (Jakob 2009). Daher wird angenommen, dass die

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Reclaim the Streets-Bewegung zusammen mit der Writer-Kultur einen Einfluss auf die Strategien der Raumaneignung von Street Art-Aktivisten ausübt. Graffiti

Die Bezeichnung Graffiti leitet sich vom italieni-schen Verb »sgraffiare« für einkratzen oder einritzen ab (Siegl 2009). Norbert Siegl definiert Graffiti wie folgt:

»Graffiti (Einzahl Graffito) ist ein Oberbegriff für viele thematisch und gestalterisch unterschiedliche Erscheinungsformen. Die Gemeinsamkeit besteht da-rin, dass es sich um visuell wahrnehmbare Elemente handelt, welche ‚ungefragt’ und meist anonym, von Einzelpersonen oder Gruppen, auf fremden oder in öffentlicher Verwaltung befindlichen Flächen ange-bracht werden.« (Siegl 2009: o. S.)

Dies schließt aber ausdrücklich auch Werke ein, die der Street Art zuzuordnen sind, weshalb sich die De-finition von Graffiti hier auf Signaturen in Form von Buchstaben und Zahlen beschränkt. Graffiti wird also verstanden als die anonyme, zumeist unautorisierte Anbringung von Signaturen im städtischen Raum mit Hilfe von Stiften oder Sprühdosen. Dabei ist zu be-achten, dass der Terminus Graffiti eine Zuschreibung von außen ist. Angehörige der Graffiti-Kultur be-zeichnen sich überwiegend als Writer.

Graffiti stellt sich als eine Subkultur dar, deren Mitglieder eine Vielzahl verschiedener kultureller Hintergründe besitzen: »Graffiti has always been and continues to be a racially, ethnically and economical-ly diverse culture« (Snyder 2009: 29). Die Angehöri-gen beziehen sich nicht über eine gemeinsame Her-kunft aufeinander, die Writer-Kultur ist vielmehr geprägt durch einen immanenten Leistungsgedanken. Graffiti-Writer erwerben Respekt und Anerkennung innerhalb der eigenen Kultur allein anhand ihrer Fä-higkeiten, den skills, und über die Verbreitung ihres Namens: »Writing is a meritocracy, it´s about skills« (ebd.). Der Fokus liegt auf der konkreten Praxis des Writing:

»the culture that writers share is not bound together by appearance, language, birthplace or class. […] what binds them together is the history of graffiti and the process of doing it« (Snyder 2009: 2).

Innerhalb der Writer-Kultur herrscht eine hohe Kon-kurrenz, die zu Auseinandersetzungen (»beef«) zwi-schen Writern oder ihren Crews führen kann. Grund ist das Streben nach Respekt und die Abgrenzung gegenüber anderen Writern: »writers must literally fight for their reputations« (Snyder 2009: 4). Dieser Konkurrenzgedanke erwächst aus dem originären Ziel der Graffiti-Aktivität, dem »getting up«. Dies bezeichnet das Bestreben eines Writers, durch seine Werke innerhalb der eigenen Kultur Bekanntschaft und Anerkennung zu erlangen, also »Fame« zu erhal-ten. Das Streben nach Fame ist ein definitorisches Merkmal des Graffiti. Deshalb definiert auch Snyder Graffiti als »application of an alias for the purpose of fame« (Snyder 2009: 33).

Um Fame zu erlangen, bieten sich dem Writer im Wesentlichen zwei Möglichkeiten. Zum einen richtet sich der einem Writer zugeschriebene Fame nach der quantitativen Häufigkeit seiner Werke und ihrer Verteilung im Stadtgebiet, wobei die Zugäng-lichkeit des gewählten Ortes eine wichtige Rolle spielt. Je schwerer zu erreichen und je auffälliger die bearbeitete Stelle ist, desto mehr Anerkennung wird der Writer für die dort angebrachte Arbeit erhalten:

»Der Writer bekommt besonders viel Ruhm und An-sehen in seiner Peergroup, wenn er Orte besprüht, die sehr schwer erreichbar sind und vor allem von vielen Menschen gesehen werden« (Reinecke 2007: 169).

Der höchste Respekt wird einem Writer entgegenge-bracht, wenn er »all city« ist, »a term used to de-scribe writers who have saturated the city with their name« (Snyder 2009: 5).

Gleichzeitig sind die technischen Fertigkeiten ein Mittel der Profilierung. So wird innerhalb der Writer-Kultur zwischen »Toys« und »Meistern« un-terschieden, wobei Toys »novice writers with bad style and poor technique« (ebd.) sind, die deshalb von anderen Writern wenig Respekt erhalten. Dies liegt in den hohen technischen Anforderungen be-gründet, die für ein gelungenes Werk, einen burner, erfüllt sein müssen: „Aerosol paint is difficult to mas-ter and requires an enormous amount of practice to achieve the necessary technical sophistication to paint smooth, clean lines« (Snyder 2009: 34). Rein-ecke fasst die beiden Möglichkeiten eines Writers, Fame zu bekommen, wie folgt zusammen:

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»Ein Akteur kann durch das Malen künstlerisch wertvoller Pieces und durch Quantität, indem er viele Tags und Throw-Ups verbreitet, bekannt werden« (Reinecke 2007: 169).

Die Raumaneignung von Graffiti-Writern

Auf die Raumaneignungsmuster von Graffiti-Writern lässt dies folgende Rückschlüsse zu: Da das Ziel der Graffiti-Aktivität die möglichst hohe Verbreitung des eigenen Synonyms ist, orientieren sich die Writer im Raum überwiegend anhand quantitativer Kriterien. D.h. der Raum wird mit der Intention sondiert, zah-lenmäßig möglichst viele Tags, Throw-Ups oder Pieces anzubringen. Deshalb geht die Erschließung des Raumes in einer explorativen Art und Weise vonstatten, es werden also laufend neue Stellen ge-sucht, die bearbeitet werden können: »graffiti writing is […] essentially about urban exploration« (Snyder 2009: 85). Aktive Writer, vor allem solche mit einer langen Tätigkeitsdauer, werden so zu »experts of urban exploration in cities all over the world« (Sny-der 2009: 31). Die Exploration dient zum einen dem Auffinden geeigneter Orte und zum anderen deren Besetzung mit dem eigenen Pseudonym, so dass sich an der quantitativen Häufigkeit seiner Werke der Status eines Writers innerhalb der Graffiti-Kultur ablesen lässt. Die zahlenmäßig hohe Anbringung von Arbeiten im öffentlichen Raum ist somit die zugrun-deliegende Orientierung in der Raumaneignung von Graffiti-Writern.

Ob eine Stelle für die Bearbeitung geeignet ist, wird vor allem nach ihrer Sichtbarkeit für andere Writer beurteilt. Das platzierte Werk muss möglichst auffällig sein, um von anderen Writern gesehen zu werden:

»graffiti writers […] write in places where their work is more likely to be seen by their intended de-mographics […] they tend to write where there are higher concentrations of people« (Snyder 2009: 49f).

