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TERESA MEDEIROS Wilder als ein Traum

TERESA MEDEIROS Wilder als ein Traum - … · 7 Prolog Tabitha Lennox hasste es, eine Hexe zu sein. Das Einzige, was sie noch mehr hasste, war, eine reiche Hexe zu sein. Aber sie

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TERESA MEDEIROS

Wilder als ein Traum

Buch

Die nüchterne Welt der Wissenschaft bedeutet der selbstsicheren, erfrischendunk0mplizierten Tabitha Lennox alles. Bis zu dem Tag, an dem ihre geliebtenEltern über dem Bermudadreieck spurlos verschwinden. Verzweifelt suchtTabitha Trost bei dem Amulett ihrer Mutter – und wird unvermittelt siebenJahrhunderte in die Vergangenheit zurückkatapultiert, direkt vor die Hufe ei-nes sich aufbäumenden Streitrosses. Sir Colin of Ravenshaw, gerade von ei-nem Kreuzzug zurückgekehrt, muss verbittert feststellen, dass während sei-ner Abwesenheit sein Schloss zerstört und die Ländereien verwüstet wurden.Das Letzte, was er jetzt brauchen kann, ist eine überspannte Schönheit mitmerkwürdiger Kleidung und ebensolchem Benehmen. Diese ihm soeben vordie Füße gefallene Fremde hat zudem ein Talent, ihn in Schwierigkeiten zubringen, das Colins wildeste Fantasien weit überflügelt. Und außerdem istsie unwiderstehlich. Vielleich hätte ihre gemeinsame Liebe ja doch noch eineChance – wenn nur Tabithas übersinnliche Fähigkeiten nicht so kläglich

wären …

Autorin

Teresa Medeiros wurde von Affaire de Cœur soeben mit dem Preis der »10besten Romanautorinnen der USA« ausgezeichnet. Sie lebt mit ihrem MannMichael, vier neurotischen Katzen und einem schlappöhrigen Dobermann in

Kentucky.

Von Teresa Medeiros ist bereits erschienen

Rebellin der Liebe. Roman (35311)

Weitere Romane der Autorin sind bei Blanvalet in Vorbereitung.

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Uta Hege

Umwelthinweis:Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches

sind chlorfrei und umweltschonend.Das Papier enthält Recycling-Anteile.

Blanvalet Taschenbücher erscheinen im Goldmann Verlag,einem Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann.

Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2000Copyright © der Originalausgabe 1997 by Teresa Medeiros

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2000by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH

Umschlaggestaltung: Design Team MünchenUmschlagillustration: Agt. Schlück/Gadino

Satz: deutsch-türkischer fotosatz, BerlinDruck: Elsnerdruck, Berlin

Verlagsnummer: 35312Lektorat: Maria Dürig

Redaktion: Barbara GernetHerstellung: Heidrun Nawrot

Made in GermanyISBN 3-442-35312-2

www.blanvalet-verlag.de

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Die Originalausgabe erschien 1997unter dem Titel »Touch of Enchantment«

bei Bantam Books, a division ofBantam Doubleday Dell Publishing Group, Inc., New York.

Zur Erinnerung an Suzanne Wages, einenhellen Stern, der schimmernd, aber allzu kurz

für uns leuchtete. Bis auf der anderen Seite,Liebes!

Jack und Berta Pitzer sowie Patricia Rams-den, die mir den Weg derart verlockend

ausgemalt haben, dass mir nichts anderesübrig blieb, als ihn zu gehen.

Wendy McCurdy, die so großzügig war, mirdie Schlüssel zum Fantasiereich zu überlassen,ohne dass es ihr auch nur bewusst gewesen ist.

Und Michael, dessen beständige Liebe jedesHeim, in dem wir leben, zu einem wahren

Traumschloss macht.

