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Kolleg der Schulbrüder Illertissen Gymnasium des Schulwerks der Diözese Augsburg Naturwissenschaftlich-technologisches und sprachliches Gymnasium Abiturjahrgang 2007/09 FACHARBEIT DEUTUNG DER LEITMOTIVE IN „PICKNICK AM WEGESRAND“ UND „STALKER“ Verfasser/in: Krüger, Moritz Leistungskurs: Deutsch Kursleiter/in: Fr. Holzmann Bearbeitungszeitraum: Kurshalbjahre 12/2 – 13/1 Abgabetermin: 30.01.2009 Bewertung der Facharbeit: ................................. Mündliche Prüfung: ................................. Datum: ................................. ....................................................................... Unterschrift der Kursleiterin/ des Kursleiters

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Kolleg der Schulbrüder Illertissen

Gymnasium des Schulwerks der Diözese AugsburgNaturwissenschaftlich-technologisches und sprachliches Gymnasium

Abiturjahrgang 2007/09

FACHARBEIT

DEUTUNG DER LEITMOTIVE IN„PICKNICK AM WEGESRAND“

UND„STALKER“

Verfasser/in: Krüger, Moritz

Leistungskurs: Deutsch

Kursleiter/in: Fr. Holzmann

Bearbeitungszeitraum: Kurshalbjahre 12/2 – 13/1

Abgabetermin: 30.01.2009

Bewertung der Facharbeit: .................................

Mündliche Prüfung: .................................

Datum: .................................

.......................................................................Unterschrift der Kursleiterin/ des Kursleiters

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Inhaltsverzeichnis

1 Einführung: Science Fiction in „Picknick am Wegesrand und „Stalker“ – Ja oder nein? 3

2 Über die Autoren und den Regisseur 4

2.1 Arkadi und Boris Strugatzki...............................................4

2.2 Andrei Tarkowski...............................................................5

3 Inhalt und Protagonisten 6

3.1 Inhaltsangabe „Picknick am Wegesrand“.........................6

3.2 Inhaltsangabe „Stalker“.....................................................9

3.3 Der „Schatzgräber“ Roderic Schuchart...........................10

3.4 Der „Stalker“....................................................................14

4 Die Bedeutung der Zone 17

4.1 Wissenschaftlich-menschlicher Interpretations-

ansatz der Zone in „Picknick am Wegesrand“................17

4.2 Individuell-psychologischer Interpretationsansatz

der Zone in „Stalker“.......................................................21

5 „Die goldene Kugel“ und „das Zimmer“ 25

5.1 Die goldene Kugel...........................................................25

5.2 Das Zimmer.....................................................................27

6 Literarische und filmische Besonderheiten 29

6.1 Literarische Einordnung von

„Picknick am Wegesrand“...............................................29

6.2 Besonderheiten des Films...............................................31

7 Die Drehbuchvorlage „Die Wunschmaschine“ 33

8 Schlusswort 36

9 Literaturverzeichnis und verwendete Quellen 37

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1 Einführung: Science-Fiction in „Picknick am Wegesrand und „Stalker“ – Ja oder nein?

Science-Fiction – ein Begriff, der im Zusammenhang mit dem Schaffen

von Boris und Arkadi Strugatzki und Andrei Tarkowski immer wieder fällt,

aber dennoch irgendwie unpassend wirkt. Science-Fiction, darunter

verstehen viele Menschen fantastische Zukunftsgeschichten über die

Erkundung des Universums, den Kontakt mit Außerirdischen und

intergalaktische Kriege, die mit hoch entwickelter Technologie geführt

werden. Das wirkt auch einleuchtend, setzt sich der Begriff aus den

englischen Wörtern für „Wissenschaft“ (science) und „Fiktion“ oder

„Erfindung“ (fiction) zusammen. Von beidem bekommt man mehr als

genug, betrachtet man die Meilensteine der Science-Fiction-Literatur und

vor allem des Science-Fiction-Kinos. Seit Herbert George Wells' „Krieg der

Welten“ erfreute sich die Science-Fiction immer größerer Beliebtheit und

es entstand der Eindruck, im Mittelpunkt des künstlerischen Schaffens

stünde primär, den jeweils anderen Autor oder Regisseur durch das

Schaffen eines noch Furcht erregenderen Bildes extraterrestrischer

Zivilisationen oder der Erfindung noch beeindruckenderer technischer

Errungenschaften zu übertreffen.

Wissenschaft und Fiktion, beides trifft auch auf die Erzählung „Picknick am

Wegesrand“ und die darauf basierende Verfilmung „Stalker“ zu.

Schließlich geschehen in beiden Werken fiktive und kaum vorstellbare

Ereignisse, die mit dem jetzigen Stand der Wissenschaft nicht zu erklären

sind. Trotzdem haben weder die Buchvorlage noch die filmische

Umsetzung viel mit der obigen Definition gemein. Die Existenz einer

außerirdischen Zivilisation bleibt im Dunkeln und so entsteht zu keinem

Zeitpunkt das Gefühl einer direkten Bedrohung durch unmenschliche,

widerliche Geschöpfe, deren einziges Ziel die Ausrottung der Menschheit

ist. Die Bedrohung geht eher vom Menschen selbst aus, sein

leichtsinniger Umgang mit diesen Erscheinungen bringt ihn in Gefahr,

doch wird er nicht direkt angegriffen.

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Vor allem „Picknick am Wegesrand“ beschäftigt sich durchaus mit der

Frage nach der Ursache bestimmter unerklärlicher Ereignisse und nach

den Absichten einer dafür möglicherweise verantwortlichen außerirdischen

Lebensform. Trotzdem kommt man früher oder später wieder auf den

Menschen zurück und stellt fest, dass ein Verständnis der übernatürlichen

Phänomene erst möglich ist, wenn man den Menschen an sich verstanden

hat. Und genau das macht die Werke so interessant. Obwohl der

Grundgedanke so fremd und fernab der Realität wirkt, steht bei den

Strugatzki-Brüdern und Tarkowski stets der Mensch und sein Wesen im

Mittelpunkt. Die äußerliche Handlung dient überwiegend dazu, die Helden

in Buch und Film an ihre Grenzen zu bringen und sie mit ihrem Wesen zu

konfrontieren.

So kann man „Picknick am Wegesrand“ und „Stalker“ durchaus als

Science-Fiction bezeichnen – äußerlich. Die Aussagen sind letztendlich

aber unabhängig von Wissenschaft und Fiktion und beziehen sich eher

auf den Umgang des Menschen mit sich selbst und seiner Umwelt.

2 Über die Autoren und den Regisseur[1]

2.1 Arkadi und Boris Strugatzki

Arkadi Natanowitsch Strugatzki (* 28. August 1925 in Batumi, heute

Georgien; † 12. Oktober 1991 in

Moskau) und Boris Natanowitsch

Strugazki (* 15. April 1933 in

Leningrad) gelten neben Stanislaw

Lem als die bedeutendsten und

populärsten Science-Fiction-Autoren

des ehemaligen Ostblocks. Während

der Zeit von 1958 bis zum Tode

Arkadis im Jahre 1991

veröffentlichten sie eine Vielzahl an Romanen, Erzählungen und

Kurzgeschichten, sowohl in Zusammenarbeit als auch als einzelne

[1] Quellenangaben der biographischen Daten siehe Literaturverzeichnis

Abb.1: Arkadi (l) & Boris (r) Strugatzki

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Autoren. Boris Strugatzki ist bis heute als Schriftsteller tätig, sein aktueller

Roman „Die Ohnmächtigen“ erschien 2007.

Das 1972 erstmals auf russisch erschienene „Picknick am Wegesrand“ ist

die wohl bekannteste Erzählung der Strugatzki-Brüder. Sie wurde 1979

nach der Drehbuchvorlage „Die Wunschmaschine“ von Andrei Tarkowski

unter dem Titel „Stalker“ verfilmt, 2007 erschien das PC-Spiel

„S.T.A.L.K.E.R. - Shadow of Chernobyl“, das Motive des Filmes und des

Romans aufgreift.

Stilistisch ist „Picknick am Wegesrand“ im Bereich der Science-Fiction

anzusiedeln, wobei neben den wissenschaftlichen und technischen

Aspekten des Genres stets auch Themen aus Soziologie, Politik,

Psychologie und Philosophie eine große Rolle spielen. Dennoch ist das

Werk eher trivial gehalten, unterhält und ist – zumindest sprachlich – leicht

zu erfassen.

2.2 Andrei Tarkowski

Andrei Arsenjewitsch Tarkowski (* 4. April 1932 in Sawraschje, Russland;

† 29. Dezember 1986 in Paris) war ein sowjetischer Filmregisseur, der vor

allem durch seine Romanverfilmungen „Stalker“ und „Solaris“ bekannt ist.

Diese zeichnen sich durch

charakteristische filmtechnische

Merkmale sowie durch den

psychologischen und

philosophischen Tiefgang aus.

Während Tarkowskis Werk im

Ausland schnell Anerkennung fand,

blieb ihm zu Lebenszeit die

Anerkennung in seiner Heimat

verwehrt, da ihm die sowjetischen

Behörden die Veröffentlichungen zahlreicher Werke erschwerten. Er

verließ 1983 für immer die Sowjetunion, seine Familie zerbrach und er

verstarb 1986 nach einer schweren Krebserkrankung.

Im Zusammenhang mit seinen Filmen wird oft die eigenwillige

Abb.2: Andrei Tarkowski

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Kunstauffassung Tarkowskis hervorgehoben. Wie in „Solaris“ besonders

deutlich wird, befasst er sich mit der Frage nach dem Sein des Menschen,

der Wahrnehmung und dem Erkennen und Begreifen. Er sah seine Kunst

als Beitrag, die vor dem Abgrund stehende Menschheit durch Schaffung

eines neuen moralischen Ideals zu retten.

Die zum Teil minutenlangen Einstellungen, in denen kein Wort gesprochen

oder gehandelt wird, die kargen und farblosen Landschaftsbilder und

vielseitig interpretierbaren Dialoge sowie die scheinbare Unordnung von

Raum und Zeit machen seine Filme zu äußerst anspruchsvollen Ausflügen

in die menschliche Seele, die zum Nachdenken anregen.

3 Inhalt und Protagonisten

3.1 Inhaltsangabe: Picknick am Wegesrand

An sechs verschiedenen Orten der Erde sind, vermutlich durch die

Einwirkung einer außerirdischen Zivilisation – von Wissenschaftlern

euphemistisch „Besuch“ genannt –, sogenannte „Zonen“ entstanden, in

denen einige physikalische Grundgesetze keine Gültigkeit mehr besitzen,

zahlreiche unbekannte Gegenstände oder „Artefakte“ verstreut sind und

gefährliche Fallen jene bedrohen, die sich in diese „Zonen“ wagen. Die

Handlung von „Picknick am Wegesrand“ spielt sich in und um eine Stadt

namens Harmont ab, die sich vermutlich in Kanada befindet, was sich

aber nicht eindeutig aus dem Text erschließen lässt. Ein genaues Datum

ist ebensowenig bekannt, alles deutet allerdings auf das letzte Drittel des

20. Jahrhunderts hin.

Obwohl weder die Bedeutung der Zone, noch Sinn und Zweck der

Artefakte genau bekannt sind, haben einige dieser Gegenstände entweder

einen praktischen Nutzen erlangt, z. B. als Energielieferanten, oder sind

für die Wissenschaft von Interesse, weswegen der Schwarzmarkt floriert.

