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THEMENHEFT 1 | 09 Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit Einsichten und Perspektiven Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenen- gruppen. Ein integrationspolitischer Vergleich mit den Sudetendeutschen

THEMENHEFT1 09 Einsichten undPerspektiven

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Page 1: THEMENHEFT1 09 Einsichten undPerspektiven

THEMENHEFT 1 |09BayerischeLandeszentralefür politischeBildungsarbeit

Einsichtenund PerspektivenB a y e r i s c h e Z e i t s c h r i f t f ü r P o l i t i k u n d G e s c h i c h t e

Ein fünfter Stamm in Bayern?Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenen-gruppen. Ein integrationspolitischer Vergleichmit den Sudetendeutschen

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Autor dieses Heftes Impressum

Einsichten

und Perspektiven

Verantwortlich:

Werner Karg,

Praterinsel 2,

80538 München

Redaktion:

Monika Franz, Werner Karg

Gestaltung:

Griesbeckdesign

www.griesbeckdesign.de

Druck:

creo Druck &

Medienservice GmbH,

Gutenbergstraße 1,

96050 Bamberg

Titelbild: Aus Schlesien mit-

gebrachte Schlüssel, heute

Exponate im Schlesischen

Museum Görlitz

Foto: Die Partner

Die Landeszentrale konnte die Urhe-berrechte nicht bei allen Bildern dieserAusgabe ermitteln. Sie ist aber bereit,glaubhaft gemachte Ansprüche nach-träglich zu honorieren.

Prof. Dr. Manfred Kittel, Historiker und Politikwissenschaftler

Forschungstätigkeit am Institut für Zeitgeschichte München

1992–2009; Redakteur bei den Vierteljahrsheften für Zeitge-

schichte 1997–2009; Lehrbeauftragter für Neuere und Neueste

Geschichte an der Universität Regensburg seit 1995 (apl. Pro-

fessor seit 2005); seit September 2009 Direktor der Stiftung

Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin.

Veröffentlichungen (Auswahl)

Monographien:

Vertreibung der Vertriebenen? Der historische deutsche Osten

in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik (1961–1982),

München 2007.

Nach Nürnberg und Tokio. „Vergangenheitsbewältigung“ in

Japan und Westdeutschland 1945 bis 1968 (Schriftenreihe der

Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Bd. 89), München 2004.

„Weimar“ im evangelischen Bayern. Politische Mentalität und

Parteiwesen 1918–1933, hg. v. d. Bayerischen Landeszentrale für

politische Bildungsarbeit, München 2001.

Provinz zwischen Reich und Republik. Politische Mentalitäten

in Deutschland und Frankreich 1918–1933/36, Quellen und Dar-

stellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 47, München 2000.

Kultur und Politik in Frankfurt am Main (1968–1977); (das 550

Seiten umfassende Manuskript wird derzeit für den Druck

vorbereitet und soll 2010 im Oldenbourg-Verlag München er-

scheinen).

Einsichten und Perspekt iven

Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 092

Page 3: THEMENHEFT1 09 Einsichten undPerspektiven

Manfred KittelEin fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußenund andere VertriebenengruppenEin integrationspolitischer Vergleich mit denSudetendeutschen

Der Begriff des „vierten“ StammesAuf der Suche nach dem „fünften Stamm“Die Schlesier und die „zweite Million“Geringere Wahrnehmung des „fünften Stammes“Unterschiedliche AnkunftsgeschichtenKonflikte bei der Integration der SudetendeutschenBesonders schwere Konflikte bei der Integrationvertriebener „Preußen“Religion/Konfession und „Deutschtum“als integrationshemmende bzw. -fördernde FaktorenDie Schlesier als die „größten Nazis“?Anderer Dialekt und Urbanität als Integrations-hemmnis?Wirtschaftliche IntegrationsunterschiedeSchlesisch-sudetendeutsche Parität in der Politik derersten NachkriegsjahreDie Vertriebenen und der Bayerische RundfunkPolitische Gewichtsverlagerungen im Laufe derfünfziger JahreEntscheidende Unterschiede zwischen „Auslandsdeut-schen“ und „Reichsdeutschen“ im Hinblick auf poli-tische Selbsthilfe-Erfahrungen und organisatorischeInitiative?Das schlesische SchismaFolgen für Nieder- und Oberschlesier in BayernPatenschaftenEntwicklung ostdeutscher Kulturarbeit bis heuteDer „fünfte Stamm“ und das Haus des DeutschenOstens in MünchenLiteraturverzeichnis

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Inhalt

Einsichten und Perspekt iven

Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09 3

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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertr iebenengruppen

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Aufruf zur Umsiedlung der deutschen Bevölkerung von Bad Salzbrunn, Juli 1945

Abbildung aus: Flucht und Vertreibung. Europa zwischen 1939 und 1948, m. e. Einleitung v. Arno Surminski, Hamburg 2004, S. 45.

Ein fünfter Stamm inBayern? Schlesier,Ostpreußen und andereVertriebenengruppenEin integrationspolitischer Vergleich mit denSudetendeutschen

Von Manfred Kittel

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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertr iebenengruppen

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Der Begriff des „vierten“ Stammes

Die Bayerische Staatsregierung betrachtet die sudetendeut-sche Volksgruppe als „einen Stamm unter den Volksstäm-men Bayerns“. So heißt es in der Verleihungsurkunde zu dervom Freistaat unter der Ministerpräsidentschaft von HansEhard (CSU) im Juni 1954 übernommenen Schirmherr-schaft über die Sudetendeutschen.1

Das Wort von den Sudetendeutschen als Bayerns „vier-tem Stamm“ – neben Altbayern, Franken und Schwa-ben und in gewisser Weise als Ersatz für die im Ergebniseines gescheiterten Volksbegehrens 1956 endgültig ver-loren gehenden Pfälzer – prägte indes Ehards Nachfol-ger Wilhelm Hoegner (SPD).

Bei einem Gespräch im Januar 1956 begrüßte der Minister-präsident die Präsidialmitglieder des SudetendeutschenRates als „Vertreter des vierten Stammes in Bayern“.2

Die Stammesidee als Instrument bayerischerStaatsintegration geht schon auf König Ludwig I. zurück.3

Dieser hatte nach der Gründung des aus sehr verschiedenenTerritorien zusammengesetzten modernen Bayern 1806dem Bedürfnis der Altbayern, vor allem aber der Franken,Schwaben und Pfälzer nach regionalen Identitäten durchgeschichtspolitische Maßnahmen Rechnung getragen unddie Entstehung von „stämmisch-bayerischen Doppelidenti-täten“4 gefördert. Es war kein Zufall, dass Hoegner den Be-griff vom „vierten Stamm“ ausgerechnet 1956, im 150. Ge-denkjahr der Entstehung eines größeren Bayern, eingeführthatte.

In der Sudetendeutschen Landsmannschaft (SL) selbstwaren aber anfänglich gar nicht alle begeistert von derVorstellung, Bayerns neuer „vierter Stamm“ zu sein.Der für Kultur- und Volkstumspflege zuständige Rein-hard Pozorny etwa lehnte das im Hinblick auf die an-gestrebte Rückkehr in die (alte) Heimat entschieden ab,

und auch die SL-Spitze betonte in den fünfziger Jahren,der „vierte Stamm in Bayern“ zu sein, nicht „Bayernsvierter Stamm“.

Sie deutete das Stammeskonzept also derart, dass sich dieSudetendeutschen als „Volksgruppe im Exil“ nur vorüber-gehend als „vierter Stamm“ in Bayern aufhielten.5 Erst all-mählich konnte sich der Begriff, von maßgeblichen Ver-tretern der sudetendeutschen Gesinnungsgemeinschaften6

„bereitwillig angenommen“, durchsetzen. Dabei verstan-den es die bayerische Staatsregierung wie die Sudeten-deutschen, „den Stammesbegriff jeweils auf ihre Weise undfür ihre Zwecke zu interpretieren und einzusetzen“.7

Auf der Suche nach dem „fünften Stamm“

Heute ist der Topos des „vierten Stammes“ aus dempolitischen Sprachgebrauch des Freistaats nicht mehrwegzudenken. So sehr hat er sich eingebürgert, dassauch für den Ehrentitel des „fünften Stammes“ immerwieder einmal neue Vorschläge unterbreitet werden.

Die bayerische SPD bezeichnete in ihrer Irseer Erklärungvom Januar 2007 die seit den sechziger Jahren zugewander-ten Gastarbeiter aus Südeuropa und der Türkei nebst derenNachfahren als „Bayerns fünften Stamm“.8 Der Bundesvor-sitzende der Siebenbürger Sachsen äußerte auf dem Din-kelsbühler Heimattag 2006 im Namen seiner Landsleute dieHoffnung, „vielleicht einmal als fünfter Stamm in Bayernanerkannt zu werden“.9 Und der bayerische Ministerpräsi-dent Edmund Stoiber sprach während seiner Amtszeitmehrfach von den jüdischen Bürgern als dem „fünftenStamm Bayerns“, was die Präsidentin des Zentralrats derJuden, Charlotte Knobloch, etwa bei der Einweihung desneuen jüdischen Gemeinde- und Kulturzentrums in Würz-burg am 23. Oktober 2006 zustimmend aufgriff.10 Derdamalige Innenminister Günther Beckstein hatte wenigeMonate vorher auf eine Knobloch-Rede ebenfalls mit dem

1 Anlass zur Verleihung der Urkunde im Jahr 1962 war der fünfte Sudetendeutsche Tag gewesen. Das Dokument ist abgedruckt bei Habel,Die Sudetendeutschen, S. 117. 1954 wurde Bayern von einer Dreierkoalition unter Führung der CSU regiert – mit Beteiligung der SPD unddes damals noch recht starken Blockes der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE).

2 Badenheuer, Die Sudetendeutschen, S. 93.3 Bosl, Ludwig I. und die Stämme.4 Pohl, Zwischen Integration, S. 415.5 Ebd., S. 419; vgl. auch S. 417 f.6 Das sind drei sudetendeutsche Organisationen unterschiedlicher Prägung, in denen sich nach der Vertreibung die wichtigsten politischen

Strömungen der alten Heimat im Westen neu zusammenfanden: der national-konservative Witikobund, die sozialdemokratische Seliger-Gemeinde und die christlich-katholische Ackermann-Gemeinde.

7 Pohl, Zwischen Integration, S. 418, 419.8 Aus Liebe zu Bayern. Bayern – aber gerechter! Eine Denkschrift, s. http://www.spd-landtag.de/downl/PK06/070110ds_irseefassg.pdf

(Stand: August 2009).9 Siebenbürgische Zeitung v. 6. Juni 2006 („Volker Dürr: Integration der Siebenbürger Sachsen ist eine Erfolgsgeschichte“).10 Dokumentation der Einweihung des neuen jüdischen Gemeinde- und Kulturzentrums in Würzburg am 23. Oktober 2006, pdf-Datei

(www.shalomeuropa.de/doku) (Stand: April 2009), S. 21.

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Karte aus: Friedrich Prinz, Die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen in Bayern. Versuch einer Bilanz nach 55 Jahren, hg. v. Haus der Bayerischen Geschichte, Augs-

burg 2000, S. 7. (Hefte zur Bayerischen Geschichte und Kultur 24)

Wort vom „fünften Stamm“ geantwortet, zumal ohne denjüdischen Beitrag „unsere Kultur nur bruchstückhaft“ sei.11

Dieses Argument hat zweifelsohne Gewicht, schondeshalb, weil es dazu beiträgt, die viel zu wenig bekannte,Jahrhunderte alte Kulturleistung der bayerischen Juden vorund nach dem Holocaust wieder bewusster zu machen. Sieist angesichts der allerdings nur zu verständlichen Konzen-tration auf die Verfolgungsgeschichte während des „DrittenReiches“ in der Erinnerungskultur nach 1945 lange zu kurzgekommen.

Die Bezeichnung „fünfter Stamm“ trifft die Sache hieraber insofern nicht im Kern, als es sich bei den jüdi-schen Bayern jedenfalls nicht um einen „Neustamm“handelt, der nach 1945 hinzugekommen wäre, sondern

vielmehr um eine Kultur- und Religionsgemeinschaftmit viel älteren Wurzeln zwischen Aschaffenburg undBerchtesgaden und insbesondere in der ehemals bayeri-schen Pfalz seit Antike und Frühmittelalter (Speyer).

Bedenkt man zudem, dass sich der Titel „vierter Stamm“nicht zuletzt der beachtlichen, auch numerischen Stärke dervertriebenen Sudetendeutschen verdankt, die von der Zahlher die bayerischen Schwaben,12 den kleinsten „Urstamm“,sogar knapp übertrafen (zusammen mit den Karpatendeut-schen 1,025 Millionen13), so wäre die Suche nach dem „fünf-ten Stamm“ in dieser Perspektive fortzusetzen.

Man kann dann tatsächlich rasch auf die zahlrei-chen Arbeitsmigranten und ihre Nachkommen vor allemaus den Regionen Ex-Jugoslawiens und der Türkei (insge-

11 Vgl. Beckstein und der fünfte Stamm, in: Spiegel online https://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,426117,00.html (11. Juli 2006;Stand: August 2009).

12 1939 zählte der Regierungsbezirk Schwaben 947.000 Einwohner. Habel, Historische, politische und soziale Voraussetzungen, S. 243.13 Die Karpatendeutschen aus dem Gebiet der heutigen Slowakei fallen bei dieser Zahl nur wenig ins Gewicht. In die ganze US-Zone waren

nach dem Krieg 10.880 vertriebene Karpatendeutsche transportiert worden (vgl. Kimminich, Der völkerrechtliche Hintergrund, S. 202).Aufgrund einer eigenen historisch-politischen Identität schlossen sich die Karpatendeutschen auch nicht der SL an, sondern sammelten sichin einer eigenen Landsmannschaft. Ihr institutioneller Schwerpunkt mit Kulturwerk, Museum und Stiftung liegt heute in Karlsruhe (vgl.den Überblick im BdV-Blickpunkt, Dezember 2006, S. 15–16). Man wird die Karpatendeutschen insofern, trotz ihrer meist anderen statisti-schen Einordnung, eher als Teil des fünften denn des vierten Stammes betrachten müssen.

Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertr iebenengruppen

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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertr iebenengruppen

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14 Ferdinand Kramer spricht in diesem Kontext von einer „Diasporahaltung vieler Muslime in Bayern“. Kramer, Die Muslime, S. 391.15 Ziegler, Die Vertriebenen, S. 7 f.; Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen, Integration von

Spätaussiedlern in Bayern, München 2002, S. 7 (pdf-Datei. www.stmas.bayern.de/vertriebene/aussiedler (Stand: Mai 2009).16 Zu den Zahlen Ziegler, Die Vertriebenen vor der Vertreibung, Bd. 1, S. 7 f.

Siebenbürger Sachsen auf der Flucht

Abbildung: Flucht und Vertreibung. Europa zwischen 1939 und 1948, m. e. Einleitung v. Arno Surminski, Hamburg 2004, S.41.

samt über eine Million Menschen) kommen, bleibt aber einwenig skeptisch, da zumindest die Integration ihres großenmuslimischen Teils kaum schon als vollendet gelten kann.14

Zudem stimmte auch hier die Chronologie nicht, weil inihrem Zusammenhang dereinst vielleicht einmal von einem„sechsten“ oder, je nach Zählweise, „siebten Stamm“ gere-det werden könnte; der wirkliche „fünfte Stamm“ hingegenhat schon viel früher so fest Wurzeln in Bayern zu schlagenbegonnen, dass er als eigener Teil offensichtlich gar nichtmehr identifiziert wird – ja, merkwürdiger noch, im Grundegenommen von Anfang an bis heute kaum je angemessenberücksichtigt wurde.

Die Schlesier und die „zweite Million“

Die Rede ist hier von sämtlichen nicht aus den böhmischenLändern stammenden deutschen Ostvertriebenen, dieschon 1950 zusammengenommen eine fast ebenso großeGruppe (von ca. 850.000 Menschen) in Bayern bildeten wiedie Sudetendeutschen selbst.

Berücksichtigt man zudem die Spätaussiedlerstatistikzwischen 1950 und 2001, die neben 8.000 Menschen ausder Tschechoslowakei nahezu eine halbe Million Deut-sche aus dem russischen, rumänischen und polnischenStaatsbereich verzeichnet, so ist dieser „fünfte Stamm“mit über 1,3 Millionen Menschen sogar noch ein gutesStück größer als der „vierte“.15

Die überwiegend erst als Spätvertriebene nach Bayern ge-kommenen Siebenbürger Sachsen (über 100.000 Menschen)sind im Übrigen einer der wichtigsten Teile dieses „fünftenStammes“, an Zahl aber – bei allem Respekt vor ihrem be-sonders aktiven Kulturleben – doch nicht groß genug, umden schmückenden Titel allein für sich reklamieren zu kön-nen.

Denn das mit Abstand größte Element des „fünftenStammes“ bilden die Schlesier, von denen schon bis 1950fast 460.000 in Bayern eine neue Heimat fanden.16 Man-cherorts waren sie nach dem Krieg vor allem in Ober-

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Karte aus: Walter Ziegler (Hg.), Die Vertriebenen vor der Vertreibung. Die Heimat-

länder der deutschen Vertriebenen im 19. und 20. Jahrhundert. Strukturen, Ent-

wicklungen, Erfahrung, 2 Bde., München 1999, Bd. 1, S. 6.

franken und Niederbayern (etwa Bamberg, Coburg,Passau, Deggendorf) noch häufiger anzutreffen als dieSudetendeutschen.

Neben den Schlesiern gehören zu der schon 1950 ca.600.000 Menschen umfassenden Gruppe der Vertriebenenaus dem „Altreich“ in den Grenzen von 1937 noch 87.000Ostpreußen, 34.000 Hinterpommern und 13.000 Ostbran-denburger (und historisch gesehen, auch wenn die rechtli-che Situation hier eine andere war, auch die 11.000 Danzigersowie die Memelländer). Diesen Kern des „fünften Stam-mes“ erweitert das ganze Spektrum der so genannten„Volksdeutschen“, deren „erzwungene Wanderschaft“ sieaus dem Gebiet Vorkriegspolens (48.000 vor 1950) oder ausden südosteuropäischen Ländern Ungarn, Jugoslawien undRumänien (zusammen 161.000 vor 1950, 158.000 in der

Folgezeit) nach Bayern führte. In den neunziger Jahrenkam über eine Viertelmillion Russlanddeutsche hinzu,nachdem diese Gruppe bis 1950 (Deutsch-Balten mitge-rechnet) im Freistaat nur 18.000 Menschen umfasst hatte.

Nun ließe sich einwenden, ein aus einem Dutzend ganzverschiedener, teils umgesiedelter, teils geflohener, teilsvertriebener Gruppen vom Baltikum über Schlesien bisins Banat zusammengesetzter fünfter „Stamm“ wirkeallzu konstruiert. Doch gegen diesen Einwand wärevorzubringen, dass auch der „vierte Stamm“ von denBeskiden östlich Troppau bis zum Egerland in sehrheterogenen Siedlungsgebieten gelebt hatte.

Schon die Sudetendeutschen aus dem stark an der WienerLebensart orientierten Südmähren mit ihrem baierisch-österreichischen Dialekt unterschieden sich ganz erheblichvon den als „ernster“ geltenden, schlesisch sprechendennordmährischen Industriearbeitern. Aber auch „die“ Schle-sier oder „die“ Ostpreußen für sich genommen waren in so-zialer, konfessioneller wie kultureller Hinsicht ausgespro-chen vielfältige Gruppen.17 Geht man aber davon aus, dassdie Deutschen in den böhmischen Ländern im Zuge deswachsenden Nationalitätenkonflikts mit den Tschechen seit1848 und spätestens seit 1918/19 infolge ihrer Einverleibungin einen künstlichen tschechoslowakischen Nationalstaatunbeschadet aller Unterschiede zu einer politischen Schick-salsgemeinschaft zusammenwuchsen, und berücksichtigtman ferner, dass die Erfahrung der Vertreibung diese Iden-tifikation noch verstärkte, dann ist ein so verstandenerStammesterminus auf die Schlesier, Ostpreußen und vielenanderen kleineren Vertriebenengruppen in Bayern – zumin-dest als Arbeitsbegriff – ebenfalls anwendbar.

Das gemeinsame politische Schicksal dieser „zweitenMillion“ „bayerischer“ Vertriebenen war es, im Frei-staat nur in relativ kleinerer Zahl angesiedelt wordenzu sein und in der Öffentlichkeit deutlich wenigerwahrgenommen zu werden als die erste, sudetendeut-sche Million.

Als typisches Beispiel sei nur die Begrifflichkeit aus einemAufsatz des zwischenzeitlich emeritierten Professors fürBayerische Landesgeschichte, Rudolf Endres, erwähnt. DerLeiter des verdienstvollen Forschungsprojekts „Die Ent-wicklung Bayerns durch die Integration der Heimatvertrie-benen und Flüchtlinge“18 hat 2005 unter dem Titel „Bayernsvierter Stamm. Grundzüge der Integration der Flüchtlingeund Vertriebenen“ in einem Aufsatz wie folgt formuliert:

17 Vgl. Gatz, Expellees, S. 321, 326.18 Vgl. Reinhart, Die Entwicklung Bayerns, S. 7.

Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertr iebenengruppen

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19 Endres, „Bayerns vierter Stamm“, S. 65.20 Ebd. Bei dem Tagungsband zur Integration der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen in Bayern nach 1945 sind, anders als bei dem erwähn-

ten Aufsatz von Rudolf Endres, keine Anführungszeichen gesetzt worden.21 Vgl. in diesem Sinne auch den Beitrag von Fritz Wittmann, Die Ostdeutschen in Bayern, der vierte Stamm.22 Böhm, Weg und Ziel, S. 165.23 Vordringlich wäre eine Zeitzeugenbefragung von Angehörigen der verschiedenen Vertriebenengruppen in Bayern – und zwar sowohl der

landsmannschaftlich Gebundenen wie der großen Mehrheit der Nicht-Organisierten – hinsichtlich ihrer Integrationserfahrungen. Auch dieGeschichten der einzelnen Landsmannschaften in Bayern sind noch zu schreiben.