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Prolog

Tabitha Lennox hasste es, eine Hexe zu sein. Das Einzige,was sie noch mehr hasste, war, eine reiche Hexe zu sein. Abersie hatte wenig oder besser gar nichts zu sagen in dieser An-gelegenheit, da sie die einzige Erbin sowohl des Multimilli-arden-Dollarimperiums ihres Vaters als auch der unvorher-sehbaren übernatürlichen Talente ihrer Mutter war.

Ihre Mama hatte sie mit dem ihrer Meinung nach soliden,puritanischen Namen Tabitha bedacht, und ihr Daddy hattesich wortlos einverstanden erklärt; doch der Grund für sei-ne Zustimmung war erst ersichtlich geworden, als ihrer Mut-ter während eines Verhext-Marathons seinerzeit im Fernse-hen ein erstickter Schrei entfuhr.

»Hast du gewusst, dass dieses freche Gör Tabitha heißt?«hatte sie in Bezug auf Darrin und Samantha Stevenses alt-kluges Töchterchen gefragt.

Ihr Daddy hatte sein Wall Street Journal sinken lassen,über den Rand seiner Lesebrille gesehen und entwaffnendunschuldig mit seinen grauen Augen geblinzelt. »Tut mirLeid, Liebling. Muss mir irgendwie entgangen sein.«

Doch die Spur eines Grinsens hatte ihn verraten, und sohatte sich Tabithas Mama mit einem der weichen Sofakissenauf ihn gestürzt und mit ihm gebalgt, bis sie kichernd nebenihm auf der Ottomane zusammensank.

»Du kannst mir deshalb wirklich keine Vorwürfe ma-chen«, hatte ihr Daddy gelacht und ihre Mama gekitzelt, bis

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sie sich ergab. »Schließlich hattest du als zweiten NamenChastity, also Keuschheit, ausgesucht.«

Als ihr spielerisches Gefecht in einen zärtlichen Kussübergegangen war, hatte die siebenjährige Tabitha die Augenverdreht, sich nach einem kurzen Blick in Richtung des aufdem Ofen schlummernden schwarzen Katers wieder ihremLaptop zugewandt und sich gefragt, weshalb ihre Elternnicht per E-mail oder über ihre Anwälte miteinander kom-munizieren konnten wie die Eltern aller anderen Kinder derMontessori-Schule, in die sie ging.

Von klein auf hatte sich Tabitha, so wie andere Kindernach Spielsachen oder Süßwaren, schmerzlich nach der be-ruhigenden Langeweile eines normalen Alltags gesehnt. Ob-gleich ihre Eltern mit ihrer im ländlichen Connecticut gele-genen viktorianischen Villa überzeugend Normalität zurSchau stellten, unterschied sich Tabitha durch wesentlichmehr als den Reichtum ihres Vaters von ihren Klassenka-meraden und Kameradinnen.

Auch von ihnen wurden einige in mit Rauchglas versehe-nen Limousinen zur Schule gebracht oder feierten ihre Ge-burtstage im Vier-Jahreszeiten-Hotel; aber keiner von ihnenkam jemals von der Schule und fand zu Hause den Kater vor,der gerade einigen faszinierten Topfpflanzen oder einemTrio andächtig lauschender Elfen ein Shakespeare-Gedichtvorlas. Auch backte Tabithas Mama nicht einfach gewöhnli-che Plätzchen wie die Mütter der anderen. Ihre tanzendenKüchlein hatten die nervtötende Angewohnheit, Tabitha inden Mund zu hüpfen, sobald sie ihn wutschnaubend öffne-te. Oder aber das Kind kam stolz mit ihren fertigen Schular-beiten ins Wohnzimmer, wo sie regelmäßig am Abend vordem Abgabetermin davonschwebten.

Dann half ihr Vater ihr in aller Eile bei der erneuten Lö-

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sung der Rechenaufgaben, während ihre Mutter französischeVerben konjugierte und sich dafür entschuldigte, dass ihrmagisches Talent abermals außer Kontrolle geraten war. Ob-gleich es ihr aufrichtig Leid tat, ihre Tochter unglücklich zusehen, konnte ihre Mama doch nie ganz verbergen, wie stolzsie auf ihr ungewöhnliches Talent war.