Street Art-Aktivisten, deren räumliche Orientierung der Logik des Graffiti folgt, werden sich den Raum folglich vor allem mit dem Fokus auf die Quantität ihrer Arbeiten aneignen. Dementsprechend werden sie den städtischen Raum mit dem Ziel sondieren, eine möglichst hohe Zahl von Werken anzubringen. Kriterien für die räumliche Positionierung der Arbei-

ten sind für die diesem Typus entsprechenden Street Art-Aktivisten also schnelle Anfertigungsmöglichkei-ten und eine hohe Sichtbarkeit des platzierten Werks. Reclaim the Streets

»Reclaim the Streets« ist die Bezeichnung für eine international auftretende Bewegung verschiedener Protest- und Aktionsformen im städtischen Raum, die von einem Bündnis verschiedener Subkulturen wie beispielsweise der Techno-Szene, Hausbesetzern und ökologischen Aktivisten organisiert wird (Klein 2001: 321f). Übergeordnetes Ziel der Protestaktionen ist die Rückeroberung des städtischen Raumes, um Möglichkeiten zu dessen autonomer Verwendung zu schaffen: »Mit der Zeit kristallisierte sich bei diesen kämpfenden Gegenkulturen ein gemeinsames Thema heraus: das Recht auf nicht kolonialisierten Raum« (Klein 2001: 322). Reclaim the Streets wird daher als »Bewegung zur Rückeroberung der Strasse« (ebd.) beschrieben. Dies schließt eine Kritik an der Kom-merzialisierung und Privatisierung des öffentlichen Raumes ein. Erreicht werden soll dieses Ziel durch spontane, dezentral organisierte Versammlungen und die Besetzung von innerstädtischen Straßen, Kreu-zungen und Plätzen als Mittel für »eine temporäre Durchbrechung der üblichen Nutzung von öffentli-chem Raum« (Brünzels o. J.: o. S.). Diese Versamm-lungen entwickeln sich meist zu einer »Straßenparty« (ebd.). Die Aktivisten begnügen sich allerdings nicht mit der Ausrichtung von Events und Happenings, sondern Reclaim the Streets ist

»optimalerweise eine Gratwanderung zwischen dem Bedürfnis nach Randale und dem Versuch, dieses Bedürfnis für konstruktivere Formen des Protestes zu nutzen« (Klein 2001: 329).

Inhaltlich fußt die Reclaim the Streets-Bewegung auf dem Grundgedanken des sogenannten »Right to the City«, dessen Kernpunkte im Folgenden vorgestellt werden sollen. Der Begriff des Right to the City5 geht auf den französischen Philosophen Henri Lefebvre zurück und wurde von der kritischen Stadtforschung weiter ausgearbeitet (Gebhardt/Holm 2011: 9-13). Das Recht auf Stadt ist ein »Sammelbegriff für alle Arten von politischen und sozialen Forderungen, die

5 Im Folgenden wird dasselbe Phänomen auch als Recht auf Stadt bezeichnet.

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generell Probleme ansprechen, die heute in städti-schen Gebieten auftreten« (Schmid 2011: 24). Grundsätzlich geht es im Zusammenhang mit dem Recht auf Stadt um die Forderung nach Aneignungs-möglichkeiten öffentlicher Räume. Diese sollen als Freiräume angeeignet werden, d. h. als »Orte […], in denen Menschen nach ihren eigenen Vorstellungen und Wünschen ihr Leben gestalten können« (Füll-ner/Templin 2011: 84). Leontidou versteht das Recht auf Stadt daher auch als »right to occupy and use public spaces, to gather and protest in city centres« (Leontidou 2010: 1188). Vertreter des Rechts auf Stadt

»wenden sich im weitesten Sinne gegen soziale Aus-grenzung und Ausschluss, sie beinhalten eine Thema-tisierung […] von Aneignung und Domination« (Schmid 2011: 29).

Dies umfasst Forderungen nach gleichberechtigter Partizipation am städtischen Leben und an Diskursen der Stadtentwicklung und Stadtpolitik. Right to the City ist daher auch ein »Recht auf Nicht-Ausschluss von den Qualitäten der urbanisierten Gesellschaft« (Gebhardt/Holm 2011: 7). Kritisiert wird die Exklu-sion bestimmter sozialer Gruppen aus dem Stadtge-biet, die als Resultat der »Kommodifizierung des städtischen Raumes« (Gebhardt/Holm 2011: 9) und aus marxistischer Sicht in der »Unterordnung des Gebrauchswertes der Stadt unter ihren Tauschwert« (ebd.) gesehen werden. Kritisiert werden die Kom-merzialisierung und Privatisierung des öffentlichen Raums, sowie Prozesse der Gentrifizierung und der sozialen Segregation.

Diesen Prozessen soll entgegengewirkt werden, um eine Demokratisierung des öffentlichen Raumes zu ermöglichen. Ziel des Right to the City ist eine Umgestaltung der Stadtpolitik zu einer »urbanen Demokratie« (Gebhardt/Holm 2011: 15). Dies bein-haltet Partizipations- und Mitgestaltungsmöglichkei-ten sowie den freien Zugang zu städtischen Ressour-cen (Gebhardt/Holm 2011: 16-19). Die Raumaneignung der Reclaim the Streets-Bewegung

Wie bereits erwähnt, ist das Recht auf Stadt der Leit-spruch verschiedener sozialer Bewegungen. Diese versuchen damit ihre »imaginations of urbanism and

urban living« (Leontidou 2010: 1180) zum Ausdruck zu bringen und durchzusetzen. Wie Graffiti und Street Art ist auch das Recht auf Stadt durch einen direkten Raumbezug bestimmt: »the movements had a strong connection with place, originating in specific urban neighbourhoods« (Leontidou 2010: 1194). Der »Right to the City«-Ansatz bedingt also eine spezifi-sche Auseinandersetzung mit den räumlichen sozia-len Verhältnissen und damit eine eigene Form der Raumaneignung.

Die Reclaim the Streets-Bewegung, wie sie hier charakterisiert wurde, strebt danach, den öffentlichen Raum im Sinne einer Demokratisierung für alle Stadtbewohner zu öffnen. Dies soll Teilhabe- und Mitgestaltungsmöglichkeiten auch für marginalisierte Gruppen eröffnen.

Für die Aktivisten stellt der öffentliche Raum dementsprechend eine Plattform für die Verbreitung ihrer stadtpolitischen Ziele und Ansichten dar. Daher ist anzunehmen, dass Street Art-Aktivisten, deren Raumaneignungsmuster von der Reclaim the Streets-Bewegung geprägt ist, den Fokus ihrer Tätigkeit auf die Vermittlung sozialkritischer Inhalte legen. Des-halb erschließen sich diese den Raum vor allem im Hinblick darauf, mithilfe der platzierten Werke ihre Botschaften zu verbreiten. Dafür sind sie auf ein möglichst großes Publikum angewiesen, weshalb das primäre Kriterium für die Wahl eines Ortes dessen Sichtbarkeit sein muss. Im Unterschied zum Graffiti bezieht sich das hier charakterisierte Raumaneig-nungsmuster dabei jedoch nicht auf eine geschlosse-ne eigene Kultur. Stattdessen sollen möglichst viele Stadtbewohner angesprochen werden, um sich mit den präsentierten Themen und Inhalten auseinander-setzen zu können. Vorgehensweise

Die folgende Darstellung und Interpretation basiert auf einem leitfadengestützten narrativen Interview mit dem aktiven Street Art-Aktivisten DUNE6. Das Interview entstand im Rahmen einer Studie über die räumliche Verteilung von Schablonengraffitis in ei-nem Stadtteil von Leipzig. Diese Studie bestand aus jährlichen Erhebungen der Häufigkeit und der Vertei- 6 Die Pseudonyme sind frei erfunden. Es besteht kein Zu-sammenhang mit existierenden gleichnamigen Street Art-Aktivisten oder Graffiti-Writern.

