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MITTEILUNGEN 2/2007 43 „The variety of teaching is divers“: Pluralisierung der Autoritäten und die versuchte Etablierung von ‘Uniformität’ im englischen Lateinunterricht unter Heinrich VIII. GABRIELA SCHMIDT Der folgende Beitrag entstammt der Arbeit des Teilprojekts A 8 ‘Sprachenpluralität im England der Frühen Neuzeit: Thomas More und andere’, dem die Autorin als Mitarbei- terin angehört. Als die Schüler der Londoner St. Paul’s School eines Morgens im März des Jahres 1520 das Schulgebäude betraten, dürften sie ihren Augen nicht recht getraut ha- ben. An der Schultüre angenagelt prangte in deutlichen Lettern folgender, in lateinischen Distichen verfasster Dialog: 1 Bavius: Der berühmte Lily betätigt sich als Kritiker. Maevius: Oho! Bavius: Marktschreier eines zweiten Choerilus ist er. Maevius: Weißt du denn, welche Waren er anpreist? Bavius: Solche, die selbst Hormans Schüler wohl kaum für sich haben wollen. Um dir die Wahrheit zu sagen: unnützes Zeug. Maevius: Und um welchen Preis wird die Ware gehandelt? Bavius: Acht mal acht Pfennig. Maevius: Oje! Der solchermaßen von den bei Horaz und Vergil kari- kierten römischen Dichtern Bavius und Maevius 2 vor Schülern und Kollegen öffentlich Geschmähte ist kein Geringerer als William Lily, der Direktor der gut zehn Jahre zuvor von John Colet (unter Mitwirkung des Erasmus) gegründeten humanistischen Musteranstalt. Das Spottgedicht, als dessen Urheber ein gewisser „Bossus“ zeichnet, kritisiert Lily wegen der öffentlichen Unterstützung eines neuen Lateinlehrbuchs, der Vulgaria seines Freundes und Kollegen William Horman (kurze lateinisch-englische Sentenzen zu Übungszwecken im Unterricht). Das 1519 veröffentlichte Werk hatte ‘Werbung’ in der Tat bitter nötig. Es präsentierte sich nicht nur als längst überfälliges Reformunternehmen, das den Schülern nach langen Jahren der ‘Barbarei’ end- lich ordentliches Latein beibringen sollte, sondern war mit beinahe 700 Quartoseiten auch eine ausgesprochen aufwendige Publikation, die auf dem zeitgenössischen Buchmarkt ihren stolzen Preis gehabt haben dürfte. In Folge dessen erschien das Buch mit einem reichen Apparat von Paratexten: Preisgedichten und -briefen zahlreicher Humanisten sowie einem ausführlichen Vor- wort an William Atwater, den Bischof von Lincoln. 3 Doch hatte Hormans Lehrbuch so viel Aufhebens wirk- lich verdient? Robert Whittington, der sich als Verfasser des an der Schultüre von St. Paul’s befestigten Schel- menstücks hinter dem Pseudonym „Bossus“ verbirgt (vgl. Abb. 1) 4 , bestreitet dies vehement. Die durch den Anschlag seines Spottgedichts an der Schultüre von St. Paul’s ausgelöste, als ‘Grammarians’ War’ in die Geschichtsbücher eingegangene Bücherschlacht 5 fun- giert als Indikator eines Pluralisierungsprozesses, der auf lange Sicht für den pädagogischen Diskurs in England kaum weniger revolutionäre Folgen zeitigte als die durch Luthers ‘Thesenanschlag’ angestoßene theologi- sche Reformbewegung für die europäische Christen- heit. 1. Die Verse sind zitiert in Lily 1521, [sig. A4 v ]; Übersetzungen stammen im Folgenden, soweit nicht eigens angegeben, von mir. Die Orthographie aller frühneuenglischen Zitate wurde modernisiert. Choerilus war ein für seine schlechten Verse verrufener Hofdichter Alexanders des Großen, der bei Horaz als Inbegriff des Dilettanten gilt. „Octo octussibus“ (acht mal acht As/Pfennig) steht für einen unverhältnismäßig hohen Preis; schon „octussibus“ (acht As) bezeichnet in Horaz, Serm. II, 3, 156 einen Wucherpreis. 2. Vgl. Vergil, Ecl. III, 90 und Horaz, Epod. X. 3. Vgl. Horman 1975, [sig. *1 v –**2 v ] und [ee3 v ]. 4. Lily identifiziert darin Whittingtons Pseudonym mit einem von dessen Namensvetter, dem Londoner Bürgermeister Richard Whittington, gestifteten Brunnen mit einer Bären- figur, der „Billingsgate Bosse“. In einer imaginierten Bärenhatz fällt eine Rotte von Hunden, die allesamt als fiktive Sprecher in Lilys Gedicht auftreten, über den Bären „Bossus“ her. 5. Es folgten noch einige weitere Spottepigramme, auf die Horman, Lily und andere Autoren noch im selben Jahr bissig mit einem Antibossicon reagierten (1521 von Pynson gedruckt), wogegen Whittington seinerseits ein Antilycon verfasste (ebenfalls 1521 von Wynkyn de Worde gedruckt; das einzige erhaltene, nicht digitalisierte Exemplar befindet sich heute in der British Library, Signatur C.132.i.37). Abbildung 1 Holzschnitt aus William Lilys Spottgedicht ‘Antibossicon’ (London, 1521). Aus: Whittington 1932, plate II.

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„The variety of teaching is divers“: Pluralisierung der Autoritäten und die versuchte Etablierung von ‘Uniformität’ im englischen Lateinunterricht unter Heinrich VIII.

GABRIELA SCHMIDT

Der folgende Beitrag entstammt der Arbeit des TeilprojektsA 8 ‘Sprachenpluralität im England der Frühen Neuzeit:Thomas More und andere’, dem die Autorin als Mitarbei-terin angehört.

Als die Schüler der Londoner St. Paul’s School einesMorgens im März des Jahres 1520 das Schulgebäudebetraten, dürften sie ihren Augen nicht recht getraut ha-ben. An der Schultüre angenagelt prangte in deutlichenLettern folgender, in lateinischen Distichen verfassterDialog:1

Bavius: Der berühmte Lily betätigt sich als Kritiker.Maevius: Oho! Bavius: Marktschreier eines zweitenChoerilus ist er. Maevius: Weißt du denn, welcheWaren er anpreist? Bavius: Solche, die selbstHormans Schüler wohl kaum für sich haben wollen.Um dir die Wahrheit zu sagen: unnützes Zeug.Maevius: Und um welchen Preis wird die Waregehandelt? Bavius: Acht mal acht Pfennig. Maevius:Oje!