Tabitha betrachtete dieses Erbe jedoch nicht als Geschenk,sondern als Fluch. Was erklärte, weshalb sie an ihrem drei-zehnten Geburtstag, als der beiläufige Wunsch nach purpur-farbener Glasur auf ihrer Torte ihr einen leuchtenden rotenZuckerregen bescherte, statt überrascht einzig wütend ge-wesen war.

Mit verklebten Haaren war sie die Treppe hinaufgeflüch-tet, hatte sich auf ihr Bett geworfen und sich die Seele ausdem Leib geheult.

Ihre Eltern waren ihr gefolgt, hatten sich zu beiden Seitenneben sie gesetzt und hilflose Blicke ausgetauscht. Ihr Dad-dy hatte ihr die bebende Schulter getätschelt, Mama ihr dieklebrigen Haare aus der Stirn gestrichen und gemurmelt:»Weine nicht, meine Kleine. Du musst deine Talente als Ge-schenk Gottes ansehen. Irgendwann gewöhnst du dich be-stimmt daran, etwas Besonderes zu sein.«

Tabitha hatte zitternd eingeatmet und gejammert: »Ihr ver-steht mich einfach nicht! Ich will nichts Besonderes sein! Ichwill normal sein wie die anderen!« Sie hatte das Gesicht inihre verhasste Schneewittchen-Steppdecke gedrückt. »Ichwill, dass ihr beiden euch anbrüllt, statt euch ständig zu küs-sen. Ich will, dass meine Spielsachen aufhören zu reden unddass die Teller aufhören, dauernd mit sämtlichen Löffeln da-vonzulaufen. Ich will in einem Reihenhaus wohnen und Klei-der von der Stange tragen.« Ihre Stimme war schrill geworden.»Ich will meinen Geburtstag bei McDonald’s feiern!«

Diese überraschende Erklärung hatte bei ihrem Vaternoch größere Verwunderung hervorgerufen und diesmal warer es, der entgeistert die Augen verdrehte.

Trotz ihrer seit Anbeginn regelmäßigen und häufig katas-trophalen Begegnungen mit dem Übernatürlichen hatteTabitha weiter ihre runde kleine Nase über Disney-Filme mitsprechenden Teekannen und singenden Mäusen gerümpft;sie zog die unerschütterlich düsteren Filme von IngmarBergman Geschichten von irgendwelchen dämlichen Prin-zessinnen vor, die stets von irgendwelchen Prinzen aufwilden Hengsten davongetragen werden wollten.

Tabitha Lennox hatte keine Wahl. Sie glaubte an Magie.Doch sie glaubte nicht an Märchen.Nicht an Happy Ends.Nicht an Traumprinzen.Bis jetzt.

Erster Teil

Die Verlockung

’Tis the strumpet’s plague to beguilemany and be beguil’d by one.

Es ist der Dirne traurig Loszu locken viele

und gelockt zu seinvon einem bloß.

William Shakespeare

Yet she wish’d that heaven hadmade her such a man.

Doch sie hätte gewünscht, der Himmel hätt’gemacht aus ihr ’nen solchen Mann.

William Shakespeare

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New York City

In Augenblicken wie diesem vermisste Michael Copperfieldseinen Pferdeschwanz am schmerzlichsten. Da er nicht län-ger daran ziehen konnte, wenn seine Frustration ihn über-wältigte, musste er, um seine Anspannung zu mildern, einenBleistift entzweibrechen. »Du scheinst den Ernst der Situa-tion nicht zu verstehen. Deine Eltern sind verschwunden«,wiederholte er.