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lung der Schablonengraffitis in dem betreffenden Stadtteil. Die Erhebungen wurden über einen Zeit-raum von fünf Jahren durchgeführt (Philipps/Richter 2013).

Für den vorliegenden Bericht wurde DUNE aus-gewählt, da er keinen eigenen Graffiti-Hintergrund hat und seine »Karriere« in der Straße mit dem Be-sprühen von Aufklebern begann. In dem Interview erzählt DUNE ausführlich über seinen persönlichen Zugang zur Street Art und seine Street Art-Tätigkeit. Für die Interpretation wurden solche Textpassagen einer Feinanalyse unterzogen, die die Motivation und die räumliche Aneignung durch Street Art zum The-ma hatten.

Die Auswertung folgt der Unterscheidung zwi-schen dem expliziten, immanenten Sinngehalt und dem Dokumentsinn (Mannheim 1964). Der imma-nente Sinngehalt umfasst die Motive des Erzählers und allgemeine Aussagen und Handlungen. Im Do-kumentsinn dagegen zeigt sich, »wie der Text und die in ihm berichtete Handlung konstruiert ist, in wel-chem Rahmen das Thema […] abgehandelt wird« (Nohl 2009: 8; Bohnsack 2001a, 2001b).

In der Analyse wird der intentionale Ausdrucks-sinn der Interviewten anhand von (alltags)-theoretisch fundierten und reflektierten Äußerungen herausgearbeitet. Die Analyse dieser Selbstdarstel-lungen soll Hinweise darauf geben, mit welchen In-tentionen die Interviewpartner ihre Street Art-Tätigkeit besetzen. Den Dokumentsinn erschließt die Untersuchung über die konjunktiven Wissensbestän-den der Aktivisten.7 DUNE

Der Street Art-Aktivist DUNE studiert zum Zeit-punkt des Interviews an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. DUNE hat keinen biogra-fischen Graffiti-Hintergrund, sondern begann seine Street Art-Aktivität mit Aufklebern, die er mit Hilfe von Schablonen besprühte. Seine Tätigkeit begann unter der Anleitung des Street Art-Aktivisten BRICK, mit dem DUNE verschiedene Projekte durchführte. Heute arbeitet der Interviewte meist mit 7 Eine ausführliche Diskussion der Vorgehensweise und der verwendeten Methode ist in meiner B.A. Arbeit „An-eignungspraktiken des öffentlichen Raumes. Am Beispiel Street Art“ nachzulesen.

Plakaten, die oft bestimmte Veranstaltungen zum Anlass haben.

DUNEs Argumentation

»Ja, das ist nun dieser, dieser, das Denken, dass, ich weiß nicht, wer das geprägt hat, vielleicht (BLEK LE RAT) oder viele, die eben ihre (Kunst) oder Leiden-schaft so für alle jetzt (zeigbar) machen wollen. So für die Öffentlichkeit. Und also auf der einen Seite will ich auf jeden Fall das Stadtbild so ein bisschen verschönern und ein bisschen das, dieses Herumirren zwischen den Werbeschildern ein bisschen aufspren-gen, so dass man was zum Nachdenken hat oder et-was zum Amüsieren oder einfach nur was Schönes für das Auge, womit man gar nichts anfangen kann. Und, genau, das ist eigentlich so das Wichtigste, was ich angesprochen habe, dass diese Kritik an der gan-zen, an die Werbeflächen, die überall entstehen, weil große Konzerne eben Geld haben und dafür dann be-zahlen, dass sie ihre Werbung platzieren können. Und da bin ich dagegen und will auch nichts bezahlen, um meine Bilder zu zeigen. Und vielleicht werde ich in Zukunft auch Adbusting machen oder so. Mal gu-cken. Vielleicht bei der nächsten Wahl werde ich Angela Merkel irgendwas in den Mund legen. Mal gucken. Das würde ich auf jeden Fall gerne nochmal machen.« (Dune)

Der Interviewer fragt vorab nach einer Begründung für DUNEs Arbeit im öffentlichen Raum und leitet damit eine Argumentation ein. Der Interviewte stellt daraufhin seine Intentionen dar, die er mit seiner Street Art-Tätigkeit verbindet. Unter Berufung auf andere Street Art-Aktivisten, wobei hier namentlich Blek le Rat genannt wird, gibt DUNE an, er wolle mit seinen Arbeiten die Öffentlichkeit als Publikum erreichen. Die Nennung von Blek le Rat zeigt, dass er sich mit dessen Werken auseinandergesetzt hat und seiner Tätigkeit eine bestimmte Intention zuschreibt, die er offenbar auf sein eigenes Werk überträgt. Dies ist zum einen das Streben nach einem möglichst gro-ßen Adressatenkreis (»für alle«). DUNE möchte mit seinen Arbeiten also im Sinne einer Demokratisie-rung möglichst allen Stadtbewohnern zugänglich sein.

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Der Bezug auf das Publikum deutet gleichzeitig eine Fokussierung auf zu vermittelnde Inhalte oder Botschaften an. Deren Gegenstand verdeutlicht sich im Folgenden: DUNE verfolgt das Ziel einer Ästheti-sierung des öffentlichen Raumes (»das Stadtbild ver-schönern«), was vor allem durch eine subversive Auseinandersetzung mit Werbebotschaften im Stadt-gebiet erreicht werden soll. Seine Werke bieten ihm somit also eine Möglichkeit zur Kritik an der vor-herrschenden Konsumkultur und an der Kommerzia-lisierung des städtischen Raumes, wofür er die omni-präsente Werbung als Indikator ansieht.

Gleichzeitig will DUNE sein Publikum zur Re-flexion anregen (»was zum Nachdenken«), was mit der Ästhetisierung einhergehen soll (»was Schönes für das Auge«). Wichtig scheint für DUNE dabei die Darstellung eines Gegensatzes zum bestehenden Stadtbild zu sein. Er möchte den Betrachter mit einer ungewohnten Perspektive oder mit nicht-alltäglichen Motiven konfrontieren (»womit man gar nichts an-fangen kann«). Folglich geht es ihm auch darum, die Alltagspraxis der Stadtbewohner zu verändern bzw. zu durchbrechen, um so einen Moment der Aufmerk-samkeit für die von ihm dargestellten Inhalte herzu-stellen.