Quelle: Walter Ziegler (Hg.), Die Vertriebenen vor der Vertreibung. Die Heimat-

länder der deutschen Vertriebenen im 19. und 20. Jahrhundert. Strukturen, Ent-

wicklungen, Erfahrung, 2 Bde., München 1999, Bd.1, S. 7.

„Wenn man von ‚Bayerns viertem Stamm’ spricht, dann ge-steht man damit zu, dass die Flüchtlinge und vor allem diemehr als eine Million vertriebenen Sudetendeutschen eineeigene Tradition besitzen, was für die kulturelle Integrationoder Akkulturation von großem Wert war und noch ist.“19

Offensichtlich aus pragmatischen Gründen darstelleri-scher Prägnanz werden hier also explizit nur die Sude-tendeutschen genannt. Wer die anderen sind, weiß derAutor natürlich und wissen auch die Fachleute. Aberwie viele bayerische Otto-Normalverbraucher ohnehistorische Spezialkenntnis wissen gleichfalls, wer dieanderen waren und dass diese zusammengenommenebenso viele zählten wie die Sudetendeutschen selbst?

Für die Wahrnehmung der anderen steckt im Terminus„vierter Stamm“ mithin ein Dilemma. Dieses wird auchnicht dadurch aufgehoben, dass etwa ein sehr interessanterBayreuther Tagungsband, ebenfalls unter dem Titel „Bay-erns vierter Stamm“,20 einige Beiträge enthält, in denen dieVertriebenen aus den Oder-Neiße-Gebieten und aus Süd-

osteuropa sehr wohl präsent sind. Der in der Endres-For-mulierung anklingenden und auch sonst gelegentlich zuhörenden Ansicht, mit dem Wort vom „vierten Stamm“ sei-en neben den Sudetendeutschen auch alle übrigen gemeint,21

widersprechen andere Äußerungen wie die des Minister-präsidenten Alfons Goppel anlässlich der Errichtung derSudetendeutschen Stiftung 1970. „Jeder zehnte EinwohnerBayerns ist Sudetendeutscher“, so führte Goppel damalsaus: „Die Sudetendeutschen sind unser vierter Stamm.“22

Geringere Wahrnehmung des„fünften Stammes“

Sprachlich-darstellerische Gründe allein können den Ab-stand zwischen der öffentlichen Präsenz der Sudetendeut-schen und der Wahrnehmung der vielen anderen jedenfallskaum erklären. Denn im oben erwähnten Satz könnte undmüsste es im Blick auf die Größenverhältnisse der bayeri-schen Vertriebenengruppen eigentlich zumindest heißen:„die Sudetendeutschen und die Schlesier“. Wer nach denGründen für die insgesamt geringere Präsenz der zweitenMillion fahndet, muss in erster Linie nach den bayerischenSchlesiern fragen, die allein etwa die Hälfte davon ausma-chen. Die möglichen Ursachen kultureller, wirtschaftlicherund politischer Art für die im Vergleich zu den Sudeten-deutschen schwächere Wahrnehmung des „fünften Stam-mes“ in Bayern sollen im Folgenden diskutiert werden.Trotz gewisser Bedenken gegen den etwas vormodern-ro-mantisch anmutenden Stammesbegriff wird er verwendet,weil er die prägnanteste Sammelbezeichnung darstellt, umdie vielen nicht-sudetendeutschen Vertriebenengruppen zubenennen. Neben den Schlesiern liegt ein weiterer kleinererSchwerpunkt des Aufsatzes auf den Ostpreußen; nicht nur,weil diese zum zweiten „Patenkind“ des Freistaates wur-den, sondern auch deshalb, weil eine amerikanische Disser-tation, wenngleich mit einem Fokus auf dem gesamten Bun-desgebiet, die Integration von Sudetendeutschen und Ost-preußen breit verglichen hat und die Materialgrundlage hierziemlich günstig ist. Abschließend sollen der kulturelleStatus quo des „fünften Stammes“ skizziert und einige Zu-kunftsperspektiven präsentiert werden.

Notgedrungen hat dieser Aufsatz eine eher essayis-tische Form. Zur wissenschaftlich vertieften Beantwortungder sich stellenden Fragen wären mehrere Großforschungs-projekte erforderlich.23

Vertriebenenzahlen nach Herkunft

Deutsche Ostgebiete

Danzig

Polen

Tschechoslowakei

Baltische Staaten und Memelland

Ungarn

Rumänien

Jugoslawien

9.075.000

388.000

2.370.000

3.496.000

100.000

548.000

498.000

435.000

Vertriebene nach Herkunft und Aufnahmeland

Ostpreußen

Ostbrandenburg

Ostpommern

Schlesien

Herkunftsland Bayern

Niedersachsen

Niedersachsen

Schleswig-Holstein

Niedersachsen

Herkunftsland mit höchs-

tem Anteil

410.000

50.000

310.000

720.000

87.000

13.000

34.000

458.000

Prozentanteilder Vertriebe-nen in Bayern

4,6

0,7

1,8

24,7

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Im Barackenlager Riederloh (1955)

Foto: Hans-Joachim Hübner, Die Fabrik Kaufbeuren

der Dynamit-AG: Zur Vorgeschichte von Neugab-

lonz, Kaufbeuren, März 1995, S. 114.

Immer wieder stößt man bei dem Thema auf das Phä-nomen, dass sich in der Integrationsforschung die Spurder Schlesier, aber letztlich auch aller anderen kleinerenund größeren Vertriebenengruppen (die Sudetendeut-schen eingeschlossen) im diffusen Generaltypus des„Flüchtlings aus den Reichs- und Siedlungsgebieten ausdem Osten“ verliert.24

Je weiter man in die Gegenwart gelangt, desto schwierigerwird es, von der Geschichte der Landsmannschaften oderKulturwerke abgesehen, wirklich noch schlesische oder an-dere Spezifika in der Entwicklung der bayerischen Gesell-schaft zu identifizieren; und dies, obwohl die regionalenIdentitäten bei den Vertriebenen selbst durchaus stark aus-

geprägt gewesen waren25 und es tatsächlich „keine ostdeut-sche und keine Heimatvertriebenenkultur, sondern [nur]eine landsmannschaftlich gewachsene Kultur“ gab.26 Ob dasim Hinblick auf eine politisch beherrschbare Integrationvon der amerikanischen Besatzungsbehörde durchgesetzteKonzept der Zerstreuung und Assimilation letztlich erfolg-reicher war als alle späteren bayerischen Bemühungen, diekulturelle Identität der Vertriebenen zu wahren,27 könnteGegenstand einer eigenen Abhandlung sein. Dringlichscheint es jedenfalls, „die Kategorie Herkunft hinsichtlichihrer integrationshemmenden und -fördernden Wirkung“künftig stärker „in die Erforschung des Integrationspro-zesses einzubeziehen“.28

24 Vgl. etwa die ansonsten sehr informative Studie von Zeitler, Neubeginn in Oberfranken. Dort ist lediglich (S. 364) von einer Statistik desRegierungsbezirkes die Rede, wonach am 15. August 1946 120.000 Reichsdeutsche aus den Oder-Neiße-Gebieten (davon allein über104.000 „Schlesier“) in Oberfranken lebten sowie 84.000 Auslandsdeutsche (davon über zwei Drittel Sudetendeutsche). Die Tendenz zumFlüchtlingsgeneraltypus war schon früh auch in den lokalen Statistiken festzustellen, etwa in jener des Landkreises Wunsiedel 1946, dieebenfalls lediglich zwischen „Deutschen aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße“ und „Auslandsdeutschen (überwiegend aus demSudetenland)“ unterschied. Eine Liste der Gemeinde Bernstein vom September 1946 war insofern genauer, als sie 63 Sudetendeutsche eigensauswies, die Vertriebenen aus den zwei eigenständigen schlesischen Provinzen jedoch als Neubürger „aus Ober- und Niederschlesien“ (283Seelen) zusammenfasste. Reinhart, Neuanfang im Fichtelgebirge, S. 442.

25 So auch die Beobachtung des Soziologen Emerich K. Francis (The German Expellees) bei einem Forschungsaufenthalt in Bayern, der diedaraus resultierenden Risiken einer Abgrenzung der Vertriebenengruppen von der aufnehmenden Mehrheitsgesellschaft nicht zuletzt durchdas Wirtschaftswunder abgewendet sah.

26 Auch wenn dieses Diktum von dem wegen seiner Vergangenheit in der NS-Zeit stark umstrittenen Theodor Oberländer stammt (damals,1951, Staatssekretär für Angelegenheiten der Heimatvertriebenen in Bayern), ist es nicht schon deswegen Ausfluss eines „völkischen Kon-strukts“, das von einem organisch gegliederten „deutschen Volkskörper“ ausgehe. Vgl. aber Pohl, Zwischen Integration, S. 79, die in diesemKontext auch die „Vorstellung einer gemeinsamen deutschen Kulturnation“ als „rückwärtsgewandt“ zurückweist.

27 Vgl. zu dem von einer melting-pot-Ideologie geprägten Konzept der Amerikaner für ein „organisches“ Aufgehen der Vertriebenen in derwestdeutschen Gesellschaft: Grosser, Das Assimilationskonzept. Das „organische Aufgehen in der einheimischen Bevölkerung“ wurdesogar expressiv verbis in das vom Länderrat 1947 beschlossene zoneneinheitliche Flüchtlingsgesetz hineingeschrieben. Ebd., S. 207.

28 So Mathias Beer, ausgehend von den spezifischen Integrationsschwierigkeiten der Ungarndeutschen, auf einem vom bayerischen Arbeits-und Sozialministerium geförderten Kolloquium in Berlin. Tagungsbericht: Integrationen. Vertriebene in den deutschen Ländern nach 1945.11.07.2006–12.07.2006, Berlin, in: H-Soz-u-Kult (26.09.2006). In dem Tagungsband (Krauss, Integrationen, S. 15) betont die Herausgeberinmit Blick auf schlesisch-sudetendeutsche Unterschiede ebenfalls, wie „ungemein viel“ der Integrationsprozess damit zu tun hatte, „aus wel-chen Regionen die Vertriebenen stammten und mit welcher Prägung sie im Westen ankamen“. Auch Kossert, Kalte Heimat, S. 82, berichtetetwa, dass es bei der einheimischen Bevölkerung Unterschiede im Grade der Ablehnung gegenüber den einzelnen Vertriebenengruppengab. So seien in der Lüneburger Heide die Pommern besser angesehen gewesen als die Schlesier und Ostpreußen. Zum Stand der bayeri-schen Integrationsforschung vgl. Gelberg, Vom Kriegsende, S. 739 ff.

Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertr iebenengruppen

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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertr iebenengruppen

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29 Beide Begriffe werden im Folgenden aus darstellerischen Gründen synonym verwendet, da zum einen auch die meisten Flüchtlinge spätes-tens infolge der weiteren politischen Entwicklungen zu Vertriebenen wurden, sich zum anderen alltagssprachlich der Begriff „Flüchtling“als Sammelbegriff durchsetzte. Der pejorative Anklang, den er teilweise hatte, wird hier aber nicht geteilt.

Unterschiedliche Ankunftsgeschichten

Welche Bedeutung hatten die unterschiedlichen Ankunfts-geschichten des späteren vierten und fünften Stammes derFlüchtlinge und Vertriebenen29 in den Jahren ab 1945?

Während sich die überwiegend schon in der ersten Hälf-te des Jahres 1945 nach Bayern einströmenden Deut-schen aus Schlesien und aus den anderen preußischenOstprovinzen des Reiches „weitgehend auf eigene Fausteine Unterkunft suchen“ mussten, oblag die Verteilungder größtenteils erst 1946 aus der Tschechoslowakei ver-

triebenen Sudetendeutschen bereits einer „nicht zuletzteigens für diese Aufgabe geschaffenen staatlichen Zen-tralbehörde“.

Nachdem die Flüchtlinge aus den östlichen Altreichsge-bieten sich „in den ihrer Wanderungsrichtung zunächst lie-genden nordöstlichen Regionen Bayerns“ massiert hatten,sah sich die neu errichtete Flüchtlingsverwaltung „mit einerkaum mehr reversiblen Ausgangssituation“ konfrontiert,als die Behörde Ende Dezember 1945 die Aufteilung des zuerwartenden Vertriebenenzustroms aus den Sudetengebie-ten zu planen begann. Da die gleichsam „,autonom’ wan-

Karten aus: Walter Ziegler (Hg.), Die

Vertriebenen vor der Vertreibung. Die

Heimatländer der deutschen Vertriebe-

nen im 19. und 20. Jahrhundert. Struk-

turen, Entwicklungen, Erfahrung,

2 Bde., München 1999, Bd. 1, S. 498,

sowie ebd., Bd. 2, S. 642.

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Karten aus: Walter Ziegler (Hg.), Die

Vertriebenen vor der Vertreibung. Die

Heimatländer der deutschen Vertriebe-

nen im 19. und 20. Jahrhundert. Struk-

turen, Entwicklungen, Erfahrung, 2

Bde., München 1999, Bd. 2, S. 706,

sowie Bd.1, S. 134.

dernden Schlesier, von Osten kommend, die nordöstlichenTeile Bayerns belegt hatten“, musste die Flüchtlingsver-waltung bei der Verteilung der Sudetendeutschen verstärktdie südwestlichen Landesteile heranziehen. Infolgedessenlebten 1946 allein in Niederbayern, in der Oberpfalz und inOberfranken 258.000 der 432.000 Schlesier, während inOberbayern, in Schwaben und in Mittelfranken mit zusam-men 509.000 fast zwei Drittel der bis dahin aufgenommenenSudetendeutschen untergekommen waren.30 Den höchstenAnteil unter den Vertriebenen stellten die Schlesier in Ober-franken (42,2 Prozent), Niederbayern (37,7 Prozent) und inder Oberpfalz (34,3 Prozent), den niedrigsten in Schwaben(12,6 Prozent) und Oberbayern (18,6 Prozent). Die Sude-tendeutschen dagegen waren prozentual am stärksten inSchwaben (71,5 Prozent) , aber auch in Oberbayern, Mittel-und Unterfranken stellten sie zwischen 54,5 und 58,6 Pro-zent der Vertriebenenbevölkerung.31

Einen Grund für die später vergleichsweise geringereWahrnehmung der Schlesier könnte die unterschiedli-che Ankunftsgeschichte insofern liefern, als die Alt-reichsdeutschen sich ausgerechnet in den – teils bisheute – eher strukturschwächeren ostbayerischenGebieten verdichteten, während die Konzentration derSudetendeutschen u.a. in Oberbayern, die Landes-hauptstadt München eingeschlossen, für diese einenStandortvorteil bedeutete, sprich: größere Nähe zu denpolitischen, administrativen, wirtschaftlichen undmedialen Kraftzentren des Freistaates.32

30 Bauer, Flüchtlinge und Flüchtlingspolitik in Bayern, S. 27, 161, 167 ff.31 Lane, The Integration of the German Expellees, S. 17, sowie: Die Flüchtlinge in Bayern. Ergebnisse einer Sonderauszählung aus der Volks-

und Berufszählung vom 29. Oktober 1946, Heft 142 (Juli 1948), S. 9.32 Allerdings gab es auch in München von Anfang an eine stattliche schlesische Vertriebenengruppe.

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33 So Bernd Posselt, Die Freiheit im Biergarten, in: Bayernkurier v. 7. Februar 2009, S. 15.34 Ansprache von Bernd Posselt im Rahmen der „Festlichen Stunde“ im Sudetendeutschen Haus München am 26. August 2008, anlässlich der

tendeutschen Städte, Reichenberg und Eger, je hatten“.33

Der Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft,Bernd Posselt, hat deshalb mit gutem Grund das „Aktions-zentrum München“ als einen der wesentlichen Gründe fürdie Integrationserfolge seiner „Volksgruppe“ nach 1945benannt.34

Nach Abschluss der in den fünfziger Jahren generell zu be-obachtenden Landflucht der (zunächst vorwiegend in agra-rischen Räumen untergebrachten) Vertriebenen hatten sichschließlich an die 200.000 Sudetendeutsche in Münchenangesiedelt. Die bayerische Metropole wies damit „mehrdeutschböhmische Einwohner“ auf, als „die größten sude-

Friedrich Prinz,

Die Integration der

Flüchtlinge und Ver-

triebenen in Bayern.

Versuch einer Bilanz

nach 55 Jahren,

hg. v. Haus der Ba-

yerischen Geschichte,

Augsburg 2000, S. 10.

Page 14: THEMENHEFT1 09 Einsichten undPerspektiven

Zur Landshuter Stadtratswahl 1956 stellten die Sudetendeutschen

eine eigene Liste auf.

Abbildung: Dorothea Götz, Chronik der Vertriebenen in Landshut 1945–1987,

Landshut 1991, S. 145.

schen Wehrmacht mit Vorurteilen konfrontiert. Sie wurdenals „Beutedeutsche“ und „Sudetengauner“ verunglimpftund mussten die Erfahrung machen, als „blöde Böhm“, alshinterwäldlerisch und „ein wenig primitiv“ zu gelten.36

Wohl auch wegen der Bilder jubelnder Bevölke-rung bei der Angliederung des Sudetenlandes an das Reichim Herbst 1938 meinte 1946 zudem „die Mehrheit der Ein-heimischen“ in Bayern, „die meisten Flüchtlinge“ aus denböhmischen Ländern „wären nicht vertrieben worden,wenn sie nicht zu den Nazis gehört hätten“.37 Manche Sude-tendeutsche fühlten sich aufgrund der „Nazi“-Vorwürfe re-gelrecht „als Kriegsverbrecher behandelt“.38 Obendrein be-kamen sie zu hören, eigentlich müsse doch nicht Bayern,sondern Österreich für ihre Aufnahme sorgen, „da das Su-detenland früher zu Österreich gehört habe“.39 Am Oster-sonntag 1946 predigte sogar ein katholischer Pfarrer mitBezug auf die Sudetendeutschen, es habe „vor einem Jahrenoch Menschen“ gegeben, die „Ostern ohne Gott und denAuferstandenen in blinder Hoffnung auf den Sieg der Nazisbegingen“ und die „auch heuer, wohl zu ihrer Strafe, auf denStraßen obdachlos als eine wahre Landplage für uns ihr Os-tern, zum Großteil wieder ohne Gott, begehen“ müssten.40

Das kritische Urteil des Geistlichen über die vertriebenenDeutschböhmen mochte auch mit der tendenziell schwä-cher als in Bayern ausgeprägten Kirchlichkeit im Sude-tenland zusammenhängen. Denn der „lebensfrohe undstark verstädterte katholische Sudetendeutsche“ brachte„oft Kino, Tanzkurs, Sportverein mit aufs Dorf“;41 er schienalso für die heile Welt der bayerischen Agrarprovinz eineBedrohung darzustellen. Im März 1947 wurde in der Ge-meinde Egmating im Kreis Ebersberg ein trauriger Höhe-punkt der Diskriminierung erreicht, als ein Anschlag fol-genden Inhalts auftauchte: „Hinaus mit den Flüchtlingenaus unserem Dorf! Gebt ihnen die Peitsche statt Unterkunft– dem Sudetengesindel! Es lebe unser Bayernland!“42

Besonders schwere Konflikte bei derIntegration vertriebener „Preußen“

Hält man sich die Integrationskonflikte vor Augen, denendie Sudetendeutschen ausgesetzt waren, so lässt sich erst er-messen, was es bedeutete, dass sich die bayerische Urbevöl-

Übergabe des Sudetendeutschen Wappens für die Vertretung des Freistaates Bayern in Brüssel an Europaminister Markus Söder. PrivateMitschrift des Verfassers.

35 Gatz, Expellees, S. 260.36 Gebel, „Heim ins Reich“, S. 226 f.37 Sallinger, Die Integration, S. 104.38 Gatz, Expellees, S. 224.39 Sallinger, Die Integration, S. 104.40 So berichtete der ehem. Generalvikar für die im Sudetengau gelegenen Teile der Diözese Königgrätz, Prälat Richard Popp, an die „hoch-

würdigen (erz-)bischöflichen Ordinariate Bayern“. Zit. n. Gatz, Expellees, S. 260.41 Kossert, Kalte Heimat, S. 122.42 Ebd., S. 62.

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Konflikte bei der Integration derSudetendeutschen

Von einem reinen Idyll, dies sei gleich an dieser Stellebetont, um falsche Zungenschläge zu vermeiden, wardie Integration der Sudetendeutschen dennoch weitentfernt. Auch sie waren vielmehr von der verbreitetenwestdeutschen Ignoranz gegenüber deutscher Ge-schichte und Kultur in Ostmitteleuropa betroffen.

Schon in den zwanziger Jahren sollen Sudetendeutsche,aller völkischen Propaganda in Weimar-Deutschland zumTrotz, bei Reisen in das Reich oft gefragt worden sein, wes-halb sie eigentlich so gut Deutsch sprechen würden.35 Nach1938 waren die Sudetendeutschen auch in der Großdeut-

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43 Anfangs, als das politische Schicksal der Oder/Neiße-Gebiete vor der Potsdamer Konferenz im Sommer 1945 noch nicht klar war, hattemancher in den vielleicht nur vorübergehenden Gästen aus dem deutschen Osten gar einen Ersatz für die (landwirtschaftlichen)Zwangsarbeiter aus Osteuropa gesehen. Gatz, Expellees, S. 290.

44 Laubaner Gemeindebrief 11 v. 4. August 1946. Zit. n. Feiber, Zum Heimatbegriff, S. 35.45 Von Engelhardt, Biographieverläufe von Heimatvertriebenen, S. 57.46 Bei den Sudetendeutschen äußerten sich 56,6 Prozent derart, bei den Schlesiern 40,9 Prozent und bei den nordostdeutschen Flüchtlings-

gruppen ein Drittel der Befragten. Die Vertriebenen in Bayern, hg. v. Bayerischen Statistischen Landesamt (Beiträge zur Statistik Bayerns151), München 1950, S. 34.