Die junge Frau, die zusammengesunken in dem Lederses-sel vor seinem Schreibtisch hockte, machte sich nicht einmaldie Mühe, von den Berichten, die sie las, aufzusehen. »Was jawohl nicht weiter ungewöhnlich ist«, antwortete sie ruhig.»Meine Eltern verschwinden mit schöner Regelmäßigkeit.Von Partys. Aus Taxis. Von Aktionärsversammlungen. Ein-mal haben sie sich mitten während des zweiten Akts einerAufführung meiner Schauspielgruppe in der Schule einfachin Luft aufgelöst.« Sie bedachte ihn mit einem kurzen, spöt-tischen Blick, ehe sie eine Seite des Berichts umblätterte.»Versuch mal, so etwas deinem Schauspiellehrer zu erklären,Onkel Cop.«

Ihre aufreizend beiläufige Akzeptanz der Neuigkeit ver-stärkte Copperfields Unbehagen noch. Er erhob sich, kamum den Schreibtisch herum und zwang sie, ihre Aufmerk-samkeit von den Software-Konfigurationen abzuwenden

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und in sein sorgenvolles Gesicht zu schauen. »Dieses Mal istes anders, Tabitha«, knurrte er. »Sie sind nicht bloß für einpaar Minuten aus unserem Blickfeld gerückt, oder habensich zum Essen nach Paris gewünscht. Dieses Mal wird ihrgesamtes Flugzeug vermisst. Und zwar seit dem Bermuda-dreieck.«

Tabitha blinzelte wie eine Eule hinter ihren dicken Bril-lengläsern, und Copperfield kam zu dem Schluss, dass sieihm endlich zuhörte.

»Der Firmenjet wurde vor über sechzehn Stunden zumletzten Mal auf dem Radar gesehen. Die Marine hat bereitsFlugzeuge und Schiffe ausgeschickt, aber bisher nirgendsauch nur eine Spur von einem Wrack entdeckt. Was natürlichin der Gegend nicht weiter ungewöhnlich ist. Ich versuche,die Medien noch ein paar Tage hinzuhalten, zumindest, bisdie Marine ihre Suche abgeschlossen hat. Aber ich kann dirversichern, dass das Verschwinden eines der reichsten Män-ner der Welt sicher nicht lange unbemerkt bleiben wird.«

Tabithas skeptisches Lachen klang gezwungen, als siefragte: »Und, was ist deiner Meinung nach geschehen, OnkelCop? Wurden die beiden vielleicht von einer fremden Regie-rung, von irgendeiner Terrororganisation«, sie pfiff die An-fangsmelodie der Akte X, »oder von Außerirdischen ent-führt?«

Er kehrte an seinen Platz zurück, und plötzlich fühlte ersich wie ein alter Mann. »Vielleicht ist ihr Flugzeug ganz ein-fach abgestürzt.«

Stille senkte sich über den Raum, ehe Tabitha laut zu la-chen begann. »Mach dich doch nicht lächerlich! Das ist si-cher wieder einer von Mamas kleinen übernatürlichen Scher-zen. Bestimmt taucht der Jet genau dort wieder auf, wo ersich in Luft auflöste, oder er erscheint gerade rechtzeitig über

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einer der Landebahnen von La Guardia, um die Fluglotsen inden Wahnsinn zu treiben.« Um seinem mitleidigen Blick zuentgehen, stand Tabitha auf, trat an eins der Fenster undschob sich eine Strähne blonder Haare aus der Stirn. »Duvergisst, dass Tristan und Arian Lennox bisher noch jedesProblem bewältigt haben. Erinnerst du dich daran, wie derLamborghini gegen eine Leitplanke gedonnert ist? Die bei-den stiegen ohne einen Kratzer aus. Und warst nicht du der-jenige, der mir erzählt hat, meine Eltern wären einmal insJahr 1689 zurückgereist, um meinen bösen Ur-ur-ur-ur-ur-ur-ur-ur-ur-ur-urgroßvater zu besiegen und dadurch zu be-weisen, dass wahre Liebe stärker als alles Übel ist.«

Der Zynismus in ihrer Stimme beunruhigte ihn. »MeineTheorie hältst du offenbar nicht für zutreffend.«