Der solchermaßen von den bei Horaz und Vergil kari-kierten römischen Dichtern Bavius und Maevius2 vorSchülern und Kollegen öffentlich Geschmähte ist keinGeringerer als William Lily, der Direktor der gut zehnJahre zuvor von John Colet (unter Mitwirkung desErasmus) gegründeten humanistischen Musteranstalt.Das Spottgedicht, als dessen Urheber ein gewisser„Bossus“ zeichnet, kritisiert Lily wegen der öffentlichenUnterstützung eines neuen Lateinlehrbuchs, der Vulgariaseines Freundes und Kollegen William Horman (kurzelateinisch-englische Sentenzen zu Übungszwecken imUnterricht). Das 1519 veröffentlichte Werk hatte‘Werbung’ in der Tat bitter nötig. Es präsentierte sichnicht nur als längst überfälliges Reformunternehmen,das den Schülern nach langen Jahren der ‘Barbarei’ end-lich ordentliches Latein beibringen sollte, sondern war

mit beinahe 700 Quartoseiten auch eine ausgesprochenaufwendige Publikation, die auf dem zeitgenössischenBuchmarkt ihren stolzen Preis gehabt haben dürfte.In Folge dessen erschien das Buch mit einem reichenApparat von Paratexten: Preisgedichten und -briefenzahlreicher Humanisten sowie einem ausführlichen Vor-wort an William Atwater, den Bischof von Lincoln.3

Doch hatte Hormans Lehrbuch so viel Aufhebens wirk-lich verdient? Robert Whittington, der sich als Verfasserdes an der Schultüre von St. Paul’s befestigten Schel-menstücks hinter dem Pseudonym „Bossus“ verbirgt(vgl. Abb. 1)4, bestreitet dies vehement. Die durch denAnschlag seines Spottgedichts an der Schultüre vonSt. Paul’s ausgelöste, als ‘Grammarians’ War’ in dieGeschichtsbücher eingegangene Bücherschlacht5 fun-giert als Indikator eines Pluralisierungsprozesses, der auflange Sicht für den pädagogischen Diskurs in Englandkaum weniger revolutionäre Folgen zeitigte als diedurch Luthers ‘Thesenanschlag’ angestoßene theologi-sche Reformbewegung für die europäische Christen-heit.

1. Die Verse sind zitiert in Lily 1521, [sig. A4v]; Übersetzungenstammen im Folgenden, soweit nicht eigens angegeben, vonmir. Die Orthographie aller frühneuenglischen Zitate wurdemodernisiert. Choerilus war ein für seine schlechten Verseverrufener Hofdichter Alexanders des Großen, der bei Horazals Inbegriff des Dilettanten gilt. „Octo octussibus“ (acht malacht As/Pfennig) steht für einen unverhältnismäßig hohenPreis; schon „octussibus“ (acht As) bezeichnet in Horaz, Serm.II, 3, 156 einen Wucherpreis.

2. Vgl. Vergil, Ecl. III, 90 und Horaz, Epod. X.

3. Vgl. Horman 1975, [sig. *1v–**2v] und [ee3v].4. Lily identifiziert darin Whittingtons Pseudonym mit einem

von dessen Namensvetter, dem Londoner BürgermeisterRichard Whittington, gestifteten Brunnen mit einer Bären-figur, der „Billingsgate Bosse“. In einer imaginierten Bärenhatzfällt eine Rotte von Hunden, die allesamt als fiktive Sprecher inLilys Gedicht auftreten, über den Bären „Bossus“ her.

5. Es folgten noch einige weitere Spottepigramme, auf dieHorman, Lily und andere Autoren noch im selben Jahr bissigmit einem Antibossicon reagierten (1521 von Pynson gedruckt),wogegen Whittington seinerseits ein Antilycon verfasste(ebenfalls 1521 von Wynkyn de Worde gedruckt; das einzigeerhaltene, nicht digitalisierte Exemplar befindet sich heute inder British Library, Signatur C.132.i.37).

Abbildung 1

Holzschnitt aus William Lilys Spottgedicht ‘Antibossicon’ (London, 1521). Aus: Whittington 1932, plate II.

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1. Auctoritates versus auctoritas: das Problem derNormbegründung in einer von ‘Pluralität’ geprägtenSprache

Auf den ersten Blick schienen die Motive hinter demStreit der Kollegen rein kommerzieller Natur gewesenzu sein. Angesichts der durch die neuen Möglichkeitendes Buchdrucks gestiegenen Konkurrenz unter denLehrbuchautoren versuchte Whittington, der unmittel-bar nach Horman ebenfalls eine Sammlung vonVulgaria veröffentlicht hatte, die Verkaufszahlen seinesWerks durch abschätzige Bemerkungen über die un-nütze und obendrein maßlos überteuerte Sammlungseines Kollegen in die Höhe zu treiben. Für diese Inter-pretation spricht unter anderem die Tatsache, dassbeide Seiten im ‘Grammarians’ War’ durchweg mit denInteressen je eines bestimmten Londoner Druckersassoziiert waren: Whittingtons Partei mit Wynkyn deWorde und Hormans bzw. Lilys Partei mit RichardPynson.1 Doch wäre es zu einfach, zu Gunsten dermateriellen Seite des Konflikts die ernsthaften methodi-schen und sprachtheoretischen Fragestellungen zu igno-rieren, die ihm als Problem vorausgingen. Tatsächlichgeht es den Antagonisten nicht nur um unterschiedlicheFormen der didaktischen Vermittlung des Lateinischenim Unterricht, sondern davon ausgehend vor allem umunterschiedliche Konzepte autoritativer Normbegrün-dung innerhalb der allseits unentbehrlichen Wissen-schaftssprache Latein.

Whittingtons ursprünglicher Vorwurf, den er 1520– etwa zeitgleich zur Annagelung seiner Spottgedichtean die Tür von St. Paul’s – im Vorwort seiner eigenenVulgaria gegen Hormans Werk erhob, lautete ungefährwie folgt: Horman ziehe in voreiliger Weise die Nach-ahmung der antiken Schriftsteller (imitatio auctorum)der Vermittlung von Regelwissen vor. Damit aber ver-setze er der Grammatik als wissenschaftlicher Disziplin(ars) den Todesstoß zu Gunsten eines vagen Konzeptsdes „Usus“.2 Das Argument wird im Hauptteil derVulgaria mit griffigen Beispielsätzen für die Schüler un-termauert, wie etwa: „Imitation of authors without pre-cepts & rules / is but a long beating about the bush &loss of time to a young beginner.“ Oder: „That teachersetteth the cart before the horse that preferreth imita-tion before precepts.“3

Haben wir es bei Horman also erstmals mit einerArt deskriptivem Lehransatz zu tun, und verteidigt der‘konservative’ Whittington folglich das althergebrachtePrinzip der präskriptiven Grammatik gegen allzu radi-kale Neuerungsversuche? Von einem derart extremenGegensatz auszugehen wäre gewiss anachronistisch. Esist mehrfach herausgestellt worden, dass die methodi-schen Konzepte beider Autoren einander in Wirklich-

keit wesentlich näher standen, als der äußere Aufbauund die programmatischen Vorworte ihrer jeweiligenWerke vermuten lassen. Horman betrachtete dieVermittlung eines rudimentären Bestands an gram-matikalischen Regeln keineswegs als völlig überflüssig,sondern sah in ihr die unerlässliche Voraussetzungfür das unmittelbar darauffolgende Literaturstudium.Whittingtons nach Regeln geordnete Vulgaria ihrerseitssind voll von explizit ausgewiesenen Zitaten aus derklassischen Literatur.4

Dennoch lässt sich der methodische Gegensatzbeider Autoren nicht leichthin als bloße Polemik bei-seiteschieben. Horman steht mit seinem Konzept derPrivilegierung von imitatio und usus gegenüber denabstrakten praecepta nicht für sich allein – so sehr sichsein Werk auch als spektakuläre Innovationsleistungausgibt –, sondern er vertritt eine pädagogische Reform-strömung, die bereits im ersten Jahrzehnt des 16. Jahr-hunderts mit der Gründung von St. Paul’s School undden in den Folgejahren für die Schule konzipiertenLehrschriften des Erasmus (etwa De ratione studii undDe copia) ihren Anfang genommen hatte. Schon amEnde der von John Colet 1509 verfassten Elementar-grammatik ist deren methodisches Prinzip in einer Klar-heit formuliert, wie sie sich Whittington für seinepolemische Denunziation von Hormans Vulgariagrößer nicht hätte wünschen können:5

[I]f any man will know [all the varieties & diversi-ties & changes in Latin speech] / & by that knowl-edge attain [...] to speak & to write the clean Latin,let him above all busily learn & read good Latinauthors [...] desiring none other rules / but theirexamples. [...] [L]atin speech was before the rules /not the rules before the Latin speech. Whereforewell beloved masters & teachers of grammar [...],read & expound plainly unto your scholars goodauthors [...] & leave the rules. For the reading ofgood books [...] & finally busy imitation withtongue & pen more availeth shortly to get the trueeloquent speech, than all the traditions / rules andprecepts of masters.