Im Folgenden wird das Motiv der Konsum- und Werbekritik wieder aufgegriffen, diesmal aber in einem größeren wirtschaftspolitischen Zusammen-hang: DUNE sieht »große Konzerne« als Ursache für die Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes, da sie in der Lage sind, den Raum in Form von Werbe-flächen zu kaufen.

Damit lässt sich in DUNEs intentionalen Äuße-rungen ein Bezug zu den Motiven und Forderungen der Reclaim the Streets-Bewegung (Gebhardt/Holm 2011) herstellen. Argumentativ zeigt sich ein enger Bezug zum potentiellen Publikum der Arbeiten. Die-sem sollen über die Street Art-Werke bestimmte Bot-schaften vermittelt werden, die sich kritisch mit der vorherrschenden Konsumkultur und der Kommerzia-lisierung des öffentlichen Raumes auseinandersetzen. Ein weiteres Ziel ist die temporäre Durchkreuzung der Alltagspraxis des Publikums, das zur Reflexion über die räumlichen Verhältnisse der Stadt angeregt werden soll. Die dargestellten Inhalte sollen dafür die nötige Aufmerksamkeit herstellen. So dienen die Arbeiten DUNE zur Darstellung seiner Kritik und zur

Sensibilisierung des Publikums für die bearbeiteten Themen. Diese Sensibilisierung soll den Stadtbe-wohnern einen autonom gestalteten Zugang zum städtischen Raum, abseits der kommerzialisierten Werbeflächen, ermöglichen. Letztlich zeigt sich hier also die grundlegende Intention der Reclaim the Streets-Bewegung, nämlich die selbstbestimmte Rückeroberung des öffentlichen Raumes durch die Bewohner der Städte.

Im Folgenden interpretiere ich eine Inter-viewpassage, in denen DUNE von seinen Street Art-Tätigkeiten spricht. Im Mittelpunkt stehen daher Er-zählungen und Berichte. Interviewpassage 1

»Y: Also im Grunde genommen haben wir, wie ge-sagt, wie ich es beschrieben habe, uns diesem zuge-wendet, diesem Gebiet, und waren unterwegs und wollen eigentlich sozusagen von den Leuten dann wiederum lernen, die dort aktiv unterwegs sind. Wie man sich da überhaupt in dem Gebiet bewegt, wie es dazu gekommen ist. Aber vielleicht erstmal so vor-weg die grundlegende Frage, welche Stellung hat ei-gentlich Schablonengraffiti oder überhaupt diese Technik, das Schablonenarbeiten, für dich? Und auch, oder deine Vergangenheit, mit deinem Arbeiten im öffentlichen Raum? DUNE: Also ich habe nicht mit Schablonengraffiti angefangen. Ich habe (eher) mit Stickern angefangen. Aber um die Sticker zu machen, habe ich Schablonen benutzt. Das waren fünf Schablonen und fünf Farben dann zum Sprühen. Das erste Motiv war Bob Marley. (Lacht) Bob Marley, in fünf verschiedenen Abstu-fungen. Also schwarz-weiß und irgendwie blau, hell-blau und dann noch ein bisschen violett. Das war echt interessant das zu machen. Und ich mache eher Pla-kate, ich klebe. Ich bin halt so ein Typ, der mit der Quaste und dem Kleistereimer rumläuft und dann sich gute Stellen aussucht. Meistens an kaputten Häu-sern in A-Viertel oder halt auch in dem B-Viertel gerne um die (C-Strasse) rum. Und dann klebe ich halt meine selbstgemalten Poster an die Wand. Und äh ich hatte aber auch politisch eine Schablone ge-macht. Und zwar war das ein Hitler, der sich eine Knarre in den Mund hält und abdrückt, mit dem Spruch ‚Follow your Leader’. Und das Motiv gab es aber schon. Also das habe ich auf einer Demo mitge-

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nommen. Das war so ein kleiner Sticker. Und aus dem Sticker habe ich halt dann die Schablone ge-macht. So oft mit einem Kopierer hoch kopiert, den habe ich sehr oft benutzt um Plakate zu machen. Ich habe meine Motive hoch geblasen. Und habe das auch von meinem, von einem Kumpel, der heißt BRICK.«

Formulierende Interpretation

Den Stimulus bildet in dieser Passage die Einstiegs-frage des Interviewers, in der zunächst das For-schungsinteresse grob umrissen und anschließend nach dem persönlichen Stellenwert der Schablonen-technik gefragt wird. Gleichzeitig wird durch den Bezug zur Vergangenheit ein Zeitpunkt angeboten, auf den DUNE mit der Schilderung der von ihm be-nutzten Techniken und Medien reagiert. Das Ober-thema der Textpassage ist damit der zeitliche Verlauf der verwendeten Techniken. Die Verlaufsform drückt sich hier in Zeitwechseln zwischen Vergangenheit und Präsens aus.

DUNE arbeitete zu Beginn seiner Street Art-Aktivität mit Schablonen. Zur Darstellung schildert er seine erste eigene Arbeit, eine Schablone mit ei-nem Bob Marley-Motiv. In einem neuen Unterthema geht DUNE anschließend auf seine heutige Vorge-hensweise ein, die er anhand seiner Bewegung im Raum und seiner Wahl geeigneter Orte darstellt. Das nächste Unterthema ist eine politische Schablone, deren Motiv und Herstellung geschildert wird. Die Schilderung des technischen Herstellungsprozesses bildet hier ein Unterunterthema. Der Abschnitt endet mit einem Bezug auf den Street Art-Aktivisten BRICK. Reflektierende Interpretation

Die vorliegende Äußerung stellt die Antwort des Interviewten auf die Einstiegsfrage dar. Hier wird der Stimulus der Vergangenheitsform in Form einer Er-zählung aufgegriffen, die einem Zeitverlauf folgt. Außerdem findet sich hier eine eingeschobene Be-schreibung. Nicht aufgegriffen wird der Stimulus des persönlichen Stellenwerts, stattdessen schildert DUNE die von ihm verwendeten Techniken (Quaste, Leim, Kopierer) und Medien (Sticker, Schablone, Plakat). Dies wird selbstständig eingeführt, was mög-

licherweise einen Hinweis auf den Orientierungsrah-men des Interviewten liefert.

Auf die Frage nach der persönlichen Vergan-genheit reagiert DUNE mit einer Darstellung der verwendeten Techniken. Zu Beginn seiner Aktivität arbeitete er mit Schablonen, mit denen er Aufkleber besprühte. Hier ist DUNE noch die genaue Farbge-bung in Erinnerung. Diese wird als abhängig von der Anzahl der verwendeten Schablonen geschildert: »Das waren fünf Schablonen und fünf Farben dann zum Sprühen«. Dies legt einen Vorrang technischer Aspekte gegenüber kompositorischen oder ästheti-schen Faktoren innerhalb der Orientierung des Inter-viewten nahe. Die Schilderung des Motivs erfolgt erst, nachdem die technische Vorgehensweise erläu-tert wurde. Hierbei handelte es sich um ein Konterfei von Bob Marley. Dieses Motiv wird allerdings auch fokussiert auf den technischen Anspruch dargestellt (»fünf verschiedene Abstufungen«). Zum Inhalt oder zur intendierten Botschaft des Stencils macht DUNE keine Angaben. Er scheint also vor allem den techni-schen Erfordernissen, die ein ausdifferenziertes Mo-tiv zulassen, eine Relevanz beizumessen.