»Eine wirklich reizende Hypothese, Onkel Cop, aber dudarfst nicht vergessen, dass wir im einundzwanzigsten Jahr-hundert leben. Märchen sind einfach nicht mehr angesagt.Romantik wurde längst durch Cybersex mit namen- und ge-sichtslosen Fremden oder mit Hologrammen der beliebtes-ten Videostars ersetzt.«

Cop schnaubte verächtlich auf. »Und du findest das bes-ser?«

Tabitha zuckte die Schultern. »Die Vorteile sind nicht zuübersehen.« Das Fenster spiegelte ihren nachdenklichen Ge-sichtsausdruck wider, weshalb ihre Worte den Onkel nichtganz überzeugten. »Keine Beziehung, keine Verpflichtung…kein Risiko.«

Ihr Onkel erschauerte, aber sagte sich, dass es im Augen-blick um Wichtigeres als um Tabithas Einstellung zur Weltder Gefühle ging. »Deine Eltern mögen glücklicherweise diewahre Liebe gefunden haben, mein Schatz, aber deshalb sindsie nicht unsterblich«, erinnerte er sie sanft.

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Die Lady stopfte ihre Hände in die Taschen ihrer schlab-berigen Tweedhose und drehte sich langsam zu ihm um.»Hast du vergessen, dass meine Mutter im Jahre 1669 auf dieWelt gekommen ist? Auch wenn sie nicht unsterblich ist,sieht sie für eine Frau von beinahe dreihunderteinundfünfzignoch verdammt lebendig aus, finde ich.«

Copperfield stieß einen Seufzer aus, denn die Erfahrunghatte ihn gelehrt, dass das Einzige, was bei einem Streit miteinem Mitglied der Familie Lennox herauskam, dröhnenderKopfschmerz war.

Da er zweifellos eindeutige Maßnahmen ergreifen musste,zog er einen großen Umschlag aus einer Schreibtischschub-lade und reichte ihn der jungen Frau. »Deine Mutter hatmich gebeten, dir das hier zu geben für den Fall, dass sie …«Sein Griff um das Kuvert verstärkte sich. Es war beinahe, alswürden sich seine Berfürchtungen durch die Übergabetatsächlich bewahrheiten.

Tabitha starrte den Umschlag lange reglos an, ehe sie ihnihrem Onkel schließlich ruppig aus den Fingern riss. »Dei-ne Melodramatik wird dir sicher einigermaßen peinlich sein,wenn meine Eltern bei der nächsten Vorstandssitzung ihresUnternehmens plötzlich aus einem der Heizungsschächteklettern«, sagte sie und wollte den Umschlag gerade öffnen,als Copperfield eilig ihre Hände stoppte.

»Arian hat gesagt, dass du ihn vielleicht lieber erst auf-machst, wenn du alleine bist.«

Sie runzelte die Stirn und obgleich sie ihrer Stimme einenbetont unbekümmerten Klang verlieh, war ihr die Furchtdoch deutlich anzusehen. »Was steckt denn drin? MeineAdoptionspapiere? Ich habe Mama und Daddy schon immergesagt, dass ich mit meiner Fantasielosigkeit gar nicht ihrleibliches Kind sein kann.«

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Copperfield umfasste sanft Tabithas Kinn und nahm ihrvorsichtig die Brille ab. Ihre ernsten grauen Augen sahen ihnunsicher an. Das dichte blonde Haar hatte sie auf praktischeHalblänge gestutzt; aber die fedrigen Strähnen hingen ihrtrotzdem immer wieder in die Stirn. Mit ihren dreiund-zwanzig Jahren war Tabitha beinahe so groß und zweimal solinkisch wie er, wobei ihre Unbeholfenheit sie seltsam lie-benswert erscheinen ließ. Ihre gleichmäßigen Züge zeigtendie ausgeprägte Intelligenz, aufgrund derer sie bereits imzarten Alter von fünfzehn an die Universität gegangen war,mit neunzehn ihren Doktor in Virtueller Technologie er-worben hatte und innerhalb von weniger als drei Jahren zurLeiterin der Abteilung für Virtuelle Realität des Lennox-schen Unternehmens aufgestiegen war. Doch unter der Mas-ke kühler Kompetenz lauerte stets eine liebreizende Spurvon Wehmut, das Zeichen für unerfüllte Träume und unaus-gesprochene Wünsche.