Colets Begründung für seine Forderung des Vorrangsgründlicher Autorenlektüre vor einer allzu ausführli-chen Behandlung der Regelgrammatik kommt in derTat einem deskriptiven Prinzip denkbar nahe: „[L]atinspeech was before the rules / not the rules before theLatin speech.“ Zuerst besteht der sprachliche Usus, vondem sich die Regeln in einem zweiten Schritt ableiten,nicht etwa umgekehrt. Sprechender Beweis hierfür istnach Colets Ansicht ein Faktum, das in der Sprach-theorie der nordeuropäischen Humanisten zu Beginndes 16. Jahrhunderts zunehmend ins Zentrum derAufmerksamkeit rückte: „the varieties & diversities &changes in Latin speech“. Bereits im Vorwort seinerGrammatik hatte Colet die Begrenztheit aller Regeln

1. Zur Deutung der Auseinandersetzung als rein karrieristischmotiviert vgl. Carlson 1992.

2. Vgl. Whittington 1932, 33 f.3. Vgl. ebd., 35 f. und 39.

4. Vgl. Carlson 1992, 165 f. und Griffiths 2002, 320.5. Zitiert nach der ersten erhaltenen in England erschienenen

Druckfassung in Wolsey 1529, [sig. G4r].

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betont und vor Generalisierungen gewarnt: „[H]ard it isanything generally to assure in a speech so various.“1

Der humanistische Vorrang des Usus und die damitverbundene verstärkte Wahrnehmung der innerenPluralität der lateinischen Sprache – verkörpert in denvon Erasmus zelebrierten Konzepten varietas und copia– machten es beinahe unvermeidlich, dass an die Stelleder abstrakten Autorität eines grammatischen Regel-systems die metonymisch für ihre jeweiligen Individual-stile stehenden antiken Autoren als die eigentlich maß-geblichen Stilautoritäten treten mussten. „The conceptof usage“, bemerkt Kristian Jensenin einem neueren Überblick zur hu-manistischen Reform des Latein-unterrichts, „thus became linked tothe concept of authority (auctoritas):knowledge of linguistic correctnesswas to be derived from ancienttexts“.2

Wenn auch Whittington, wiebereits angedeutet, den normativenAnspruch der antiken auctores fürdas Lateinische keineswegs völlig be-streitet, so ist es doch ihr Stellenwertals auctoritates, der zu seiner heftigenAttacke gegenüber Horman denAnlass gibt. Seine Grundsatzkritikam didaktischen Programm desErasmuskreises impliziert weiter-gehende sprachtheoretische Fragen,wenn diese auch von Whittingtonselbst nicht explizit gestellt werden.Kann eine derart breitgefächerte undinhomogene Vielzahl von ‘Autoritä-ten’ der bisherigen einheitlichen auctoritas der System-grammatik den Rang ablaufen, ohne dass dies zu Norm-verlust und unnötiger Verwirrung aufseiten der Schülerführen müsste? Muss nicht gerade im Gegenteil die demSprachgebrauch stets inhärente unbequeme unrulinessdurch eine regelnde Autorität außerhalb desselben inBahnen gelenkt werden, damit eine Sprache verständ-lich und vermittelbar bleibt?

Die Diskussionen des ‘Grammarians’ War’ selbstentwickelten sich nach dem Aufwerfen dieser grund-sätzlichen Fragen um die Pluralisierung der auctoritatesrasch zu einer überwiegend persönlichen Fehde, derenSpuren sich nach 1521 verliefen und deren Ausgangletztlich unentschieden war.3 Doch die öffentliche pole-mische Diskussion um Methoden und die durch den

Buchdruck hervorgerufene Flut an neuen Lehrbüchernunterschiedlichster Provenienz und Qualität hatte imLateinunterricht der ersten Jahrzehnte des 16. Jahrhun-derts in der Tat zu einem nie gekannten (oder auchdurch die offene Konkurrenz der unterschiedlichenAutoritätskonzepte erst jetzt als Problem wahrgenom-menen) Methodenpluralismus geführt. Ein bezeich-nender kurzer Beispieltext aus einer ungedrucktenVulgaria-Sammlung in der British Library (MS Arundel249) imaginiert lebhaft die hierdurch generierte Verun-sicherung aufseiten der Schüler:4

There is so great diversity ofauthors of grammar and ofeloquence that I cannot tellto whom I may incline, forthese new authors do rebukethe noble deeds of them that[have] been before them;therefore our minds be pluckedhither and thither [...].

Wie bei Colet ist ‘diversity’ dasReizwort, doch hier bezeichnet eskeine kreativ nutzbare Vielfalt, son-dern ein heterogenes Gewirr vonLehrangeboten, dessen zunehmendeUnübersichtlichkeit die politischenAutoritäten schließlich zur Reaktionbewog.

Hinzu kam die im ‘Grammari-ans’ War’ ebenfalls zugespitzt thema-tisierte Frage nach dem Verhältnisvon Latein und Volkssprache imBildungsprogramm der grammar

schools. Zwar war die Vermittlung der Fremdsprachemit Hilfe des Englischen keine methodische Neuerungdes 16. Jahrhunderts, wie Nicholas Orme in seinenverdienstvollen Arbeiten zur mittelalterlichen Schul-bildung in England überzeugend dargelegt hat.5 Neuim didaktischen Diskurs der frühen Tudorzeit warjedoch die Tatsache, dass die Stileigenschaften und-unterschiede beider Sprachen nun verstärkt in kompa-ratistischer Perspektive in den Blick gerieten. Daraufdeutet bereits eine programmatische Bemerkung in denParatexten zu Hormans umstrittener Vulgaria-Samm-lung hin. Hormans Vulgaria, so betont Robert Aldrichin seinem Vorwort, steuern durch ihre beiderseitigestilistische Sorgfalt der in bisherigen Schulbüchern weit-verbreiteten Sprachmischung entgegen:6

1. Ebd., [sig. B4v].2. Jensen 1996, 69.3. Auf dem städtischen Buchmarkt erwiesen sich Whittingtons

Vulgaria – nicht zuletzt wegen ihres handlicheren Formats –gegenüber Hormans Werk als weit erfolgreicher (vgl. Carlson1992, 160), während die Horman-Lily-Fraktion bei Hofezunehmend an Einfluss gewann. Der letzte substantielle Beitragzu der Kontroverse mit einiger Öffentlichkeitswirkung warJohn Skeltons satirisches Gedicht Speke Parott (1521). Vgl.dazu Griffiths 2004 und dies. 2006, 79–100.

4. Zitiert in Orme 1998, 37. Über die durch den Buchdruckverursachte disparate Bücherflut als Problem vgl. ebd., 63–66,sowie ders. 2006, 125–127 und 293.

5. Vgl. etwa Orme 1998, 9–14 und 60; ders. 2006, 105–118.Den Eindruck einer solchen Neuerung an der Wende zum16. Jahrhundert führt Orme auf die Tatsache zurück, dass vieleältere Lehrwerke um diese Zeit zum ersten Mal gedruckterschienen.