Der Protagonist Roderic Schuchart verdient sich wie viele andere seinen

Lebensunterhalt als „Schatzgräber“ (in der englischen und russischen

Fassung stalker bzw. Сталкер), dringt heimlich in die Zone ein und

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entwendet in lebensgefährlichen Aktionen illegal Gegenstände, um sie als

„Ramsch“ an Interessenten zu verkaufen.

Die Erzählung gliedert sich in vier Episoden, von denen sich drei aus der

Sicht von Roderic Schuchart abspielen. Diesen geht ein Auszug aus

einem fiktiven Interview mit dem ebenso fiktiven Wissenschaftler und

Nobelpreisträger Dr. Valentin Pillman voraus. Der Leser wird hier förmlich

unvorbereitet mit der Grundthematik konfrontiert, das Interview dreht sich

um den „Besuch“ und die dadurch entstandenen „Zonen“.

Die erste Episode schildert Alltag und Arbeit des 23-jährigen „Schatzgräbers“ Roderic „Rotfuchs“ Schuchart. Als Mitarbeiter der

„Harmonter Filiale des Internationalen Instituts für außerirdische Kulturen“

wird er von seinem Kollegen und Freund, dem Wissenschaftler Kirill A.

Panow angeheuert, mehr oder minder legal ein äußerst seltenes Artefakt

aus der Zone zu beschaffen. Mit einem weiteren Mann an Bord reisen sie

durch die Zone und treffen auf zahlreiche physikalische und chemische

Anomalien, die durch „den Besuch“ entstanden sind. Kurze Zeit nachdem

sie von ihrer erfolgreichen Expedition zurückkehren, ist Kirill tot. Roderic

befürchtet, dies könnte etwas mit einer Erscheinung zu tun haben, die er –

und nur er – während des Aufenthalts in der Zone bemerkt hat.

In diesem ersten Abschnitt werden neben der vordergründigen Handlung

noch andere Probleme angedeutet, die die Zone mit sich bringt:

Materialismus, Alkoholismus, das unbeherrschte und bisweilen

egozentrische Wesen des Stalkers Roderic, seine Abhängigkeit von der

Zone und der daraus resultierende Familienkonflikt.

Das zweite Kapitel erzählt, wie der 28-jährige Roderic zusammen mit dem

weitaus älteren Barbridge, genannt „Aasgeier“, nach einer illegalen

Expedition aus der Zone flüchtet. Barbridge hat nach einem Unfall,

verursacht durch „die Hexensülze“, einem Artefakt der Zone, die Knochen

seiner Unterschenkel verloren und ist auf die Hilfe Roderics angewiesen.

Nach der erfolgreichen Flucht kehrt Roderic zu seiner Familie zurück. Der

Leser erhält nun einen etwas tieferen Einblick in die Familie des

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Schatzgräbers. Seine Frau Gutta ist besorgt um ihn und das gemeinsame,

durch die Einwirkung der Zone mutierte Kind, das von ihnen aufgrund

seines fellartigen Haarwuchses liebevoll „Äffchen“ genannt wird. Bei einem

späteren Treffen mit einem Interessenten wird ihm gegen die Beschaffung

mehrerer sehr seltener Artefakte eine enorme Summe Geld geboten. Kurz

darauf wird Roderic von einem anderen Kunden, dem Barinhaber Ernest,

verraten. Es gelingt ihm, vorerst zu fliehen und seinen Auftraggeber zu

kontaktieren, der gegen die Aushändigung eines der Artefakte Roderics

Frau im Falle seiner Inhaftierung finanziell unterstützen soll.

Die Ereignisse des dritten Kapitels werden aus Sicht von Richard H.

Nunnan beschrieben, der als Vertreter einer Elektronikfirma am Institut in

Harmont arbeitet. Bei einem geheimen Treffen mit seinem „Chef“ wird er

beschuldigt, die in seiner Zuständigkeit liegenden Aktivitäten in der Zone

nicht ausreichend zu überwachen. Immer noch würden durch

Schatzgräber Gegenstände aus der Zone entwendet. Nunnan beauftragt

seinen Verwalter und Handlanger „Knochenfaust“, Barbridge zu

beobachten, der unter dringendem Verdacht steht, etwas damit zu tun zu

haben. Später trifft Nunnan in einer Bar Pillman und führt mit ihm ein

Gespräch, das sich als zentral für die Interpretation des Besuches und der

Zone erweist. Daraufhin besucht Nunnan die Familie des vor Kurzem aus

dem Gefängnis entlassenen Roderic Schuchart, der der Zone scheinbar

vollends abgeschworen hat. Zwar befindet sich die Familie, unter anderem

dank der Hilfe Nunnans, in einer guten finanziellen Situation, das „Äffchen“

verändert sich aber zusehends und verliert mehr und mehr seine

menschlichen Züge.

Im letzten Kapitel geht Roderic, inzwischen 31 Jahre alt, zusammen mit

Barbridges Sohn Arthur in die Zone. Die beiden wollen das ultimative

Artefakt, die sagenumwobene „Goldene Kugel“ finden. Angeblich soll sie

sämtliche Wünsche erfüllen können und soll Barbridge zwei „perfekte“

Kinder und Reichtum beschert haben. Nach einer abenteuerlichen und

höchst gefährlichen Reise, auf der beide knapp dem Tod entgehen,

erreichen sie den Steinbruch, wo sich die Kugel befindet. In seiner

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Euphorie wird Arthur auf den letzten Metern nachlässig und fällt dem

„Fleischwolf“, einer tödlichen Falle der Zone, zum Opfer. Roderic wirkt

scheinbar gleichgültig angesichts des Schicksals des Jungen. Die

Erzählung endet damit, dass Roderic, völlig in Gedanken versunken, auf

die Kugel zuschreitet.

3.2 Inhaltsangabe: Stalker

Der Film beginnt, ähnlich der Romanvorlage, mit einem Auszug aus einem

fiktiven Interview mit dem fiktiven Nobelpreisträger Professor Wallace in

Textform. Auch hier wird das Szenario kurz und ungenau beschrieben: Es

entstand eine „Zone“, vielleicht durch einen Meteoriteneinschlag, vielleicht

auch durch den Besuch außerirdischer Lebensformen. Truppen, die

dorthin entsandt wurden, kehrten nicht zurück. Daraufhin wurde das

Gebiet abgeriegelt und ist seitdem schwer bewacht.

Der „Stalker“ (Alexander Kajdanowski) lebt in ärmlichen Verhältnissen mit

seiner durch die Zone verkrüppelten Tochter (Natasha Abramowa) und

seiner offenbar überforderten Frau (Alissa Frejndlich). Obwohl sie

versucht, ihren Mann von seinem Vorhaben abzuhalten, in die Zone zu

gehen, da er deswegen in der Vergangenheit bereits im Gefängnis saß,

willigt er ein, einen erfolglosen Wissenschaftler (Nikolai Grinko) und einen

Schriftsteller (Anatoli Solonizyn) auf der Suche nach Inspiration in die

Zone zu geleiten. Dort soll es einen Ort geben, das sogenannte „Zimmer“,

das imstande ist, einem Menschen alle Wünsche zu erfüllen.

Nachdem die drei – sie nennen sich fortan nur noch „Stalker“, „Professor“

und „Schriftsteller“ – den militärischen Sperrgürtel um die Zone

überwunden haben, fahren sie mit einer Draisine weiter in das Innere des

offenbar riesigen Areals. Dort herrscht eine ungewöhnliche Stille, die von

eigenartigen und beängstigen Geräuschen unterbrochen wird, die nicht

eindeutig zuzuordnen sind. Doch weder Menschen noch Tiere sind

aufzufinden, obwohl das Gerücht existiert, dass sich einige Menschen dort

niedergelassen haben. Alles, was an eine Zivilisation erinnert, Gebäude,

Strommasten, Panzer und Fahrzeuge, wird langsam von der Natur

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verschluckt, es verrostet, verrottet, versinkt oder wird allmählich von

Pflanzen überwuchert.

Obwohl das sagenumwobene „Zimmer“ in greifbarer Nähe liegt, führt der

Stalker den Schriftsteller und den Professor nicht auf direktem Wege

dorthin, sondern geht einen Umweg, da laut dem Stalker „in der Zone [...]

der direkte Weg nicht der kürzeste [sei]“ (0:53). Wegen möglicher Fallen,

die die Zone den Besuchern stellt, sichert der Stalker den Weg, indem er

an ein Stück Stoff gebundene Schraubenmuttern vorauswirft, um anhand

der Flugbahn mögliche „Anomalien“ zu erkennen. Dennoch offenbart sich

dem Zuschauer im gesamten Film keine einzige dieser Fallen.

Vor dem „Zimmer“ erreicht ein von Beginn an währender Streit zwischen

den dreien seinen Höhepunkt, als der Professor seine Pläne, das Zimmer

mit einer Bombe zu zerstören, preisgibt. Letztendlich müssen alle

erkennen, dass ihre Vorhaben keine Lösungen ihrer Probleme sind. Sie

verlassen die Zone, der Schriftsteller ist nicht in das Zimmer gegangen

und der Professor hat es nicht zerstört. Der Stalker geht voller

Verzweiflung über das „Scheitern“ seiner Mission zu seiner Frau zurück,

die versucht, ihm Mut zu machen.

3.3 Der „Schatzgräber“ Roderic Schuchart[2]

Der Charakter des Protagonisten Roderic „Rotfuchs“ Schuchart erfährt im

Verlauf der Erzählung mehrere Wandlungen, wobei diese Veränderungen

durch den zeitlichen Abstand zwischen den einzelnen Kapiteln recht

deutlich werden.

Im ersten Kapitel wirkt er wie ein junger, abenteuerlicher und in vielerlei

Hinsicht unreifer Draufgänger, der weder Autorität respektiert noch die

Konsequenzen für sein Handeln fürchtet. Da dieses Kapitel vollkommen

aus der Sicht Roderics erzählt wird, offenbart sich dem Leser dessen

leichtfertiger Charakter sehr schnell, die inneren Monologe bestehen

hauptsächlich aus umgangssprachlichen Formulierungen, die am ehesten

der Jugendszene entspringen wie „[...] dann konnten wir ins »Borstsch«

abziehen, um kräftig die Gurgel zu ölen [...]“ (S.11). Er ist ein

[2] Sämtliche Seitenangaben beziehen sich auf A. und B. Strugatzki „Picknick am Wegesrand“, Suhrkamp Verlag

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pragmatischer Mensch, der seinen Kollegen Kirill als Wissenschaftler

durchaus respektiert, für die Wissenschaft allerdings recht wenig übrig hat.