Als Copperfield das Gesicht des Wesens betrachtete, daser beinahe wie seine eigenen Töchter liebte, überkam ihn einAnflug von Nostalgie. Tristan Lennox war mehr als nur seinBlutsbruder, seit sie sich als zwei einsame kleine Jungen vorall den Jahren in dem Waisenhaus in Boston ewige Treue ge-schworen hatten: Er war sein bester Freund.

»Oh, du bist ganz bestimmt die Tochter deiner Eltern«,murmelte er jetzt. »Habe ich dir je gesagt, wie ähnlich duschon immer deinem Vater sahst?«

Mit einem angespannten Lächeln setzte Tabitha ihre Bril-le wieder auf. »Du solltest mich nicht derart auf den Armnehmen. Meine Mutter behauptete oft dasselbe, was ich im-mer etwas grausam fand.« Ehe er protestieren konnte, nahmsie ihren formlosen Laborkittel von der Sessellehne undwandte sich zum Gehen. »Du kanntest …« Sie brach zö-

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gernd ab. »Du kennst Daddy besser als jeder andere. Er lachtoder lächelt den ganzen Tag und kann sich über die einfachs-ten Dinge freuen. Selbst mit sechsundfünfzig ist er noch ele-gant und geradezu umwerfend attraktiv. Er wird von allen,die je das Vergnügen hatten, mit ihm zu arbeiten, geliebt undrespektiert – kurzum, das genaue Gegenteil von mir!«

Sie schob sich den Umschlag unter den Arm, setzte ein,wenn auch wackeliges, Lächeln auf und öffnete die Tür, aufderen Messingschild Michael Copperfield, Vizepräsident zulesen war. »Bitte richte Tante Cherie meine Grüße aus. Ichrufe dich an, falls …« Trotzig verzog sie das Gesicht. »…wenn ich etwas von meinen Eltern höre.«

Sobald die Tür ins Schloss fiel, kehrte Cop hinter seinenSchreibtisch zurück, wo er sich, zwischen Lachen und Wei-nen hin- und hergerissen, in den Sessel sinken ließ. »Du hastmich nicht ausreden lassen, Tabitha«, murmelte er, währender sich die brennenden Augen rieb. »Du erinnerst mich andeinen Vater zu der Zeit, bevor er deiner Mutter begegnete.«

Als sie aus der Dusche trat, griff die tropfende Tabitha Len-nox nicht nach dem Handtuch, sondern setzte als Erstes ihreBrille wieder auf. Die meisten ihrer Kollegen und Kollegin-nen lachten darüber, dass sie sich eines derart archaischenHilfsmittels bediente, obgleich seit bereits zehn JahrenHornhautmodellierung etwas vollkommen Normales war;doch sie zog die kühle Festigkeit des Drahtgestells der Ma-nipulation ihrer Augäpfel durch einen Fremden vor. Außer-dem besaß sie in Wirklichkeit noch eine gewisse Sehschärfe.Manchmal dachte sie, dass sie die Brille weniger aus Not-wendigkeit denn aus Gewohnheit trug.

Sie trocknete ihr dichtes Haar, betupfte ihr Gesicht mitNachtcreme und stieg in den robusten Schlafanzug, den sie

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vor Betreten der Dusche über den Handtuchwärmer gehängthatte. Der warme Flanell hüllte sie wie zwei unsichtbareArme ein, und ein wohliger Seufzer drang über ihre Lippen,als sie ihre Füße in zwei riesige Streifenhörnchen vonPlüschpantoffeln – ihr einziges Zugeständnis an Verrückt-heit – schob.