47 Ebd., S. 63 ff., auch S. 34.48 Reitzner, Das Paradies, S. 131.49 Pfeil (Fünf Jahre später, S. 92 f. ) erklärt dies damit, dass die betreffenden Gruppen in Bayern „am schwersten Fuß gefasst“ hatten und zu-

dem über traditionelle verwandtschaftliche Beziehungen nach Amerika verfügten.50 Habel, Historische Voraussetzungen, S. 281. Die Ostpreußen demgegenüber ähnelten in Bezug auf Dialekt, Religion und andere kulturelle

Aspekte offensichtlich meist eher den Schleswig-Holsteinern. Gatz, Expellees, S. 245.51 Ebd., S. 188; auch Pfeil, Fünf Jahre später, S. 93, ermittelte, dass bei den Sudetendeutschen die Hoffnung auf Rückkehr in die Heimat am

stärksten ausgeprägt war.52 So Lodgman 1953, zit. n. Gatz, Expellees, S. 422.

wandt, oder sie seien hier noch am nächsten ihrer Heimat“.47

Auch ein sudetendeutscher Sozialdemokrat wie AlmarReitzner meinte rückblickend, er habe sich 1946 inMünchen wegen der bayerischen Lebensart niedergelassen,die ihm als Deutschböhmen eher zusagte als die der „Welfenund Hanseaten“.48 Dagegen äußerte jeder fünfteSüdostdeutsche und jeder zehnte Ostpreuße, gar anAuswanderung aus Deutschland zu denken.49 „Es scheint sozu sein“, hat auch Fritz Peter Habel formuliert, „dass dieSudetendeutschen eher nach Bayern hineinpassten als in alleanderen deutschen Bundesländer.“50

Hatte die unterschiedlich ausgeprägte Bereitschaft zurIntegration in der neuen bayerischen Heimat vielleichtauch mit einer unterschiedlich großen Hoffnung aufRückkehr in die alte Heimat zu tun?

Hier gehen die Meinungen in der Forschung auseinander.Laut der amerikanischen Historikerin Karen Gatz hätte dieBereitschaft, das neue Leben im Westen als endgültig zuakzeptieren und sich möglichst rasch voll zu integrieren, beiden vertriebenen Reichsdeutschen eigentlich größer seinmüssen als bei den Deutschböhmen. Denn Schlesier undOstpreußen hätten 1944/45 oft eine Heimat in Flammenverlassen, während die 1946 deportierten Sudetendeutschenmeist das Bild einer weitgehend unzerstörten Heimat imKopf gehabt hätten.51

Gegen diese Argumentation spricht indes, dass sei-tens der Sudetendeutschen Landsmannschaft früh dieDevise ausgegeben wurde, gerade die gute Integration sei„eine unerlässliche Vorbedingung für die Rückkehr in dieHeimat“.52 Vor allem aber versprachen sich offenkundig dieVertriebenen aus den preußischen Ostprovinzen, die formalnur unter polnische und sowjetische Verwaltung gestelltworden waren, von einem endgültigen Friedensvertrag ehereine Heimkehr als die Sudetendeutschen. Denn das Münch-ner Abkommen von 1938, spätestens die Bezugnahme des

kerung mit den „Preußen“ aus Schlesien, Pommern undOstpreußen tendenziell sogar noch schwerer tat – und um-gekehrt.43 Ein niederschlesischer Pfarrer sah sich darob imSommer 1946 zu einem Appell an seine vertriebenen Lands-leute veranlasst, sich auch einmal in die Lage der Einheimi-schen zu versetzen. Denn die „Abneigung, die sie uns offenzeigen, gilt wohl weniger uns persönlich als der Verteidi-gung ihrer bisherigen Lebensrechte, die sie nicht aufgebenwollen, und deren Berechtigung sie doch wanken fühlen.Ob Gott uns daheim in der gleichen Lage eine tiefereErkenntnis geschenkt hätte? Sicher ist das nicht.“44

Ein Projekt über Biographieverläufe von Heimat-vertriebenen, das der Erlanger Soziologe Michael von En-gelhardt mit Unterstützung des Sozialministeriums Anfangder neunziger Jahre durchführen konnte, hat aufgezeigt:

Fremdheitserfahrungen und Konflikte zwischen denAngehörigen der Aufnahmegesellschaft und denNeuankömmlingen, die in abweichenden kulturellen,sprachlichen, mentalen und religiösen Traditionen be-gründet lagen, waren häufiger dort anzutreffen, woAltreichsdeutsche aus den Oder-Neiße-Gebieten zuintegrieren waren. Jedenfalls gab es bei der Eingliede-rung der Sudetendeutschen aufs Ganze gesehen weni-ger Probleme.

„Hierbei war offensichtlich das Verhalten beider Seiten vonentscheidender Bedeutung: Die Ausgrenzung oder Einbin-dung durch die einheimische Bevölkerung stand in einerWechselbeziehung zur Selbstausgrenzung oder Selbstein-bindung durch die Neuankömmlinge“.45

Eine Bestandsaufnahme von Neubürgern durchdas Bayerische Statistische Landesamt förderte denn auch1950 zutage, dass die Sudetendeutschen häufiger angaben,in Bayern bleiben zu wollen, als Angehörige anderer Ver-triebenengruppen.46 Als Gründe hierfür nannten sie: „Sieseien bereits eingewöhnt, sie fühlen sich den Bayern ver-

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Wahlplakat des BHE

Abbildung: Friedrich Prinz, Die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen in

Bayern. Versuch einer Bilanz nach 55 Jahren, hg. v. Haus der Bayerischen Geschich-

te, Augsburg 2000, S. 16.

Potsdamer Protokolls auf „Deutschland in den Grenzenvom 31. 12. 1937“ hatte dies gezeigt, hielten ganz offensicht-lich auch die Westmächte für gegenstandslos.53 Und allen-falls wenige wollten, nach den Erfahrungen der Jahre zwi-schen 1918 und 1938, erneut zu Bürgern eines tschechischdominierten Staates werden.

Allerdings dürften unterschiedlich ausgeprägte Rück-kehrhoffnungen die Integrationschancen kaum wesent-lich oder zumindest nur schwer messbar beeinflussthaben. Wichtiger scheint dagegen ein anderer Punktgewesen zu sein: Die Sudetendeutschen waren, allenStammtischparolen zum Trotz, immerhin keine Preu-ßen respektive „Saupreußen“, sondern als Alt-Öster-reicher sprachlich-kulturell so etwas wie Süddeutsche.54

Die große Gruppe der Egerländer und der Böhmerwäldlerzumal war schlicht und einfach aufgrund der siedlungsge-schichtlichen und geographischen Nachbarschaft zu Bay-ern in einer ungleich günstigeren Situation als die meistenanderen Vertriebenen.55 So hatte es z. B. zwischen der ober-fränkischen Gegend um Hof und Asch im Egerland schonlange vor der Vertreibung enge wirtschaftliche und privateKontakte gegeben; Rehauer Schüler etwa waren sogarmehrheitlich auf das Gymnasium in Asch gegangen,„grenzübergreifende“ Hochzeiten waren keine Seltenheit.Als Fremde nahm man sich gegenseitig jedenfalls nichtwahr.56 Zwar hatte es prozentual die meisten Sudeten-deutschen ausgerechnet in das deutlich weiter von den böh-mischen Ländern entfernte bayerische Schwaben verschla-gen, wo sie nicht nur 50 Prozent wie im Landesdurch-

53 Vgl. hierzu auch Kimminich, Der völkerrechtliche Hintergrund, S. 182.54 Allerdings kam es durchaus vor, dass wie etwa im Landkreis Miesbach nicht nur die Schlesier, sondern selbst die katholischen sudetendeut-

schen Lehrer als „konfessionsfremde Preußen“ gebrandmarkt wurden, vgl. Mößlang, Flüchtlingslehrer, S. 143.55 „Die Böhmerwäldler sprachen nicht anders als die Menschen im Bayerischen Wald, und der Egerländer war vom benachbarten Oberpfälzer

kaum zu unterscheiden“. Landkreis Erding (Hg.), Flüchtlinge und Heimatvertriebene, S. 437.56 Greim, In einer neuen Heimat, S. 39 f.

Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertr iebenengruppen

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Wahlplakat der CSU

Abbildung: Friedrich Prinz, Die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen in

Bayern. Versuch einer Bilanz nach 55 Jahren, hg. v. Haus der Bayerischen Geschich-

te, Augsburg 2000, S. 16.

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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertr iebenengruppen

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57 Habel, Historische Voraussetzungen, S. 236.58 Sallinger, Die Integration, S. 258.59 Weger, „Volkstumskampf“, S. 18 f. Im Zusammenhang mit dem Bodenreformgesetz forderte 1947 der Kreisdirektor des oberbayerischen

Bauernverbandes und spätere Vorsitzende der Bayernpartei, Jakob Fischbacher, seine Anhängerschaft dazu auf, alle „Preußen“ aus Bayern„hinaus[zu]werfen“ (Neumann, Die Medien, S. 53). Vgl. auch die nach den Erfolgen des BHE zu hörende Warnung der Bayernpartei voreinem „preußisch-deutschen Rechtsradikalismus“. „Hilft den Heimatvertriebenen eine eigene Partei“, in: Münchner Merkur v. 19. Juli1950.

60 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 1. Wahlperiode 1949, Stenographische Berichte, Band 1, 12. Sitzung, 20. Oktober 1949, S. 290.61 So der ehemalige schlesische Gutsbesitzer und DNVP-Politiker Friedrich von Kessel, der nach dem Krieg zu den Mitbegründern des BHE

in Niedersachsen zählte. Frenzel, Vom Block der Heimatvertriebenen, S. 184.62 Koschny, Die Eingliederung, S. 75.63 Als Beispiel hierfür sei der Landkreis Ebersberg genannt. Historischer Verein für den Landkreis Ebersberg (Hg.), Angekommen – ange-

nommen?, S. 61.64 Kornrumpf, In Bayern angekommen, S. 169. Bis 1960 sank der Anteil aber wieder auf sieben Prozent. Koller, Die evangelische „Flücht-

lingsdiaspora“, S. 24.

schnitt, sondern 70 Prozent aller Heimatvertriebenen stell-ten,57 doch sind sie anscheinend auch dort zumindest etwasbesser zurecht gekommen als andere Vertriebenengrup-pen.58

Die populistische Bayernpartei (BP) trug demRechnung, wenn sie zur Rettung des Freistaats vor einer„Überfremdung“ durch die vielen Zugereisten aufrief.Denn immerhin war die BP bereit, die Sudetendeutschen als„stammesverwandt“ zu akzeptieren, die preußischen Schle-sier wären dagegen, hätte die Bayernpartei dies zu entschei-den gehabt, vor allem im Ruhrgebiet angesiedelt worden.59

Wenige Wochen nach der Bundestagswahl 1949 stelltedie BP eilends einen entsprechenden Antrag, zu dessenBegründung der Abgeordnete Franz Ziegler im Plenumnochmals ausführte, dass „die Sudetendeutschen – nichtalle, aber in der Hauptsache – und die Südostdeutschendem süddeutschen, also bayerischen Kulturkreis amnächsten“ stünden; die „Nuancierungen“ innerhalb derverschiedenen deutschen Stämme bei der anzustreben-den Flüchtlingsneuverteilung seien zu beachten. Aufdem Wege der Freiwilligkeit werde hier „recht wenig zuerreichen sein“.60

Äußerungen schlesischer Vertriebenenpolitiker über den„echten Preußengeist“, der endlich auch in Bonn zu spürensein müsse, konnten die Bayernpartei in ihren Vorbehaltennur noch bestärken.61 Der Vorstoß der BP, gegen den diebayerischen Schlesier vehement protestierten, scheiterteaber nicht zuletzt an dem Votum der CSU, die eine Umsied-lung nach landsmannschaftlichen Kriterien für unzweck-mäßig hielt.62

Religion/Konfession und „Deutschtum“als integrationshemmendebzw. -fördernde Faktoren

Bedenkt man die in den Nachkriegsjahren noch enormeBedeutung der Konfessionszugehörigkeit, so passten die

Sudetendeutschen tatsächlich am besten nach Bayern hin-ein. Gerade auch die anderen beiden Hauptaufnahmeländerder zu über 90 Prozent katholischen Sudetendeutschen,Hessen und Baden-Württemberg, waren demgegenübersehr viel stärker evangelisch geprägt als der Freistaat. Wiesehr den katholischen Sudetendeutschen, trotz mancherVorbehalte sittenstrenger Geistlicher, ihre Konfession ten-denziell zum Vorteil63 gereichte – wenn es sie nicht geradein die evangelischen Teile Mittel- und Oberfrankens ver-schlagen hatte –, zeigt ein Blick auf die überwiegend pro-testantischen Niederschlesier, die im ganz und gar katholi-schen Ostbayern neu anfangen mussten.

Der tiefgreifende Wandel des seit den Zeiten von Re-formation und Gegenreformation im Wesentlichen festgefügten Konfessionsprofils etlicher bayerischer Re-gionen infolge der Aufnahme der Vertriebenen fiel inNiederbayern drastischer aus als in allen übrigen Lan-desteilen. In diesem Regierungsbezirk waren vor demKrieg nur 1,7 Prozent der Bevölkerung evangelischenBekenntnisses gewesen, jetzt (1946) waren es plötzlichgut zwölf Prozent.64

Tabelle aus: Maximilian Lanzinner, Zwischen Sternenbanner und Bundesadler.

Bayern im Wiederaufbau 1945-1958, Regensburg 1996, S. 95.

Die Heimatvertriebenen nach der Religions-zugehörigkeit 1949 (in %)

Oberbayern

Niederbayern

Oberpfalz

Oberfranken

Mittelfranken

Unterfranken

Schwaben

Bayern

75,1

66,3

70,8

56,4

66,5

74,5

80,7

70,8

22,9

33,0

28,2

42,3

32,1

24,7

17,7

27,9

Katholiken Protestanten

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Auf der einen Seite ist bemerkenswert, dass viele katholi-sche Ortsgeistliche den evangelischen Flüchtlingen nichtnur Kapellen und Gemeindesäle zum Gottesdienst zurVerfügung stellten, sondern sogar ihre Hauptkirchen. Undals in einem ostbayerischen Dorf der erste verstorbene evan-gelische Flüchtling zu Grabe zu tragen war und derTotengräber sich weigerte, seines Amtes zu walten, schrittder katholische Ortspfarrer selbst ein und tat den erstenSpatenstich.65

Auf der anderen Seite gab es aber auch ganz erheblicheKonflikte. So mochte sich die ostbayerische Diözese1947 einer Vereinbarung zwischen der Erzdiözese Mün-chen-Freising, der Evangelisch-Lutherischen Landes-kirche und dem Freistaat nicht anschließen, nach derin konfessionellen Notstandsgebieten anstelle der Be-kenntnisschulen konfessionell gemischte Schulen mitLehrkräften beider Konfessionen möglich sein sollten.

Vielmehr wurden die meist niederschlesischen evangeli-schen Kinder in Ostbayern weiterhin nur als „Gastschüler“in katholischen Bekenntnisschulen geduldet.66 In der Folgemussten viele bereits vom Staat angestellte evangelischeFlüchtlingslehrer wieder entlassen werden. Sie sahen sichzur Abwanderung genötigt oder fanden in den 90 evangeli-schen Bekenntnisschulen Platz, die im Gegenzug in derRegion errichtet wurden.67

Neben dem interkonfessionellen Konflikt traf dieprotestantischen Schlesier auch noch ein innerkonfessionel-ler Zwist. Er rührte daher, dass lutherische und reformierteKirchen vom preußischen Staat im 19. Jahrhundert zwangs-weise „uniert“ worden waren, während die – vor allem frän-kisch geprägte – bayerische Landeskirche durch und durchlutherisch geblieben war. Unterschiedlich war zum Beispiel,nicht hinsichtlich des Textes, aber doch seiner Vertonung,die Liturgie:

„In Bayern sang man gregorianisch“, was den meist ausSchlesien (und Ostpreußen) stammenden protestanti-schen Gemeindemitgliedern ganz katholisch vorkam.68

Nicht einmal die innerprotestantischen Verhältnisse ent-wickelten sich von Anfang an ungetrübt.

Als etwa der aus Schlesien vertriebene Geistliche WolframHanow kurz nach der Währungsreform 1948 in Fürnriedseine erste bayerische Pfarrstelle antreten wollte, wurde ihmund seiner Frau der „Eingang in die Gemeinde fast unmög-lich gemacht“. Flugblätter gegen Hanow kursierten, weil eraus der preußisch-unierten Kirche stamme und nicht luthe-risch sei. Bald darauf mahnte ihn der Oberkirchenrat fastschon ab, nachdem Hanow angeblich das Heilige Abend-mahl falsch ausgeteilt hatte. Erst allmählich brach sich in derneuen Heimat die Erkenntnis Bahn, auf der Hanow stetsbeharrt hatte: „Wir waren in Schlesien genauso lutherischwie in Bayern.“69

Dass daran wenigstens nicht alle protestantischenGeistlichen im Freistaat zweifelten, zeigte ein Schreiben,das im November 1949 den angeblich zu schlesier-freundlichen evangelischen Pfarrer von Feuchtwangenerreichte. Ihm wurde vorgeworfen, „ständig nur dieseHeimatvertriebenen oder besser gesagt Preußen“ inseinen Predigten hervorzuheben. Dadurch würden„diese Preußen immer frecher“.

Die evangelische Kirche jedoch scheine dies deshalb in Kaufzu nehmen, weil sie, wenn die schlesischen Protestanten„aus Bayern hinauskämen“, auch viele Kirchensteuern ver-lieren würde.70

Ein weiteres Vorurteil bezog sich auf die angeblichfragwürdige deutsche Ethnizität der Schlesier. Im nieder-bayerischen Kreis Griesbach wandte sich der Bezirksamt-mann, alarmiert über den Zuzug aus den „halbslawischenOstgebieten“, 1946 in einem historisch irreführenden Auf-ruf an alle Bewohner. Dem Appell war z. B. an der Gemein-detafel zu Rottalmünster Folgendes zu entnehmen: „InSchlesien regierten, wenn es auch äußerlich deutsche Spra-che und deutsches Recht annahm, noch bis 1675 Herzögeaus dem polnischen Königshaus der Piasten!“71

Bald bürgerte sich infolge solcher Geschichtsdeutungenbei der bayerischen Bevölkerung der pejorative Aus-druck „Piasten“ als Synonym für „Flüchtlinge“ ein.Auf entsprechende Stimmungen wurde wohl auch beider Bildung einer CSU/SPD/BHE-Koalition nach derLandtagswahl im November 1950 Bezug genommen,

65 Ebd., S. 15 f.66 Ebd.67 Ebd., S. 22.68 Ebd., S. 12.69 Ebd., S. 147. Schon Mitte der fünfziger Jahre avancierte Hanow zum Dekan. Vgl. Wolfram Hanow, Weiß ich den Weg auch nicht, sowie

Landkreis Cham (Hg.), Die Eingliederung, S. 84.70 Erker, Vom Heimatvertriebenen, S. 152.71 Süddeutsche Zeitung v. 15. März 1946, zit. n. Neumann, Die Medien, S. 46.

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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertr iebenengruppen

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72 Werner, Im Dienst der Demokratie, S. 111.73 Hundhammer stellte sich zum Beispiel auch gegen die Bemühungen von Flüchtlingskommissar Jaenicke, die Vertriebenen „zur

Artikulation und Durchsetzung ihrer kulturellen Interessen institutionell zu organisieren“. Pohl, Zwischen Integration, S. 69.74 Schlesische Rundschau, Juli 1949.75 Kittel, Provinz zwischen Reich und Republik.76 Frankenpost, 13. November 1945, zit. n. Neumann, Die Medien, S. 47.77 So Mößlang, Flüchtlingslehrer, S. 363, mit Bezug auf das Stichjahr 1948.78 Ebd., S. 133.79 Haerendel, Berufliche Mobilität, S. 153.80 Frankenpost, 11. Mai 1946, zit. n. Neumann, Die Medien, S. 51.81 Ebd., S. 49.

als der schlesische SPD-Kandidat für das Amt desFinanzministers, Dr. Franz Zdralek, von der CSU mitder Begründung abgelehnt wurde: „[Die] bayerischenBauern müßten wenigstens den Namen des Mannesaussprechen können, der ihnen das Geld aus der Taschezieht“.72

Die Haltung der CSU zu der Personalie war freilich aucheine „Retourkutsche“, nachdem die SPD vorher den – ex-trem vertriebenenkritischen – CSU-Politiker Alois Hund-hammer als Kultusminister abgelehnt hatte.73

Die Schlesier als die „größten Nazis“?

Auf ein weiteres, die Altreichsdeutschen tendenziell nochetwas mehr als die Sudetendeutschen treffendes Problemverwies der in den Nachkriegsjahren landauf, landab kur-sierende „Witz“: „Waren Sie PG? – Nein, ich bin aus Schle-sien“.74

Da bei den Vertriebenen belastende nationalsozialisti-sche Biographieanteile wegen der in diesen Fällen oftbesonders schwierigen bzw. sogar inexistenten Akten-lage seltener nachzuweisen waren, verfügten sie gegen-über den einheimischen NS-Parteigenossen bei derEntnazifizierung offensichtlich über einen Vorteil.

Dies fiel vor allem in jenen fränkisch-evangelischen Regio-nen ins Gewicht, die schon während der zwanziger Jahre ei-ne Art Urstromtal des Nationalsozialismus gebildet hatten75

und eine entsprechend hohe Zahl von belasteten PGs auf-wiesen. Der deshalb verbreitete Eindruck, der öffentlicheDienst würde infolge einer ungerechten Entnazifizierungmehr und mehr in „ostdeutsche Hände“ übergehen, artiku-lierte sich Ende 1945 drastisch im Leserbrief eines Kulm-bachers an die Frankenpost unter der Überschrift: „WarGauleiter Hanke der einzige Pg in Schlesien?“

Der „ganze bayerische Behördenapparat, das öffentlicheLeben und die Geschäftswelt“, so hieß es, würden „be-sonders in Nordbayern von der schlesischen Einwande-

rung in einer Art und Weise überschwemmt, dass sie inkeinem Verhältnis mehr zu dem wirklichen Prozentsatzdieser ‚neuen Bayern‘“ stünde.