6. Horman 1975, sig. **1r.

Abbildung 2

Lehrer und Schüler. Typische Holzschnittillustration aus einem englischen Schulbuch des frühen 16. Jahrhunderts, hier aus einem Londoner

‘Vocabulary’ von 1503. Aus: Whittington 1932, plate I.

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Jene [schlechten Schulbücher] mischen englischenund lateinischen Sprachgebrauch so sehr ineinan-der, dass ein Kenner beider Sprachen im Zweifeldarüber ist, welche Sprache sich wohl an welcheangeglichen hat. Hier stehen diejenigen englischenSätze, die vorher unlateinisch wiedergegeben waren,in reinstem Latein da und diejenigen lateinischenSätze, deren englische Fassung früher gewöhnlichkaum eine solche war, übersetzt Horman hier inbestes idiomatisches Englisch.

Nicht nur in der Aneignung eines differenzierten Stil-gefühls für das Lateinische besteht folglich das Lernzieldes Autors für seine Schüler, sondern auch im Erwerbstilistischen Unterscheidungsvermögens hinsichtlichder idiomatischen Eigenarten der Volkssprache, für dieder Usus der antiken Autoren Vorbild-funktion ausüben soll. Nicht zuletztwar die Übersetzung in beide Rich-tungen neben der selbständigen Nach-ahmung (imitatio) klassischer Autoreneine wichtige Übungsform im von denLondoner Reformern vorgeschlagenenliteraturzentrierten Curriculum.1 Whit-tington und seine Anhänger dagegenbestreiten die Effizienz der antikenAutoren als Stilvorbilder für den volks-sprachlichen Alltag, wenn diese starrund isoliert, ohne flexibel anwendbaresRegelsystem, vermittelt werden.2 Ausder Debatte um die Standardisierungdes Lateinischen entwickelte sich soauch bald eine Debatte um die Stan-dardisierung der Volkssprache nachlateinischem Muster, die in den Re-formversuchen seitens der politischenAutoritäten bald die Hauptrolle spielensollte.

2. ‘Wegweiser’ im Bedeutungswirrwarr? Erste Ansätzezu einer sprachpädagogischen Reform ‘von oben’ inden 30er Jahren

Der gemeinhin mit der ersten standardisierten Latein-grammatik von 1542 (im Volksmund bis heute ‘Lily’sGrammar’ genannt) assoziierte Versuch einer Homo-genisierung des Lateinunterrichts durch die Obrigkeitwar in Wirklichkeit ein durchaus breitgefächertes Un-

ternehmen. Anstatt, wie in einem Großteil der Litera-tur, nur die Bemühungen um eine „Uniform Gram-mar“ in den Mittelpunkt zu stellen,3 sind die Reform-publikationen der 30er und 40er Jahre im sprach-pädagogischen Bereich als konzertiertes Unternehmenzu sehen, dessen ‘logistisches Zentrum’ der Hof Hein-richs VIII. war. In der Tat nennen sowohl die Vorredender ersten Einheitsgrammatik (1540 lateinisch, 1542zweisprachig erschienen) als auch Thomas Elyots ersteslateinisch-englisches Dictionary (1538), John Palsgraveserstes volkssprachliches Französischlehrwerk (1530)und seine erste lateinisch-englische ‘Standardschulaus-gabe’, The Comedy of Acolastus (1540), den König inihren Vorreden, wenn nicht als direkten Auftraggeber,so doch als Mäzen, dessen Unterstützung letztlich den

Ausschlag zur Veröffentlichung gab.Im Folgenden werde ich daher diegenannten Schriften und ihre pro-grammatischen Vorreden nicht nur inihrem gegenseitigen Zusammenhanglesen, sondern auch die unhintergeh-baren Grenzen des durch sie verfolgtenAnsinnens der sprachdidaktischen Uni-formisierung von Staats wegen aufzei-gen.

Noch Ende der 20er Jahre gabder damalige Lordkanzler, KardinalWolsey, bei dem Londoner DruckerPeter Treveris ein elementares Curri-culum für den Lateinunterricht in Auf-trag, das er der von ihm persönlich ge-gründeten grammar school von Ipswichzugrundelegen wollte.4 Das durch diePräsenz von Wolseys Kardinalswappenauf der Titelseite (Abb. 3) als höchstautoritativ gekennzeichnete Werk trugden Titel Grundlagen der Grammatik

und Lehrplan, nicht nur der durch den HochwürdigstenHerrn Kardinal Thomas von York glücklich gegründetenSchule von Ipswich, sondern auch vorgeschrieben für alleanderen Schulen in ganz England.5

Ironischerweise bildete gerade das auf der Vielzahldiverser auctoritates basierende Konzept John Colets dieGrundlage für diesen ersten Versuch einer rigidenVereinheitlichung des Grammatikunterrichts. Denndie Wolseys Lehrplan beigegebene kurze Einführung„for children / & young beginners into Latin speech“6

1. Erasmus empfiehlt die Übersetzung in De ratione studii alsbesonders nutzbringende Übungsform, durch die „man einengründlichen Einblick gewinnt in die Ausdruckskraft undEigenart beider Sprachen“ (Erasmus 1971, 132). Gleiches giltfür Richard Pace – Colets Nachfolger als Dean von St. Paul’s –und sein Werk De fructu qui ex doctrina percipitur (1517).

2. So verspottet John Skelton in seinem satirischen Gedicht SpekeParrot (1521), in dem er die Position Whittingtons einnimmt,die Förderer der von Erasmus empfohlenen neumodischenGriechischstudien an den Universitäten mit der Feststellung:„[T]hey cannot say in Greek, riding by the way, / ‘How,hosteller, fetch my horse a bottle of hay!’“ (Skelton 1983, 234,V. 146 f.).

3. Vgl. etwa Orme 2006, 308 f.; Cummings 2002, 206–213.4. Nicholas Orme (2006, 293 f.) führt noch eine frühere An-

deutung solcher Uniformisierungspläne aus den Statuten derManchester grammar school von 1525 an, die für die Schule denGebrauch einer einheitlichen Grammatik vorgaben, „[which]in time to come shall be ordained universally throughout all theprovince of Canterbury“ (ebd., 294).

5. Rudimenta grammatices et docendi methodus, non tam scholaeGypsuichianae per reuerendissimum. D. Thomam CardinalemEboracensem feliciter institutae, quam omnibus aliis totius Angliescholis prescripta (Wolsey 1529).

6. Wolsey 1529, sig. C1r.

Abbildung 3

Titelblatt des von Kardinal Wolsey 1529 in Auftrag gegebenen Lehrwerks für die ‘grammar school’ von Ipswich.

Aus: Orme 2006, 295.