Ihm liegt viel mehr an weltlichen Vergnügen und er würde Kirill, um ihn von

seiner ständigen Arbeit ein wenig abzulenken, am liebsten „'ne Flasche

Schnaps eintrichtern und 'ne Puppe verschaffen, die ihn auf Trab bringt“

(S.12), wäre Kirill nicht „von anderm Schlag“ (S.12). Auch gegenüber Kirill

entsteht der Eindruck, dass Roderic die gefährlichen Missionen

hauptsächlich aus finanziellen Gründen mitmacht (S.39) sich jedoch aus

schlechtem Gewissen selbst gut zuredet.

Ein weiteres Charakteristikum Roderics, das sich durch die komplette

Erzählung zieht, wird deutlich, als die drei ihre Expedition in die Zone

beginnen: Roderic ist äußerst barsch und schreckt nicht vor physischer

und verbaler Gewalt zurück, auch nicht gegenüber Freunden und

Bekannten. Er äußert sich abfällig gegenüber Kirill, der scheinbar betet,

bevor sie in die Zone fahren (S.23), verpasst dem dritten Mitglied der

Gruppe, Tender, schon zu Beginn der Expedition „einen solchen

Rippenstoß, dass ihm die Mätzchen sogleich vergingen“ (S.24), um ihn

zurechtzuweisen und zur Aufmerksamkeit zu mahnen. Als Tender später

nicht aufhören will zu reden, mahnt er ihn zunächst mit Ausdrücken wie

„Halt die Klappe!“ (S.27) und „Rindvieh“ (S.27), bevor er ihm ins Gesicht

schlägt. Gesten wie diese vermitteln den Eindruck, dass er gegenüber

anderen keine Schwäche zeigen will. Er überspielt sogar seine

offensichtliche Furcht, bevor sie die Zone begehen und kommentiert, „es

gab nur zwei Möglichkeiten, wenn's in die Zone ging: entweder heulen

oder blödeln – und was mich betraf, so hatte ich schon 'ne Ewigkeit nicht

mehr geheult“ (S.23).

Alkoholismus zieht sich wie ein roter Faden durch „Picknick am

Wegesrand“. Der vermeintliche Held ist nicht nur ein gewaltbereiter

Kleinkrimineller sondern auch alkoholabhängig, was ihn mehr zu einem

Antihelden werden lässt. Ständig konsumiert er Alkohol, sei es um sich in

der Zone zu beruhigen oder einfach nur auszuspannen. Er selbst gesteht

sich seine Sucht ein: „Ohne das Zeug geht’s bei mir nicht“ (S.23f.). Neben

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dieser harten Schale, die er anderen Menschen gegenüber heraus kehrt,

besitzt er auch einen weichen Kern, der ganz am Schluss im

Zusammenhang mit seiner von ihm schwangeren Freundin Gutta deutlich

wird.

Im zweiten Kapitel – Roderic ist mittlerweile mit Gutta verheiratet – werden

die beiden Seiten Roderics noch deutlicher. Er legt eine gewisse

Lässigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber Barbridge an den Tag, den er

mit verstümmelten Beinen aus der Zone bringt, und spricht entspannt vom

Essen (S.71), während sich Barbridge mit Schmerzen quält. Er beschimpft

und schlägt ihn auch, als er keine Ruhe geben will (S.69). Dazu steht im

Kontrast dass er Barbridge trotz aller Verachtung, die er für ihn empfindet

nicht zurücklässt, obwohl er weiß, dass Barbridge dasselbe für ihn nicht

tun würde (S.73). Barbridge lässt durchblicken, dass Roderic ihn

ursprünglich töten wollte, sich jedoch dagegen entschied und ihn sogar

retten würde.

Doch nicht nur Gerechtigkeit und Gutmütigkeit stehen in Kontrast zu

seinem rauhen Charakter, auch die Liebe zu seiner Familie und dem

„Äffchen“. Als er nach Hause kommt, scheint er für einige Momente ein

völlig anderer Mensch zu sein. Er ist ein Familienvater, der seinem Kind

eine Schaukel gebaut hat, etwas zu Essen mitbringt und sein durch die

Zone völlig verändertes Kind fürsorglich behandelt, als wären all die

anderen Dinge im Zusammenhang mit der Zone nie geschehen.

Angesichts der immer wahrscheinlicher werdenden Verhaftung sorgt er

sich um die Zukunft seiner Familie. Das lässt darauf schließen, dass seine

Familie in seinem Leben eine immer wichtigere Rolle einnimmt. Dies wird

im dritten Kapitel nochmals bestätigt: Roderic will nicht mehr ins

Gefängnis, er will ein normales Leben mit seiner Familie führen und plant,

sich ein eigenes Haus zu bauen.

Trotz gesicherter finanzieller Situation lässt er sich dazu hinreißen, mit

Barbridges Sohn Arthur ein letztes Mal in die Zone zu gehen. Ihm wurde

eine enorme Summe Geld für die Beschaffung der „goldenen Kugel“

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versprochen und urplötzlich scheinen all seine schwierigen Eigenschaften

mit dem Besuch der Zone wieder aufzuflammen: Die scheinbare

Gleichgültigkeit, sowie Alkoholmissbrauch und Materialismus. Doch mehr

als zuvor zweifelt er an seiner Einstellung. Er ist sich nicht mehr sicher, ob

es das Geld wert ist, dieses große Risiko einzugehen. Stattdessen sieht er

den Sinn seiner Mission eher darin, dafür zu sorgen, dass die Kugel nicht

in falsche Hände gerät. Doch auch das wäre ihm gleichgültig. Zunehmend

wird klar, dass Roderic diese Expedition nur aus einem Grund angetreten

hat: Es geht weder um Geld, noch darum, einen Missbrauch zu

verhindern. Er will die Kugel selbst, denn „Das einzige, was ihm auf der

Welt geblieben war, das einzige, wofür er in den letzten Jahren und

Monaten gelebt hatte, war die Hoffnung auf ein Wunder“ (S.161). Er hofft,

durch die Kugel seiner Tochter ein normales Leben ermöglichen zu

können. Während er Barbridges Sohn zu Beginn nur als Mittel zum Zweck

sieht (S.155f.), empfindet er zunehmend Sympathie für ihn und findet,

dass Arthur „kein übler Schatzgräber [wäre]“ (S.168). Er will sich jedoch

diese „Schwäche“ nicht eingestehen, da er sich nicht leisten kann, „Mitleid

mit jemandem zu empfinden“ (S.168) und dadurch die Kugel zu verlieren.

Er muss sich entscheiden: „Entweder dieses Bürschchen oder das

Äffchen“, doch stellt sich ihm diese Frage nicht wirklich (S.168), weil er

sich schon entschieden hat. Zunehmend degradiert er den Jungen zum

Instrument, seinem „persönlichen Minensuchgerät“ und seinem „Dietrich“

(S.174). Er rettet ihn vor dem fast sicheren Tod, um ihn für den

„Fleischwolf“ aufzuheben. Doch schwingt immer wieder mit, dass in

Roderic doch noch etwas Menschliches vorhanden ist. Er gesteht sich ein,

dass er in dem Moment, als er Arthur gerettet hat „weder an den Dietrich

noch ans Äffchen“ (S.174) gedacht hat.

Je näher die beiden der Kugel kommen, umso mehr verliert Roderic seine

Menschlichkeit und Arthur wird zum Instrument. Auch hegt er plötzlich nur

mehr Rachegedanken. Er will mit den Menschen, die ihm das Leben

schwer gemacht haben „abrechnen“ (S.178), sobald er in den Besitz der

Kugel gelangt ist. Er denkt mit Freude daran, wie Barbridge reagieren

wird, sobald er erfährt, dass sein Sohn geopfert wurde, um die Kugel zu

beschaffen, mit der er sich die Beine zurückwünschen kann. Sadismus,

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Schadenfreude und Wut erfüllen sein Gemüt. Er lässt Arthur kurz vor der

Kugel geradewegs in den „Fleischwolf“ laufen, opfert ihn, um selbst an das

wertvollste aller Artefakte zu gelangen. Während Arthur getötet wird, zeigt

Roderic keine Gefühlsregung. Als er in Gedanken versunken am

Steinbruch steht, fängt er plötzlich an, an allem zu zweifeln, von dem er

sich zuvor so sicher war, dass er es sich aufrichtig wünscht: Ein normales

Leben für seine Tochter, Frieden für den verstorbenen Vater, die

Bestrafung derer, die ihn sein Leben lang schikanierten. Er muss sich

eingestehen, dass er in seinem „ganzen Leben noch keinen einzigen

wirklichen Gedanken hatte“ (S.186) und selbst nicht genau weiß, was er

sich wirklich wünscht. Alles scheint nun keinen Sinn mehr zu machen. Er

fasst den Entschluss, die Kugel zu zerstören, begreift aber gleichzeitig,

dass er damit jegliche Hoffnung zerstören würde. Als er auf die Kugel

zuschreitet, bittet er sie darum, sie möge seine innersten Wünsche

erkennen. In dieser finalen Szene scheint alles bedeutungslos zu werden:

sein Charakter, seine Wünsche und die Liebe zu seiner Familie, die

verdrängt wird von Zweifeln.

3.4 Der „Stalker“[3]

Der Charakter des Stalkers wurde von Tarkowski völlig anders

ausgestaltet. Der im Buch zu Beginn

sehr juvenil wirkende, unbedachte und

gewaltbereite Draufgänger Roderic

wurde durch einen älteren, erfahrenen

und vorsichtigen Mann ersetzt. Eine

Entwicklung des Charakters findet

nicht statt, weil sich die Verfilmung nur

grob auf das letzte Kapitel der

Erzählung und hauptsächlich auf die Drehbuchvorlage „Die

Wunschmaschine“ bezieht. Dennoch gibt es zahlreiche Parallelen, aber

auch große Unterschiede. Einige der Persönlichkeitsanteile Roderics

wurden in den beiden anderen Personen, dem Professor und besonders

[3] Sämtliche Zeitangaben beziehen sich auf A. Tarkowski „Stalker“, Icestorm Entertainment

Abb.3: Der Stalker

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dem Schriftsteller realisiert.

Schon zu Beginn des Filmes wird der Konflikt des Stalkers deutlch, dass

er sich sowohl der Zone als auch seiner Familie verbunden fühlt. Er

musste aufgrund zurückliegender Vergehen bereits mehrere Haftstrafen

verbüßen. Um ein weiteres Mal in die Zone einzudringen, schleicht er sich

heimlich aus dem gemeinsamen Schlafzimmer. Doch seine Frau stellt ihn

zur Rede. Sie wirft ihm vor, weder an sich noch an seine Familie zu

denken. Der Stalker geht auf ihre Anschuldigungen und Versuche, ihn

abzuhalten nicht ein, sondern fordert sie ruhig auf, leise zu sein, denn sie

„[wecke] das Äffchen“ (0:09). In seiner Mimik und seinem gesenkten Blick

ist deutlich der Gewissenskonflikt zu erkennen. Er beteuert „Ich bin bald

wieder da“ (0:10), bevor er sich von seiner Frau förmlich losreißt.