Ob „die vielen Schlesier tatsächlich früher alle Antinazis“gewesen seien, war für den Kulmbacher „die große Frage“.76

Tatsächlich war in den ersten Nachkriegsjahrenzum Beispiel in vielen bayerischen Schulbezirken die Hälftealler Volksschullehrer Vertriebene.77 Spätere Forschungsar-beiten über die Flüchtlingslehrerschaft legen zudem denSchluss nahe, dass das Phänomen der „Fragebogenfäl-schung“ bei den vertriebenen Beamten zumindest „häufigeranzutreffen“ war als bei den einheimischen.78 Vor diesemHintergrund ist wohl auch die rigorose Äußerung einesfränkischen Bürgermeisters zu erklären, die er einem ausBreslau stammenden Angestellten Anfang 1947 entgegen-schleuderte: „Ich lehne es grundsätzlich ab, Flüchtlinge […]einzustellen.“ Alle freiwerdenden Stellen in der Stadtver-waltung würden mit Einheimischen besetzt.79

Ein halbes Jahr nach der Attacke gegen die schlesi-schen PGs wurde in der Frankenpost eine noch aggressive-re Meinung abgedruckt, die von einem „bayerisch-schlesi-schen Klassenkampf“ schwadronierte. Dass „der Schlesier“als Beamter oder noch häufiger als Treuhänder von Firmenentnazifizierter Unternehmer „Macht über die Einheimi-schen“ gewinne, sei „heute“ derart verbreitet, „dass er seinebayerischen Gastgeber nach Lust und Laune schikanieren“könne.

Bayerischerseits würde indes vermutet, „dass der sozialeAufstieg der Schlesier in vielen Fällen auf einer gelindenKorrektur des Fragebogens“ beruhe.80 In der Redaktionder Frankenpost erklärte man sich die Ressentimentsgegen die Schlesier auch mit dem „traditionellen baye-risch-preußischen Gegensatz“.81

Nicht nur in Franken, sondern auch in Südbayern fiel denamerikanischen Besatzungsbehörden jedenfalls auf, dass„eine gewisse Spannung, die zwischen Einheimischen und‚Preußen’ aufgrund traditioneller Unterschiede existiere“,durch den Verdacht verstärkt werde, dass die „Preußen“

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Vorteile aus der Schwierigkeit schöpften, ihre Vergangen-heit zu überprüfen.82

Dass sich das Stereotyp vom Entnazifizierungsge-winnler besonders stark auf die „Preußen, die jetzt alsFlüchtlinge nach Bayern kommen“,83 konzentrierte,kann bei vordergründiger Betrachtung überraschen.Schließlich gab es in keiner altreichsdeutschen Provinzeinen höheren Anteil von NSDAP-Mitgliedern an derBevölkerung als im 1938 angegliederten Sudetenland,wo der massenhafte Übertritt von der über eine MillionMitglieder zählenden Sudetendeutschen Partei KonradHenleins zur NSDAP vor allem auch ein Votum fürden Anschluss bedeutet hatte.

Doch kam den Sudetendeutschen womöglich doch ein we-nig zugute, dass sie als „Beutedeutsche“ erst seit 1938 zumReich zählten und bei aller damals gezeigten Euphorie überdas Ende der tschechischen Herrschaft in ihrer Heimat fürdie Urkatastrophe, die Machtergreifung der NSDAP imJahr 1933, bei Lichte besehen nicht verantwortlich gemachtwerden konnten.

Diesen in der Bevölkerung verbreiteten Ressentimentsgegen die angeblichen ostdeutschen „Ober-Nazis“, wiesie sich in anonymen Texten, aber auch in Form vonLeserbriefen immer wieder zeigten, traten die Lizenz-zeitungen entschieden entgegen: Es sei keineswegs „aus-schließlich die Schuld dieser Schlesier und Preußen, dasssie jetzt als Heimat- und Obdachlose“ nach Bayernkämen; es handele sich um „Deutsche, die in ihrer histo-rischen Not zu Deutschen“ kämen, „und nicht etwa umschuldbeladene Preußen, die unschuldige Bayern zueiner ungerechtfertigten Gastfreundschaft verpflich-ten“ würden.84

Trotz derartiger Aufklärungsarbeit hielt es die SchlesischeRundschau aber noch 1949 für nötig, eine Liste zu veröf-fentlichen, die für jeden Gau das Verhältnis zwischenNSDAP-Mitgliedern und der übrigen Bevölkerung angabund aufzeigte, dass Schlesien dabei reichsweit einen der hin-tersten Plätze eingenommen hatte.85 Zwei Jahre später

konnte der Heimatbrief einer Riesengebirgsgemeinde imBericht über ein Schlesiertreffen in München aber schonteilweise Entwarnung signalisieren: Zumindest unter deneinheimischen Bewohnern der Landeshauptstadt scheineder „Saupreiß […] ausgestorben“ zu sein.86

Anderer Dialekt und Urbanität alsIntegrationshemmnis?

Vermochte das „Ober-Nazi“-Argument in der Sache wenigzu überzeugen, so waren die mundartlichen Unterschiede,die zwischen Schlesiern und Bayern meist größer waren alszwischen Bayern und Sudetendeutschen, nicht wegzudis-kutieren. In einer Studie von Astrid Pellengahr und HelgeGerndt über „Vereinswesen als Integrationsfaktor“87 wirdein Informant zitiert, demzufolge die vertriebenen Sudeten-deutschen aus dem Erzgebirge „sehr gut mit den Einheimi-

82 Sallinger, Die Integration. S. 103 f.83 Frankenpost, 7. Mai 1947, zit. n. Neumann, Die Medien, S. 49. Als drastisches Beispiel für die Gleichsetzung von „Preussischen und böh-

mischen Nazibanditen“ sei ein anonymer, im März 1948 in Furth im Wald aufgegebener Brief an den Kreisflüchtlingsausschuss in Chamzitiert: „Der Amerikaner fordert Ausrottung des Nazisystems und wir sollen Euch Preussisch, Böhmische Nazilumpen aufnehmen [...]“.Prinz, Integration und Neubeginn, S. 972 f.

84 Frankenpost, 8. Dezember 1945. Zit. n. Neumann, Die Medien, S. 50. Mit ähnlichem Tenor schlugen auch andere bayerische Zeitungenimmer wieder große historische Bögen, um auf die engen „verwandtschaftlichen“ Beziehungen auch zwischen Schlesiern und bayerischerBevölkerung aufmerksam zu machen. Ebd., S. 47.

85 Schlesische Rundschau, Juli 1949, S. 2.86 Heemtaglöckla 20 (Oktober 1951), zit. n. Feiber, Zum Heimatbegriff, S. 36.87 Pellengahr/Gerndt, Vereinswesen als Integrationsfaktor.

Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertr iebenengruppen

Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 0920

Abbildung: Friedrich Prinz, Die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen in

Bayern. Versuch einer Bilanz nach 55 Jahren, hg. v. Haus der Bayerischen Geschich-

te, Augsburg 2000, S. 26.

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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertr iebenengruppen

Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09 21

88 Ebd., S. 122. Zum Thema der sprachlichen Integration am Beispiel Neugablonz vertiefend: Holuba, Zwischen Identitätsbewältigung undAnpassung.

89 Erker, Vom Heimatvertriebenen zum Neubürger.90 Ebd., S. 35.91 Bayerisches Statistisches Landesamt, Die Vertriebenen in Bayern, S. 7 f.92 28 Prozent der „bayerischen“ Schlesier, so weiß es die Statistik, kamen aus „Gemeinden über 100.000“ Einwohner, nur 7,3 Prozent aus der

Landwirtschaft; dagegen waren deutlich mehr Schlesier als Sudetendeutsche in der alten Heimat Beamte oder Angestellte gewesen. Bayeri-sches Statistisches Landesamt, Die Vertriebenen in Bayern, S. 8 f. , 10 f.

Abbildung: Herbert Houswitschka/

Gunthild Houswitschka, Die Integra-

tion der Heimatvertriebenen und

Flüchtlinge nach dem Zweiten Welt-

krieg. Dokumentation für den Land-

kreis Tirschenreuth, Tirschenreuth

1995, S. 153.

schen harmoniert“ hätten, während sich die „Schlesier nichtso schnell angefreundet“ hätten: „Das warn dann doch abißl andere Leut wie wir. Schon allein vom Dialekt her“.88

Auf einen damit zusammenhängenden Sachverhalthat Paul Erker in einer Studie über Landkreise im agrari-schen Westen Mittelfrankens hingewiesen:89

„Vor allem die Schlesier waren ausgesprochene Städtergewesen, die nun aufs Land verschlagen wurden. DiesenFlüchtlingen schlug oft Ablehnung entgegen, weil siemit ihrem urbanen Lebensstil als Repräsentanten einer

fremden Lebensform erschienen, die das einheitlicheGepräge des Dorfes zerstörte“.90

Zwar waren auch die nach Bayern kommenden Sudeten-deutschen, ebenso wie die Schlesier, nur zu einem Dritteldörflich-kleinstädtisch geprägt, doch die „urbane“ Prägungeiner Mehrheit der Deutschböhmen war zumindest nichtgleich großstädtischer Art.91 Dagegen waren überpropor-tional viele Schlesier aus der Metropole Breslau nach Bayerngekommen,92 während die Bewohner der niederschlesi-schen Gutsdörfer eher in nördlichere Regionen Deutsch-

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Ein von Vertriebenen aus der schwäbischen Türkei betriebener

Kaffeeladen

Foto: Friedrich Prinz, Die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen in Bayern.

Versuch einer Bilanz nach 55 Jahren, hg. v. Haus der Bayerischen Geschichte, Augs-

burg 2000, S. 21.

lands flohen.93 Die schlesische Flüchtlingsbevölkerung, soresümierte darob das Bayerische Statistische Landesamt,„stellt also, anders als die sudetendeutsche, keinen Quer-schnitt durch die Gesamtheit der ehemaligen Provinz Schle-sien dar, sondern eine bestimmte Auslese“.94

In Berichten der amerikanischen Behörden ist imZusammenhang mit bayerisch-ostdeutschen Differenzensogar von Kämpfen zwischen einheimischen und sogenann-ten „preußischen“ Schulkindern die Rede. Ein junger West-preuße erzählte „von zerfetzter Kleidung und Prügeln“, dieer von einheimischen Jugendlichen bezogen habe. Diesehätten sich „an seiner hochdeutschen Sprache und seiner [...]sehr spitzen Mundart gestört“. Das Verhältnis zu den ein-heimischen Jugendlichen habe er nur durch „eigene Diplo-matie“ sowie dadurch verbessern können, dass er den

schwäbischen Dialekt übernommen habe.95 Aus dem baye-rischen Schwaben sind auch Aussagen junger Ungarndeut-scher überliefert, wonach sie „durch ihre Sprachschwierig-keiten nicht sofort den guten Kontakt zu einheimischenKindern herstellen“ konnten „wie die Sudetendeutschen“.96

Wie bedeutsam der Faktor Sprache für die „sozialgesell-schaftliche“ Integration der Vertriebenen generell war,hat eine Studie von Jörg Maier und Germano Tulliobestätigt. Die Sudetendeutschen zählten demnach inBayern zu der Gruppe mit den wenigsten, Ostpreußenund Pommern zu dem Typus mit größeren Schwierig-keiten, die Schlesier lagen in der Mitte.97

Auch bei ihnen aber schritt die sprachliche Anpassung beiden Jugendlichen so rasch voran, dass diese etwa bei einemTreffen der niederschlesischen Laubaner 1954 zum Adres-saten eindringlicher Appelle wurden: Sie sollten die schlesi-sche Mundart gut pflegen, denn erst wenn diese vergessensei, „sei Schlesien verloren“.98

Wirtschaftliche Integrationsunterschiede

Erschwerend kamen für Schlesier wie für Ostpreußengrößere Integrationsschwierigkeiten wirtschaftlicherArt hinzu. Während die Ostpreußen in Bayern nuneinmal beim besten Willen nicht – anders als in Kiel –an die Tradition ihrer See- und Küstenfischerei anknüp-fen konnten99 und auch bedeutende Teile der schlesi-schen (Schwer-)Industrie in einem hohen Maße stand-ortgebunden waren, galt dies für die wichtige sudeten-deutsche Leichtindustrie deutlich weniger.

Eine Glasfabrik lässt sich eben, anders als ein Bergwerk, zurNot auch andernorts wieder aufbauen. Jedenfalls stelltendie Sudetendeutschen bald schon den größten oder zumin-

93 Fromm, Eingliederung der Heimatvertriebenen, S. 73; Greim, In einer neuen Heimat, S. 37. Wie unterschiedlich im Einzelfall jedoch dieWege der Niederschlesier nach Westen waren, erhellt aus der Schilderung von Karl-Heinz Pfennig (heute Wolfratshausen) aus dem kleinenDorf Bartsch-Kulm im Landkreis Wohlau (Bezirk Liegnitz). Im Alter von 14 Jahren floh er mit Mutter und Schwester zunächst auf eigeneFaust über Görlitz nach dem sudetendeutschem Leitmeritz, um sich nach Kriegsende von dort wieder nach dem niederschlesischen Hei-matort durchzuschlagen. Bald darauf von polnischer Miliz endgültig vertrieben, fand er zunächst im Brandenburgischen Zuflucht, fuhr aberzwei Jahre später in das mittelfränkische Schwabach weiter, wo zunächst ein Bruder des Vaters, dann dieser selbst Arbeit gefunden hatte.Die Familienzusammenführung war in diesem Fall durch Verwandte in Hannover erleichtert worden. Zeitzeugengespräch mit Karl-HeinzPfennig am 30. März 2009.

94 Bayerisches Statistisches Landesamt, Die Vertriebenen in Bayern, S. 9.95 Sallinger, Die Integration, S. 258.96 Ebd., S. 258.97 Maier/Tullio, Die soziale und wirtschaftliche Eingliederung, S. 123. Kaum weiterführend ist es dagegen, die Niederschlesier zusammen mit

Brandenburgern, Sachsen und Thüringern einem Neubürger-Typus zuzurechnen, der in ökonomischer und sozialgesellschaftlicherHinsicht den „höchsten Integrationsgrad“ aufwies (so ebd., S. 123). Denn die nicht stoßweise, sondern in einem mal dünneren, mal breite-ren Strom aus der SBZ/DDR fliehenden Mitteldeutschen hatten natürlich ungleich günstigere Eingliederungschancen als die Ostdeutschen.

98 Feiber, Zum Heimatbegriff, S. 46.99 Kossert, Kalte Heimat, S. 119.

Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertr iebenengruppen

Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 0922

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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertr iebenengruppen

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100 Zur Größenordnung: Bayerisches Statistisches Landesamt, Die Vertriebenen in Bayern, S. 35.101 Landkreis Bayreuth (Hg.), Dokumentation der wirtschaftlichen Aufbauleistung, S. 69 ff. Hier findet sich zum Thema der Entwicklung

von Industrieunternehmen unter den sechs präsentierten Beispielen kein einziges schlesisches, sondern meist sudetendeutsche sowie mit-teldeutsche.

102 Fromm, Eingliederung, S. 74, erwähnt unter den größeren Flüchtlingsbetrieben drei sudetendeutsche und einen schlesischen.103 Pscheidt, Zur Integration der Sudetendeutschen, S. 209. Als weiterer Name unter den neuen Vertriebenenstädten im Freistaat ist zudem

Traunreut in Oberbayern zu nennen.104 Gatz, Expellees, S. 287, spricht von einer „significant proportion of Sudeten German industry“, die erfolgreich in die Westzonen

Deutschlands hätte transferiert werden können. Eines der bekanntesten Beispiele ist die Gablonzer Schmuckwarenindustrie, die inNeugablonz/Kaufbeuren wieder errichtet wurde. Anders als etwa im späteren Baden-Württemberg sträubte sich die Militärregierung inBayern „nur wenig gegen solche Siedlungsprojekte“. Krauss, Die Integration Vertriebener. S. 55.

105 15 Prozent waren Bayern, das restliche Viertel bestand aus Schlesiern und anderen Gruppen (Hösch, Waldkraiburg). Der heutige CSU-Bürgermeister des Ortes, Siegfried Klika, ist das Kind eines Egerländers und einer Niederschlesierin, vgl. Bayernkurier v. 13. Juni 2009(„Erinnerung an die alte Heimat“), S. 7.

106 Pscheidt, Zur Integration der Sudetendeutschen, S. 203.107 Weger, „Volkstumskampf“, S. 74. Nach ihrer Auflösung durch die Militärregierung am 1. Juni 1946 konnte die Arbeit in der privatrechtli-

chen Wirtschaftshilfe GmbH fortgesetzt werden.108 Zum weiteren Ablauf der Vertreibung aus Ostpreußen bis ca. 1950 vgl. die Skizze bei Gatz, Expellees, S. 159.109 Gatz, Expellees, S. 357. Vgl. auch ebd., S. 345, sowie Rudolph, Evangelische Kirche und Vertriebene.110 Unter „übriges Ausland“ meldet die Statistik 14 Prozent, unter „Vier-Zonen/Berlin“ sieben Prozent. Bayerisches Statistisches Landesamt,

Die Vertriebenen in Bayern, S. 35.111 Houswitschka, Die Integration der Heimatvertriebenen, S. 198 f., 202 f.

dest auffälligsten Teil der vertriebenen Betriebsinhaber inBayern,100 und zwar selbst in Regionen mit eigentlich höhe-rem Schlesieranteil wie im Landkreis Bayreuth101 oder imCoburger Raum.102 Landesweit stachen die berühmten Ver-dichtungszentren ins Auge, wie sie mehrheitlich von Sude-tendeutschen in Geretsried, Neugablonz, Neutraublingoder Waldkraiburg – „im wesentlichen Unterschied […] zuanderen Vertriebenen“103 – als kleine Spiegelbilder der Ver-hältnisse in der alten Heimat aufgebaut werden konnten.104

Rein sudetendeutsch waren zwar auch diese Ansiedlungennicht, doch betrug etwa in Waldkraiburg noch 1960 derAnteil der Vertriebenen aus den böhmischen Ländern über60 Prozent.105 Zumindest ansatzweise gelang hier, was dieSudetendeutsche Hilfsstelle schon im Oktober 1946 einerDenkschrift als Prämisse vorangestellt hatte: die Evakuie-rung „von vorneherein nach dem Strukturbild des geschlos-senen Lebensganzen der Deutschen in der Tschechoslowa-kei“ durchzuführen.106

Auf etwas Vergleichbares wie die SudetendeutscheHilfsstelle, die sich schon während der „wilden Vertreibun-gen“ im Sommer 1945 und mithin deutlich vor dem großen„Odsun“ des Jahres 1946 in München gegründet hatte, nichtnur um „karitative Betreuung“, sondern auch „geregelteUm- und Ansiedlung“ und „Einschaltung in den Arbeits-prozess“ zu besorgen,107 konnten die Ostpreußen in Bayernebenso wenig zurückgreifen wie die Schlesier. Erst nachdemdie meisten schon im Westen angekommen waren,108 hattesich unter Führung des Ostpreußen Linus Kather und ande-rer überwiegend ostpreußischer und schlesischer Vertriebe-ner im Juni 1945 in Hamburg die Notgemeinschaft derOstdeutschen gebildet, die sich allerdings um alle Vertrie-benengruppen in der Britischen Zone kümmern wollte. Einspezielles Hilfskomitee der evangelischen Deutschen aus

Ostpreußen entstand in Norddeutschland im Rahmen desälteren Evangelischen Hilfswerks im Juni 1947 (ab 1949 inBeienrode), „significantly later than some Sudeten Germanself-help groups“,109 mit dem Ziel der Pflege religiöser undkultureller Bindungen, der Unterstützung bei der Suchenach Angehörigen und der Förderung der Integrationdurch Maßnahmen der Selbsthilfe.

Der vergleichsweise frühere Zeitpunkt der Fluchterwies sich für Ostpreußen und Schlesier mithin als Nach-teil hinsichtlich der Möglichkeit auch ökonomisch gezielte-rer Ansiedlung. Wenngleich weniger auffällig, trug indesauch altostdeutscher Gewerbefleiß zum wirtschaftlichenAufstieg des Freistaates nach 1945 bei.