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ist keine andere als diejenige Colets, inklusive der obenbereits zitierten programmatischen Paratexte zum Vor-rang des Sprachgebrauchs vor der Regelgrammatik.Doch während man über die möglichen Implikationendieser Tatsache für Wol-seys Konzept viel speku-lieren könnte, ist es in derPraxis nie zu einer Ein-führung seines Lehrpro-gramms in den grammarschools gekommen: Nochim selben Jahr, bevorWolsey das Werk offiziellautorisieren konnte, fieler beim König in Ungna-de und musste die politi-sche Arena endgültig ver-lassen. Der dem Kardinalwohl wegen ausbleiben-der Beförderung nicht ge-rade gewogene HoflehrerJohn Palsgrave kommen-tiert Wolseys missglücktenUniformisierungsversuchinnerhalb einer ganzenListe von halbfertigenpolitischen Reformunter-nehmen lakonisch mitder Feststellung: „Wehave begun to ordain thatone manner of grammarshould be taught throughall the realm.“1

Dass freilich das Inte-resse, besonders der Kir-che, an einer nationalenHomogenisierung des La-teinunterrichts nach wievor groß war, beweist einSynodendekret der Kirchenprovinz von Canterbury ausdem darauffolgenden Jahr (22. März 1530). Der Erz-bischof von Canterbury, je vier weitere Bischöfe, Äbteund Erzdiakone erhielten den Auftrag, einen für die ein-heitliche Verwendung geeigneten Grammatiklehrtextauszuwählen und binnen eines Jahres zu approbieren.2

Gerade die sich gleichzeitig entwickelnde hitzige Dis-kussion über die Erlaubtheit und die Methode dervolkssprachlichen Bibelübersetzung (Tyndales NeuesTestament war 1526 öffentlich verbrannt worden) ließdie zentrale Bedeutung des philologischen und päda-gogischen Diskurses für die kirchlichen Autoritätendeutlich werden. In einem Zeitalter, in dem die rechteInterpretation des biblischen Wortes zunehmend zum

maßgeblichen Faktor in der theologischen Diskussionavancierte, war normgebende Autorität über die Spra-che zugleich auch Deutungshoheit über die Religion.3

Doch der sich verschärfende Konflikt zwischen Kroneund Papsttum, die darausfolgenden theologischenund juristischen Umwäl-zungen sowie schließlichdie Auflösung der Klös-ter und der an sie ange-schlossenen Schulen lie-ßen die Realisierung desProjekts vonseiten derkirchlichen Autoritätenalsbald in weite Fernerücken. Wenn von nunan eine Uniformisierungdes Unterrichtswesens um-setzbar sein sollte, dannmusste der König selbstals „Supreme Head ofthe Church“ die Initiati-ve übernehmen.

Dieser Wechsel derAutoritäten wurde in derersten offiziell sanktio-nierten englischen Bibel-übersetzung von 1540(der sogenannten GreatBible), deren Titelblattdie Deutungshoheit desKönigs über das christli-che Offenbarungswort füraller Augen sichtbar de-monstrierte (Abb. 4), aberauch in den um 1540veröffentlichten Schriftenzur englischen Schulre-form offensichtlich.

Bereits John Elyots 1538 erschienenes erstes latei-nisch-englisches Dictionary, das zweifelsohne einerStandardisierung des Schulunterrichts zuarbeiten sollte,richtet sich in der Widmungsepistel an „the most excel-lent Prince, and our most redoubted sovereign LordKing HENRY the VIII. King of England, and France,defender of the faith, Lord of Ireland, and supreme headin earth immediately under Christ, of the Church ofEngland“.4 Das Buch ist ostentativ mit einem könig-lichen „Privilege“ (einer Art Urheberrechtsgarantie)ausgestattet.5 Im Vorwort des Autors schließlich wirddie maßgebliche Rolle des Königs für jedermann offen-sichtlich. Elyot berichtet, er hätte aufgrund seiner

1. Zitiert in Palsgrave 1937, xxxvii, meine Hervorhebung. Nichts-destoweniger wurde Wolseys Text von 1529 im Jahr 1537unter gleichem Titel ein weiteres Mal gedruckt.

2. Vgl. Orme 2006, 294–296.

3. Zur These von der engen Interdependenz von theologischemund philologischem Diskurs im 16. und 17. Jahrhundert vgl.Cummings 2002, bes. 3–38 und passim.

4. Elyot [1538] 1970, sig. A2r.5. Vgl. ebd., [sig. A1v].

Abbildung 4

Titelholzschnitt der ersten von Heinrich VIII. autorisierten englischen Volksbibel (London, 1540). Aus: Orme 2006, 297.

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mannigfachen Verpflichtungen bei Hofe und seinermangelhaften eigenen Befähigung bei der Vorbereitungdes Werks um ein Haar auf halbem Wege den Mutverloren, hätte nicht der König persönlich von seinemVorhaben erfahren und Elyot ausdrücklich seine Unter-stützung zugesichert:1

[D]esperation was even at hand to rent all in piecesthat I had written, had not the beams of your royalmajesty entered into my heart, by remembranceof the comfort, which I of your grace had latelyreceived, wherewith my spirit was revived, and hathset up the sail of good courage, and under yourgraces governance, your highness being mine onlymaster, and stirrer of the ship of all my goodfortune, I am entered the golf of disdainous envy,having finished for this time this simple Dictionary[...].

Dieser Passus beinhaltet mehr als nur eine bloße capta-tio benevolentiae oder eine Selbstabsicherung des Autorsgegenüber möglicher Kritik vonseiten der Konkurrenz.Er gibt das Werk vor dem Leser vielmehr ausdrücklichals persönliche Initiative des Königs zu erkennen „as [...]the chief author thereof, by whose gracious means menbeing studious, may understand better the Latin tonguein six months, that they might have done afore in threeyears, without perfect instructors“2. Die bloße Präsenzeines von Gott gesalbten Herrschers bewirke bei seinenUntertanen „an amplification of powers called natu-ral“3, so dass selbst mittelmäßig begabte Menschen (wieElyot, der sich im lateinischen Vorwort ausdrücklich alsAutodidakt zu erkennen gibt)4 durch den vertrautenUmgang mit dem König auf wundersame Weise zuaußergewöhnlichen Leistungen fähig seien. Wie wichtigaber der stimulierende und einheitsstiftende Einflussdes Königs gerade auf die Sprachbildung sei, machtElyot bereits in seinem ersten Beispiel an prominenterStelle deutlich: Für das Amt des Schöpfers und oberstenLenkers der Welt gebe es in Wirklichkeit nur eine ein-zige Bezeichnung, „in the which although by diversityof languages, the letters and syllables are oftentimeschanged, yet the word spoken hath one signification,which implieth as much as a KING in English [...].“5

Gerade vor dem Hintergrund solcher Aussagen, die denKönig als gleichsam mythische Quelle der Gelehrsam-keit erscheinen lassen, „magically supplying every wantof a grateful nation“6, gelangt Stephen M. Foley zu derprovokant formulierten These: „[O]ne might well holdthat Elyot’s Dictionary, along with Lyly’s royally sanc-tioned grammar, helped to establish the schoolroom asa new cultural field for instituting royal absolutism.“7

Die für Heinrich VIII. in vielerlei Hinsicht poli-tisch opportune Zielsetzung von Elyots Dictionary lässtsich bei näherem Hinsehen aus den bereits im ‘Gram-marians’ War’ implizit zur Debatte stehenden Fragestel-lungen herleiten. Zunächst ist Elyot um eine Standar-disierung des Lateinischen nach klassischem Muster be-müht: Bewusst nicht in sein Wörterbuch aufgenommenhabe er deshalb ungebräuchliche Gräzismen, Archais-men und Vulgarismen, da diese weder literarisch belegtnoch dem guten Stil seiner Leser förderlich seien.8

Anstelle eines solch „unnützen Sammelsuriums“ wolledas Dictionary den Leser mit einem weit nutzbringen-deren Vorrat an Vokabular ausstatten, nämlich solchenWörtern, „die bei der Autorenlektüre wegen ihrer Be-deutungsvielfalt keine geringe Schwierigkeit darstellen“.9

Es geht Elyot also um Wegweisung für seine Leser imBedeutungswirrwarr des historischen Sprachmaterialsdurch eine klare und autoritative Bedeutungszuwei-sung. Daneben aber setzt Elyots Dictionary durch seineninnovativen zweisprachigen Aufbau zum ersten Mal dielateinischen Lemmata in ein explizites Parallelverhältniszum Englischen. Diese Art der „conference of phrases orforms of speaking Latin and English“10 bekräftigt nichtnur die These, dass das Lateinische als stilbildendesModell für beide Sprachen fungieren kann und soll,sondern sie bietet dem Autor zugleich die Möglichkeit,die copia verborum et rerum seiner eigenen Mutter-sprache im direkten Vergleich mit dem Lateinischeneindrucksvoll zu demonstrieren. Elyots Dictionary, dasmit gleichsam enzyklopädischem Anspruch auftritt,inszeniert sich damit als – durch Heinrich VIII. allererstermöglichte – patriotische Pionierleistung, die den Nut-zen humanistischer Bildung für die kreative Erweite-rung englischer Sprach- und Wissensfülle greifbar vorAugen stellt.11