Auf der Expedition erlebt man den Stalker als sehr vorsichtig und genau

kalkulierend. Er kennt sich bestens mit den Sicherheitsvorkehrungen vor

der Zone aus und erteilt von Beginn an klare Anweisungen. In der Zone

warnt er den Professor und den Schriftsteller öfter vor deren Tücken, wirft

immer Schraubenmuttern voraus und umgeht einige Orte, um jede Gefahr

auszuschließen. Er gibt stets einen genauen Pfad vor, dem die anderen

folgen sollen. Als der Schriftsteller die Geduld verliert und vom Pfad

abweichen will, warnt ihn der Stalker und versucht, ihn davon abzuhalten.

Er lässt ihn jedoch walten, solange der Professor bezeugt, dass der

Schriftsteller aus freien Stücken gegangen ist (0:55). Als der Professor

umkehrt, um seinen Rucksack zu holen, wird der Stalker unruhig und wirkt

zunächst erleichtert, als sie ihn wiedertreffen. Eine am Mauerwerk

befestigte Schraubenmutter, die vor einer Falle warnen soll, beunruhigt ihn

erneut.

Der Alkoholismus, der in „Picknick am Wegesrand“ eine wichtige Rolle

spielt, wird auch in Stalker mehrmals thematisiert. Der Stalker selbst ist

dem Alkohol eher abgeneigt und betrachtet Trunkenheit als unnötiges

Risiko beim Begehen der Zone. Zu Beginn des Filmes trifft er sich mit dem

Schriftsteller, der, eine Schnapsflasche in der Hand, gerade mit einer

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snobistisch anmutenden jungen Frau der gehobenen Mittelschicht

anbandelt und sie in die Zone mitnehmen will. Der Stalker schickt die Frau

wieder nach Hause und kritisiert den Schriftsteller, er habe sich „doch

betrunken“ (0:14). Auch als der aufgebrachte Schriftsteller in der Zone aus

seiner Flasche trinken will, nimmt sie ihm der Stalker mit den Worten „Darf

ich?“ ab, als wolle er selbst daraus trinken, leert sie aber seelenruhig auf

den Boden (0:54).

Auch gewaltbereit ist der Stalker grundsätzlich nicht. Nur als der

Schriftsteller offenbar aus Lust und Neugier an einem Ast zerrt und dies

auch nach mehrmaliger Aufforderung durch den beunruhigten Stalker nicht

unterlässt, wirft er unbeholfen eine Eisenstange nach ihm (0:52). Er macht

ihn erneut, aber wieder völlig gefasst darauf aufmerksam, die Zone

„verlang[e] Ehrfurcht, sonst straf[e] sie“. Die Kritik des aufgebrachten

Schriftstellers, er habe „keine Sprache“, macht ihn unsicher und offenbar

beschämt: „Ich... ich hatte Sie gebeten“ (0:53). Das zweite und letzte Mal,

dass der Stalker die Kontrolle über sich verliert, ist, als der Professor die

Bombe zusammenbaut. Er versucht verzweifelt, sie ihm zu entreißen, wird

aber vom Schriftsteller, dem er körperlich deutlich unterlegen ist,

weggezerrt und schließlich in das seichte Wasser gestoßen (2:04). Er

wendet jedoch nicht gezielt Gewalt an, sondern will den Professor davon

abhalten, das Zimmer und somit die Hoffnung zu zerstören. Der

Schriftsteller dagegen hat eine persönliche Wut gegen den Stalker

entwickelt und nutzt seine physische Überlegenheit aus.

Der Stalker ist ein umgänglicher Mensch. Er ist vorsichtig, gefasst und

zurückhaltend – doch er ist auch unsicher, zögerlich und abhängig. Seine

Unsicherheit gegenüber anderen Menschen ist an seinem gesenkten und

unruhigen Blick zu erkennen. Er stockt des Öfteren zu Beginn seiner

Sätze. Geschieht etwas Unerwartetes, wird er nervös. Lächeln sieht man

den Stalker nur selten. Die einzige einprägsame Szene in diesem

Zusammenhang ist jene, als er alleine zwischen den Pflanzen liegt und

lächelt, als er anschließend zu den beiden anderen zurückkehrt (ab 0:42).

Er ist spürbar abhängig von der Zone und fürchtet sie gleichzeitig. Diese

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Abhängigkeit wird vor allem am Ende des Filmes deutlich, als er

verzweifelt klagt, dass sein Glück daraus bestehe, dass er anderen bei der

Erfüllung derer Wünsche helfe (ab 2:06) und als er seiner Frau seine

Entrüstung über die Menschheit mitteilt (2:26).

Wie schon angedeutet, wurden viele Charaktereigenschaften des jungen

Roderic auf den Schriftsteller übertragen. Der Schriftsteller ist ein

Frauenheld, der zu Alkoholismus, Spontaneität, Leichtsinn und verbaler

Angriffslust tendiert. Er hält nicht viel von der Wissenschaft und hält sich

lieber an weltliche Vergnügen, was

ihn aber nicht befriedigt. Der

Professor hat mit Roderic wenig

gemeinsam. Nur die Auffassung, man

müsse das Zimmer bzw. die Kugel

zerstören, ist bei beiden vorhanden,

wenn auch bei Roderic nur für einen

kurzen Moment. Was beide am

ehesten verbindet ist die Einsicht,

dass mit dem Zimmer bzw. der Kugel alle Hoffnung zerstört würde.

Äußerlich ist vom Charakter des Roderic Schuchart nur wenig übrig

geblieben. Im Gegensatz zu dem trinkenden Abenteurer, der hin und

wieder fast über Leichen gehen würde, hat man es bei „Stalker“ mit einem

eher friedliebenden, teils sogar Mitleid erregenden Mann zu tun. Doch

beide haben etwas Entscheidendes gemeinsam: Die Abhängigkeit von der

Zone, gegen die sie nur um ihrer Familie willen ankommen können.

4 Die Bedeutung der Zone

4.1 Deutung der Zone in „Picknick am Wegesrand“

Fragt man nach der Bedeutung der Zone und des Besuches, steht bei

„Picknick am Wegesrand“ ein sich auf die gesamte Menschheit

Abb.4: Der Professor (l) und der Schriftsteller (r)

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beziehender, in einigen Teilen ein wissenschaftlich-philosophischer

Interpretationsansatz im Vordergrund. In „Stalker“ ist dieser Ansatz nur

zweitrangig bis gar nicht vorhanden. Hier wird der Zone eine andere

Bedeutung beigemessen: Die Auswirkung auf den einzelnen Menschen.

Zwar wird dieser individuell-menschliche Ansatz auch in „Picknick am

Wegesrand“ angedeutet, ist aber im Film in einer völlig anderen

Dimension vertreten und ein Kernelement der künstlerischen Umsetzung.

Besonders bemerkenswert ist bei ersterer Deutung das Gespräch

zwischen Richard H. Nunnan und dem Wissenschaftler Dr. Valentin

Pillman im dritten Kapitel (s.127ff.). Hierbei geht es vordergründig um die

Gründe für den „Besuch“ durch die vermeintlich außerirdische Zivilisation

und dessen Auswirkungen. Pillman gibt eine Definition, die den Autoren

offenbar so wichtig war, dass sie sie als Titel der Erzählung übernahmen:

Ein Picknick am Wegesrand. Pillman vergleicht den Besuch mit einer

ausgelassenen Feier ein paar Jugendlicher, die sich irgendwo am Rande

eines Pfades niedergelassen haben, Zelte aufbauen, Musik spielen,

trinken und essen. Dabei lassen sie allerlei Dinge zurück, die in der Natur

weder vorkommen, noch von den dort lebenden Tieren in irgendeiner

Weise genutzt werden können: Teile von Autos, Flaschen,

Verpackungsmaterial und so weiter.

Folgt man dieser Idee weiter, ist der interessanteste Punkt, wie die Tiere

mit den zurückgelassenen Gegenständen umgehen würden. Eins ist

sicher: Keines der Dinge würde unangetastet für alle Ewigkeit am gleichen

Platz liegen bleiben – die Neugier der Tiere würde sie zumindest dazu

bewegen, sie herumzustoßen, umzudrehen oder vielleicht gar danach zu

schlagen, um herauszufinden, ob dieser unbekannte Gegenstand

überhaupt etwas Lebendiges ist. Die Tiere könnten noch viel weiter gehen

und einen Nutzen für die verstreuten Utensilien entdecken, ein Igel könnte

eine leere Konservendose als Versteck, ein Vogel lose Drähte für den Bau

seines Nestes verwenden. In diesem Fall erfüllt der Gegenstand für die

Tiere einen Zweck – obwohl sie keine Ahnung von seiner tatsächlichen

und ursprünglichen Bedeutung haben. Es mag für einen Menschen

amüsant erscheinen, wie sich die Tiere mit dem zurückgelassenen

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„Ramsch“ arrangieren, doch verhält es sich nach der Definition Pillmans

genau so mit der Zone.

Auch für die Menschen sind Sinn und Zweck der Gegenstände und

Artefakte, die in der Zone zu finden sind, unklar und werden sich ihm auch

in absehbarer Zeit nicht offenbaren. Doch haben sie einen Nutzen oder

werden für die Wissenschaft unersetzlich, zum Beispiel die „Attacks“ als

unerschöpfliche Energiequellen oder die „Nullen“ aufgrund ihres

verblüffenden Energiefeldes. Für diejenigen, die die Gegenstände

zurückgelassen haben, mag es komisch wirken, welchen Nutzen die

Menschheit aus der Zone zieht. Doch so sehr manche Gegenstände auch

nutzen können, setzt sich der Mensch ständig Gefahren aus, sobald er

sich mit der unbekannten Welt einlässt, wie ein Tier, das sich in einer

Plastikfolie oder einer Paketschnur verheddert und verendet. Und mit

genau dieser Frage beschäftigt sich „Picknick am Wegesrand“ die ganze

Zeit: Wie geht der Mensch mit etwas um, was er nicht begreifen kann?

Dabei muss man davon ausgehen, dass sich die außerirdische Zivilisation

vom Menschen unterscheidet, ähnlich wie sich der Mensch vom Tier durch

die Vernunft unterscheidet. Für den menschlichen Beobachter ist die

Bedeutung der Picknicküberreste klar, ihm sind auch die Gefahren

bekannt – zum Teil allein durch seine Fähigkeit zu voraussehendem,

logischen Denken und nicht lediglich durch gemachte Erfahrung. Dies

lässt ihn Situationen einschätzen und Entscheidungen treffen, ohne eine

ähnliche Situation erlebt zu haben. Bei Tieren ist das anders: Tiere sind

einerseits vom Instinkt geleitet und lernen andererseits aus Erfahrungen.

Sie können jedoch kaum begreifen, was sie noch nie gesehen haben.

Eigenschaften wie vorausschauendes Denken und planmäßiges Handeln

werden eher dem Menschen zugeschrieben.