Denn bei „den Inhabern von Flüchtlingsbetriebenmit 5 oder mehr Beschäftigten“ waren die Vertriebenenaus Ostdeutschland Ende der vierziger Jahre mit27 Prozent vertreten, was ungefähr ebenso ihremBevölkerungsanteil an den Neubürgern entsprachwie der statistische Befund für die sudetendeutschenBetriebsinhaber (52 Prozent).110

Ohne Anspruch auf Repräsentativität seien beispielhaft nureinige Niederschlesier genannt wie der BauunternehmerGerhard Schulwitz aus Haynau (im Bezirk Liegnitz), dernach Entlassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaftzunächst in Tirschenreuth als Zimmerermeister arbeitete,um 1954 abermals ein Baugeschäft zu eröffnen, oder OttoSchelske, der Friseurmeister aus Löwenberg, der nach demWiederfinden seiner Familie im Landkreis Kemnath erneuteinen Salon aufbaute,111 oder auch der aus Waldenburgstammende Tischlermeister Helmut Seidel, der seit denfünfziger Jahren die Ostbayerischen Tisch- und Möbelwer-

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Hans Schütz

Foto: Böse/Rolf-Josef Eibicht (Hg.),

Die Sudetendeutschen. Eine Volks-

gruppe im Herzen Europas. Von der

Frankfurter Paulskirche zur Bundesre-

publik Deutschland, Dießen 1989,

S. 92.

ke (OTM) in Neutraubling aufbaute und sie u.a. durch dieErfindung des höhenverstellbaren Couchtisches zu einemUnternehmen mit Umsätzen im dreistelligen Millionenbe-reich machte.112 Der Breslauer Fabrikant Richard Blokesch,der 1948 seine traditionsreiche schlesische Likörfabrik inNürnberg wieder zum Leben erweckt hatte, war sogarVorsitzender des Landesverbandes der heimatvertriebenenund mitteldeutschen Wirtschaft.113

Als Exempel für die wirtschaftliche Wiederaufbau-leistung vieler kleinerer Vertriebenengruppen sei nur derFuhrunternehmer August Rambock aus Wormditt im ost-preußischen Ermland erwähnt. Zu Beginn der russischenWinteroffensive 1945 hatte er sich mit zwei Bussen, vollge-stopft mit Flüchtlingen, gerade noch rechtzeitig auf denWeg gemacht. Eines der Fahrzeuge blieb zwar auf der Stre-cke, doch mit dem anderen, einem Magirusbus, kam die Fa-milie auf der Suche nach Ersatzteilen in das bayerisch-schwäbische Holzheim bei Neu-Ulm. Dort nahm die FirmaRambock schon bald den Personenverkehr von Holzheimnach Ulm auf und eröffnete 1957 auch die erste Tankstelleim Ort.114

Insgesamt erwies sich die wirtschaftliche Integrationder Ostpreußen allerdings als besonders schwierig, weilsie aus einer der am stärksten agrarisch – und im Üb-rigen, anders als das Klischee es will, keineswegs nurgutsherrschaftlich – strukturierten Provinzen des Rei-ches kamen und die Landwirte zu den am schwierigstenzu integrierenden Berufsgruppen der Vertriebenenzählten.115

Unter den 115.000 Menschen, die 1952 nach dem Flücht-lingssiedlungsgesetz in der Bundesrepublik wieder ihremalten bäuerlichen Beruf nachgehen konnten, waren die Ost-preußen mit fast 20 Prozent deutlich überrepräsentiert.116

Da an eine revolutionäre Bodenreform unter den freiheit-lich-demokratisch-kapitalistischen Rahmenbedingungendes westdeutschen Staates aber nicht zu denken war, muss-ten sich auch viele frühere Bauern als Knechte oder Mägdeverdingen oder als Industriearbeiter eine neue Existenz auf-bauen.117 Auffallend viele Ostpreußen eröffneten kleine

Läden, Restaurants, Gästehäuser oder Handwerkerfirmenim Familienbetrieb.118

Für die Ostpreußen in Bayern war nicht zuletztihre geringe Zahl problematisch hinsichtlich der Wahrungihrer Identität. Denn selbst dort, wo sie eine zunächst füh-rende Rolle bei der Gründung von Flüchtlingssiedlungenspielten, verloren sie unter Umständen rasch an Sichtbar-keit, weil „die meisten Siedler“ in der neuen Gemeinde balddoch wieder „aus dem Sudetenland oder anderen TeilenOsteuropas kamen“.119 Als Beispiel mag die Siedlung Hin-richssegen bei Bad Aibling im Landkreis Rosenheim dienen.Eine kleine Gruppe von Ostpreußen hatte hier mit Unter-stützung der lokalen Behörden eine Mustergemeinde be-gründet, die nach dem Vorbild ihrer Heimat Industrie undAgrarökonomie in Form einer Volltuchfabrik und land-wirtschaftlicher Nebenerwerbsstellen verband. Ein Heimfür Waisenkinder kam hinzu. Der ostpreußische Charakterder Siedlung ging indes schnell verloren, weil die meistenzuziehenden Neubürger sudetendeutscher oder andererHerkunft waren.120

Auch die Statistik bestätigt, dass die Ostpreußenzusammen mit anderen „Nordostdeutschen“, die oft schonvor Kriegsende oder bald danach als Flüchtlinge in kleine-ren Gruppen oder als Soldaten aus der Kriegsgefangen-schaft nach Bayern gekommen waren, generell zu jenenVertriebenengruppen gehörten, die in Bayern am seltensten

112 Manager magazin 10/1991, vom 1. Oktober 1991, S. 160 ff.113 Kornrumpf, In Bayern angekommen, S. 303. Vgl. auch die Reihe erfolgreicher schlesischer Firmengründungen im Coburger Raum bei

Fromm, Eingliederung, S. 77 ff.114 Zenetti, Dokumentation über die Heimatvertriebenen, S. 187.115 Am oberfränkischen Beispiel bestätigt dies auch die Publikation von Greim, In einer neuen Heimat, S. 36.116 Gatz, Expellees, S. 310.117 Ebd., S. 312.118 Ebd., S. 304.119 Ebd., S. 291.120 Vgl. auch: Das Ostpreußenblatt, September 1952, S. 3; Karasek-Langer, Neusiedlung in Bayern nach 1945, S. 52. Mit einer

Ermländersiedlung in der Eifel geschah Ähnliches wie in Hinrichssegen.

Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertr iebenengruppen

Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 0924

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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertr iebenengruppen

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121 Die Vertriebenen in Bayern, hg. v. Bayerischen Statistischen Landesamt, München 1950, S. 27.122 Pohl, Zwischen Integration, S. 119.123 Ebd., S. 474.124 Vgl. hierzu auch Greim, In einer neuen Heimat, S. 37.125 Reichling, Die Heimatvertriebenen im Spiegel der Statistik, S. 24.126 Kittel, Vertreibung der Vertriebenen, S. 77 f.127 Grebing, Flüchtlinge und Parteien in Niedersachsen, S. 64.128 1930–1932 war Jaenicke auch Reichstagsabgeordneter für die DDP bzw. die Deutsche Staatspartei gewesen. Seit 1936 hatte er in der inne-

ren Emigration in Oberbayern gelebt und war 1945 noch von der SS verfolgt worden. Glettler, Landtagsreden, S. 670 f. Die Heimatver-bundenheit Jaenickes drückte sich auch darin aus, dass er sich im Beirat des Schlesier-Verbandes Bayern engagierte. Pohl, ZwischenIntegration, S. 59.

129 Die Deutsche Demokratische Partei (DDP) war eine (links-)liberale Partei in der Zeit der Weimarer Republik.

im größeren Stil angesiedelt wurden. Bei den Sudetendeut-schen war dies am häufigsten der Fall; eine mittlere Positionnahmen auch in dieser Hinsicht die Schlesier ein.121 Wiewichtig der Integrationsfaktor Ansiedlung naturgemäß war,betont etwa ein Bericht des Bürgermeisters von Traunstein,der 1953 beobachtete, wie die „sonst so rührigen Egerlän-der“ sich „hier auch nicht entfalten, weil eben nur wenigePersonen aus dem Egerland hier wohnen“.122

Offensichtlich war es für Vertriebene, die verstreut an-gesiedelt worden waren, „sehr viel schwerer, ihre Hei-matkultur zu bewahren und im Alltag zu praktizierenals in den geschlossenen Siedlungen. Hier waren Anglei-chungen, Verschleifungen und Verluste eine häufigeFolge.“123

Größere Verdichtungszentren entstanden auf ostpreußi-scher Seite jedenfalls nicht nur deshalb in Bayern nicht, weildie östlichste Provinz des Reiches ohnehin viel wenigerindustrialisiert gewesen war als das Sudetenland und weildie Standortvoraussetzungen für die ostpreußischen Wirt-schaftsformen im Freistaat so nicht gegeben waren.124 Siekonnten sich vielmehr auch deswegen nicht entwickeln,weil die Ostpreußen in Bayern – wie übrigens auch in ande-ren Ländern – weniger stark konzentriert waren. Vergleich-bare Verdichtungen einer Vertriebenengruppe in einemLand wie im sudetendeutsch-bayerischen Fall gab es sonstnur noch in Hessen, wo aber ebenfalls die Deutschen ausden böhmischen Ländern unter den Vertriebenen die Hälfteausmachten.

Die Ostpreußen stellten 1950 mit etwa einem Drit-tel den größten Anteil in Schleswig-Holstein, hatten abergleichsam das Pech, dass es dorthin ebenso viele Pommernverschlagen hatte, über die im Jahr 1954 die Kieler Landes-regierung auch die Patenschaft übernahm. In Niedersachsenund Nordrhein-Westfalen betrug das ostpreußische Kon-tingent nur ein Viertel, in den anderen Flächenländern lag esweit darunter.125 Nachdem Bemühungen um eine Paten-schaftsübernahme durch Nordrhein-Westfalen bzw. gardurch den Bund in den fünfziger und sechziger Jahrengescheitert waren, fanden die Ostpreußen erst sehr spät,

1978, im Freistaat Bayern einen Schirmherrn.126

Auch die Schlesier waren stärker verstreut wordenals die Sudetendeutschen. Die Mehrheit der zwei Millionenin die Westzonen bzw. die Bundesrepublik kommendenSchlesier, 700.000 Menschen, wurde in Niedersachsen un-tergebracht; erst dahinter folgten Nordrhein-Westfalen miteiner halben Million und knapp danach Bayern. Dem Sied-lungsschwerpunkt Rechnung tragend, übernahm im Okto-ber 1950 die damals SPD-geführte niedersächsische Landes-regierung (als Flüchtlingsminister gehörte ihr der nieder-schlesische „rote Pastor“127 Heinrich Albertz an) die Paten-schaft für die Landsmannschaft Schlesien.

Schlesisch-sudetendeutsche Parität inder Politik der ersten Nachkriegsjahre

Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die gesellschaftliche Ein-gliederung der Heimatvertriebenen im Falle der Menschenaus den preußischen Ostgebieten in Bayern tendenziellnoch etwas schwieriger war als im ebenfalls nicht einfachensudetendeutschen Fall. Es stellt sich die Frage, ob dies aucheine Entsprechung im politischen Bereich, bei der Vertre-tung in Parteien und Parlamenten, wichtigen Ämtern undGremien oder in dem für die öffentliche Wahrnehmungzentralen Medium Bayerischer Rundfunk gezeitigt hat.Die Antwort muss differenziert ausfallen.

Die erste vertriebenenpolitische Schlüsselposition, dasAmt des bayerischen Staatskommissars für Flüchtlings-fragen, übernahm Ende 1945 ein gebürtiger Schlesier:der evangelische Breslauer Bürgermeistersohn (unddort selbst 1919 zeitweiliger Regierungspräsident)Wolfgang Jaenicke.128

Die Personalie trug auch dem Umstand Rechnung, dassdamals einstweilen noch mehr Schlesier als Sudetendeut-sche in Bayern lebten. Erst nachdem Jaenicke Anfang 1947zum Staatssekretär befördert worden war, wurden dem par-teilosen früheren DDP-Politiker129 zwei Sudetendeutsche,der Sozialdemokrat Richard Reitzner und der Christlich-Soziale Franz Ziegler, als politische Stellvertreter an die Sei-

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te gestellt.130 Im Hauptausschuss der Flüchtlinge und Aus-gewiesenen, der sich im Juli 1946 konstituierte und als wich-tigste Vertriebenenvertretung in Bayern eng mit der bayeri-schen Regierung und dem Landtag zusammenarbeitete,131

gab es ebenfalls ein sudetendeutsch-schlesisches Personal-paket: 1. Vorsitzender wurde das sudetendeutsche CSU-Mitglied Hans Schütz, 2. Vorsitzender der schlesische So-zialdemokrat Willibald Mücke.132 Nachdem gleich bei derersten Sitzung festgestellt worden war, dass es „nicht genü-ge, vier Sudetendeutsche und vier Schlesier zu berufen“,133

gehörten dem Hauptausschuss künftig neben acht Sudeten-deutschen fünf Schlesier sowie je ein Vertreter der Deutsch-Balten und der Südostdeutschen an.134

Eine ähnliche Quote, nämlich „5:3:1 für Flüchtlingeaus dem Sudetenland, aus den Gebieten östlich derOder und Neisse und den übrigen Flüchtlingen“, gabes laut Flüchtlingsgesetz zur Wiedereingliederung derVertriebenen in den öffentlichen Dienst.

Doch der für die bayerische FDP im Bundestag sitzendeDonauschwabe Josef Trischler (aus dem jugoslawischenBoroc) sah 1950 Anlass, sich über die „völlig ungleichmäßi-ge Behandlung der einzelnen Flüchtlingsgruppen“ zu be-schweren. Vor allem die kleineren Landsmannschaften hät-ten den ihnen zustehenden Anteil bislang nur zu fünf Pro-zent erreicht. Die beiden größeren Gruppen der Sudeten-deutschen und Schlesier lagen demnach mit 50 Prozent aberetwa gleichauf.135

Dass die Vertriebenenpolitik im frühen Nach-kriegsbayern noch auf einer ausgeprägten Balance zwischenden beiden größten Herkunftsverbänden, Sudetendeut-schen und Schlesiern, ruhte, dokumentierte im Juli 1947 derAntrag der – zwar in München geborenen, aber zuletzt inStettin wohnhaften und von dort ins unterfränkische Ham-melburg geflohenen – CSU-Landtagsabgeordneten MariaProbst „betreffend Pflege des schlesischen und sudeten-deutschen“ (in dieser Reihenfolge) „Kulturgutes im Unter-richt an den Volks- und Mittelschulen“. Bei den vorherigenBeratungen im Ausschuss für Flüchtlingsfragen hatte Jaeni-

cke den „historischen und kulturellen Beziehungen zwi-schen Bayern, dem Sudetenland und Schlesien“ besondereAufmerksamkeit gewidmet und die „Stammesverwandt-schaft“ zwischen der Bevölkerung dieser drei Räume be-tont. Es sei „ein seltsames Geschick, dass alles, was hier nachBayern hereinströmt, wesentlich aus Bayern“ stamme;selbst die 70.000 katholischen Schwaben, die „in diesem Jah-re“ (1947) noch „aus Ungarn kommen“ würden, sprächenden bayerisch-pfälzischen Dialekt ihres einstigen Stamm-landes.136 Im Bericht des Ausschusses für das Plenum desLandtages hieß es zustimmend, der „Pflege des schlesischenund sudetendeutschen Kulturgutes“ sei im Unterricht „diegleiche Sorge zu widmen wie der Pflege des einheimisch-bayerischen“.137

Wie viel von diesem Antrag realisiert wurde, dender Landtag im Oktober 1949 verabschiedete, steht auf ei-nem anderen Blatt – erst zehn Jahre später wurde jedenfalls1957 im bayerischen Kultusministerium ein „Ostkunde-referat“ eingerichtet.138

Im Lichte der Fragestellung kann der Vorgang aberals überraschendes Schlüsselindiz dafür gelten, wievielgünstiger sich die Lage für die bayerischen Schlesier inden ersten Nachkriegsjahren – erinnerungskulturellbetrachtet – noch darstellte. Wenn die Schlesier in demPapier in einem Atemzug mit den Sudetendeutschen, ja,dem Alphabet folgend, sogar noch vor diesen genanntwurden, muss umso mehr die Frage gestellt werden, wiees in der Folgezeit zur Verschiebung der Gewichtegekommen ist.

Die Vertriebenen und derBayerische Rundfunk

An den sonst gerne für alles verantwortlich gemachten Me-dien lag es jedenfalls kaum. Von der gewiss nicht speziellschlesierfeindlichen Regionalpresse war bereits die Rede.

Und im wichtigsten Medium des Landes, dem Bayeri-schen Rundfunk, wo 1951 12,5 Prozent der Angestellten

130 Bauer, Flüchtlinge, S. 274.131 Zum Vorteil gereichte dem Hauptausschuss vor allem die enge Verbindung mit der Regierung, die bei ähnlichen Organisationen wie dem

Hauptausschuss der Ostvertriebenen in Nordrhein-Westfalen so nicht gegeben war. Vgl. Gatz, Expellees, S. 354.132 Mücke war 1904 im oberschlesischen Landkreis Groß Strehlitz geboren worden. Er war 1948 Mitglied im Parlamentarischen Rat gewor-

den und 1949 bis 1953 Bundestagsabgeordneter. Schütz war 1901 in Nordböhmen als Kind einer katholischen Arbeiterfamilie zur Weltgekommen und 1935 für die Christlich-Soziale Volkspartei ins Prager Parlament gewählt worden.

133 Kornrumpf, In Bayern angekommen, S. 132.134 Bauer, Flüchtlinge, S. 282. Weger, „Volkstumskampf“, S. 82, bemerkt dazu, im Hauptausschuss für Flüchtlinge und Vertriebene hätten die

Sudetendeutschen personell mit Schütz als Vorsitzendem und Roman Herlinger als Geschäftsführer „eine gewisse Vormachtstellung er-wirkt, obgleich sie nur etwa die Hälfte aller nach Bayern gekommenen Flüchtlinge und Vertriebenen“ ausgemacht hätten.

135 Pohl, Zwischen Integration, S. 42.136 Ebd., S. 60.137 Glettler, Landtagsreden, S. 587 f.138 Pohl, Zwischen Integration, S. 63.

Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertr iebenengruppen

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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertr iebenengruppen

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139 Ebd., S. 155 f.140 Die zweite große Abendsendung für Heimatvertriebene war dann dem Riesengebirge gewidmet. Ebd., S. 154.141 Ebd., S. 157. Fragwürdig ist aber wohl die dort, S. 158, zu findende Meinung, derartige Sendungen, die die Eigenarten der deutschen

„Stämme“ zeigten, hätten „in einer direkten Kontinuität zur Konstruktion der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft im Rundfunk“gestanden.

142 Pohl, Zwischen Integration, S. 162.143 Vgl. Kittel, Vertreibung der Vertriebenen?, S. 41 ff.144 Pohl, Zwischen Integration, S. 63.145 Ebd., S. 39.146 Woller, Die Loritz-Partei, S. 39, 99. Der WAV hatten sich aber nicht nur Niederschlesier (wie der vor dem Krieg in der Breslauer Stadtver-

waltung angestellte Noske und andere) angeschlossen, sondern auch Sudetendeutsche, etwa im Landkreis Schongau, oder Oberschlesier inIngolstadt. Der Vertriebenenanteil lag in der WAV bei ca. 20 Prozent. Zur Bundestagswahl 1949 verbündete sich die bereits halb zerfalleneWAV mit dem im niederbayerischen Pocking gegründeten „Neubürgerbund“, an dessen Spitze der im schlesischen Bad Ziegenhals gebo-rene Journalist Günter Götzendorff stand (ebd., S. 118). Dieser konnte zwar 1949 in den Bundestag einziehen, manövrierte sich aberschon bald darauf in das rechtsextreme Abseits.

147 Vgl. die Listen bei Neumann, Der Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten, S. 490 f. Auch wenn man die BHE-Landtagsabgeord-neten in den anderen Ländern sowie die Bundestagsabgeordneten dazu nimmt, lagen die Sudetendeutschen zwischen 1950 und 1960 „wiebei der Parteiführung […] weit an der Spitze“ und waren „ca. doppelt so stark vertreten, als es dem Anteil der sudetendeutschen Vertrie-benen an allen Vertriebenen“ entsprach. Ebd., S. 343. In Bayern waren Sudetendeutsche und Schlesier dagegen in den folgenden zweiWahlperioden ungefähr ihrem Bevölkerungsanteil entsprechend in der BHE-Fraktion vertreten. Ebd., S. 491 ff. Vgl. auch die leicht abwei-chenden Zahlen bei Pohl, Zwischen Integration, S. 75, die damit zu erklären sind, dass manchmal nicht ganz eindeutig ist, ob jemand miteiner West-Ost-Biographie vor 1945 als Vertriebener zu gelten hat oder nicht. Zum BHE in Bayern von 1950 bis 1962 ist im Übrigen eineDissertation von Daniel Schönwald am Lehrstuhl Ferdinand Kramer (LMU München) in Arbeit.

einen Vertriebenenhintergrund hatten, waren Schlesierwie Herbert Hupka und Ernst Günther Bleisch schonfrüh an einschlägigen Sendeplätzen tätig; dann erstkamen der Sudetendeutsche Leonhard Reinisch undder aus Ostpreußen stammende Gerhardt Szczesnyhinzu.139

Die erste Sendung über eine Herkunftsregion wurde imHerbst 1948, noch von Radio München, unter dem Titel„Lied aus Schlesien. Erinnerung an eine deutsche Land-schaft“ ausgestrahlt. Sie wandte sich ausdrücklich „an diezahlreichen in Bayern lebenden Schlesier wie an die Einhei-mischen“.140 Auch die 1949 anlaufende Sendereihe „Aus derHeimat der Vertriebenen“ ließ „die vier größten Gruppender Heimatvertriebenen, Sudetendeutsche, Schlesier, Ost-preußen und Südostdeutsche gemeinsam zu Wort kom-men“.141 „Die Ostpreußen und die Schlesier“, so formulier-te der Vertreter Bayerns in einer Mundartsendung einmalsehr schön den breiten Blick auf diese Gruppen: „[Die] sindfür mi allwei ‚die von da drobn‘, die Sudetendeutschen ‚dievon da drübn‘ und die Südostdeutschen ‚die von da drun-ten .“142

Langfristig indessen, als es im Rundfunk für dieVertriebenen seit den sechziger Jahren ohnehin zunehmendschwieriger wurde,143 machte sich wohl doch die speziellepatenschaftliche Beziehung der Sudetendeutschen zurStaatsregierung auch medial bezahlt. Jedenfalls sah sich dieStaatsregierung z. B. im Sommer 1967 aufgrund wiederhol-ter Interventionen aus sudetendeutschen Kreisen gegen eineVernachlässigung in der Berichterstattung veranlasst, denIntendanten zu ermahnen: Das „Kulturgut der Sudeten-deutschen“ sei „mit den gleichen Mitteln“ zu fördern wiedas der übrigen „Stämme“ Bayerns; auf diese Weise solle der

Bevölkerung „die Existenz des vierten Stammes, nämlichder sudetendeutschen Gruppe, bewusst“ gemacht wer-den.144