Wirft man im Vergleich zu den programmatischenVorreden allerdings einen genaueren Blick auf den Textdes Lexikons selbst, so scheint diese beflissene De-monstration von copia der standardisierenden Absichtdes Dictionary geradezu entgegenzustehen. Dies wirdbesonders deutlich an den im Lateinischen notorischpolysemen Funktionswörtern. So lautet etwa ElyotsErläuterung zum Lemma „Qui“:12

QVI, the which. Also sometime it signifieth how.[...] Also it signifieth why. [...] Also it signifiethfrom whence. [...] Also it signifieth would to God.[...] Also it signifieth because. [...] Also it signifiethwherefore.

1. Ebd., sig. A3r. In dem an die gelehrte Leserschaft gerichtetenlateinischen Vorwort wiederholt Elyot diesen Bericht nocheinmal mit anderen Worten (vgl. ebd., [sig. A4r]).

2. Ebd., sig. A3v.3. Ebd., sig. A2v.4. Vgl. ebd., [sig. A5r].5. Ebd., sig. A2r.6. Foley 1994, 211.7. Ebd., 212. Zur politischen Funktion frühneuzeitlicher Wörter-

bücher vgl. auch Considine 2001.

8. Vgl. Elyot [1538] 1970, [sig. A4v]. Die Sprache des Plautusund des als Schulautor besonders beliebten Terenz wird dabeiausdrücklich als die chronologisch früheste akzeptable Variantedes Lateinischen genannt.

9. Ebd., [sig. A5r].10. Ebd., sig. A3v.11. Der Autor nimmt es für sich in Anspruch, nicht nur alle

wissenswerten geographischen, botanischen, zoologischen undmedizinischen Fachtermini erklärt, sondern auch erstmals alleantiken (selbst die hebräischen) Maße und Gewichte für dieenglische Leserschaft umgerechnet zu haben (vgl. ebd., sig. A3v

und [A5r]).12. Ebd., sig. V2v.

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Trotz der hier aus Platzgründen nicht eigens zitiertenillustrativen Beispiele – von Elyot jeweils sorgfältigübersetzt und durch eine Randglosse als Zitate belegt –dürfte eine solche, nicht durch grammatische Katego-rien näher erklärte Auflistung von disparaten, in derRealität nie zusammen auftretenden Bedeutungsvarian-ten die Verwirrung aufseiten des Lesers eher noch ver-größert haben. Geradezu müßig erscheint das Spielenmit einer Vielzahl von englischen Varianten in folgen-dem Beispiel aus der durch Thomas Cooper erweitertenFassung von 1548:1

Perdo, did, ere, to lose, to slay, to corrupt with illmanners, and (as we say, to [de]stroy, to mar, to castaway, to make unthrifty, also to afflict, to undo, tobring into much woe and trouble.

Solche und ähnliche Beispiele belegen, wie Elyots als‘Wegweiser’ intendiertes Werk die varietas und innerePluralität im Gebrauch beider Sprachen sowie die Prob-lematik eines jeden Versuchs, Latein und Englisch rest-los ‘zusammenzubringen’, eher noch intensiver hervor-treten lässt als reduziert. „Elyot’s definitions“, schließtS.M. Foley, „continually defer the multiple uses ofwords into indefinition, opening discourse up to theunpredictable changes words are subject to as they areput to work“.2 Ein solcher Befund kann nicht ohneKonsequenzen bleiben, gerade auch für die Beurteilungder bereits zwei Jahre später unternommenen rigidenUniformisierung der Schulgrammatik durch den König‘höchstpersönlich’.

3. „One absolute and uniform sort of learning“ – dieDurchsetzung einer einheitlichen Schulgrammatikdurch Heinrich VIII.

1540 erschien beim königlichen Hofdrucker ThomasBerthelet in London erstmals eine lateinische Gramma-tik mit dem Titel Darstellung der gesamten Grammatikin Kurzform, die unser hochgelehrter und hochgerühmterKönig zu dem Zweck herausgeben ließ, damit keine andereals diese eine in ganz England den Schülern gelehrt werde.3

Das Werk, obwohl zusammen mit der 1542 erstmalsgedruckten englischen Ergänzung (An introduction ofthe eyght partes of speche) später unter dem Spitznamen‘Lily’s Grammar’ berühmt geworden, war in Wahrheitein kooperatives Unternehmen, dessen Text zwar inTeilen auf Lilys und Colets Schriften beruhte, dessen

genaue Autoren jedoch unbekannt sind.4 Liest man dieVorworte der 1540, 1542 und 1548 erschienenen Ver-sionen im Vergleich, so lässt sich eine stetig zunehmen-de Tendenz zu immer vollständigerer Uniformisierungdes Grammatikunterrichts wahrnehmen. Bereits die„an alle Schulmeister und Grammatiklehrer von ganzEngland“5 gerichtete Vorrede zur lateinischen Fassungvon 1540 benennt als das für die Veröffentlichungausschlaggebende Problem die unübersichtliche Viel-zahl von existierenden Lehrmethoden, „je nach derVerschiedenheit der Geschmäcker“6. Daher habe es derKönig für nötig befunden, einige gelehrte und in diesemWissensgebiet erfahrene Männer damit zu beauftragen,„aus ausgewählten Texten der jeweils besten Autorendieses Genres eine einfache und summarische Darstel-lung der Grammatik gleichsam zu einem Korpuszusammenzustellen“7. Es handelt sich also bei dieserersten Version der Uniform Grammar, ähnlich wie Jahr-zehnte später bei der King James Bible, nach außen hinum eine Kompromisslösung, die durch Integration derjeweils besten Elemente aus unterschiedlichsten Quel-len einen konsensfähigen Einheitstext („gewissermaßenein Summarium der gesamten Methodik eurer Dis-ziplin“8) schaffen und den Methodenkonflikt damit einfür alle Mal stillstellen will. Vielleicht gerade aufgrunddieser Tatsache gesteht das Vorwort in Bezug auf diepraktische Umsetzung dieses uniformen Lehrwerks imUnterricht auch durchaus Raum für methodische Plu-ralität und Kreativität zu:9

Dieser Erlass des besten und gerechtesten aller Fürs-ten darf jedoch nicht so verstanden werden, als ober euch befehlen würde, alles, was ihr hier vorfindet,in genau derselben Ordnung, wie es geschriebensteht, und lückenlos in die noch zarten und wider-strebenden Mägen eurer Schüler [...] hineinzu-zwängen. Im Übrigen ist es einem jeden von euchnach wie vor zugestanden, je nach der Aufnahme-fähigkeit seiner Zuhörer und wie er es nach eigenemErmessen für günstig hält, zu entscheiden, was erjeweils weglässt oder seinen Schülern zum Lernenvorlegt – solange er nur keine andere Grammatik alsdiese in der Öffentlichkeit oder privat verbreitetund lehrt.