Nun trottete sie durch das Wohnzimmer des Penthouse inRichtung der Küche und ignorierte bewusst den großenUmschlag, der seit ihrer Rückkehr aus der Firma auf demSofa lag.

Tabitha öffnete die Kühlschranktür, schwankte zwischeneinem dank des Zusatzes von Fätt – dem sensationellen neu-en Fettersatz – kalorienlosen Fertigmenü und einer PackungHäagen-Daz; nach einigen Sekunden nahm sie die Eiscremeaus dem Fach.

Was machten ein paar Pfund zu viel schon aus? Ihre weitenHosen und der Labormantel kaschierten problemlos eineUnzahl von Sünden, und schließlich sähe niemals jemand sieohne Kleider, oder?

Als sie einen Teelöffel aus der Schublade mit dem Silber-besteck zog, stupste ein kleiner Wuschelkopf sie an.

»Hallo, kleine Lucy«, flötete Tabitha, ging in die Hockeund löffelte dem Kätzchen eine Portion Eis in seinen Napf.»Hast du Mammy vermisst, während sie bei der Arbeit war?«

Die winzige schwarze Katze hatten die Eltern ihr zuihrem letzten Geburtstag geschenkt. Aus Furcht, dass Tabi-tha untröstlich sein würde, wenn der Familienkater Lucifereinmal im hohen Alter stürbe, hatte ihr Vater das Sperma desKaters einfrieren lassen. Seit man das Problem der animali-schen Fortpflanzung endlich gelöst hatte, waren Kätzchenaus der Retorte vollkommen normal.

Immer noch ohne zur Couch hinüberzuschauen, drückte

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Tabitha auf einen der Knöpfe in der Wand und entschied sichanhand der digitalisierten Liedauswahl für Nina Simones »Iwant a Little Sugar in My Bowl«. Die rauchige Stimme zau-berte ein zerknirschtes Lächeln auf ihr Gesicht. Sie hatte be-reits mehr als nur ein wenig Zucker in ihrer Schale.

Während sie sich einen Löffel Eiscreme in den Mundschob, beobachtete sie durch die verglaste Nordwand ihrerWohnung das winterliche Schneetreiben. Wie angenehm eswar, wenn man gemütlich hier im Warmen saß und mit an-sehen konnte, wie draußen eine Unzahl weißer Flocken vomHimmel rieselte. Dieses Apartment war ihre Zuflucht – dereinzige Ort, an dem sie ein Gefühl von echter Sicherheitempfand.

Sie wusste, es hatte ihre Eltern verletzt, als sie nach Been-digung ihres Studiums hierher gezogen war. Die großzügigeWohnung in der obersten Etage des Lennox-Turms hattensie vor Jahren gegen eine halb verfallene viktorianische Villaohne Klimaanlage und mit Fenstern, durch die sowohl dieSonne als auch der Regen unbarmherzig in die Zimmerdrang, getauscht.

Tabitha hatte sich dort immer wie ein Eindringling ge-fühlt. Obgleich ihre Eltern sich Mühe gaben, sie in ihrenZauberkreis zu ziehen, hatte sie, zu schüchtern, um der Ein-ladung zu folgen, immer von außen zugesehen. Ganz sicherhätte es die beiden sehr geschmerzt zu wissen, dass ihreTochter sich zwischen all den Fremden, die sich unterhalbdes Lennox-Turmes durch die schneebedeckten Straßenkämpften, mehr zu Hause fühlte als in Connecticut.

Kaum hatte sie die leere Schale neben sich gestellt, als Lucylautlos auftauchte und sie begierig ausleckte. Erschauerndblickte Tabitha in die zunehmende Dunkelheit hinaus. Eswar eine Sache, das idyllische Leben ihrer Eltern abzulehnen,

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wenn sie wusste, dass sie irgendwo dort draußen haustenund sie aus der Ferne liebten – doch es war etwas völlig an-deres, sich eine Welt ohne ihr Lachen, ohne ihre gegenseitigeZärtlichkeit oder die für ihre Tochter vorzustellen.