Darauf folgend stellt DUNE seine aktuelle Vor-gehensweise dar. Die Schilderung vollzieht sich im Modus der Beschreibung und enthält einen Zeitwech-sel zum Präsens. Dies ist ein Hinweis darauf, dass die Verwendung der Schablonentechnik eine abgeschlos-sene Phase innerhalb der Street Art-Tätigkeit des Interviewten darstellt. Hier wird zum ersten Mal ein Raumbezug hergestellt. Es zeigt sich, dass DUNE seine technischen Hilfsmittel (Quaste und Kleister) bei der Suche nach geeigneten Orten bereits zur Ver-fügung hat und auch die Plakate bereits vorgefertigt sind. Somit geht die Produktion und Gestaltung der Arbeiten der Ortswahl voraus, die räumliche Position fliesst also nicht in die Gestaltung der Werke ein. Vielmehr wird der Raum danach sondiert, »gute Stel-len« zu finden, die mit der Plakattechnik bearbeitet werden können. Was eine »gute« Stelle auszeichnet, wird hier zwar nicht geklärt, DUNE grenzt das Aus-wahlgebiet aber auf »kaputte Häuser« und auf das Stadtviertel A ein. Eine Begründung für diese Ein-grenzung wird nicht gegeben. Es lässt sich aber fest-halten, dass technische Aspekte hier den primären Relevanzfaktor darstellen. Offenbar rückt der Raum

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demgegenüber hinsichtlich der praktischen Orientie-rung in den Hintergrund.

Nun erfolgt ein weiterer Zeitwechsel. DUNE schildert im Modus der Erzählung die Herstellung einer politischen Schablone. Das verwendete Motiv wurde von einer Demonstration übernommen, ist also nicht vom Interviewten entwickelt worden. Daher deutet sich hier eine geringe Relevanz der Anferti-gung eigener Motive an. Stattdessen folgt wieder eine Schilderung der technischen Vorgehensweise, wobei es hier um die Vergrößerung des Motivs geht. DUNE übernimmt also bestimmte Motive von Dritten und legt den Fokus auf deren technische Bearbeitung und Anpassung an das verwendete Medium. Diese Äuße-rung stimmt mit der Schilderung des ersten Motivs (Bob Marley) überein. Auch dabei handelte es sich um ein weit verbreitetes, populärkulturelles Symbol, das von DUNE einer technischen Bearbeitung unter-zogen wurde. Diese Relevanzsetzung in der Street Art-Tätigkeit des Interviewten legt nahe, dass (zu-mindest anfänglich) weniger die Darstellung von selbstgestalteten Motiven und eigens erdachten Inhal-ten eine Rolle spielte, sondern vielmehr die Ausei-nandersetzung mit den verschiedenen Techniken, die im Verlauf der Street Art-Aktivität angeeignet wur-den. Der zeitliche Verlauf der Aktivität wird in die-sem Abschnitt dementsprechend vor allem unter dem Gesichtspunkt der technischen Entwicklung geschil-dert. Da beide Beispiele in die Anfänge der Arbeit mit Street Art-Medien fielen, könnte dies ebenfalls ein Hinweis darauf sein, dass die Relevanz der Tech-nik vor allem zu Beginn eine Rolle spielte. Offenbar hat sich DUNE während seines Einstiegs in die Street Art auf die Aneignung der verschiedenen Techniken konzentriert, wohingegen inhaltliche Aspekte und die räumliche Platzierung nur sekundäre Relevanz ein-nahmen. Interviewpassage 2

»Y: Ja, ich (?würde gerade?) von dem, was du schon sagtest ( ) nochmal zurückgehen, du sagst, die An-fänge, der Zeitraum war 2003, waren das auch für dich die Anfänge? Sind das deine Anfänge gewesen? DUNE: Ja. Y: Kannst du da nochmal erzählen, was das, was war da passiert? Wie bist du dazu gekommen, dass das für dich der Ausgangspunkt wurde?

DUNE: Das war ganz stark halt über ihn gekommen, über seine, und die Freundschaft mit ihm. Also es war so, [Y: Also ihr kanntet euch] ja, wir hatten uns vorher mal gesehen in der Schule, so ein berufliches Gymnasium, da hatte er irgendwie Fach-Abi gemacht und ich wollte halt Abitur machen. Und wir haben halt immer draußen getroffen, Hackisack gespielt und so, haben uns gut verstanden. Und dann habe ich ihn irgendwann am D-Platz getroffen, er hatte gerade ein Sticker ( ), der war zwei- oder dreifarbig. Und ich sagte: ‚Geil. Was machst du denn damit? Zeig mal.’ Und dann haben wir uns irgendwie dann immer öfter getroffen und dann hat er mir das gezeigt, wie man diese Poststicker zusammenklebt, malt und wie man dann da Schablonen entwickelt und die dann drauf bringt und so. Sind wir dann irgendwann losgezogen. Er hatte drei Plakate dabei oder, glaube ich, noch mehr. Und sind dann zu einem E-Haus gefahren. Und der hatte sich halt schon vorher dieses ( ) Haus ausge-sucht. Also es hatte genau gepasst, so diese drei Sa-chen, hatte er da hingeklebt. Und ich hatte meinen bescheidenen Sticker, ja. Habe die Schutzfolie abge-macht und drangeklebt. Noch ein bisschen geguckt. ‚Ja, geil.’ Foto gemacht, Zack, und dann weg. Und so ist das dann, so hat sich das dann irgendwie ver-selbstständigt. Wir haben uns dann immer, wenn wir Zeit hatten, abends, am Wochenende, meistens ge-troffen und haben drüber geredet und haben einfach Sticker gemacht und Plakate. Und hatten aber, das erste Projekt war die F, da haben wir auch zusam-mengearbeitet. Da hatte er mich gefragt, ob ich für ihn die Texte schreiben kann, für diese Geschichte. Das hieß XYZ. Das war seine, so hieß eben, das war der Titel von seiner Ausstellung, von seiner kleinen Ausstellung dahinten im F, wenn du reinkommst, rechts, irgendwie hinten, so ( ). Und dann habe ich gesagt ja, na klar. Und haben zusammen die Texte verfasst und haben dann, er hat dann das alles ausge-druckt und hochkopiert. Und wir waren zusammen Copyshop und da hat er es mir gezeigt, wie das geht. Diese Technik lernen von A5 auf A3 hoch kopieren, dann in vier Teile teilen, so dass du wieder vier A5-Teile hast. Wieder hoch auf A3 und wieder teilen. Wieder hoch kopieren ( ) 64 Teile zusammenpuzzeln musst und die ausschneidest und dann zusammen-klebst und dann noch einmal. Und das ging aber echt ( ) und da hatten wir diese Ausstellung und haben