Nun geht der Mensch oft davon aus, dass ihm seine Fähigkeit zu

logischem Denken die vollkommene Einsicht bescheren kann, solange er

über genügend Informationen verfügt. Auch die Wissenschaftler in

„Picknick am Wegesrand“ gehen davon aus, dass sie die Bedeutung der

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Artefakte und Anomalien irgendwann mit ihrem Verstand und den ihrem

Verstand zugänglichen Naturgesetzmäßigkeiten begreifen können, dass

ihnen aber noch die nötigen Informationen fehlen, um alles in ein

Gesamtgefüge einzufügen. Denn bis zu einem gewissen Grad sind die

Gegenstände für sie durchaus nutzbar und es wird davon ausgegangen,

dass jene „andere“ Zivilisation, genau wie der Mensch, vernunftbegabt ist.

Dieser Meinung ist auch Nunnan, wird aber von Pillman recht schnell

zurechtgewiesen, da eine Definition von Vernunft fast unmöglich sei und

meist lediglich eine recht triviale Unterscheidung vom Tier darstelle. Dies

belegt er mit der eher ironischen Definition, dass es sich bei der Vernunft

um die „Fähigkeit eines Lebewesens zu unsinnigen oder unnatürlichen

Handlungen“ (S.130) oder, als Gegensatz zur vorherigen Definition, um

die „Fähigkeit des Menschen, die Kräfte der ihn umgebenden Welt so zu

nutzen, dass die Welt dadurch nicht zerstört wird“ (S.139) handle. Das zu

beschreiben, was der Mensch spürt, wenn er vor einer Entscheidung steht

und ihm genau bewusst ist, was vernünftig und was unvernünftig ist, ist

aber nahezu unmöglich und geht schon wieder über den Horizont des

Menschen heraus.

Und genau das verdeutlicht die Erzählung meiner Meinung nach sehr

genau: Egal für wie intelligent, vernunftbegabt und fortschrittlich der

Mensch sich hält, sein Horizont ist dennoch sehr beschränkt. Sollte ein

ähnlicher Fall wie in Film und Buch eintreten und ein solcher „Besuch“

tatsächlich einmal stattfinden: So sinnvoll der hypothetische Umgang mit

außerirdischen Artefakten auch erscheinen mag, müssen wir immer davon

ausgehen, dass unser Handeln gegenüber einem Wesen, das Fähigkeiten

jenseits unseres Vorstellungsvermögens besitzt, wie eine Lächerlichkeit

aussehen wird.

Die Bedeutung, die Tarkowski der Zone in seiner Verfilmung beimisst, wird

auch in „Picknick am Wegesrand“ angedeutet. Auch für Roderic persönlich

spielt die Zone eine Rolle. Für ihn stellt sie einen Ort der Zuflucht dar, der

zwar zahlreiche tödliche Gefahren birgt, ihm aber dennoch eine

Möglichkeit zur Selbstreflexion gibt, was überwiegend im letzten Kapitel

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deutlich wird. Während seiner letzten Expedition beginnt er erstmals, über

all seine Wertvorstellungen, Ziele und Motive nachzudenken.

Roderic macht sich im Laufe der Erzählung zunehmend von der Zone

abhängig und lässt sich auch – ähnlich einer Droge – trotz des Vorsatzes,

ihr abzuschwören, immer wieder hinreißen, sie zu betreten. Sein Freund

Kirill starb vermutlich durch die Einwirkung der Zone und Roderics Tochter

wurde von ihr verändert, sodass ihr kaum ein normales menschliches

Leben möglich sein wird. Er selbst musste wegen seiner illegalen

Expeditionen mehrmals für längere Zeit ins Gefängnis und gefährdet damit

seine Familie. Doch trotz dieser negativen Seiten geht für Roderic eine

unglaubliche Faszination und Anziehung von der Zone aus.

4.2 Deutung der Zone in „Stalker“

Für Tarkowski ist die Zone keine Spielzeugkiste für Wissenschaftler.

Zunächst lässt er unklar, was die Zone überhaupt ist und wodurch sie

entstanden ist. Die Vermutungen, es könne sich um den Ort eines

Meteoriteneinschlags handeln, konnten nie bestätigt werden, da es keine

Beweise, wie Überreste eines Meteoriten, gibt. Interessanterweise ist auch

während dem gesamten Film nichts zu sehen, was in irgendeiner Weise

außerirdisch erscheint. Merkwürdig wird die Zone erst durch die strenge

Bewachung, die Absenz jeglicher Zivilisation und den Anschein, dass alles

von einem Moment auf den anderen verlassen wurde und starb. Das ist

zwar ein verstörender und absurder Anblick, aber nichts, was die

Beteiligung übernatürlicher Kräfte nahelegt. Denn all die Fallen und

Anomalien, vor denen der Stalker die anderen warnt, bekommt man nie zu

sehen. Die Bedrohlichkeit entsteht allein durch Suggestion, durch die

Behauptungen des Stalkers, es gehe in der Zone nicht mit rechten Dingen

zu.

Die Zone liefert den Besuchern nichts Greifbares, keine

außergewöhnlichen Gegenstände, über die sie erfreut, erstaunt oder

empört sein könnten. Jede ungewöhnliche Erscheinung – die geruchlosen

Blumen oder die anonyme Stimme, die den Schriftsteller zurückruft – ist

auf Sinneseindrücke des Menschen zurückzuführen. Und die Sinne

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können trügen. Der Schriftsteller bezeichnet die Zone als „jemandes

idiotische Erfindung“ (1:42), was bei all den Erfahrungen, die sie während

ihres Aufenthaltes machen, auch einleuchtet. Jeder, der sich den Film

ansieht, wird sich früher oder später fragen, ob so etwas wie „die Zone“

überhaupt existiert. Doch allein diese Ungewissheit vermittelt ein

kafkaeskes Gefühl der Bedrohung.

So kann man die Zone in „Stalker“ als eine Projektion der Seele und der

Bewältigung des Lebens und des Verhalten eines jeden Einzelnen

interpretieren. Genau wie bei der Zone stößt man bei der Seele früher

oder später auf die Frage: Was ist sie überhaupt? Existiert sie oder

glauben wir nur, dass sie existiert, weil wir ihre Existenz als gegeben

hinnehmen und uns einbilden, wir verhielten uns, als hätten wir eine

Seele? Gehen wir durch das Leben, indem wir versuchen zu überleben

und uns fortzupflanzen und haben wir nur durch die Evolution die

Fähigkeit erhalten, über unser Handeln nachzudenken? Oder ist die

Gestaltung der Seele und des Wesens ein fester Bestandteil

menschlichen Lebens? Die Vorstellung von einer Seele als einem

Bestandteil des Menschen, der unabhängig von seinem weltlichen Dasein

und möglicherweise über dieses hinaus existiert, ist schwer zu begreifen

und die Frage, ob die Seele etwas Immanentes, empirisch Erklärbares,

sich aus biologischen und physikalischen Faktoren wie Nervenimpulsen

im Gehirn Zusammensetzendes oder etwas Transzendentes, durch eine

höhere Macht Eingegebenes ist, ist nicht zu klären. Genauso wenig weiß

man von der Zone, ob sie ein begrenztes Areal ist, von dem lediglich

behauptet wird, es verhalte sich nicht entsprechend der Naturgesetze und

das die Besucher dazu verleitet, nach dem Übernatürlichen zu suchen,

sich immer mehr in Vorstellungen hineinzusteigern und sich all die

Phänomene einzubilden, um ihre Sensationslust und Neugier zu

befriedigen. Sie könnte aber auch eine nach einem Plan einer höheren

Macht oder Intelligenz geschaffene Idee sein, die vom Menschen nicht

ohne weiteres verstehbar ist.

In der Zone sind ständig Gegensätze zu beobachten. Sobald die drei

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Menschen die Zone erreicht haben, schlägt das Bild von Schwarzweiß mit

einem Sepia-Stich in ein farbiges um. In der Schönheit der Natur sind

überall die hässlichen Überreste einer Zivilisation verstreut. Es entsteht

der Eindruck dass diese Zivilisation im Chaos unterging und jetzt in der

Natur langsam wieder Ruhe und ein Gleichgewicht einkehrt, indem sie die

Landschaft zurückgewinnt. Dabei ist alles voller Kontraste. Die Stille wird

plötzlich von dem eigenartigen Geräusch eines Tieres oder eines

Menschen zerbrochen. Neben dem Bild Johannes des Täufers liegt eine

Maschinenpistole. Zwischen Überresten der Bombe des Professors und

Bodenfliesen schwimmt ein Fisch, bedeckt von zähflüssigem, schwarzen

Öl. Zu dem monotonen, mechanischen Geräusch eines vorbeifahrenden

Zuges erklingt plötzlich die „Ode an die Freude“ aus Beethovens neunter

Sinfonie.

Diese Gegensätze finden sich auch bei den Menschen im Film. So erklärt

die Frau des Stalkers, dass sie ihr Leben trotz all des Leides, das sie mit

ihrem Mann und ihrer Tochter ertragen muss, nicht eintauschen würde.

„Besser ein bitteres Glück [...] als ein graues, eintöniges Leben“ (2:28),

kommentiert sie. Sie habe es nie bereut und nie jemanden beneidet. Die

wichtigste Aussage des Filmes in diesem Zusammenhang stammt

ebenfalls von ihr: „Wenn es in unserem Leben keinen Kummer gäbe,

besser wäre das nicht. Es wäre sogar schlechter. Denn dann gäbe es kein

Glück. Es gäbe kein Glück und es gäbe keine [...] Hoffnung“ (2:29). Glück

kann nicht ohne Leid existieren. Die Zone, die zusammen mit dem Zimmer

das Abbild des menschlichen Glückes darstellt, ist voller Gegensätze. Zu

dem, was wir als schön empfinden, gehört immer etwas Hässliches, wobei

wir nicht sagen können, was nun genau schön ist und was nicht, da uns

das, was wir als hässlich empfinden, erst klarmacht, was wir dagegen als

schön wahrnehmen. Auch der Stalker und seine Frau sehen erst durch

das Leid, das sie ertragen die schönen Seiten des Lebens.

Auch die menschliche Seele ist voller Widersprüche und Gegensätze. Wer

kann darüber entscheiden, ob ein Mensch ein guter oder ein schlechter

Mensch ist? Das Gute empfinden wir lediglich als das Gegenteil von dem,

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was wir als schlecht betrachten und umgekehrt. In der Seele eines jeden

Menschen sind stets beide Seiten vertreten, doch gewinnt eine davon die

Oberhand und will die andere verdrängen, kommt der Mensch aus dem

Gleichgewicht. Dies verdeutlicht die Zone, die den zerstörerischen

Menschen in seine Schranken weist.