Bereits der Gedanke verstärkte ihr Gefühl von Einsam-keit, und in ihrem Inneren wallte so etwas wie Panik auf.

Langsam wandte sich Tabitha dem Sofa und dem Um-schlag zu.

Als sie nach ihm griff, empfand sie plötzlich nackte Angst.Sie verstand, weshalb Onkel Cop ihn ihr derart widerstre-bend überreicht hatte. Immer noch hallten seine Wortedurch ihren Kopf.

Deine Mutter hat mich gebeten, dir das hier zu geben fürden Fall, dass sie …

»Hör auf mit der Schwarzseherei«, schalt Tabitha sich.»Dies hier ist, um Himmels willen, einfach ein Umschlagund nicht die Büchse der Pandora.« Entschlossen, sich ihrerFurcht zu stellen, riss sie das Päckchen eilig auf und kippteseinen Inhalt aus.

Eine silbrige Scheibe schlitterte über den gläsernen Kaf-feetisch. Tabitha erkannte sie sofort als Videodiskette, trugsie zu ihrem modularen Arbeitsplatz, schob sie in das pas-sende Laufwerk und betete, dass es keine dieser erbärmli-chen, von Bestattungsunternehmen bevorzugten Präsenta-tionen wäre, in denen man die letzten Worte der geliebtenVerschiedenen vor dem Hintergrund schluchzender Vio-linklänge beinahe nicht verstand.

Der über einen Meter breite Wandbildschirm leuchteteauf, und Tabitha merkte, dass sie auf ihre Mutter starrte, diemit der kindlichen Grazie einer auf einem Pilz hockendenElfe auf einem kleinen Schemel saß. Passend zur Farbe ihresLippenstiftes trug sie ein weinrotes Chanelkostüm.

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Ehe die Realität ihre kindliche Fantasie zähmte, hatte sichTabitha ihre Mama immer als Prinzessin vorgestellt. Zartund klein besaß Arian Lennox eine überirdische Schönheit,der selbst ihr hohes Alter nichts anhaben konnte. Ebensowie die Fülle ihrer Lippen und das Blitzen ihrer Augendurch kaum merkliche Fältchen vorteilhaft betont wurde,verstärkten die drahtigen silbrigen Strähnen den reichenSchimmer ihrer dunklen Haare noch – die sie, starrsinnig,wie sie nun einmal war, niemals färbte.

Es lag nicht an ihrer Mutter, dass Tabitha sich im Vergleichzu ihr stets gefühlt hatte wie ein Elefant. Oder dass sie ins-geheim viel lieber das Aussehen ihrer Mutter und die Talen-te ihres Vaters geerbt hätte statt umgekehrt.

Mit einem leisen Seufzer stellte Tabitha den Videorecorderan.

»Hallo, mein geliebtes Tabby-Kätzchen!«Irgendwie wurde das Zimmer von der heiseren Stimme ih-

rer Mutter angenehm erwärmt. Tabitha vernahm voller Weh-mut den weichen, gälischen Akzent. Ihre Mutter hatte sienicht mehr mit diesem Kosenamen bedacht, seit sie im Altervon sieben verkündete, er wäre hoffnungslos unpassend füreine reife junge Frau wie sie. Hinter ihren Augen stiegen Trä-nen auf. Was sicher an ihrer stundenlangen Arbeit vor demBildschirm lag, sagte sie sich, und blinzelte. Lucy sprang ihrauf den Schoß und forderte energisch die allabendlichenStreicheleinheiten.

Ihre Mutter sah schuldbewusst zur Tür, ehe sie lächelndwieder in die Kamera blickte. »Wenn dein Vater wüsste, wasich hier tue, würde er mir das ganz sicher nie verzeihen.«

»Da irrst du dich, Mama«, murmelte Tabitha. »Daddywürde dir alles verzeihen.«

Doch als das strahlende Lächeln von Arian einem nach-