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dann nach der Ausstellung die Plakate halt in der Stadt noch verklebt. Und haben krasse Geschichten erlebt, wo wir, das war, das ist das G-Viertel, da wo die ( ) sind, ( ). Und da hatten wir an diesen alten, dieses alte Brachgelände, wo dieser große Schorn-stein war, [ja,ja] ( ) glaube ich, ( ) das gehörte, glaube ich, irgendeinem (jüdischen Immobilienmakler) oder irgendwie so was, das war irgendwie ein (jüdischer) Betrieb oder so. Und da hatten wir halt drei Plakate drangeklebt von dieser Ausstellung. Und da kam tat-sächlich, es war Sonntag, wir gehen halt eigentlich immer sonntags, da kam halt ein Typ und der hat sich beschwert ( ): ‚Das muss ich mir jetzt jeden Tag an-gucken. Ich rufe jetzt die Polizei.’ Und wir: ‚Mach doch.’ Und haben uns ausgerechnet, dass wir noch 10 Minuten oder 15 Minuten haben. Haben schnell noch den Rest drangeklebt und sind dann (Lacht) abgehau-en. Zum nächsten Spot.«

Formulierende Interpretation

Der Interviewer fragt hier nach den Anfängen der Street Art-Aktivität des Interviewten. Oberthema dieser Passage ist dessen Zusammenarbeit mit dem Street Art-Aktivisten BRICK. Zunächst werden die biografischen Hintergründe der Bekanntschaft darge-stellt. Daran schließt sich eine Schilderung des Be-ginns der Zusammenarbeit als Unterthema an. DUNE hat sowohl die technischen Arbeitsschritte von BRICK erlernt, als auch seine erste gemeinsame Ak-tion mit ihm durchgeführt. In der Folge arbeiteten die beiden regelmäßig zusammen.

Als nächstes Unterthema wird ein gemeinsames Projekt mit dem Titel XYZ dargestellt. Auch hier werden die technischen Produktionsschritte geschil-dert. Dies geschah ebenfalls unter Anleitung von BRICK. Die für dieses Projekt angefertigten Werke platziert DUNE erst im Anschluss im öffentlichen Raum. Dafür wird beispielhaft eine Aktion geschil-dert. Ein Unterthema dieser Schilderung ist die Reak-tion eines Anwohners auf die Aktion. Reflektierende Interpretation

Der Interviewer stellt eine erzählgenerierende Frage, deren Stimulus mit der Schilderung der eigenen Street Art-Anfänge aufgegriffen wird. Die Frage des Interviewers bezieht sich auf die im ersten Abschnitt

angesprochene Bekanntschaft mit dem Street Art-Aktivisten BRICK. Die Bekanntschaft war die Vo-raussetzung dafür, dass DUNE mit dessen Arbeiten in Kontakt kam. Die Schilderung ist aber auch ein Hinweis auf die Bemühung seitens BRICK, seine Street Art-Aktivität vor Anderen zu verbergen. So erfuhr DUNE nur durch Zufall von der Tätigkeit BRICKs. Diese Zurückhaltung könnte ein Hinweis auf eine für Street Art-Aktivisten typische Orientie-rung sein.

Wie im ersten Abschnitt, indem DUNE seine erste selbsterstellte Arbeit darstellt, wird auch hier die Schilderung der Sticker-Produktion auf die Ver-wendung mehrerer Farben fokussiert. Es scheint sich also hier um eine Anschlussäußerung zu handeln, deren vorrangiger Relevanzfaktor die technische Gestaltung des Aufklebers ist.

Wie sich bereits andeutete, hat DUNE den Pro-zess der technischen Herstellung der Street Art-Arbeiten von BRICK gelernt und übernommen. Hier werden die einzelnen Arbeitsschritte geschildert, d. h. die Aufarbeitung der Aufkleber und die Übertragung auf Schablonen. Erst danach folgte die erste Aktion im Sinne des Anbringens der Werke im öffentlichen Raum. Der gewählte Ort, ein »E-Haus«, wurde unter Anleitung von BRICK gezielt ausgewählt. Wieder zeigt sich, dass die Werke bereits vorher angefertigt waren. Die konkrete Anbringung ging sehr schnell vonstatten (»Zack, und weg«) und steht bei der Schilderung nicht im Vordergrund. Die Platzierung der Werke im Raum scheint für DUNE eher einen Vollzug der eigentlichen Tätigkeit zu sein, nämlich der technischen Produktion.

Die Zusammenarbeit mit BRICK hat sich »ver-selbstständigt«, wurde also zu einem regelmäßigen, routinehaften Ritual. Hier ist allerdings vor allem der Herstellungsprozess gemeint. Daraus lässt sich schliessen, dass die gemeinsame Aktivität mit BRICK vor allem in Bezug auf die Auseinanderset-zung mit der erlernten Technik und der Produktion wahrgenommen wurde und auch in dieser Form zum Element des sich dokumentierenden Orientierungs-rahmens wurde. Dies ist ein weiterer Hinweis auf die untergeordnete Relevanz des Raumes.

Der Vorrang der Technik dokumentiert sich auch in der Schilderung der gemeinsamen Ausstel-lung von DUNE und BRICK, für die als Ausstel-

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lungsraum ein alternativer Veranstaltungsort genutzt wurde. Zu den dafür produzierten Arbeiten wurden Texte verfasst, auf deren Inhalt nicht eingegangen wird. Diese wurden dann mit technischen Hilfsmit-teln einer Bearbeitung unterzogen (»ausgedruckt und hochkopiert«). Dies stellt eine Anschlussäußerung an die Aneignung der verschiedenen technischen Pro-duktionsschritte dar, welche hier im Modus der Be-schreibung detailliert dargestellt werden. In der Aus-einandersetzung mit den DIN-Formaten dokumentiert sich ein spezialisiertes technisches Wissen, welches sich schon in der Darstellung der benutzten Geräte (Drucker, Kopierer) andeutete.

Die so entstandenen Plakate wurden nach der Ausstellung im städtischen Raum angebracht. Dies entspricht der schon identifizierten Vorgehensweise des Interviewten, Motive aus einem anderen Kontext zu entnehmen und diese dann im Raum zu platzieren. Wurde die Schablone mit dem Konterfei von Adolf Hitler einer politischen Demonstration entnommen, so werden hier Werke, die für eine Ausstellung ange-fertigt wurden, erst anschließend im Stadtgebiet ver-teilt. Man könnte einwenden, dass DUNE Kenntnisse über den Raum und die Eigentumsverhältnisse (»jü-dischen Immobilienmakler«) hat und daher eine spe-zifische Auseinandersetzung mit dem Raum stattfin-det. Gegen eine solche Lesart spricht aber die fehlende Beziehung zwischen Plakat und Raum. We-der wurden die Plakate für diesen Raum produziert, noch greifen sie den spezifischen Kontext (die Aus-stellung hatte ein gänzlich anderes Thema) auf.