Politische Gewichtsverlagerungenim Laufe der fünfziger Jahre

Die bayerische Schirmherrschaft über die Sudetendeut-schen ab 1954 vermag freilich nicht zu erklären, weshalb dieSchlesier auch schon in den frühen fünfziger Jahren bei wei-tem nicht, wie es nach den Proportionen beider Gruppen zuerwarten gewesen wäre, halb so viele Landtagsabgeordneteim Maximilianeum stellten wie die Sudetendeutschen. Da-bei hatten die Deutschböhmen in den ersten, 1946 gewähl-ten Landtag noch überhaupt keinen Vertreter entsendenkönnen, weil das Wahlrecht an eine Mindestaufenthalts-dauer gebunden war. Sämtliche drei Vertriebenenrepräsen-tanten stellten in diesen Jahren die Schlesier: Ewald Bitom(SPD), Kurt Weidner (FDP) und Alfred Noske,145 der imniederbayerischen Bogen für die Wirtschaftliche Aufbau-vereinigung (WAV) des politischen Abenteurers AlfredLoritz kandidiert hatte.146

Schon im zweiten Bayerischen Landtag dagegen, dessenLegislaturperiode von 1950 bis 1954 dauerte und dem204 Abgeordnete (sowie zwei Dutzend Nachrücker)angehörten, arbeiteten 32 sudetendeutsche Parlamen-tarier, aber nur noch neun Schlesier (sowie ein Ost-preuße, ein Pommer und ein Siebenbürger Sachse). Inder Fraktion des gerade erst gegründeten Blocks derHeimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) warenvon 26 Politikern sogar 19 Sudetendeutsche und nurvier Schlesier.147

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Auffallend hoch war die Abgeordnetenquote der Sudeten-deutschen aber vor allem auch wegen ihrer starken Stellunginnerhalb der bayerischen Sozialdemokratie. Von den 63Sitzen der SPD-Fraktion nahmen Sudetendeutsche etwa einSechstel ein, Nachrücker mitgerechnet waren es elf Politi-ker. Unter den 64Abgeordneten der CSU, damals die Parteides eingesessenen bäuerlichen und kleinstädtischen Mittel-standes, verloren sich dagegen gerade einmal zwei Sudeten-deutsche.Auch in späteren Landtagen in den sechziger Jahren hattesich dieses Bild nicht wesentlich verändert. In der Legisla-turperiode 1966–70 saßen 19 Sudetendeutsche, aber nur drei

Schlesier im Maximilianeum.148 Dabei lag der sudetendeut-sche Anteil in der SPD-Fraktion deutlich über zehn, in derCSU nur bei fünf Prozent; der BHE spielte jetzt keine Rollemehr.149

Allerdings personifizierte in diesen Jahren der Über-gang des früheren BHE-Politikers, Bundestagsabgeord-neten und (ab 1968) Sprechers der SudetendeutschenLandsmannschaft, Walter Becher, zur CSU150 das wach-sende vertriebenenpolitische Charisma der größtenbayerischen Volkspartei, die sich vor allem ihrer kriti-schen Haltung gegenüber der neuen sozialdemokrati-

148 Lane, The Integration, S. 103, auf der Basis von Mitteilungen des Bayerischen Landtagsamtes.149 Die Zahlen beruhen auf einer Auswertung der Landtagshandbücher sowie dem Presseausschnitt in der von Helmut Meyer erstellten

Chronik der Landsmannschaft der Oberschlesier. Landesgruppe Bayern, S. 56 (Privatarchiv Matthias Lempart, München). Danach lag derVertriebenenanteil im Landtag nur mehr bei 11,2 Prozent, war also weit von dem statistisch zu erwartenden Wert von ca. 20 Prozent ent-fernt. Auch für die 1966 in den Landtag einziehende NPD verzeichnet Lane, The Integration, S. 103, ein deutliches sudetendeutschesÜbergewicht unter ihren sieben Abgeordneten mit Vertriebenenhintergrund (fünf Sudetendeutsche, ein Schlesier). Besser sah es für dieVertriebenen von Anfang an in den kommunalen „Parlamenten“ aus, wo sie etwa in den Gemeinderäten 1948 bereits 17,2 Prozent allerPolitiker stellten. Vgl. Pscheidt, Zur Integration, S. 217.

150 Becher trat ihr 1967 bei, nachdem er bereits 1965 auf der CSU-Landesliste in den Bundestag eingezogen war.

Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertr iebenengruppen

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Wahlkampfaufruf der WAV

Abbildung: Dorothea Götz, Chronik der Vertriebenen in Landshut 1945–1987, Landshut 1991, S. 138–139.

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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertr iebenengruppen

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151 Vgl. Kittel, Vertreibung der Vertriebenen?, S. 80.152 Im zweiten Landtag nach dem Krieg (1950–54) z. B. gehörten die drei Oberschlesier Franz Bladen (Wahlkreis Augsburg I), Ewald Bitom

(Wahlkreis Niederbayern) und Franz Zdralek (Wahlkreis Mittelfranken) sowie der in Bochum geborene, aber zehn Jahre in Schlesienlebende und von dort beim Einmarsch der Russen vertriebene Herbert Hauffe (Wahlkreis Oberfranken) der SPD-Fraktion an.

153 Werner, Im Dienst, S. 156.154 Gelberg, Vom Kriegsende bis zum Ausgang der Ära Goppel, S. 751, Anmerkung 708.155 Vgl. auch Balcar, Politik auf dem Land, S. 288 f.156 So war die Bayern-SPD 1948 (in der Zeit vor der BHE-Gründung) die einzige Partei, bei der die Zahl der kommunalen Mandatsträger aus

dem Vertriebenenbereich dem Anteil der „Neubürger“ an der Gesamtbevölkerung entsprach. Vergnon, Mehr Show als Substanz?, S. 75.157 Die oft aus dem Exil in England oder Schweden kommenden sudetendeutschen SPD-Politiker strahlten ein hohes Selbstbewusstsein aus,

das sich zum einen aus den Erfolgen der Sozialdemokratie in Böhmen und Mähren vor der Vertreibung speiste, zum anderen aber aus demStatus als antifaschistische Emigranten. Bayerische Genossen empfanden dies nicht selten als Arroganz und antworteten darauf etwa inder Hofer SPD mit Vorwürfen gegen die Sudetendeutschen wegen deren angeblicher Haltung im Jahr 1938 (Ebd., S. 73). Konflikte resul-tierten auch daraus, dass sich deutsch-böhmische Sozialdemokraten wie Almar Reitzner in einer überparteilichen sudetendeutschenSchicksalsgemeinschaft über die Parteigrenzen hinweg sahen. So musste Reitzner 1961 als Pressesprecher der bayerischen SPD zurücktre-ten, nachdem er Walter Stain, den BHE-Arbeitsminister in der CSU-geführten Landesregierung, gegen Angriffe der SPD-Landtagsfrak-tion in Schutz genommen hatte (ebd., S. 73). Gabert selbst wurde etwa im Kontext des Volksbegehrens um die Gemeinschaftsschuleöffentlich angegriffen, weil er „nicht aus Bayern komme“ und die „Zusammenhänge“ nicht verstehe (ebd., S. 72).

158 Pohl, Zwischen Integration, S. 205.159 Vgl. zu diesem parteipolitischen Kontext auch Gelberg, Vom Kriegsende, S. 754. Immer wieder brachte beispielsweise die SPD 1963

Anträge in den Landtag ein, einen eigenen Haushaltstitel zur Ausübung der kürzlich noch einmal bekräftigten Schirmherrschaft für diesudetendeutsche Volksgruppe einzurichten, was von der CSU-geführten Staatsregierung aber dilatorisch behandelt wurde. Pohl,Zwischen Integration, S. 403 f.

160 In der Legislaturperiode von 1950 bis 1954 waren dies etwa Karl Schubert (Wahlkreis Niederbayern) und Wenzel Weigel (WahlkreisOberpfalz); während der vorherigen ersten Periode des Nachkriegslandtages hatte der CSU-Fraktion noch kein einziger Vertriebenerangehört. Schlemmer, Aufbruch, Krise und Erneuerung, S. 164.

schen bzw. sozialliberalen Ostpolitik verdankte.151 Dieinsgesamt recht gute parlamentarische Repräsentanzder Sudetendeutschen in den ersten Jahrzehnten nachder Vertreibung ist, dies sei noch einmal unterstrichen,zumindest in quantitativer Hinsicht vor allem einsozialdemokratisches Phänomen.

Zwar war in der SPD-Landtagsfraktion auch der Schlesier-anteil traditionell höher als bei der CSU152 und im SPD-Landesausschuss waren je einem Schlesier und Sudeten-deutschen feste Sitze eingeräumt,153 doch prägend wirktenauf die Partei in erster Linie die Sudetendeutschen. Die US-Besatzungsbehörde schätzte 1948 den Anteil der Sudeten-deutschen an der bayerischen SPD-Mitgliederschaft auf einViertel, andere Zahlen gehen noch darüber hinaus (bis zurHälfte).154

Gerade auf dem flachem Land, wo die Sozialdemo-kratie im Freistaat vor 1933 oft überhaupt keine Organisa-tionsstrukturen aufzubauen vermocht hatte, gründeten sichin den Nachkriegsjahren unter tätiger Mitwirkung vorallem der Ostvertriebenen Hunderte neuer SPD-Ortsver-eine.155 Die Bayern-SPD profitierte dabei davon, dass dieSozialdemokratie in den deutsch besiedelten Teilen der böh-mischen Länder eine starke politische Kraft gewesen war.156

In klassischen Flüchtlingsgemeinden wie Waldkraiburg,Geretsried oder Traunreut lag die SPD bei den Wahleninfolgedessen noch lange vor der CSU. Persönlichkeitenwie der Landesgruppenchef der bayerischen SPD in Bonn,Alfons Bayerl (1974–1980), oder vor allem der 1963 zum

SPD-Landesvorsitzenden avancierende Volkmar Gabertsind mit die bekanntesten Beispiele für das sudetendeutscheGesicht der bayerischen Nachkriegssozialdemokratie.Auch wenn das Verhältnis zwischen vertriebenen und ein-heimischen Sozialdemokraten keineswegs immer span-nungsfrei war,157 zählt die sudetendeutsche Komponenteder Bayern-SPD zweifelsohne zu den Erfolgsfaktoren derpolitischen Integration der Deutschböhmen. Bei ihrer Ein-gliederung in die Partei profitierten sie im Übrigen auch von„der Vorarbeit und der Solidarität der schlesischen Partei-genossen“,158 die vielfach schon etwas länger in Bayern leb-ten, aber jetzt angesichts der großen Zahl Sudetendeutscherinnerhalb der SPD automatisch an Gewicht verloren.

Der Faktor sudetendeutsche Sozialdemokratie hatnicht nur für die Zeit bis Mitte der fünfziger Jahre Be-deutung, als die SPD noch an bayerischen Regierungenbeteiligt war, sondern auch darüber hinaus, weil dasWissen um diese „special relationship“ geeignet war, derPolitik der CSU für die Sudetendeutschen nötigenfallszusätzliche Schubkraft zu vermitteln.159

Von Anfang an hatte die sudetendeutsche Sache aber auchin der seit Ende der fünfziger Jahre mehr und mehr domi-nierenden Christlich-Sozialen Union – trotz der nur weni-gen deutschböhmischen CSU-Abgeordneten im Landtag160

– einflussreiche Fürsprecher. Der zur katholischen Gesin-nungsgemeinschaft der Ackermann-Gemeinde gehörendeHans Schütz (Bild S. 24), seit 1949 für die CSU im Bundes-

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tag, avancierte 1963 zum Staatssekretär, 1964 bis 1966 dannzum Minister im Bayerischen Staatsministerium für Arbeitund Soziales. Dort ressortierte seit den Zeiten des imBöhmerwald aufgewachsenen BHE-Politikers Walter Stain,der das Haus von 1954 bis 1962 leitete, auch das bis 1955noch im Innenministerium angesiedelte „Flüchtlingswe-sen“. 1984 bis 1986 stand mit Franz Neubauer abermals einsudetendeutscher CSU-Politiker an der Spitze des für dieIntegration der Vertriebenen maßgeblichen Ministeriums.An noch prominenterer Stelle als CSU-Generalsekretär undFraktionsvorsitzender im Landtag war in den siebziger undachtziger Jahren der aus dem böhmischen Reichenbergstammende Gerold Tandler tätig.

Ähnlich stark waren die Schlesier und die anderenkleineren Vertriebenengruppen in Spitzenpositionen des

Freistaats bzw. seiner führenden Parteien nicht vertreten.Die ersten Vorsitzenden des bayerischen Landesverbandesder Landsmannschaft Schlesien, Nieder- und Oberschlesienwaren bis Mitte der sechziger Jahre Walter Rinke (Minis-terialrat in der bayerischen Verwaltung und 1953 bis 1957CSU-MdB), Hans Menzel (Leiter des LandesarbeitsamtesSüdbayern), Herbert Hupka (damals Redakteur beim Baye-rischen Rundfunk) und der Breslauer Waldemar Rumbaur,der sich als Augenarzt im mittelfränkischen Ansbach nie-dergelassen hatte. Der ebenfalls aus Breslau stammende, inKronach gelandete Jurist Erich Simmel wurde 1950 auf deroberfränkischen BHE-Liste in den Landtag gewählt undbrachte es 1954 zum Staatssekretär im Landwirtschaftsmi-nisterium, was er bis 1962 blieb.161 Heute wäre HartmutKoschyk, früher Bundesvorsitzender der Schlesischen Ju-gend, zu nennen, der oberschlesische Wurzeln hat und seit2009 das Amt eines Parlamentarischen Staatssekretärs imBundesministerium der Finanzen bekleidet.

Entscheidende Unterschiedezwischen „Auslandsdeutschen“ und„Reichsdeutschen“ im Hinblick aufpolitische Selbsthilfe-Erfahrungen undorganisatorische Initiative?

Der vergleichsweise stärkeren Vertretung der Sudetendeut-schen in den politischen Parteien und in der Regierung desFreistaates entsprach ihre besonders gute und frühe lands-mannschaftliche Organisation. Sie ähnelten in dieser Hin-sicht anderen „Auslandsdeutschen“ wie den Siebenbürger

161 Zeitler, „Politik von Flüchtlingen – für Flüchtlinge“, v. a. S. 108 bis 111.

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Schlesischer Volkstanz auf

dem Münchner Odeonsplatz

Foto: Friedrich Prinz, Die Integration

der Flüchtlinge und Vertriebenen in

Bayern. Versuch einer Bilanz nach

55 Jahren, hg. v. Haus der Bayerischen

Geschichte, Augsburg 2000, S. 23.

Bild unten: Die Trachten-

gruppe St. Anna präsentiert

oberschlesische Tracht, 1974.

Foto: Dorothea Götz, Chronik der

Vertriebenen in Landshut 1945–1987,

Landshut 1991, S. 220.

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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertr iebenengruppen

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162 Habel, Historische Voraussetzungen, S. 259. Vgl. auch Boehm, Gruppenbildung und Organisationswesen, S. 598.163 Erker, Vom Heimatvertriebenen, S. 98. Es gab aber auch Gegenbeispiele, wie Johann Schellerer, Die Aufbauarbeit, S. 208, für Regensburg

herausgearbeitet hat. Dort war die größte Vertriebenengruppe im Landkreis, die Sudetendeutschen, „zunächst weniger einheitlich organi-siert als die Schlesier“, die bereits 1948 einen Schlesierverein gründen konnten.

164 Mößlang, Flüchtlingslehrer, S. 166.165 Kornrumpf, In Bayern angekommen, S. 300. Zu den schlesischen Suchdienst-Aktivitäten und vor allem zur Heimatortskartei Groß-

Breslau in Cham (eine Kartei in Bamberg war für Niederschlesien, die in Passau für Oberschlesien zuständig), vgl. Landkreis Cham (Hg.),Die Eingliederung der Heimatvertriebenen, S. 40 ff.

166 Pohl, Zwischen Integration, S. 353.167 Ebd., S. 356.168 Ebd., S. 378. Auch wenn die Eichendorff-Verehrung vor allem in der katholischen schlesischen Jugendbewegung verwurzelt war, identifi-

zierten sich nicht nur die Oberschlesier und die katholischen Niederschlesier mit dem Dichter. Seinen Einzug in die Ruhmeshalle betriebauch der stärker protestantisch geprägte Schlesier-Verband Bayern. Vgl. ebd., S. 378. Die Anschlussfähigkeit Eichendorffs für national-protestantische Kreise mochte auch damit zu tun haben, dass der Dichter als preußischer Staatsbeamter für die Restaurierung der west-preußischen Marienburg als eines „Bollwerks“ im Osten zuständig gewesen war. Vgl. ebd., S. 377.

Die Büsten Adalbert Stifters und Joseph

v. Eichendorffs in der Walhalla

Fotos: Walhallaverwaltung, Robert Raith

Sachsen, den Westpreußen, den Weichsel-Warthe-, Karpa-ten-, Jugoslawien- und Buchenlanddeutschen, die sich zeit-lich parallel zusammenschlossen, während die großen alt-reichsdeutschen Landsmannschaften laut Habel „z. T. be-trächtlich später“ entstanden.162

Auch Lokalstudien haben diesen erstaunlichen Befundbestätigt: Meist waren es die Sudetendeutschen, die „alserste ihre Verbände gründeten und eine besondere Akti-vität an den Tag legten“.163

Neben der bereits erwähnten Sudetendeutschen Hilfsstellesei als weiteres Beispiel genannt, dass sich die vertriebenenLehrer aus den böhmischen Ländern nach mehrjährigemVorlauf 1952 in der Arbeitsgemeinschaft sudetendeutscherErzieher sammelten, während sich aus einer Initiative desKulturwerks Schlesien heraus erst 1956 eine analoge Ar-beitsgemeinschaft schlesischer Erzieher gründete, um, wiedie charakteristische Begründung lautete, „nicht zurückzu-stehen“.164 Ähnlich war es beim Suchdienst, der bald nachdem Krieg das Massenproblem der Familienzusammenfüh-rung zu lösen half. Als Jaenicke 1945, damals noch nichtFlüchtlingskommissar, von der entsprechenden Tätigkeit

der Sudetendeutschen und Banater Schwaben gehört hatte,erschien er beim Münchner Suchdienst und fragte, „ob nichtetwas ähnliches für die vielen Schlesier aufgebaut werdenkönne“.165

Eine vergleichbare Phasenverschiebung zeigte sichbei der Aufnahme von Adalbert Stifter und Joseph vonEichendorff, den „Symbolfiguren sudetendeutscher undschlesischer Selbstidentifikation“,166 in den bayerisch-deut-schen Ruhmestempel der Walhalla. Zwar hatten sich nochzu Zeiten des parteipolitischen Vereinigungsverbotes gegendie Vertriebenen 1947 in Bayern sowohl ein Adalbert-Stifter-Verein als auch eine (katholische) Eichendorffgildegegründet, die „den Deutschen Böhmens bzw. den (Ober-)Schlesiern als Ausweis ihrer hervorragenden Kulturleistun-gen“ dienten,167 doch eine Büste Stifters wurde auf Initiativesudetendeutscher Vertriebener bereits im September 1954im Rahmen eines feierlichen Staatsaktes aufgestellt, wäh-rend der (Ober-)Schlesier Eichendorff erst drei Jahre späteran der Reihe war. Die von den Sudetendeutschen beantrag-te Aufnahme Stifters in die Walhalla hatte die Schlesierveranlasst, „die bayerische Staatsregierung um dieGenehmigung des Einzugs von Joseph von Eichendorff zuersuchen“.168

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Wappenteppiche der west- und ostpreußischen Landsmannschaften in Bayern sowie der Schlesier (S. 32); Abbildung S. 33: Wappen-

teppich der Pommern

Fotos aus: Das Haus des Deutschen Ostens München 1970–1990; Festschrift, hg. v. Horst Kühnel, München 1990, S. 79–81.

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Weshalb die Sudetendeutschen dagegen im Bereich der wis-senschaftlichen Arbeit zunächst mehr Mühe hatten, in Bay-ern an institutionelle Traditionen der alten Heimat anzu-knüpfen, ist ebenfalls aufschlussreich. Während schon 1952in München ein in den folgenden Jahren vor allem ge-schichtswissenschaftlich arbeitendes Osteuropa-Institut inder Nachfolge der gleichnamigen Breslauer Einrichtung ge-gründet wurde, gelang es der treibenden Kraft, dem Staats-sekretär für Flüchtlingsfragen und BHE-Politiker TheodorOberländer, nicht, nach dem Vorbild des Ost-Instituts unddes gleichfalls wiedergegründeten Südost-Instituts169 ein ei-genständiges Collegium Carolinum (CC) – als symboli-schen Ersatz für die Deutsche Universität Prag – zu grün-den. Dies schien umso erstaunlicher, als Oberländer zu-

gleich Vorsitzender des als wissenschaftliche Abteilung desAdalbert Stifter Vereins bereits bestehenden CC war.

Doch nicht nur maßgebliche sudetendeutsche Poli-tiker sozialdemokratischer und christlich-sozialer Parteizu-gehörigkeit bremsten den BHE-Landesvorsitzenden Ober-länder in der Sache aus, „weil er als Vertreter des BHE dievertriebenenpolitische Basis ihrer eigenen Partei schwäch-te“; auch zwischen Oberländer und seinem sudetendeut-schen Wahlbündnispartner von 1950, Walter Becher (da-mals noch: Deutsche Gemeinschaft), stimmte die Chemienicht. Die Historikerin Karin Pohl hat dies dahingehendgedeutet, dass dem aus Thüringen stammenden Oberländereinfach der sudetendeutsche „Stallgeruch“ gefehlt habe:„[T]rotz seiner Kontakte und trotz seines Engagements

169 Diese war bereits 1930 in München zur Erforschung des deutschen Volkstums im Südosten Europas gegründet worden.

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170 Pohl, Zwischen Integration, S. 274.171 Mößlang, Flüchtlingslehrer, S. 264, 267.172 Pohl, Zwischen Integration, S. 103.173 Mößlang, Flüchtlingslehrer, S. 150.174 Gespräch mit Ulrich Schmilewski vom Schlesischen Kulturwerk, Würzburg, am 2. Juni 2009. Ein besonders markantes Beispiel für diesen

Befund war vielleicht der Niederschlesier Karl-Heinz Pfennig. In einer vom Nationalsozialismus stark beeinflussten, kirchenkritischenVolksschullehrerfamilie auf dem Lande groß geworden, machte er sich nach der Vertreibung Vorwürfe, etwa als „Pimpfen“-Führer bei derHitler-Jugend antisemitische Parolen verbreitet zu haben. Von einem protestantischen mittelfränkischen Bauern, auf dessen Hof es ihnnach dem Krieg verschlagen hatte, zum christlichen Glauben erweckt, holte er die Konfirmation nach und beschloss, Missionar zu wer-den. Als evangelischer Religionslehrer in Oberbayern wurde er später immer wieder von Kollegen für die Landsmannschaft angespro-chen, lehnte die Mitgliedschaft aber ab, weil er deren heimatpolitische Revisionsziele kategorisch ablehnte und den Verlust Schlesiens alsErgebnis deutscher Schuld akzeptierte. Gespräch mit Karl-Heinz Pfennig (Wolfratshausen) am 30. März 2009.