Keine Rede von solch großzügiger Interpretation der neu-en Rechtslage kann hingegen in dem von Heinrich VIII.persönlich an die Leserschaft adressierten Vorwort derzwei Jahre später erschienenen englischen Fassung sein.Dort heißt es lediglich gebieterisch:10

1. Elyot 1548, [sig. Bbb8r]. Ähnliches lässt sich für manche vonElyots ‘enzyklopädischen’ Artikeln behaupten, wie etwa den-jenigen zum Lemma „Iulus“, der wie ein frühneuzeitlichesKuriositätenkabinett anmutet (vgl. Elyot [1538] 1970, [sig. L5r],auch zitiert in Foley 1994, 220).

2. Foley 1994, 220.3. Institutio compendiaria totius grammaticae quam et eruditissimus

atque idem illustrissimus Rex noster hoc nomine euulgari iussit, utnon alia quam haec una per totam Angliam pueris praelegeretur(Lily 1540).

4. Vgl. Orme 2006, 308 f. Dennoch lässt sich sagen, dass mit derMonopolisierung dieser Grammatik durch Heinrich VIII. der‘Grammarians’ War’ gewissermaßen nachträglich zu Gunstender Lily-Fraktion entschieden wurde, denn die zuvor äußerstpopulären Schriften von Stanbridge und Whittington wurdenab diesem Zeitpunkt so gut wie nicht mehr nachgedruckt (vgl.Orme 2006, 309).

5. Lily 1540, sig. A2r.6. Ebd., sig. A2v.7. Ebd., sig. A3r.8. Ebd., sig. A3v.9. Ebd., sig. A3r f.10. Lily 1542, [sig. A5v].

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[W]e will and command, and straightly charge allyou schoolmasters and teachers of grammar withinthis our realm, and other our dominions, as you in-tend to avoid our displeasure, and have our favour,to teach and learn your scholars this English intro-duction here ensuing, and the Latin grammar an-nexed to the same, and none other [...].

Heinrichs Autorisierungsschreiben legt äußersten Wertauf Konformität, hat es sich doch das Motto „to bringthings far out of square to a conformity“1 auf dieFahnen geschrieben. Wie eng diese Maßnahme mit derFestigung von Heinrichs Autorität als Oberhaupt derStaatskirche zusammenhängt, verrät eine wenig späterfolgende Passage im Vorwort „To the Reader“:2

[A]s his majesty purposeth to establish his people inone consent and harmony of pure & true religion:so his tender goodness toward the youth & child-hood of his realm, intendeth to have it brought upunder one absolute and uniform sort of learning.

Die englische Erstausgabe der Uniform Grammar ent-hielt daher gleich zu Anfang, als erste und wichtigsteBeispieltexte, zweisprachige Fassungen der Grundge-bete und der Zehn Gebote. Gleichsam theologischklingt schließlich die These, die Edward VI. 1548 seinereigenen Neuausgabe von Heinrichs Grammatik alsBegründung beigibt: Es könne nur eine gute Gramma-tiklehrmethode geben, „for so much as there is but onebestness, not only in every thing, but also in the mannerof every thing“3.

Doch ganz so einfach lässt sich die kontingenteRealität menschlicher Sprache nicht auf einen derartigabsoluten Wahrheitsbegriff bringen. Wie bereits beiElyot wird dies auch in der Uniform Grammar gerade anihrer zweisprachigen Natur offensichtlich. Schon dasdem eigentlichen Text der Ausgabe von 1542 voran-gestellte „Alphabetum Latinoanglicum“ (Abb. 5) ver-deutlicht die bis in die einzelnen Buchstaben undSchreibkonventionen reichende Disparität beiderSprachsysteme.

Zwar will der erkennbare Größenunterschied zwi-schen den ersten (lateinischen) und den weiter untenstehenden englischen Buchstabenfolgen wohl den Mo-dellcharakter des Lateinischen für die Volksspracheherauskehren, doch die unterschiedlichen Schriftarten(wie es der zeitgenössischen Druckkonvention entsprach),Abkürzungszeichen und selbst Buchstaben (‘w’ etwafehlt im Lateinischen) weisen unleugbar auf die letzt-endliche Unmöglichkeit einer vollständigen Regulie-rung des einen Sprachsystems nach dem Muster des an-deren hin. Besonders deutlich wird dies, wie auch BrianCummings bereits gezeigt hat, an der Vieldeutigkeit derenglischen Modalverben, die die Uniform Grammar

zum Teil recht hölzern als „signs“ je einem der lateini-schen Modi und Tempora zuordnen will.4 Ähnlich wieElyot in Bezug auf die lateinischen Multifunktions-wörter „qui“, „quid“ und „quod“ versteigt sich der Textdabei zu recht absurden Konstruktionen wie „I would,should or ought to had been loved“5 – ein im Engli-schen völlig ungrammatisches Satzmonstrum, das wohlmehr Verwirrung gestiftet als zur Erklärung des latei-nischen Potentialis beigetragen hat. Cummings urteiltüber derlei unbeholfene Kategorisierungsversuche derenglischen modals: „These troublesome English formsplay havoc with the grammarians’ Latin modes of signif-ication even as they attempt to utilize Latin modes toexplain English usage.“6 Einmal mehr steht die unhin-tergehbare Pluralität des Sprachgebrauchs sowie dieunüberbrückbare Differenz zwischen unterschiedlichenSprachsystemen dem Ideal einer „absolute and uniformsort of learning“ entgegen.

4. „One steady and uniform manner of interpretation“:John Palsgraves Acolastus und der Versuch einer Homo-genisierung des Übersetzens

Der optimistischste und differenzierteste aller didakti-schen Uniformisierungsversuche unter Heinrich VIII.steht allerdings noch zu besprechen aus. 1540, kurznachdem er von der Vorbereitung einer Uniform Gram-

1. Ebd., [sig. A6r].2. Ebd., [sig. A6v].3. Lily 1548, sig. A2r.

4. Vgl. Cummings 2002, 208–213.5. Lily 1542, [sig. D4r].6. Cummings 2002, 213.

Abbildung 5

Lateinisch-englisches Alphabet, das der ersten zweisprachigen Ausgabe der ‘Uniform Grammar’ von 1542 vorangestellt ist.

Digitalisiertes Exemplar der British Library, Signatur C.21.b.4.(2.).

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mar durch den König erfahren hat, springt John Pals-grave, einer der ambitioniertesten (wenn auch in derPraxis nicht immer erfolgreichsten) Pädagogen seinerZeit, auf den fahrenden Zug einer Neuordnung desLateinunterrichts auf. Im Vorwort einer noch im selbenJahr ‘im Geiste der Reform’ verfassten lateinisch-engli-schen Schulausgabe der Comedy of Acolastus des hollän-dischen Humanisten Fullonius1 lobt Palsgrave in höch-sten Tönen die Bemühungen des Königs um eineHomogenisierung des Grammatikunterrichts.2

Now shall the great variety used afore time in theteaching of the grammatical rules of the Latintongue in this realm, whereby hitherto no smallhindrance hath ensued, hereafter utterly cease andbe put to silence.

Doch damit, so Palsgrave weiter, sei die Vereinheitli-chung des Unterrichtsbetriebs noch lange nicht erreicht:3

But as yet unto my poor judgment (seeming to be athing very much requisite) [...] I wished, that untothis most expedient reformation of your school mas-ters unstayed liberty [...] might thereto also followand succeed one steady and uniform manner ofinterpretation of the Latin authors into our tongue[...].