DUNE gibt an, bei der Anbringung der Ausstel-lungswerke »krasse Geschichten« erlebt zu haben, ordnet der Aktivität im öffentlichen Raum also be-stimmte, vom gewöhnlichen Ablauf abweichende Erlebnisse zu. Die Bewegung und die Platzierung der Werke im Raum besitzt also eine Relevanz innerhalb seiner Erfahrungen. Dies zeigt sich auch in der detail-lierten Darstellung des ausgewählten Geländes. Die räumlichen Gegebenheiten sind ihm während der Anbringung der Werke also durchaus präsent. Es folgt beispielhaft die Schilderung einer Begegnung mit einem Passanten, der sich ablehnend äußerte und die Polizei rief. Die Reaktion, die DUNE hier schil-dert (»mach doch«), verweist auf eine Selbstpräsenta-tion als professionell und abgeklärt. Die Gleichgül-tigkeit, mit der auf die Ankündigung des Passanten

reagiert wird, lässt sich auch als Abgrenzung gegen-über weniger routinierten Aktivisten (im Sinne von Anfängern) verstehen. Gleichzeitig deutet sich hier ein planvolles Vorgehen bei der Anbringung der Werke im Raum an, bei dem auch spontan auf Un-vorhergesehenes reagiert werden kann, ohne dass die weitere Aktivität eingeschränkt werden muss (»zum nächsten spot«). Dies stimmt mit der identifizierten Fokussierung auf die technische Vorarbeit überein, die erstens eine schnelle Anbringung garantiert und zweitens die Handlungsmöglichkeiten vor Ort erhöht. Damit einhergehend ermöglicht die Vorproduktion der Werke eine schnell aufeinanderfolgende Bearbei-tung mehrerer Orte. Dies ist ein Hinweis auf eine dem Graffiti ähnliche Form der Raumaneignung. Offenbar geht es vor allem darum, möglichst viele Werke innerhalb einer kurzen Zeitspanne an ver-schiedenen Orten anzubringen, was dem für die Wri-ter-Kultur typischen Fokus auf die quantitative Ver-teilung entspricht. Das Wort »Spot« ist außerdem dem Graffiti-Jargon entnommen.

Die Aktivität im öffentlichen Raum wird hier auf einen bestimmten Wochentag eingegrenzt (»im-mer sonntags«), was wieder auf eine routinierte Her-angehensweise an die Street Art hinweist, ebenso wie die regelmäßigen Treffen mit BRICK zur Herstellung der Schablonen und Plakate. Die Produktion der Ar-beiten scheint einen deutlich größeren Zeitraum ein-zunehmen als die letztliche Platzierung im Raum. Zusammenfassung

Zusammenfassend zeigt sich bei DUNE ein deutli-cher Unterschied zwischen seinen intentionalen Selbstdarstellungen und seinem konjunktiven Wis-sen. Argumentativ werden Intentionen geäußert, die ideologisch der Reclaim the Streets-Bewegung nahe-stehen. Zum einen strebt DUNE danach, den Stadt-bewohnern einen demokratischen Zugang zu seinen Werken zu bieten. Die Arbeiten sollen das Publikum zur Reflexion über Themen wie die Kommerzialisie-rung und Privatisierung des öffentlichen Raumes anregen. Gleichzeitig äußert sich das Ziel, den städti-schen Raum durch die Street Art mit politischen Bot-schaften zu besetzen, die inhaltlich vor allem Kriti-ken an der städtischen Konsumkultur darstellen. Diese Motive ähneln der Reclaim the Streets-Bewegung, wie sie oben dargestellt wurde.

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Allerdings zeigte die reflektierende Interpretati-on, dass sich diese Intentionen lediglich auf das kommunikative Wissen des Interviewten beschrän-ken, und innerhalb der handlungspraktischen Orien-tierungen keine Relevanz einnehmen. Die atheoreti-schen Wissensbestände, wie sie hier rekonstruiert wurden, scheinen sich vor allem anhand technischer Aspekte zu konstituieren. Im Vordergrund des Orien-tierungsrahmens steht die Auseinandersetzung mit technischen Erfordernissen während des Produkti-onsprozesses der Street Art-Arbeiten. Konkret geht es um einzelne Arbeitsschritte, wie beispielsweise die maschinelle Vergrößerung und die Übertragung der Motive auf das gewählte Format. Die Street Art-Karriere des Interviewten wird dementsprechend als eine Abfolge von Aneignungen verschiedener Tech-niken und Medien geschildert. Erlernt wurden diese von dem Street Art-Aktivisten BRICK.

In den Erzählungen zeigte sich außerdem, dass DUNE seine Motive von Dritten übernimmt und den Fokus auf deren technische Bearbeitung legt. Im weiteren Interview werden jedoch auch eigene Arbei-ten erwähnt. Für die Anfangszeit scheinen daher zu-mindest eigene Motive keine Rolle gespielt zu haben.

Anhand der untersuchten Interviewpassagen las-sen sich keine Aussagen über das der Street Art-Tätigkeit zugrundeliegende Raumaneignungsmuster treffen. Durch den Fokus auf eine möglichst schnelle und quantitativ häufige Platzierung der Werke deute-te sich zwar eine Graffiti-Orientierung an, diese konnte aber nicht, wie es die dokumentarische Me-thode erfordert, durch homologe Äußerungen bestä-tigt werden. Festzuhalten bleibt, dass der Orientie-rungsrahmen von DUNE nicht durch spezifische Aneignungsmuster des Raumes strukturiert erscheint, sondern vor allem durch die Auseinandersetzung mit der technischen Herstellung der Arbeiten. Diskussion und Fazit

Die vorliegende Analyse beruhte auf der These, dass die räumlichen Orientierungen von Street Art-Aktivisten durch Einflüsse der Writer-Kultur und der Reclaim the Streets-Bewegung geprägt sind. In den Selbstbeschreibungen und Rechtfertigungen für das eigene Handeln finden sich Anleihen der Reclaim the Street-Bewegung. Es geht um Partizipation und Kri-tik an der Konsumgesellschaft. Die Rekonstruktion

erlaubte aber keine Rückschlüsse auf Einflüsse des Graffiti oder der Reclaim the Streets-Bewegung auf DUNES praktische Orientierung. Die Vermittlung sozialkritischer Botschaften und das Streben nach einer Rückeroberung des öffentlichen Raumes liessen sich anhand der vorgestellten Interviewpassagen nicht als Bestandteil des praktischen Orientierungs-rahmens rekonstruieren. Argumentativ äußert er hin-gegen eine konsumkritische Ideologie, die nach eige-ner Aussage in den Werken entsprechend dargestellt wird. Dies entspricht den Befunden von Jakob (2009), der die Forderungen der Reclaim the Street-Bewegung als Bestandteil der Street Art darstellt (Jakob 2009: 74). Anhand der Interviews lässt sich zumindest festhalten, dass Street Art-Aktivisten ihre Arbeiten damit rechtfertigen, die städtische Konsum-kultur zu kritisieren und auf Kommerzialisierungs- und Privatisierungsprozesse aufmerksam zu machen. Street Art stellt sich nach diesem Verständnis als Plattform für die Darstellung eigener ideologischer Vorstellungen dar.