Deutlich wird die Vorstellung von der Widersprüchlichkeit der

menschlichen Seele auch daran, wie Tarkowski mit der

Widersprüchlichkeit der menschlichen Gesinnung der Akteure umgeht. Die

Zone reagiert, laut Stalker, einerseits darauf, wie sich die Menschen in der

Zone verhalten, andererseits auch auf ihre Gesinnung. Ob ein Mensch in

eine tödliche Falle gerät, hängt letztendlich davon ab, ob die Zone diesen

Menschen aufgrund seiner Gesinnung passieren lassen will. Doch dann

stellt sich die Frage, warum es nötig ist, bestimmte Stellen zu meiden und

zu umgehen, wenn die Zone schon von vornherein über das Schicksal der

Eindringlinge entschieden hat. Andererseits wäre es auch möglich, dass

man die Fallen der Zone mit Geschicklichkeit und Vorsicht umgehen kann

und die moralische Einstellung des Einzelnen gar keine Rolle spielt. Diese

Frage ist natürlich schwer zu beantworten, da man weder definieren kann,

welche Gesinnung nun gut oder schlecht ist und dem Menschen die

Kriterien, nach der die Zone „entscheidet“, ohnehin nicht zugänglich sind.

Man könnte annehmen, die Gesinnung entscheide über Leben und Tod,

weil sie das Handeln beeinflusst. Andererseits könnte man behaupten,

dass die Gesinnung erst durch das Handeln geformt wird. Kann ein

Mensch also wider seine Gesinnung handeln oder wird er mit jeder

Handlung seine Gesinnung korrigieren?

Der Stalker beobachtet den Schriftsteller während der Expedition und stellt

fest, dass er die meisten Stellen unversehrt passieren kann. Aus diesem

Grund spielt er ihm das entscheidende Streichholz zu, als es darum geht,

wer als erstes durch den „Fleischwolf“ gehen muss. Der Schriftsteller

konfrontiert den Stalker später damit, dass der Stalker doch genauso gut

wisse, dass der Schriftsteller kein besserer Mensch sei als der Stalker

oder der Professor. Er wirft dem Stalker vor, er spiele mit dem Leben des

Schriftstellers, weil er mit ihm bisher die größte „Erfolgsquote“ hatte.

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Doch am Ende wird allen klar, dass der Mensch seine wahre Gesinnung

nicht erkennen kann, weil er weder über gut und böse entscheiden noch

seine innersten Wünsche und Bedürfnisse begreifen kann. Diese Einsicht

soll im nächsten Punkt weiter erläutert werden.

5 „Die goldene Kugel“ und „das Zimmer“

5.1 Die goldene Kugel

Vergleicht man die Werke, so findet man die meisten Parallelen in der

Bedeutung der „goldenen Kugel“ beziehungsweise des „Zimmers“.

In beiden Erzählungen stellen diese Gegenstände und Orte sozusagen die

Essenz der Zone dar. Sie gelten als das ultimative Artefakt, und sollen alle

Wünsche erfüllen können.

Obwohl Roderic die Kugel Jahre lang als „Hirngespinst eines

übergeschnappten Greises“ (S.161) betrachtet hat, wird ihm irgendwann

klar, dass sie für ihn die Verkörperung des Glückes und der Hoffnung

darstellt. Barbridge ist der lebende Beweis. Obwohl für ihn der Wunsch

nach Geld und ewiger Jugend unerfüllt blieb, erfüllte sich in seinen Kinder

genau das, was er sich immer gewünscht hatte. Roderic ist durchaus

bewusst, dass die Kugel nur die aufrichtigsten, innersten Wünsche erfüllt,

nur „Wünsche, die ehrlich gemeint sind, Wünsche, bei deren

Nichterfüllung man zum Strick greifen würde“ (S.162), wie er Arthur

belehrt.

Roderic ist sich sicher – bzw. für ihn stellt sich die Frage gar nicht –, dass

sein innerster Wunsch die Gesundheit seiner Tochter ist. Doch je mehr er

sich mit der Tatsache auseinandersetzt, dass etwas (die Kugel) seine

Wünsche erfüllen kann, umso unsicherer wird er. Im entscheidenden

Moment ist er nicht in der Lage, seine innersten Wünsche vorzutragen, da

er sie selbst nicht kennt.

Es ist interessant, wie die Autoren das Gedankenexperiment darstellen,

einen Menschen mit der Möglichkeit zu konfrontieren, dass seine

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Wünsche erfüllt werden. Der Mensch kann auf diesem Wege gar nicht

glücklich werden, da genau diese Konfrontation in ihm eine gewisse

Selbsterkenntnis und -reflexion auslöst. Er zweifelt seine innersten

Träume und Wünsche dann an, wenn er die Macht erhält, sie zu

verwirklichen. Deswegen ist diese „Macht“ nur eine scheinbare: Weil er

gar nicht in der Lage ist, sein Innerstes zu erkennen, nutzt sie ihm nichts.

Dennoch bedeutet das nicht automatisch, dass die Wünsche und

Hoffnungen des Menschen sinnlos sind, da sie ohnehin nicht aufrichtig

sind. Ich denke, die Autoren wollten damit ausdrücken, dass Wünsche

nicht durch ihre Erfüllung glücklich machen, sondern vielmehr durch das

Streben danach. Jeder Mensch kann das bestätigen: Arbeitet man auf

etwas hin, was einem sämtliche Energie raubt und man kurz vor dem

Aufgeben ist, wird man seine Situation verfluchen und wünscht sich das

angestrebte Ziel herbei. Erreicht man dieses nun auf dem „harten Weg“,

wird man sich daran erfreuen. Nicht so sehr daran selbst, sondern an der

Tatsache, dass man so lange darauf hingearbeitet hat. Könnte man nun

seine Wünsche erfüllen, ohne sie sich wirklich zu verdienen, würden sie

dann wirklich glücklich machen? Ist die größere Freude nicht die, etwas

geleistet zu haben? Wenn wir uns alle Träume ohne weiteres erfüllen

könnten, worauf würden wir im Leben noch hinarbeiten, was wäre es wert,

dafür zu leben?

Die Kugel ist nichts „Schlechtes“ an sich. Sie gibt Menschen wie Roderic

Hoffnung auf ein Wunder. Er selbst gesteht sich ein, dass ihn diese

Hoffnung Jahre lang angetrieben hat. Hätte er nicht von der Kugel und

damit von der Erfüllung der Wünsche gewusst, hätte er vielleicht längst

aufgegeben. Als er plötzlich den Gedanken fasst, die Kugel zu zerstören,

wird ihm bewusst, dass er damit auch die Hoffnung zerstören würde.

Andererseits würde die Erfüllung der Wünsche auch alles zerstören, so

viel Hoffnung mit dem Streben nach Erfüllung auch verbunden sein mag.

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5.2 Das Zimmer

Ähnlich möchte ich die Aussage des Filmes interpretieren. Allerdings

wurde der Charakter des Roderic Schuchart auf drei verschiedene

Personen aufgeteilt, die zusätzlich noch Eigenes einbringen, womit an

vielen Stellen noch weitere Aspekte hinzukommen. Für jede einzelne

dieser drei Personen hat die Zone und das Zimmer eine andere

Bedeutung.

Der Stalker führt seit Jahren Menschen, die auf die Erfüllung ihrer

Wünsche hoffen, in die Zone. Er selbst hat das „Zimmer“ allerdings nie

betreten. Für ihn besteht die Hoffnung nicht im Zimmer und in der

Erfüllung von Wünschen direkt. Vielmehr sieht er sein Glück darin,

Menschen, die ihre Wünsche erfüllen wollen, in die Zone zu geleiten.

Das oberste Gebot eines Stalkers ist, niemals selbst das Zimmer in

eigennütziger Absicht zu betreten. Er selbst betritt das Zimmer allerdings

nicht nur aus dem Grund nicht, dass er nicht darauf angewiesen ist, oder

weil es das Gebot so verlangt, sondern weil er offenbar Angst davor hat,

dass es ihm wie „Stachelhaut“ ergehen könnte, der um das Leben seines

Bruders bat, aber Geld bekam und sich kurz darauf erhängte. Ihm ist

offenbar bewusst, dass er sein innerstes Wesen gar nicht kennt und die

Wünsche, die er glaubt zu haben, nicht jene sind, die ihm erfüllt würden.

Zu dieser Einsicht gelangt zuletzt auch der Schriftsteller, der sich schon

sehr früh eingesteht, dass er in Wirklichkeit nicht auf der Suche nach

Inspiration ist, da er niemals ein richtiger Schriftsteller war. Vielmehr

zweifelt er an seiner Existenz und ist auf der Suche nach dem „Sinn des

Lebens“, muss aber feststellen, dass ihm das Zimmer diesen auch nicht

geben kann. Der Schriftsteller wirft dem Stalker vor, ihn trotz des Wissens,

dass nur die unbewussten Wünsche erfüllt werden, in die Zone geführt zu

haben. Ihm sei schon von Anfang an klar gewesen, dass sich der

Schriftsteller nicht über seine Wünsche im Klaren ist und ihm das Zimmer

nur Unglück bringen würde. Er nutze nur seine Macht über Verzweifelte

aus, spiele Gott, entscheide über Leben und Tod und ergötze sich am Leid

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anderer. Dies weist der Stalker zurück. Sein Glück bestehe darin,

Menschen zu helfen, denen sonst keiner helfen kann. Was nun die wahren

Absichten des Stalkers sind, lässt Tarkowski offen.

Der Professor will das Zimmer zerstören. Aber auch ihm wird klar, dass er

damit sämtliche Hoffnung, die „Bestandteil der Natur“ (2:03) ist, zerstören

würde, so dass er darauf verzichtet. Es stellt sich die Frage, ob diese

Entscheidung ein Zeichen von Schwäche oder Stärke darstellt.

Konsequenterweise hätte er das Zimmer zerstören müssen, um es vor

dem Missbrauch durch machtbesessene Menschen zu bewahren.

Allerdings wäre mit dem Zimmer ein Träger der Hoffnungen so vieler guter

und rechtschaffener Menschen zerstört.

Doch auch dem Professor kann man nicht ausschließlich altruistische

Absichten in seinen Plänen unterstellen. Was, wenn er das Zimmer nur

zerstören will, weil er nicht ertragen könnte, dass andere Menschen

glücklich werden? Somit kann man ihm, wie dem Stalker auch, vorwerfen,

dass er sein Glück aus dem Leid anderer gewinnt, beziehungsweise

daraus, dass andere sein Leid teilen. Was zwar unausgesprochen bleibt

aber offensichtlich ist: Er würde sich selbst die Möglichkeit nehmen, falls

er je seine Wünsche erkennen sollte, eines Tages in die Zone

zurückzukehren und sie sich zu erfüllen. Obwohl längst deutlich ist, dass

ein Mensch diese Wünsche wohl niemals erkennen kann, gibt ihm die

Tatsache Hoffnung, dass er die Möglichkeit hat, sie zu erfüllen – selbst

wenn er es in seinem Leben niemals tut. Doch auch auf diese Frage gibt

Tarkowski keine Antwort.