Hinter dieser auf den ersten Blick exzentrisch anmu-tenden Forderung nach der autoritativen Vereinheit-lichung selbst des Lektüreunterrichts steht für Palsgravemehr als nur die geschickte Sicherung einer ‘Nische’ aufdem Schulbuchmarkt. Durch seine Fokussierung desÜbersetzens hat er ein wesentliches Problem aller vor-hergehenden Homogenisierungsbemühungen erkannt:ihre zu wenig differenzierte und kontrastive Herange-hensweise. Viele Lehrer vermischten, nur um gelehrterzu erscheinen, im Umgang mit fremdsprachlichen Tex-ten Englisch und Latein in unzulässiger Weise: „[I]n thestead of pure English words and phrases, they declare totheir children one Latin word by another, and confoundthe phrases of the tongues.“4 Wieder andere seien sopedantisch, dass sie für einen lateinischen Satz unzähli-ge englische Varianten zur Auswahl stellten, ohne diesedabei in eine wertende Hierarchie zu bringen. Einesolch ungeordnete „multitude of sundry interpretations“aber stellt die verwirrten Schüler de facto vor ein ähn-liches Problem wie die übertriebene copia von ElyotsWörterbuch:5

[A]s their childish judgment doth for the time servethem, of divers English words in our tongue beingsynonyms, or of divers manners of interpretationsused by their master, they choose most commonlythe very worst.

Es scheint Palsgrave hier keineswegs um eine vollstän-dige ‘Gleichschaltung’ der Sprache seiner Schüler zugehen. Vielmehr versteht er Standardisierung als einenin zweifacher Hinsicht ‘verantwortlichen’ Umgang mitsprachlicher Pluralität: zum einen als die Fähigkeit,unterschiedliche Ausdrucksvarianten ein und desselbenSprachsystems wertend zu hierarchisieren, zum anderenals eine klare Unterscheidung zwischen Sprachsystemenund ein Gefühl für deren jeweilige idiomatische Eigen-schaften.

Freilich mangele es dazu nicht wenigen Lehrern anausreichender Kompetenz in der Volkssprache:6

[B]ecause [...] they have not had occasions to beconversant in such places of your realm, as thepurest English is spoken, they be not able to expresstheir conceit in their vulgar tongue, nor be not suffi-cient, perfectly to open the diversities of phrasesbetween our tongue and the Latin (which in mypoor judgment is the very chief thing that theschool master should travail in)[.]

Nur durch eine profunde Kenntnis der Vorzüge undEigenarten beider Sprachen und durch eine strengkontrastive Herangehensweise im Unterricht kannjedoch laut Palsgrave jener kreative Dialog zwischenLatein und Volkssprache („an established marriagebetween the two tongues“)7 erreicht werden, der dasEnglische tatsächlich in konstruktiver Weise vom stilis-tischen Vorbild der klassischen Sprache profitierenlässt.8 Nichts Geringeres erhofft er sich von seiner Über-setzungsmethode:9

[F]or if this kind of interpretation may take effect,and be put in execution, not only the speech of yourgraces subjects should by that mean have a greatadvantage to wax uniform, throughout all yourgraces dominions, but also the English tongue,which under your graces prosperous reign is cometo the highest perfection that ever hitherto it was,should by this occasion remain more steady andpermanent in his [sc. its] endurance [...].

Wie solches konkret erreicht werden soll, geht aus demUntertitel von Palsgraves Übersetzung klar hervor:10

The Comedy of Acolastus translated into ourEnglish tongue, after such manner as children aretaught in the grammar school, first word for word,as the Latin lieth, and afterward according to thesense and meaning of the Latin sentences: by

1. Zu Fullonius vgl. Stein 1997, 30.2. Palsgrave 1937, 4.3. Ebd.4. Ebd., 5.5. Ebd.

6. Ebd., 6. Gabriele Stein (1997, 29) weist an dieser Stelle aufPalsgraves implizite Kritik an der ausschließlich in lateinischerSprache erfolgenden zeitgenössischen Universitätsausbildunghin. Mit den von Palsgrave genannten „such places of yourrealm, as the purest English is spoken“ sind nach Stein wohl dieLondoner Hofkreise gemeint, in denen Palsgrave selbst ver-kehrte.

7. Palsgrave 1937, 9.8. Die Frage nach der Modellfunktion des Lateinischen für

die Volkssprachen taucht wiederholt auch in PalsgravesLesclarcissement de la langue francoyse auf (vgl. Stein 1997, 31).

9. Palsgrave 1937, 10.10. Ebd., [1].

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showing what they do value and countervalue in ourtongue, with admonitions set forth in the margin,so often as any such phrase, that is to say, kind ofspeaking used of the Latins, which we use not in ourtongue, but by other words express the said Latinmanners of speaking, and also Adages, metaphors,sentences, or other figures poetical or rhetorical dorequire, for the more perfect instructing of thelearners, and to lead them more easily to see howthe exposition goeth.

Bereits dieses Ungetüm eines englischen Satzes deutetdarauf hin, dass Palsgraves in sprachtheoretischerHinsicht erstaunlich innovatives Unternehmen in derpraktischen Umsetzung nicht wenig zu wünschen übriglässt. Allein für den ersten Vers von Fullonius’ Prolog„Vos nulla captet obsecro [optimi uiri] admiratio“benötigt Palsgrave sechs englische Druckzeilen:1

I beseech you instantly, or I pray you for Gods sake,O you best men .i. right worshipful masters, ormost honourable persons, let no marvel take you .i.take you (it for) no marvel [...].

Ein derart exzessives Aneinanderreihen von Überset-zungsvarianten – wörtlich, idiomatisch, erklärend etc. –führt im Endeffekt zu einem Sprachgewirr, das der vonPalsgrave an Anderen kritisierten undifferenzierten„multitude of sundry interpretations“ um nichts nach-steht. Hinzu kommt das durch Randglossen nochzusätzlich verkomplizierte unübersichtliche Druckbild(Abb. 6).

Entweder musste ein frühneuzeitlicher Schüler miteinem solchen Text hoffnungslos überfordert sein, oderaber es oblag wiederum dem Lehrer, durch Hierarchi-sierung der Varianten Ordnung ins Chaos zu bringen.Letzteres dürfte angesichts der von Palsgrave imVorwort beklagten Inkompetenz vieler Lehrer nur sehrunzureichend geschehen sein, was die nicht immerglückliche Auswahl der durch Unterstreichung hervor-gehobenen Varianten auf der abgebildeten Seite (unteranderem die wenig idiomatische Hilfsübersetzung „letno marvel take you“ für „Vos nulla captet [...] admi-ratio“) deutlich zu machen scheint. Publikatorisch undin der pädagogischen Praxis war Palsgraves ambitionier-tes Reformunternehmen daher, verglichen mit ‘Lily’sGrammar’ und seinem eigenen, zehn Jahre früher ent-standenen Lesclarcissement de la langue francoyse, einglatter Misserfolg.2

Dennoch bleibt Palsgraves „Ekphrasis“ des Acolastusinnerhalb der vom Hof Heinrichs VIII. ausgehendenpädagogischen Reformbewegung der 1540er Jahre dererste und einzige Text, der die von den Humanisten

allererst als fruchtbar wahrgenommene und durch den‘Grammarians’ War’ in den Fokus der Aufmerksamkeitgerückte Pluralität innerhalb und zwischen Sprachsys-temen nicht durch rigide Uniformisierung von vorn-herein auszuklammern sucht, sondern kreativ für dieKultivierung beider Sprachen, vor allem aber der Volks-sprache, nutzbar machen will.

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englische ‘Übersetzung’ insgesamt etwa fünfmal so lang ist wieder lateinische Text.

2. Die Auflage von 1540 blieb die einzige und existiert nur nochin wenigen Exemplaren (vgl. Stein 1997, 26).

Abbildung 6

Sig. B2r aus John Palsgraves ‘Ecphrasis Anglica in Comoediam Acolasti’ (London, 1540). Digitalisiertes Exemplar der British Library,

Signatur C.34.f.2.

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