175 Obwohl bundesweit beide Vertriebenengruppen mit ca. zwei Millionen etwa gleich groß waren. Heimatbücher mit Ostpreußen-Bezugmachen mit sieben Prozent ebenfalls nur einen unterproportionalen Anteil aus. Zu weiteren möglichen Gründen, weshalb es„Heimatbücher über kleinste deutsch-böhmische Dörfer“ gibt, aber „beispielsweise kein einziges über ostpreußische Dörfer vergleichba-rer Größe“, vgl. Faehndrich, Erinnerungskultur, S. 200 f. (Zitat S. 201). Besonders bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass dieDeutschen aus Südosteuropa, die lediglich 6,1 Prozent der Vertriebenen ausmachten, 34 Prozent aller Heimatbücher geschrieben haben.

stand er außerhalb der politischen Organisationen der Su-detendeutschen“.170 Jedenfalls geriet erst mit OberländersWechsel an die Spitze des Bonner Vertriebenenministeriums1953 wieder Bewegung in die Sache, was 1956 zur Grün-dung eines eigenständigen CC führte.

Zu diesem Zeitpunkt war bereits die Idee gescheitert,eine „Ostuniversität“ als vierte bayerische Landes-universität zu errichten, an der die Traditionen derdeutsch-böhmischen und ostdeutschen Wissenschafthätten fortgesetzt werden können.

Die Zahl der aus beiden Bereichen kommenden Hochschul-lehrer hielt sich in Bayern ungefähr die Waage. Entschei-dend für das Misslingen der Idee war aber, dass in der Mi-nisterialbürokratie die Befürchtung bestand, mit der „Ost-universität“ eine „geistige Enklave“ zu schaffen; was dortgeleistet werden solle, sei vielmehr Aufgabe des gesamtendeutschen Volkes. Und die Interessenvertretung der vertrie-benen Studenten sah das ähnlich. Nicht gerade zur Durch-setzung des Konzepts hatten allerdings auch Meinungsver-schiedenheiten zwischen Sudetendeutschen und Schlesiernhinsichtlich des Standorts einer möglichen „Ostuniversität“beigetragen. So intervenierte die Landsmannschaft Schle-sien 1951 beim Ministerpräsidenten zu Gunsten Bambergs,um der Dominanz der Regensburg präferierenden ehemali-gen Prager Professoren entgegenzusteuern. 1953 lehnte derLandtag das Projekt schließlich ganz ab.171

Noch viel deutlicher als im Hochschulbereich war einesudetendeutsche Dominanz im Bereich der Volksbil-dung zu registrieren. Denn was es im Freistaat in derFläche bis 1945 kaum gegeben hatte, Gemeindebiblio-theken oder Volkshochschulen, war den „Volksdeut-schen“ schon aus ihrer „nationalen Schutzarbeit“ in deralten Heimat vertraut. So wurden sie in ihrem neuen

Zuhause „zu den rührigsten Gründern öffentlicherBildungseinrichtungen“.172

Als „Motor in Dörfern“ galten vor allem die sudetendeut-schen Lehrer, die 1950 an der Spitze von 70 Prozent allerbayerischen Volkshochschulen standen und unter den meistnebenamtlichen Dozenten mit 38 Prozent ebenfalls über-proportional vertreten waren.173 Dass dies der Verankerungsudetendeutscher Themen in der politischen Kultur Bay-erns auf breiter Fläche nur zugute kommen konnte, ist of-fensichtlich. Bei den Schlesiern scheinen sich dagegen gera-de die gebildeteren Schichten landsmannschaftlichem Enga-gement gegenüber öfters reserviert verhalten zu haben.174

Auch damit mag es zusammenhängen, wenn von den über500 Heimatbüchern deutschsprachiger Vertriebener, die bisheute zum Leben einer Gemeinde, Stadt oder Landschaft imhistorischen Osten erschienen sind, sich 29 Prozent aufBöhmen und Mähren, aber nur zehn Prozent auf Schlesienbeziehen.175

Die überdurchschnittliche Aktivität der Sudetendeut-schen resultierte, so hat Paul Erker im Anschluss an

Rudolf Lodgman von Auen

Foto: Oskar Böse/Rolf-Josef Eibicht

(Hg.), Die Sudetendeutschen. Eine

Volksgruppe im Herzen Europas. Von

der Frankfurter Paulskirche zur Bun-

desrepublik Deutschland, Dießen 1989,

S. 92.

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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertr iebenengruppen

Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09 35

Max Hildebert Boehm oder Bernd Sonnewald argu-mentiert, aus ihrer Erfahrung im so genannten „Volks-tumskampf“ als Minderheit in einem tschechoslowaki-schen Staat, der sie „als Fremdkörper“ betrachtet habe.Sie hätten sich schon in der Zwischenkriegszeit darangewöhnen müssen, „um ihre politischen, sozialen undwirtschaftlichen Rechte zu kämpfen“.

Anders als „die Vertriebenen aus dem Osten des ehemaligenDeutschen Reiches“ hätten sich die Sudetendeutschen be-reits damals eben „nicht auf den schützenden Staat“ verlas-sen können.176 Tatsächlich hatten sich die Deutschen östlichvon Oder und Neiße schon zu Weimarer Zeiten der beson-deren Fürsorge des preußischen Staates wie des Reicheserfreut. Zum einen war dies eine Folge der am Ende desErsten Weltkriegs geführten Kämpfe um die deutsch-polni-sche Grenze und der auch danach anhaltenden Wahr-nehmung, alle Gebiete östlich der Oder seien besondersgefährdet.177 Zum anderen hatte die Weimarer Politik dar-aus die Notwendigkeit abgeleitet, die (land-)wirtschaftlichvom Niedergang bedrohten preußischen Ostprovinzenmittels der „Osthilfe“ zu stabilisieren.

Die in diesem Kontext noch geförderte, traditionell aus-geprägte preußisch-deutsche Staatsgläubigkeit mag alsobei Schlesiern, Ostpreußen, Pommern und Ostbranden-burgern nach 1945 dazu beigetragen haben, Hilfe wei-terhin eher „von oben“ zu erwarten, statt den Folgenihrer Vertreibung noch stärker mit Selbsthilfemaßnah-men zu begegnen.178

Die Sudetendeutschen dagegen engagierten sich nach demKrieg ähnlich vehement für ihre soziale Integration beiWahrung der kulturellen Identität, wie sie vor 1938 gegen

den selbsternannten tschechoslowakischen „Nationalstaat“und dessen problematische Minderheitenpolitik für ihrdeutsches „Volkstum“ gekämpft hatten.179

Die „bindende Wirkung“ durch eine Persönlich-keit wie die des ersten Sprechers der SL, Lodgman von Au-en, der 1918/19 nach dem Zusammenbruch der Habsbur-germonarchie kurzzeitig Landeshauptmann einer deutsch-böhmischen Landesregierung gewesen war, mit seiner„auch Massen bewegenden Autorität“180 hat ebenfalls eineRolle gespielt; mehr noch aber die Erkenntnis vieler in denJahren 1918 bis 1938 sozialisierter Akteure, ob sozialdemo-kratisch, christlich-sozial oder national-konservativ, „dasssowohl der Aktivismus als auch der Negativismus geschei-tert waren und es bei allen weltanschaulichen Unterschied-lichkeiten darauf ankam“, die SL „von politischen Querelenfreizuhalten“.181 Lodgman, der selbst „keinerlei parteipoli-tische Ambitionen“ mehr hatte,182 konnte gleichsam als Per-sonifizierung dieses Grundanspruchs begriffen werden.

Dagegen standen die führenden Politiker der reichs-deutschen Vertriebenen „an organisatorischer Erfah-rung im landsmannschaftlichen Raum oft hinterMännern zurück, die aus der Tradition der so genann-ten Volksgruppenführung“ kamen,183 und sie waren,mit der zerklüfteten politischen Kultur der WeimarerRepublik im geistigen Fluchtgepäck, auch viel wenigerals die deutschböhmischen „Ethnopolitiker“184 in derKunst geübt, über Parteigrenzen hinweg zusammen-zuarbeiten.

Die Sudetendeutschen besaßen darüber hinaus aufgrundder Problematik des Münchner Abkommens von 1938 nochlange nach ihrer Vertreibung nur eine reduziert wirkendeForm der deutschen Staatsbürgerschaft. Die vom „Dritten

176 Erker, Vom Heimatvertriebenen, S. 98 f.177 Bergien, Zur Kooperation von Reichswehr und Republik, S. 660.178 So auch Gatz, Expellees, S. 254, gestützt u. a. auf die Selbsteinschätzung eines der Verantwortlichen für das 1951 in Nordrhein-Westfalen

gegründete Ostpreußenwerk, das, wie er meinte, wegen der „Indifferenz“ der Vertriebenen „gegenüber der Lage ihrer vertriebenenLandsleute und ihrer Neigung, sich […] auf den Staat zu verlassen“, weit weniger Erfolg hatte als erhofft. Gatz, Expellees, S. 385. Vgl.auch Boehm, Gruppenbildung, S. 598. Dagegen waren die Altreichsdeutschen zumindest beim Lastenausgleich gegenüber denAuslandsdeutschen insofern im Vorteil, als ihnen der für die Schadensfeststellung wichtige Begriff des „Einheitswertes“ aus dem imDeutschen Reich geltenden Bewertungsrecht „in Fleisch und Blut übergegangen“ war. Die Sudetendeutschen kannten diesen Begriff erstseit 1938, die „Volksdeutschen“ aus Südosteuropa gar nicht. Landkreis Erding (Hg.), Flüchtlinge und Heimatvertriebene, S. 182.

179 Vgl. auch Gatz, Expellees, S. 344. Dabei konnten die Sudetendeutschen nach 1945 teilweise auf schon länger bestehende Strukturenzurückgreifen. Seit 1943 existierte etwa als Zweig des „Reichsverbandes für das katholische Deutschtum im Ausland“ die KatholischeKirchliche Hilfsstelle, die nach dem Krieg von der Fuldaer Bischofskonferenz neu organisiert wurde. Hauptsitz dieser Einrichtung warFrankfurt, doch wurde auf Initiative von Sudetendeutschen im Oktober 1945 auch ein Büro in München errichtet. Ebd., S. 360.

180 Habel, Historische Voraussetzungen, S. 259.181 Sonnewald, Die Entstehung und Entwicklung der ostdeutschen Landsmannschaften, S. 158. Während die aktivistischen Parteien der

Deutschböhmen die Lage ihrer Landsleute in der neuen CSR nach 1919 durch Zusammenarbeit mit den tschechischen und slowakischenpolitischen Kräften zu verbessern suchten, lehnten die Negativisten diesen Staat grundsätzlich ab.

182 Kotzian, Die Sudetendeutschen, S. 25. In den zwanziger Jahren war Lodgman noch ein führender Politiker der Deutschnationalengewesen.

183 Boehm, Gruppenbildung, S. 598.184 Zur Übertragung des von Jonathan D. Sarna entwickelten Modells der „ethnic leadership“ auf die politische Elite der Sudetendeutschen

vgl. Pohl, Zwischen Integration, S. 172 ff.

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185 Blumenwitz, Der Prager Vertrag, S. 70 f.186 Gatz, Expellees, S. 180, 208.187 Boehm, Gruppenbildung, S. 558.188 Festschrift: Bekenntnis zu Schlesien, 1999. 50 Jahre Landsmannschaft Schlesien. Nieder- und Oberschlesien. Landesverband Bayern, S. 8,

14, sowie: Homepage der Landsmannschaft Schlesien (Stand: Juli 2008). Erinnerungen an die Gründerjahre, vom GründungsvorsitzendenWalter Rinke 1979 niedergeschrieben.

189 Vgl. Bahlcke, Schlesien und die Schlesier, S. 175.190 Stickler, „Ostdeutsch heißt gesamtdeutsch“, S. 45.191 Lotz, Die Deutung des Verlusts, S. 70, führt diesen Umstand „wahrscheinlich auf die Erfahrungen in den Minderheitenkonflikten wäh-

rend der Zwischenkriegszeit“ zurück.

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Reich“ auf der Grundlage eines Vertrags mit der Tschecho-slowakei über Staatsangehörigkeits- und Optionsfragenvom 20. November 1938 vorgenommenen Sammelein-bürgerungen von Sudetendeutschen wurden lediglich in derBritischen Zone anerkannt. Die Rechtsprechung in derAmerikanischen und Französischen Zone betrachtete dieBetroffenen dagegen nicht als deutsche Staatsangehörige,sondern als Staatenlose.185

In den Personalausweisen der sammeleingebürgertenSudetendeutschen hieß es bis 1949: „dem deutschenStaatsbürger gleichgestellt“, dann „Deutsche nach demGrundgesetz“, erst am 22. Februar 1955 wurde infolgeeines Urteils des Bundesverfassungsgerichts die deutscheStaatsangehörigkeit der Sudetendeutschen endgültiggesetzlich geregelt.186

Die auffälligen Unterschiede zwischen Sudetendeutschenund einem großen Teil der Altreichsdeutschen hat der Ver-triebenensoziologe Boehm im Hinblick auf die Nieder-schlesier auch stammespsychologisch zu deuten versucht.Diese seien „ihrer Wesensart nach weich, passiv, eigenbröt-lerisch, nicht selten versponnen und nach innen gekehrt“;auch wenn sich diese Eigenschaften „mit hoher und vielsei-tiger Begabung besonders auf künstlerischem und religiö-sem Gebiet“ verbänden, seien die Niederschlesier offen-sichtlich „schwer organisierbar und zur sozialen Geschlos-senheit wenig geneigt“. Demgegenüber seien die Ober-schlesier „kulturell weniger schöpferisch, aber außeror-dentlich aktiv und impulsiv, ein rauhes Volk, sehr viel stär-ker nach außen lebend“ und, wie der Abstimmungskampfmit den Polen in den Jahren nach dem Versailler Vertrag ge-zeigt habe, „zu entschlossenem Einsatz für die Heimat auchunter Zurückstellung persönlicher Bedenken durchausfähig und bereit“. Während Boehms Charakterisierung derOberschlesier in diesem Punkt an die der Sudetendeutschenerinnert, schreibt er über die Niederschlesier: In derenHeimat sei die „Assimilation slawischer Urelemente an dasdeutsche Volkstum schon seit Jahrhunderten zum Abschlußgekommen“ gewesen; deshalb seien sie als „Binnendeut-sche“ von Nationalitätenfragen nicht so „berührt“ wordenwie die Oberschlesier.187

Das schlesische Schisma

Solche ethnischen, noch teilweise vielleicht von nationalso-zialistischem Volksdenken geprägten Stereotypisierungensind stets anfechtbar; die deutliche Differenzierung zwi-schen Nieder- und Oberschlesiern hingegen verweist aufeinen für unsere Fragestellung entscheidenden Punkt:

Die Schlesier als die eigentlich größte ostdeutscheVertriebenengruppe haben sich offensichtlich dadurchteilweise selbst entmachtet, dass sie rasch nach demEnde des alliierten Koalitionsverbotes 1948 zweikonkurrierende Landsmannschaften gründeten.

Zunächst war aus einer in München schon 1946 entstande-nen, nicht lizenzierten „Vereinigung der Schlesier“ kurznach der Währungsreform Ende 1948 der „Schlesierver-band Bayern“ als damals noch alleinige Vertretung von Nie-der- und Oberschlesiern hervorgegangen. CSU-Minister-präsident Ehard übernahm (mit Schreiben vom 22. Novem-ber 1948) auch sogleich die Schirmherrschaft über denVerband, der sich dann am 26. März 1950 in Bonn mit ande-ren Landesverbänden zur bundesweiten „LandsmannschaftSchlesien“ (LS) zusammenschloss.188 Schon ein halbes Jahrspäter aber, am 28. Oktober 1950, gründete sich (aus einemseit 1949 bestehenden Zusammenschluss heraus) eine kon-kurrierende „Landsmannschaft der Oberschlesier“ (LdO),die sich nicht an Oberschlesien in den Reichsgrenzen von1937, sondern am größeren historischen Oberschlesienorientierte. Die LdO bezog sich also nicht nur auf die seit1922 bestehende preußische Provinz Oberschlesien, son-dern auch auf die nach 1921 an Polen übertragenen Gebietesowie die ehemaligen österreichisch-schlesischen Landes-teile.189

Der Vertriebenenexperte Matthias Stickler schreibtdazu: „Die Gründe für die Notwendigkeit einer eigenstän-digen oberschlesischen Landsmannschaft sind für denAußenstehenden nur schwer verständlich.“190 Dies giltumso mehr, als auch in den Führungsgremien der bereitsbestehenden Landsmannschaft Schlesien mehrheitlichOberschlesier vertreten waren.191 Sogar den Vorsitz der LS

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192 So Hupka im Zeitzeugengespräch mit Stickler, „Ostdeutsch heißt gesamtdeutsch“, S. 45.193 Czaja, Unterwegs zum kleinsten Deutschland, S. 863.194 Fritz Hollunder, Die Landsmannschaft der Oberschlesier. Entstehung und Entwicklung, S. 6 (den in ihrem Privatbesitz befindlichen Text

hat mir die Münchner Oberschlesierin Gertrud Müller aus Gleiwitz/OS freundlicherweise zur Verfügung gestellt).

auf Bundesebene hatte mit dem katholischen Ministerialbe-amten Walter Rinke ein gebürtiger Oberschlesier aus Katto-witz inne. Herbert Hupka, selbst Oberschlesier (Ratibor),aber langjähriger Vorsitzender des bayerischen (1953–1958),später des Bundesverbandes der Landsmannschaft Schlesi-en, hat zu den Gründen für die Spaltung bemerkt: DerKampf gegen die Annexion ganz Oberschlesiens durch Po-len nach dem Ersten Weltkrieg und die bald folgende Tei-lung des Landes seien für die Oberschlesier „in hohemMaße bewusstseinsprägend“ gewesen.192

Der wohl bekannteste Vorsitzende der Oberschle-sischen Landsmannschaft, Herbert Czaja, hat zudem daraufverwiesen, dass Oberschlesien schon im 13. Jahrhundert„einen eigenen Weg zum böhmischen Lehensherren“ ge-gangen sei; bereits vor dem Ausgang des Mittelalters sei dieethnische Zusammensetzung in Nieder- und Mittelschle-sien völlig anders gewesen als in Oberschlesien, wo es „dieunmittelbaren Beziehungen zu den Polen [...] im Guten undBösen auf allen Ebenen“ gegeben habe.193 Als „eigentlichesGrenzland gegen zwei slawische Stämme“, Polen und

Tschechen, mit denen sich im Laufe der Jahrhunderte „viel-fach Blutverwandtenbeziehungen“ entwickelt hätten, sosah es auch Czajas Landsmann Fritz Hollunder, würdensich oberschlesische Kultur und Bräuche „in vielem“ vondenen in Mittel- und Niederschlesien unterscheiden.194

Tatsächlich hatten sich das ganz überwiegend katholi-sche Ober- und das mehrheitlich protestantische Nie-derschlesien auch im Zuge der Fundamentalpolitisie-rung seit dem 19. Jahrhundert sehr unterschiedlichpositioniert, was in den Weimarer Jahren eine Fortset-zung fand. Während in Oberschlesien die katholischeZentrumspartei dominierte, war Niederschlesien eineHochburg zunächst der Sozialdemokratie, später auchder DNVP und der NSDAP.

Vor allem aber hatte der preußische Staat schon 1922 dasunruhige Oberschlesien vom Rest der Provinz getrennt.Dessen Bewohner hatten in den folgenden Jahren die Emp-findung, dass dies „für Oberschlesien förderlicher war“ als

Karte aus: Walter Ziegler (Hg.), Die Vertriebenen vor der Vertreibung. Die Heimatländer der deutschen Vertriebenen im 19. und 20. Jahrhundert. Strukturen, Entwicklun-

gen, Erfahrung, 2 Bde., München 1999, Bd. 2, S. 706 sowie Bd. 1, S. 312.

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195 Ebd.196 „Oberschlesien ein Teil Schlesiens oder Deutschlands?“. Schreiben von Otto Ulitz an Walter Rinke, 6. November 1953. Sonderdruck aus

„Unser Oberschlesien“, Nr. 12/1953.197 Stickler, „Ostdeutsch heißt gesamtdeutsch“, S. 45. Bei der Konstituierung eines Landesverbandes Bayern der LdO bekannten sich etwa

der Fürst Henckel von Donnersmarck, die Grafen Kraft und viele andere prominente Oberschlesier zur LdO. Fritz Hollunder, DieLandsmannschaft der Oberschlesier. Entstehung und Entwicklung, S. 5.

198 Bauer, Flüchtlinge, S. 307.199 Wotzlaw, Antek und Franzek; Zeitzeugengespräch mit Gertrud Müller von der LdO München am 27. Juli 2008.200 Von Richthofen, Schlesien, S. 24. Zur Tradition wurden auch gemeinsame Veranstaltungen von LS und LdO zur Erinnerung an die

Abstimmung über die Zugehörigkeit Oberschlesiens 1921. Vgl. Helmut Meyer, Chronik der Landsmannschaft der Oberschlesier, S. 77.201 Czaja, Unterwegs, S. 332; Hupka, Unruhiges Gewissen, S. 156.202 Czaja, Unterwegs, S. 333.