Eine definitiv endgültige Botschaft aus dem Film zu ziehen gestaltet sich,

wie bei allen Filmen des Regisseurs, schwierig. Für eine sehr

aussagekräftige Interpretation kann man allerdings den Kommentar

Tarkowskis zur Schlussparabel heranziehen:

„[Die] Schlußparabel soll nichts anderes besagen, als daß eine

gewisse Hoffnung besteht: Die Zukunft ist in den Kindern.“[4]

[4] R.M. Hahn / V. Jansen „Lexikon des Science-fiction-Films“, Wilhelm Heyne Verlag, S.837

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Es ist doch letztendlich so, dass die Zone niemandem wirkliches „Glück“

bringt. Was ist „Glück“ überhaupt? Was für den einen das höchste Glück

ist, ist für den anderen Leid und Qual. Das Zimmer mag Wünsche erfüllen

können, doch ist der Mensch nicht imstande, zu wissen, was ihn glücklich

macht. Glück ist ein vergängliches Gefühl, es wird begleitet von

Unsicherheit und Zweifeln. Letztere können den Menschen stärken und

ihn auf der Suche nach Glück weiter bringen. Könnte man dieses Glück

von heute auf morgen erreichen, wäre es dann noch Glück?

Genau das symbolisiert die Familie des Stalkers. Er muss sich um sie

sorgen, seine Frau ist um ihn besorgt, das Kind ist durch die Zone

gezeichnet. Auf den ersten Blick erscheint dies alles zwar mehr wie eine

schwere Bürde, doch sind sie seine Hoffnung, können ihm geben, was die

Zone nicht kann, nämlich Liebe und Anerkennung.

Im direkten Vergleich zwischen der Romanvorlage und der Verfilmung

fallen natürlich starke Unterschiede in der Umsetzung, der Darstellung der

Charaktere und der Gesellschaft auf. Trotzdem sind sich die Aussagen,

die die Autoren und der Regisseur über Glück und Wünsche treffen, sehr

ähnlich und lassen sich folgendermaßen kurz formulieren: Glück ist nichts

Vollkommenes. Das, was uns als vollkommenes Glück erscheint, ist eine

Täuschung, ist nicht was wir wirklich wollen. Das wahre Glück ist das

Streben danach.

6 Literarische und filmische Besonderheiten

6.1 Literarische Einordnung von „Picknick am Wegesrand“

Da in „Picknick am Wegesrand“ zahlreiche Elemente verschiedenster

Literaturgattungen einfließen, gestaltet sich eine eindeutige literarische

Zuordnung des Werkes sehr schwierig. Obwohl meist von einem Roman

gesprochen wird, ist diese endgültige Zuordnung aufgrund der geringen

Länge eher fragwürdig. Auch erfüllt „Picknick am Wegesrand“ einige

Kriterien einer Novelle. Der „Besuch“ ist eine „unerhörte Begebenheit“, die

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letztendlich das zentrale Thema darstellt. Auch sind mit der Zone und der

goldenen Kugel wiederkehrende Symbole und Leitmotive vertreten. Um

als Novelle bezeichnet zu werden, ist das Werk aber eindeutig zu lang und

folgt auch nicht konsequent einer geschlossenen Form und Struktur.

Zwischen den einzelnen Kapiteln sind große Zeitsprünge, die

Erzählperspektive wechselt nach dem ersten Kapitel vom Ich-Erzähler in

die dritte Person, und die Person, aus deren Sicht geschildert wird, ändert

sich im dritten Kapitel und springt dann wieder zurück, was auch eine

Zuordnung zur Gattung der Erzählung ausschließt.

Für gewöhnlich wird „Picknick am Wegesrand“ als Powest bezeichnet. Die

Powest ist eine russische Prosaerzählung, die in ihrem Umfang zwischen

Roman und Novelle anzusiedeln ist. Dabei ist auch der teils etwas

lückenhafte Charakter, wie er in dem Werk der Strugatzkis zu finden ist,

nicht ungewöhnlich. So schreibt Boris Jewsejew in „Der Sturzflug des

Falken“: „[...] die kleinen und großen Teile dieser Erzählung, dieser Powest

[fügen sich] von selbst zusammen, werden zu einem Ganzen

zusammengenäht“[5]. An einer anderen Stelle kommentiert er die

Realitätsbezogenheit der Powest:

„Die Powest hat nichts Erfundenes und nichts von der Natur

Getrenntes in sich [...] Sie hat nur diese beispiellose und im

gewöhnlichen Leben niemals erreichte Verdichtung! Nur diese für

die Fernsehschirme unerreichbare Möglichkeit ins Innerste alles

Seienden vorzudringen. Und wenn schon Landschaft, dann aus

allen Blickwinkeln zugleich, so wie ein fliegender Vogel oder ein

über die Länder ziehender Wortschöpfer sie sieht. Deshalb darf in

der Powest, in dieser silbriglänglichen literarischen Form nichts

Erdachtes sein: Powest ist Wesen.“[6]

„Picknick am Wegesrand“ erfüllt Charakteristika einer Powest, wie z.B. die

Verdichtung der Ereignisse oder die verschiedenen Blickwinkel. Der stark

fiktive Charakters der übernatürlichen Ereignisse widerspricht jedoch auf

[5] B. Jewsejew „Der Sturzflug des Falken“, Verlagshaus Pereprava, Kapitel 24[6] Ebd.

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den ersten Blick der Definition.

Doch wie bereits beschrieben, nutzt „Picknick am Wegesrand“ den

Rahmen der fiktiven Ereignisse nur als Mittel, um, genau wie Jewsejew

beschreibt, „ins Innerste alles Seienden vorzudringen“. Im Mittelpunkt

stehen die Erforschung der menschlichen Seele und des Seins,

existenzielle Grundgedanken, die nichts weltfremdes haben. Letztendlich

läuft alles in einem Punkt zusammen: Powest ist Wesen. Und genau das

ist auch „Picknick am Wegesrand“.

6.2 Besonderheiten des Filmes

Tarkowski bedient sich zahlreicher filmischer Mittel und Methoden, die

man heutzutage als eher unkonventionell bezeichnen würde, die aber die

Grundstimmung und Aussage des Filmes unterstreichen. In diesem

Abschnitt sollen einige der wichtigsten Mittel angesprochen werden.

Auffällig sind die sehr langen Einstellungen, in denen der Kamerawinkel

oft nur geringfügig geändert und kaum bis gar nicht gesprochen wird.

Bemerkenswert ist hier vor allem die knapp vierminütige Fahrt in die Zone

(ab etwa 0:33). Während dieser Szene sind nur die Gesichter der

Protagonisten vor dem Hintergrund des verlassenen Industriegeländes zu

sehen. Der Zuschauer kommt zur Ruhe und kann die Reise in diese

andere Welt fernab der Zivilisation nachvollziehen. Ein weiteres Beispiel

ist die Szene, in der die drei in einem Gebäude in der Nähe des Zimmers

auf dem Boden sitzen, in das es plötzlich durch die Decke hineinregnet

(ab etwa 2:13). Die Stille und Ruhe dieser Einstellungen gibt Gelegenheit,

über das Geschehene nachzudenken und es zu verarbeiten, ohne dass

der Film seine Wirkung verliert.

Tarkowski erzeugt mit den bereits in Punkt 4.2 angesprochenen

Gegensätzen ständig eine simple, natürliche Ästhetik, die man für

gewöhnlich nicht bewusst wahrnehmen würde, würde der Regisseur sie

nicht in den Mittelpunkt stellen. Diese Einstellungen (zum Beispiel bei

2:17) wirken manchmal wie eine Serie von Stillleben. Zwar ist meist Leben

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in den Bildern, trotzdem strahlen sie eine ungewöhnliche Ruhe aus und

erwecken dabei das Gefühl, man betrachte ein unbewegtes Bild. Einen

weiteren Kontrast ergibt der Wechsel von Schwarzweiß zu Farbe. Die

karge und triste Welt um die Zone herum ist blass und zweifarbig während

die Zone, der Ort der Hoffnung, stets in Farbe gehalten ist. Interessant ist

jedoch, dass die letzte Einstellung des Filmes, in der die Tochter des

Stalkers zu sehen ist (ab 2:30), wiederum farbig ist. Dies unterstreicht die

Aussage des Filmes, die Hoffnung liege in den Kindern.

Die äußere Handlung des Filmes ist simpel und kurz, wesentlich wichtiger

ist die innere Handlung, die Wandlung der Charaktere und deren Gefühle.

Das ist auch der Grund für die relativ geringe Anzahl an Dialogen, von

denen aber nahezu jeder ein tieferes Verständnis erfordert. Die

Äußerungen der drei Hauptfiguren wirken nur selten spontan, meistens

sind sie durchdacht und dementsprechend intellektuell formuliert. Ein

Beispiel hierfür ist das Streitgespräch zwischen dem Professor und dem

Schriftsteller (ab 1:12). Weitere Elemente, die diese innere Handlung

vorantreiben sind der Tagtraum des Stalkers (ab 1:14), der von der

Realität völlig losgelöst scheint und die immer wieder auftauchenden

Zitate des Stalkers und Stimmen aus dem Off. Der Stalker rezitiert die

Geschichte der Emmausjünger aus dem Lukasevangelium (ab 1:24) und

später (ab 1:46) ein Gedicht von Arseni Tarkowski, einem bekannten

russischen Lyriker und dem Vater des Regisseurs. Eine Mädchenstimme

liest während des Traumes aus der Offenbarung des Johannes.

Ungewöhnlich ist, dass die Charaktere auch einzeln auftreten und den

Zuschauer direkt ansprechen (der Schriftsteller ab 1:42, die Frau des

Stalkers ab 2:27) und ihre Position verdeutlichen. All diese Einschübe

nehmen viel Platz ein, lassen sich aber nicht in die eigentliche Handlung

einfügen.

Neben den beschriebenen Stilmitteln sind noch zahlreiche andere zu

finden. Tarkowskis Filme leben von Symbolik und ungewöhnlichen

Handlungsmustern, weswegen jedes Detail und jeder Satz einzeln

interpretiert werden kann. Die genannten Besonderheiten stellen nur einen

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Auszug dar und sollen auf weitere zu entdeckende Elemente hinweisen.

7 Die Drehbuchvorlage „Die Wunschmaschine“[7]

Der Film „Stalker“ entstand nicht nur aus dem letzten Kapitel von „Picknick

am Wegesrand“, sondern besonders auf Grundlage der Drehbuchvorlage

„Die Wunschmaschine“, die aus einer Zusammenarbeit zwischen

Tarkowski und den Strugatzkis resultierte. Allerdings lässt sich die Powest

nur noch schwer darin erkennen. Daneben gibt es zwischen der

veröffentlichten frühen Fassung des Drehbuches und dem Film weitere

gravierende Unterschiede.

Der Handlungsverlauf der Drehbuchfassung stimmt weitgehend mit dem

des Filmes überein. Es bestehen geringe Unterschiede in der Reihenfolge

der Geschehnisse, die aber keinen grundlegenden Einfluss auf die

Auslegung des Werkes haben. Die Geschichte beginnt in der Wohnung

des Stalkers und mit dem anschließenden Treffen in der Bar. Auch die

Fahrt auf der Draisine und die Wanderung durch die Zone ähneln sich

sehr. Auffallend ist, dass in „Die Wunschmaschine“ die Phänomene der

Zone hin und wieder „sichtbar“ werden, wie beispielsweise „die grüne, in

mehrere ungleiche Stücke zerrissene Sonne“ (S.41) oder der

Zusammenbruch des Schriftstellers, bei dem er ohne erkennbaren Grund

seine Haare verliert (S.44f.). Obwohl die Zone eindeutig zu erkennen ist,

wird das von Tarkowski angestrebte Bild der Zone als etwas Ungreifbares

und möglicherweise gar nicht Existentes daran deutlich, dass aus der

„Kugel“ ein nicht weiter definierter „Ort“ wird. Während eine Kugel etwas

Materielles und Greifbares darstellt, ist ein „Ort“ nur die Definition eines

geometrischen Raumes, den man nicht anfassen, hören oder sehen kann.