Wie aber schon angemerkt wurde, ließen sich diese Intentionen nicht als Bestandteil des hand-lungsleitenden Orientierungsrahmens des Befragten ausmachen. Daher kann ein Zusammenhang zwi-schen den politischen Zielen der Reclaim the Streets-Bewegung und den konjunktiven Wissensbeständen des Interviewten nicht bestätigt werden. Entspre-chende Motive werden zwar argumentativ dargelegt, wirken sich aber nicht auf die Handlungspraxis und die räumlichen Orientierungen aus. Unter der ein-gangs formulierten Prämisse, Street Art lasse sich vor allem durch die praktische Auseinandersetzung der beteiligten Akteure mit dem städtischen Raum defi-nieren, besitzt also auch das Aneignungsmuster der Reclaim the Streets-Bewegung keine Relevanz inner-halb der Handlungspraxis des Interviewten. Somit finden sich hier keine Hinweise für die angenomme-ne Charakterisierung der Street Art als politische Ausdrucksform und als Mittel zur Verkörperung einer Ideologie. Es scheint, dass die argumentative Besetzung der eigenen Street Art-Tätigkeit mit politi-schen Ansprüchen vor allem der Legitimation gegen-über der Öffentlichkeit dient bzw. möglicherweise der Interviewsituation geschuldet ist.

Als ein zentrales Ergebnis der Interpretation kann die geringe Relevanz des Raumes innerhalb der

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rekonstruierten Orientierungen angesehen werden. In den untersuchten Interviewpassagen dokumentierte sich eine starke Orientierung an der technischen Her-stellung der Arbeiten. Die Street Art-Aktivität wird vornehmlich als Auseinandersetzung mit den Techni-ken und Medien geschildert, die während des Pro-duktionsprozesses verwendet werden. Die Erzählun-gen zeigten ein ausgeprägtes technisches Spezialwissen, dass die Schilderungen strukturiert und daher als primärer Bestandteil der Orientierungs-rahmen angesehen werden muss. Dies erweist sich auch durch die eigenständige Thematisierung der Technik innerhalb der Schilderungen. Damit deutet sich eine Haltung an, die in den bisherigen Definitio-nen des Phänomens Street Art, die eine Auseinander-setzung mit dem öffentlichen Raum oder die Darstel-lung politischer Vorstellungen als Definitionsmerkmale ansehen, unberücksichtigt bleibt.

Beispielsweise definiert Riggle (2010) Street Art als eine Kunstform, die außerhalb des etablierten Kunstbetriebs stattfindet und dadurch eine Antwort auf die moderne Trennung von Kunst und Alltagsle-ben darstellt. Street Art setzt sich demnach mit dem öffentlichen Raum auseinander und bezieht diesen in die Gestaltung der Werke ein: »street art is art that employs the street as an artistic resource« (Riggle 2010: 245). Die Ergebnisse der Analyse verweisen auf eine andere Relevanzsetzung. Die Beschäftigung mit den räumlichen Verhältnissen fällt hinter techni-schen Überlegungen zurück.

DUNEs Schilderungen waren vornehmlich durch die Auseinandersetzung mit der Technik im Produktionsprozess strukturiert. Die Analyse deutet an, dass die Aktivisten im praktischen Vollzug ihrer Tätigkeit vor allem ihrem technischen Know-How Bedeutung zusprechen und nicht der Verarbeitung des städtischen Raumes, wie von Riggle angenom-men: »for street art, the artistic use of the street […] must contribute essentially to ist meaning« (Riggle 2010: 246). Der künstlerische Gebrauch des Stadt-raums rückt gegenüber der Anwendung technischer Arbeitsschritte und dem Gebrauch verschiedener Medien in den Hintergrund.

Die technische Orientierung, die hier rekonstru-iert wurde, stellt einen Aspekt des Phänomens Street Art dar, der bislang in der Forschungsliteratur nicht

behandelt wurde. Da sich die vorgestellte Analyse auf einen Fall beschränkt und auch eine Typenbil-dung ausblieb, bleibt offen, inwieweit sich die Er-gebnisse für Street Art-Aktivisten verallgemeinern lassen. Deshalb werden weitere Analysen nötig sein. So bleibt beispielsweise fraglich, welchen konkreten Einfluss der Gebrauch eines bestimmten Mediums auf die Street Art-Praxis ausübt. So könnten die Ori-entierungen von Street Art-Aktivisten, die sich auf den Gebrauch einer bestimmten Technik (z. B. Sten-cils oder Aufkleber) spezialisiert haben, miteinander verglichen werden. Dies würde zeigen, inwieweit die Orientierungsrahmen der Interviewten durch die ver-wendete Technik geprägt werden. Eine weitere For-schung könnte außerdem untersuchen, wie das tech-nische Spezialwissen innerhalb der Street Art weitergegeben und reproduziert wird. So zeigte die vorliegende Analyse, dass DUNE seine Fertigkeiten unter Anleitung des Street Art-Aktivisten BRICK erlernte. DUNEs Schilderungen, deren Relevanzset-zung sich anhand der technischen Produktion voll-zog, beziehen sich beide auf die Anfänge seiner Street Art-Aktivität. Offenbar war die Auseinander-setzung mit dem Herstellungsprozess vor allem zu Beginn von großer Relevanz. DUNE musste sich offenbar zunächst das nötige technische Know-How aneignen. Dabei wurde er von BRICK angeleitet. Die Aktivisten scheinen sich zu Beginn von DUNEs »Karriere« in einem Lehrer-Schüler-Verhältnis be-funden zu haben. Inwiefern sich diese Orientierung im weiteren Verlauf verändert hat, bleibt offen. Mög-licherweise ist dies aber ein Hinweis auf eine Prä-gung des Orientierungsrahmens durch den individuel-len Karriereverlauf von Street Art-Aktivisten. Akteure mit unterschiedlichen Street Art-Biografien unterscheiden sich möglicherweise bezüglich ihrer praktischen Orientierungsrahmen. Weitergehende Forschungen könnten hier ansetzen und untersuchen, ob die technisch geprägte Orientierung lediglich tem-porär, über eine kurze Zeitspanne der Karriere, vor-herrscht, oder ob sie ihre Wirkung auch im weiteren Verlauf der Street Art-Aktivität beibehält.

Unter der Annahme einer historischen Verbin-dung zwischen Street Art und Graffiti ist außerdem fraglich, in welcher Form sich die technische Exper-tise vom Graffiti auf die Street Art überträgt. Die

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Genese der Wissensbestände müsste also näher un-tersucht werden.

Festzuhalten bleibt, dass die hier gewonnenen Erkenntnisse eine neue Betrachtungsweise auf das Phänomen der Street Art zulassen. Eine weitere Un-tersuchung der Techniken und ihres Stellenwertes innerhalb der Street Art wird deshalb zu einem um-fassenderen Verständnis des Phänomens beitragen. Literatur

Bohnsack, Ralf (2001a): Dokumentarische Methode, in Renate Buber, Hartmut Holzmüller (Hg.): Qua-litative Marktforschung. Konzepte-Methoden-Analysen, Wiesbaden: Gabler, S. 319-330.

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