Dass aus dem „Ort“ schließlich ein „Zimmer“ wurde, liegt möglicherweise

daran, dass ein einfacher „Ort“ zu schwer vorzustellen wäre und ein

Zimmer zwar einerseits „da“ ist, im Grunde aber auch kein greifbarer

Raum ist, was beide Vorstellungen vereint.

[7] Sämtliche Seitenangaben beziehen sich auf F. Rottensteiner „Polaris 10 – Ein Science-fiction Almanach“ , Suhrkamp Verlag

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Die ständigen Diskussionen – hauptsächlich jene zwischen dem Professor

und dem Schriftsteller – sind schon in der frühen Fassung des

Drehbuches vorhanden und wurden im Film geringfügig angepasst,

geändert oder an einer anderen Stelle im Film platziert. Ein sehr gutes

Beispiel stellt die Diskussion dar, in welcher der Schriftsteller das Finden

der Wahrheit mit dem Fund eines „angeblich uralten Topfes“ vergleicht

(S.36f.). Sie endet sogar mit den selben Worten des Schriftstellers wie im

Film: „Ich denke überhaupt sehr selten. Es ist schädlich für mich“ (S.37).

Die meisten Charaktereigenschaften und Motive des Schriftstellers und

des Professors haben sich von der späten Vorlage bis zum Film kaum

verändert. Der Schriftsteller ist ein frustrierter, gelangweilter und

egoistischer Querulant, der sich profanen Vergnügen wie Alkohol und

Frauen hingibt (S.31ff.) und jetzt verzweifelt auf der Suche nach einem

Sinn ist. Er glaubt weder an die „übernatürliche Kraft“ der Zone (S.62),

noch an das Gute im Menschen, was er am Schicksal von

„Stachelschwein“ (im Film „Stachelhaut“) festmacht. So erläutert er:

„Einem Stachelschwein gebührt eben nur Schweinisches. Denn

Gewissen, Seelenpein – das sind Erfindungen des Kopfes. In seinem

Innersten aber war und blieb er ein Schwein. Als er das begriffen hatte,

nahm er den Strick“ (S.62). Er sieht letztendlich ein, dass er nicht an „den

Ort“ (im Film „das Zimmer“) gehen sollte, weil er sich nicht über sein

innerstes Wesen im Klaren ist und es ihm wie Stachelschwein ergehen

könnte.

Auch der Professor hat das selbe Ziel wie im Film: Er will die Zone und

den Ort zerstören, um sie vor Missbrauch zu bewahren, da er „solange

dieses Geschwür für jedermann offen zutage liegt, [...] weder Ruhe noch

Schlaf [findet]“ (S.67), was fast genau dem Wortlaut im Film entspricht.

Doch auch er führt seinen Plan nicht aus und sieht ein, dass die

Zerstörung der Zone auch alle Hoffnung zerstören würde.

Was das frühe Drehbuch „Die Wunschmaschine“ am meisten vom Film

unterscheidet, ist der Charakter des Stalkers. Hier orientierten sich Boris

und Arkadi Strugatzki hauptsächlich am Charakter ihres Protagonisten

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Roderic Schuchart, von dem in der Filmfassung kaum etwas übrig

geblieben ist.

Schon zu Beginn wirkt der Stalker gegenüber seiner Frau viel

gleichgültiger und der Konflikt zwischen den beiden aggressiver. Er

beschimpft sie als „Unke“ (S.30) und äußert ihr gegenüber: „Lieber ins

Gefängnis als das ... als ein solches Leben. Ich hab' genug“ (S.29). Der

Stalker ist, wie Roderic auch, gewaltbereit, was sehr früh deutlich wird, als

seine Frau ihn anschreit „Na los, schlag zu – das kannst du doch!“ (S.29)

und als er sie zurückstößt (S.30). Diese Gewaltausbrüche sind zum Teil

sogar noch extremer als die Roderics. Nachdem er dem Schriftsteller, der

pfeifend umherschlendert und einen Stock aufhebt, eine Schraubenmutter

ins Genick geworfen hat, kommentiert er zynisch „Na, hast du dir in die

Hosen gemacht?“ (S.44). Im Gegensatz zum Stalker im Film, der

verzweifelt mit einer Eisenstange nach dem Schriftsteller wirft, um ihn von

seinem Umhertreiben abzuhalten und danach beschämt wirkt, scheint der

Stalker im Drehbuch seine Macht zu genießen. Auch als der Schriftsteller

nicht als erster durch das Rohr klettern will, verprügelt ihn der Stalker

regelrecht (S.57). Neben all der physischen Gewalt, die er den anderen

zufügt, beschimpft er die beiden auch noch, bezeichnet sie als ein

„Häufchen Dreck“ (S.42) oder als „Dummkopf“ (S.43). Im Gegensatz zum

Stalker im Film ist er dem Alkohol nicht abgeneigt (S.46/58).

Man kann die frühe Fassung der „Wunschmaschine“ als

Übergangsstadium zwischen „Picknick am Wegesrand“ und der fertigen

Fassung von „Stalker“ sehen. Viele der Motive des Filmes und besonders

die Handlung sind gut zu erkennen, auch der Professor und der

Schriftsteller stimmen weitgehend mit ihrem Charakter in der filmischen

Umsetzung überein. Tarkowski war vielleicht der Ansicht, dass ein

Charakter wie Roderic Schuchart die zentrale Aussage des Filmes

verdecken oder sogar verfälschen würde und sich der Zuschauer zu sehr

mit der Person des Stalkers beschäftigen würde anstatt zu verstehen,

dass dessen Schwächen alle Menschen betreffen. Viel deutlicher als in

„Picknick am Wegesrand“ und „Die Wunschmaschine“ wird in der

Verfilmung die Bedeutung der Familie.

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8. Schlusswort

Jewsejew ist der Auffassung „[die] Möglichkeit ins Innerste alles Seienden

vorzudringen [ist] für die Fernsehschirme [unerreichbar]“[8], was den Film

„Stalker“ gegenüber der Powest „Picknick am Wegesrand“ zu einer

oberflächlichen künstlerischen Umsetzung mit weniger Tiefgang

degradieren würde. In diesem Punkt muss ich Jewsejew allerdings

eindeutig widersprechen. Tarkowski hat mit seinem Film nicht nur

zahlreiche Motive der Vorlage genau erfasst und aufgegriffen, sondern ein

völlig neues, unabhängiges Werk geschaffen. „Stalker“ übernimmt nur

grob den Handlungsrahmen, schafft dabei aber ein neues

Gedankenexperiment, das zwar einige Ideen zurückstellt, andere aber

umso mehr in den Vordergrund stellt und völlig neue

Interpretationsmöglichkeiten bietet. Die exzellente Umsetzung glänzt

durch sowohl philosophischen als auch psychologischen Tiefgang und

durch beeindruckende Bilder, die den filmischen Minimalismus und die

bescheidenen Mittel nebensächlich erscheinen lassen. Tarkowski benötigt

keine Spezialeffekte, er vermag es, seine Umwelt so einzufangen, dass es

aufwändiger Hilfsmittel gar nicht bedarf. Und damit hebt er sich vom

modernen Kino ab – vor lauter technischen Finessen und bombastischen

Bildern wird heutzutage oft das Wesentliche vernachlässigt: Die Aussage.

Gerüchten zufolge soll 2010 eine Hollywood-Verfilmung von „Picknick am

Wegesrand“ unter dem Titel „Roadside Picnic“ (englischer Titel der

Powest) erscheinen. Es bleibt abzuwarten, ob diese Version angesichts

der kommerziellen Ausrichtung der heutigen Filmwelt mit der Tarkowskis

mithalten kann.

[8] B. Jewsejew „Der Sturzflug des Falken“, Verlagshaus Pereprava, Kapitel 24

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9 Literaturverzeichnis und verwendete Quellen

Primärliteratur

Arkadi und Boris Strugatzki„Picknick am Wegesrand“ (1972)Suhrkamp TaschenbuchErste Auflage 1981ISBN 978-3-518-37170-1

Franz Rottensteiner„Polaris 10 – Ein Science-fiction Almanach“ (1986)Suhrkamp TaschenbuchErste Auflage 1986ISBN 3-518-37748-5

Filmmaterial

Andrei Tarkowski„Stalker“ (1979)Icestorm EntertainmentErste Auflage 2003EAN 4-028951-192953

Zitate

Boris Jewsejew„Der Sturzflug des Falken“ (unbekannt)Verlagshaus PerepravaErste Auflage 2004ISBN 3-9501769-2-6

Ronald M. Hahn/Volker Jansen„Lexikon des Science-fiction-Films“ (1997)Wilhelm Heyne VerlagErste Auflage 1997ISBN 3-453-11860-X

Quellen der Biographien

Arkadi & Boris Strugatzki:

http://www.klett-cotta.de/autoren_s.html?&uid=1213&cHash=57608ce652 (Stand: 25.01.2009, 16:33 Uhr)

http://de.wikipedia.org/wiki/Arkadi_und_Boris_Strugazki(Stand: 25.01.2009, 16:33 Uhr)

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- 38 -

http://en.wikipedia.org/wiki/Arkady_and_Boris_Strugatsky(Stand: 25.01.2009, 16:34 Uhr)

http://www.fiction.ru/abs/english/http://www.fiction.ru/abs/english/e-ans.htm(Stand: 25.01.2009, 16:35 Uhr)

http://www.imdb.com/name/nm0835297/bio(Stand: 25.01.2009, 16:43 Uhr)

Andrei Tarkowski:

http://de.encarta.msn.com/encyclopedia_721527084/Andrej_Tarkowskij.html(Stand: 25.01.2009, 16:45 Uhr)

http://de.wikipedia.org/wiki/Andrei_Tarkowski(Stand: 25.01.2009, 16:46 Uhr)

http://en.wikipedia.org/wiki/Andrei_Tarkovsky(Stand: 25.01.2009, 16:48 Uhr)

Sonstige Quellen

http://de.wikipedia.org/wiki/Powest(Stand: 25.01.2009, 16:53 Uhr)

Abbildung 1: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/en/6/63/StrugatskyBros.jpgAbbildung 2:http://upload.wikimedia.org/wikipedia/en/b/b7/Tarkovsky_v_kresle.jpgAbbildung 3 und 4:Der DVD entnommen

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Ich erkläre hiermit, dass ich die Facharbeit ohne fremde Hilfe angefertigt und nur die im Literaturverzeichnis angeführten Quellen und Hilfsmittel benutzt habe.

_____________________, den ___________ ___________________Ort Datum Unterschrift