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vorher, „da wir noch unter Breslau standen“, von wo„Oberschlesien nie verstanden worden“ sei; und daherwollten die in der LdO-Aktiven „auch später wieder einmaleine selbständige oberschlesische Verwaltung haben“.195

Zu den historischen Unterschieden trat 1945 nochein weiterer hinzu:

Aus Niederschlesien war die Bevölkerung so gut wievollständig vertrieben worden, in Oberschlesien da-gegen konnte an die eine Million Menschen, von War-schau als nur oberflächlich germanisierte ethnischePolen reklamiert, in der Heimat bleiben.

1953 warb Otto Ulitz, der Vorsitzende der LdO, bei derLandsmannschaft Schlesien ferner mit dem bemerkenswer-ten Argument um Verständnis, Oberschlesien habe zusam-men mit Ostpreußen während des Zweiten Weltkrieges„von vornherein eine Sonderstellung in dem Sinne einge-nommen, dass Großbritannien und Amerika mit ihrer Zu-teilung an Polen einverstanden“ gewesen seien. Dieses Ein-verständnis hätten sie auch auf den Außenministerkonfe-renzen in Moskau und London 1947 erneuert. Ostpreußenund Oberschlesien würden folglich „die Brennpunkte desKampfes des gesamten deutschen Volkes um die Rückge-winnung der Gebiete jenseits der Oder/Neiße“; deshalbmüssten auch die Oberschlesier „selbst ihre Stimme“ erhe-ben.196

Dass es zur Gründung einer eigenen LandsmannschaftOberschlesien kam, lag aber laut Stickler nicht nur ander Möglichkeit, die bestehenden Divergenzen zwischenbeiden Teilen der Region zu instrumentalisieren, son-dern „möglicherweise“ auch an „Sonderinteressen ver-triebener oberschlesischer Industrieller“197 sowie desersten Bundesvertriebenenministers und CDU-Politi-kers Hans Lukaschek.

Während der in Breslau geborene Katholik Lukaschek, vor1933 Oberpräsident der preußischen Provinz Oberschle-sien, in einer christdemokratisch ausgerichteten LdO fastnahtlos an die oberschlesische Zentrumstradition anknüp-

fen konnte, war die Landsmannschaft Schlesien ziemlichstark von Sozialdemokraten geprägt. Dies zeigte sich nichtzuletzt an einer Reihe ihrer Führungspersönlichkeiten wieHupka oder dessen Vorgänger im Vorsitz des Schlesierver-bandes Bayern, Hans Menzel (geboren 1887 im schlesischenWinzig).198 Eine gewisse, wenn auch schwer zu bestimmen-de Rolle für den Konflikt spielte vielleicht auch das sozialeGefälle zwischen „einfacheren“ Oberschlesiern und „bes-seren“, sich teils eher in der Landsmannschaft Schlesiensammelnden „Ober-Oberschlesiern“, die auf die „Antek-und Franzek-Fraktion“ herunterblickten (Antek und Fran-zek sind oberschlesische Originale und Gegenstand zahllo-ser Witze und Anekdoten, die zumeist auf die mangelhaftenDeutschkenntnisse der beiden Figuren abzielen oder ein-fach eine herablassende Haltung gegen vermeintlich „unzi-vilisiertere“, oft wasserpolnisch sprechende Oberschlesierzum Ausdruck bringen).199

Zwar kam es später durchaus zu Kooperationenzwischen beiden Landsmannschaften etwa im „KulturwerkSchlesien“ oder Mitte der sechziger Jahre „in einer beson-deren Arbeitsgemeinschaft der beiden schlesischen Lands-mannschaften“200 in Bayern, doch blieben auch mancheAnimositäten. Laut den Erinnerungen des OberschlesiersCzaja etwa stimmte nicht, was der Schlesier Hupka in sei-nen Memoiren geschrieben hatte: Dass nämlich Czajas er-folgreiche Bewerbung um den Vorsitz des Bundes der Ver-triebenen (BdV) 1970 im Kern die Kandidatur eines Ober-schlesiers gegen den Präsidenten der Schlesischen Landes-versammlung, Clemens Riedel, gewesen sei. Nur einigeschlesische Delegierte, so Czaja, hätten erklärt, „sie könn-ten den Oberschlesier nicht wählen“; vielmehr sei der„brave“ Mittelständler Riedel, wie Czaja CDU-Mitglied,politisch schwankend gewesen und habe sich z. B. auch beider Abstimmung über Moskauer und Warschauer Vertragim Bundestag enthalten,201 statt mit Nein zu votieren. DieGegenstimmen gegen ihn selbst, so Czaja, seien jedenfallsnicht nur „von den schlesischen Delegierten“ gekommen,sondern „auch von anderer Seite“.202

Wenngleich es gewiss schwerwiegende Gründe für denoberschlesischen Sonderweg gab, bleibt festzuhalten,

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203 Während Niedersachsen insgesamt die meisten Schlesier (übrigens auch die meisten Ostpreußen, Ostbrandenburger, Danziger undVolksdeutschen aus Polen) aufgenommen hatte, lag Bayern bei den Vertriebenen aus dem Sudetenland, Jugoslawien, Rumänien sowie denbaltischen Ländern (einschließlich Memelland) sowie Russland vorn; vgl. Ziegler, Die Vertriebenen vor der Vertreibung, S. 7.

204 Zu den beruflichen Integrationsproblemen der oberschlesischen und auch der (allerdings weniger zahlreichen) niederschlesischenBergarbeiter in Bayern vgl. Greim, In einer neuen Heimat, S. 37, 247.

205 Steinert, Vertriebenenverbände in Nordrhein-Westfalen, S. 140.206 Stickler, „Ostdeutsch heißt gesamtdeutsch“, S. 146.207 Nach Zahlen bei Steinert (Vertriebenenverbände, S. 140) für das Jahr 1954 hatte die LS sogar nur doppelt so viele Mitglieder wie die LdO,

obwohl es fast viermal so viele Niederschlesier in der Bundesrepublik gab. Noch deutlicher wird der Unterschied im Organisationsgrad,wenn man berücksichtigt, dass eine nicht ganz unerhebliche Minderheit der Oberschlesier nicht der LdO, sondern der LS angehörte. Zuden Zahlen vgl. auch von Richthofen, Schlesien, S. 9.

208 Vgl. etwa Bayerisches Statistisches Landesamt (Hg.), Amtliches Gemeindeverzeichnis für Bayern. Wohnbevölkerung nach der Volkszäh-lung vom 24.10.1946, in: Beiträge zur Statistik Bayerns, Heft 141, München 1948.

209 Falkert, Die Integration von Flüchtlingen in Weiden, S. 73.210 Landkreis Bayreuth (Hg.), Dokumentation der wirtschaftlichen Aufbauleistung, S. 50. Auch eine Statistik der oberfränkischen Stadt

Marktredwitz im August 1945 verzeichnet ein ähnlich starkes Übergewicht der Flüchtlinge aus „Niederschlesien“ (2.241) gegenüber jenenaus „Oberschlesien“ (997). Landkreis Wunsiedel (Hg.), Die Aufbauleistungen der Heimatvertriebenen, S. 46.

211 In der Legislaturperiode von 1958 bis 1962 etwa saßen für den BHE vier (Nieder-)Schlesier und drei Oberschlesier im Landtag, für dieSPD jeweils zwei aus beiden Regionen (die beiden Breslauer Martin Hirsch und Karl Köglsberger sowie die Oberschlesier Franz Zdralekund Waldemar Kluge, wobei letzterer erst 1962 vom BHE übertrat), für die CSU keiner, zur FDP stieß ebenfalls erst 1962 der BreslauerWilly Reichstein vom BHE. Landtagsamt (Hg), Handbuch des Bayerischen Landtags. 4. Wahlperiode. 1958, München 1959, S. 154, 201,262, sowie:http://www.bayern.landtag.de/cps/rde/xchg/www/x//www/abgeordnete_2614.htm/papp/Abgeordnete_ab1946/http://livesrv.bayern.landtag.de/lebenslauf_ehemalige/lebenslauf_555600003167.html [Stand: 04. 05. 2009].

212 Dokumentation der Vertreibung, S. 58 E.213 Von der Anfang 1945 auf ca. 4,7 Millionen Menschen geschätzten deutschen Bevölkerung (Gesamt-)Schlesiens flohen ca. 1,6 Millionen in

das Gebiet der böhmischen Länder, in die alten Reichsgebiete (neben Bayern nach Sachsen und Thüringen) 1,6 Millionen. 1,5 Millionenblieben zurück oder wurden unterwegs „überrollt“. Ebd., S. 59 E.

dass die Autonomie der LdO für die Schlesier einenkräftigen Aderlass bedeutete.

Man bedenke nur, dass 1950 über ein Viertel der in dieWestzonen/Bundesrepublik gekommenen zwei MillionenSchlesier aus Oberschlesien (ohne Ostober- und Sudeten-schlesien) stammte.203 Zwei Drittel davon siedelten sich baldin der Hoffnung auf einen Arbeitsplatz im Ruhrgebiet inNordrhein-Westfalen an.204 In den regionalen Mitgliedszah-len der beiden Landsmannschaften spiegelte sich das inso-fern wieder, als die Landsmannschaft Schlesien 1954 inNordrhein-Westfalen nur über 37.000 zahlende Mitgliederverfügte, die LdO dagegen über 85.674.205 Bundesweit be-zifferte man nach anderen Zahlen (von 1955) die Mitgliederder Landsmannschaft Schlesien auf 318.000, die der Ober-schlesier auf 100.000,206 was – bei aller Vorsicht gegenüberden Zahlen – auf einen deutlich höheren Organisationsgradder letzteren hindeutet.207

Folgen für Nieder- und Oberschlesierin Bayern

Das bayerische Größenverhältnis zwischen Nieder- undOberschlesiern lässt sich nur schätzen, da in den amtlichenStatistiken üblicherweise die früheren Bewohner von„Schlesien östlich der Lausitzer Neiße“208 zusammengefasstwurden. Nicht ganz repräsentativ sind vermutlich die Bei-

spiele von Weiden in der Oberpfalz oder Pegnitz in Ober-franken. In Weiden wurden im August 1945 über 2.600„Evakuierte und Flüchtlinge“ aus den Bezirken Breslau undLiegnitz registriert, dagegen nur 698 aus dem oberschlesi-schen Regierungsbezirk Oppeln,209 in Pegnitz kamen 75Prozent der 400 Schlesier aus nieder- und mittelschlesischenKreisen und Städten, dagegen nur ein Viertel aus Oberschle-sien.210 Ob aber auch landesweit wirklich nur etwa jedervierte bayerische Schlesier aus Oberschlesien stammte,scheint fraglich: erstens wegen des Eindrucks, der sich beieinem Blick auf die zwischen den Wahlperioden natürlichschwankenden Zahlen der Vertriebenenabgeordneten imBayerischen Landtag ergibt,211 wo jedenfalls kein großerzahlenmäßiger Unterschied bestand. Zweitens ist, selbstwenn man ein tendenziell höheres Aktivitätspotenzial derOberschlesier mit ins Kalkül zieht, zu berücksichtigen, dassgerade auch viele Oberschlesier aus dem westlich der Oder(und des Industriegebietes) gelegenen, erst spät von der Ro-ten Armee eroberten Teil der Provinz – „insgesamt mögenes 306.000 bis 400.000 Menschen gewesen sein“212 – überTroppau, Jägerndorf und Ziegenhals zunächst nach Böh-men und Mähren geflohen waren. Von dort gelangten siespäter oft nach Bayern, wohin etliche bereits auf direktemWege gekommen waren.213 Da es mithin wohl überwiegendOberschlesier aus den ländlichen Gegenden der Provinznach Bayern verschlagen hatte, dürfte die Gruppe von derspäteren Abwanderung ins Ruhrgebiet weniger betroffen

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214 Die Niederschlesier dagegen wurden durch die „Gewalt der Vertreibung“, wie es Alfred Karasek-Langer beschrieben hat, häufiger „in fastkeilförmiger Stoßrichtung von der Lausitz her über Sachsen, das Magdeburgische, Thüringen, Oberfranken und das Hannoversche bisnach Nordrhein-Westfalen“ gedrängt. Karasek-Langer, Volkstum im Umbruch, S. 655.

215 Laut Bauer, Flüchtlinge, S. 26 f., waren 1950 70,8 Prozent der 1,9 Millionen Vertriebenen katholischen, 27,9 Prozent evangelischenBekenntnisses. Von den 1.330.000 Millionen Katholiken waren allein 900.000 sudetendeutscher Abstammung.

216 So heißt es im Text der Urkunde, mit der Bayern 1978 die Patenschaft für die Ostpreußen übernahm. Die Urkunde ist abgedruckt in:Ordensschild und Rautenbanner, o. S.

217 Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hg.), In der Obhut Bayerns, S. 7, 10.218 Ebd. S. 124, 78 f., 158, 160 f. Außerdem wird noch die 1958 begründete Patenschaft der Stadt Alzenau über die Gemeinschaft der im Bun-

desgebiet lebenden Mitglieder der beskidendeutschen Gemeinde Alzen genannt, deren Gründer aus dem Untermaingebiet gestammt hat-ten. Der Ort hatte bis zum Ersten Weltkrieg zum österreichischen Schlesien gehört, dann zum neuen polnischen Staat (ebd., S. 40 f.).

219 Ebd., S. 74.

Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertr iebenengruppen

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gewesen sein.214 Andererseits legt ein Blick auf die konfes-sionellen Verhältnisse der nach Bayern gekommenen Ver-triebenen die Einschätzung nahe, dass der überwiegendeTeil der 550.000 evangelischen Flüchtlinge im Freistaat ausNiederschlesien stammte.215

Doch selbst wenn die oberschlesische Gruppe inBayern ein Stück kleiner war als die niederschlesische, istevident, wie sich durch das schlesische Schisma künftig derAbstand zwischen der größten, sudetendeutschen Vertrie-benengruppe und der zweitgrößten, (nieder-)schlesischenund vor allem auch zwischen ihren Landsmannschaftenmerklich vergrößerte.

Künftig gab es demnach nicht mehr eine große sude-tendeutsche, eine immerhin halb so große schlesischeund viele andere Vertriebenengruppen, sondern sozu-sagen nur noch eine sehr große sudetendeutsche unddaneben viele, viele kleinere, unübersichtlich viele,unter denen die (Nieder-)Schlesier und die Oberschle-sier lediglich die zahlenmäßig stärksten waren.

Patenschaften

In dieser Konstellation verstärkte sich die Wirkung einesGrundtatbestandes, an dem kein Vergleich von Schlesiernund Sudetendeutschen in Bayern vorbeikommt: WährendBayern zum Hauptaufnahmegebiet und Patenland der ver-triebenen Sudetendeutschen wurde, war die Entwicklungbei den Schlesiern komplizierter, weil sie nicht nur einen,sondern gleich zwei verschiedene Paten außerhalb Bayernshatten. Neben der niedersächsischen Schirmherrschaft überdie Schlesier bestand seit 1964 auch noch eine Patenschaftder Regierung von Nordrhein-Westfalen für die Ober-schlesier.

Für die bayerischen Ostpreußen ergab sich dage-gen der Glücksfall, dass ausgerechnet ihre Landsmannschaftebenfalls im Freistaat Bayern einen Schirmherrn fand. Diebei der Patenschaftsübernahme 1978 beschworenen „jahr-hundertealten historischen und kulturellen Bindungen“zwischen Bayern (tatsächlich vor allem Franken) und Ost-preußen, die in der Geschichte des Deutschen Ordens und

der Hohenzollern-Dynastie wurzeln, hatten für die wirt-schaftlich-soziale Integration im Freistaat nach 1945 aberebenso wenig Bedeutung gewonnen wie die Tatsache, dassfür die von russischen Armeen eingenommene Provinz imOsten während des Ersten Weltkrieges (1915) sich in Bay-ern eine „Ostpreußenhilfe“ gegründet hatte, der „ältestelandsmannschaftliche Zusammenschluss von ostdeutschenBürgern in Bayern“.216

Wichtiger als solch symbolische Bezugspunkte wares, wie dicht das Netz lokaler Patenschaften geknüpft wur-de, die aus der Schirmherrschaft des Landes erwuchsen. Alsaber Bayern dieses Amt für die Ostpreußen übernahm, wardie große Zeit der west-ostdeutschen Obhutsverhältnisse,die von den frühen fünfziger bis in die sechziger Jahregedauert hatte, lange vorbei.

So ist auch nach 1978 keine einzige Patenschaft einerbayerischen Kommune über einen ostpreußischenStadt- oder Landkreis mehr entstanden.

Die offizielle Publikation zu dem Thema, ein 1989 vomStaatsministerium für Arbeit und Sozialordnung herausge-gebenes Verzeichnis sämtlicher „Sudeten- und ostdeutschenPatenschaften im Freistaat Bayern“, nennt insgesamt 97 sol-cher kommunaler Obhutsverhältnisse,217 über 90 Prozentdavon mit sudetendeutschem Bezug.

Der „fünfte Stamm“ ist hier vor allem durch dieSüdostdeutschen vertreten. So übernahm die Stadt Ingol-stadt 1987 über die 10.000 Schwaben aus dem rumänischenTeil des Banats in Bayern und deren Landsmannschaft diePatenschaft, die Stadt Donauwörth 1980 über den Heimat-kreis Lovrin (ebenfalls im Banat gelegen), weil die dort Ver-triebenen im 18. Jahrhundert von Donauwörth aus auf den„Ulmer Schachteln“ die Donau hinuntergefahren waren,und schließlich 1973 die Stadt Moosburg an der Isar überdie Gemeinde Hodschag in der (jugoslawischen) Batschka,nachdem die von dort Stammenden vorher schon jahrelangihre Treffen in Moosburg abgehalten hatten.218

Hinzu kommt die 1985 – nach „über drei Jahrzehn-ten freundschaftlicher Beziehungen“219 – urkundlich besie-gelte „Partnerschaft“ der mittelfränkischen Stadt Dinkels-

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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertr iebenengruppen

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220 Bericht über die Feier zum vierzigjährigen Bestehen der Gedenkstätte, in: Siebenbürgische Zeitung, v. 15. Juni 2007, S. 9.221 Ebd., S. 8.

bühl mit der Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen.Deren Patenland ist zwar Nordrhein-Westfalen, doch wa-ren die Sachsen seit 1951 zu ihrem großen Pfingsttreffen inDinkelsbühl zusammen gekommen, wo allein 150 sieben-bürgische Familien eine neue Heimat gefunden hatten undwo 1967 eine eindrucksvolle Gedenkstätte vor der Stadt-mauer für die „hinter Stacheldraht“, „auf der Flucht“ und„in der Heimat“ ums Leben gekommenen „Söhne undTöchter Siebenbürgens“ errichtet worden war.220 2007 gingDinkelsbühl schließlich auch eine Kommunalpartnerschaftmit der siebenbürgischen Fachwerkstadt Schäßburg ein.221

Die größte Gruppe des „fünften Stammes“, die Schle-sier, sind in dem Verzeichnis des Arbeitsministeriumsnur ein einziges Mal vertreten, und zwar mit der 1951übernommenen Patenschaft der Stadt Fürstenfeldbrucküber die Stadt Parchwitz in Niederschlesien.

Ein von dort vertriebener Fürstenfeldbrucker Stadtrat hattedie Initiative ergriffen. Doch kam es nach der 700-Jahr-Feierder Stadt Parchwitz 1955 in Oberbayern nur noch zu spo-radischen Aktivitäten, weil „die meisten Parchwitzer in dennördlichen Bundesländern leben“. In den achtziger Jahren

Karte aus: In der Obhut Bayerns. Sudeten- und Ostdeutsche Patenschaften im Freistaat Bayern, hg. v. Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Bayreuth

1989, S. 237.

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Das Bayerische Kabinett um Ministerpräsident Alfons Goppel (Bildmitte), rechts außen Arbeitsminister Fritz Pirkl, 5. Dezember 1966

Foto: ullstein bild

222 Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hg.), In der Obhut Bayerns, S. 94.223 Helmut Meyer, Chronik, S. 143, hatte zum Stichtag 30. September 1977 neben Fürth/Cosel noch zwei weitere oberschlesische Patenschaf-

ten in Bayern genannt. Für Informationen zum Patenschaftsverhältnis Fürth-Cosel danke ich Ronald Langer vom Stadtarchiv Fürth (Mailvom 25. Juni 2009).

224 Kittel, Vertreibung der Vertriebenen?, S. 99.225 Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hg.), In der Obhut Bayerns, S. 9, S. 27.

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schlief die Beziehung ganz ein, führte aber dennoch dazu,dass eine von Fürstenfeldbruck angestrebte Partnerschaftmit einer polnischen Stadt dort mit dem Hinweis abgelehntwurde, dass Kontakte mit bundesdeutschen Städten, dieeine „von den ‚Vertriebenen‘-Verbänden geprägte, soge-nannte Partnerschaft ausüben, aus Prinzip nicht in Erwä-gung gezogen werden“.222 Auch Versuche, eine 1953 von derStadt Fürth für Cosel/Oberschlesien übernommene, aberzwischenzeitlich ruhende Patenschaft wiederzubeleben,waren in den achtziger Jahren nicht erfolgreich.223

Nun muss man die kommunalen Obhutsverhältnisseund die durch sie angestoßenen vielfältigen Aktivitäten,anders als der berühmt-berüchtigte kommunistische„Vertriebenenfresser“ Georg Herde, nicht für„wirkungsvoller“ erachten als sämtliche BdV-Groß-veranstaltungen zusammen.224

Doch dass der Teppich lokal-politischer Beziehungen in dieFläche des Freistaats hinein im sudetendeutschen Fall sodicht geknüpft war, im schlesisch-bayerischen Fall dagegenfast nicht existierte, konnte für die öffentliche Präsenz derbeiden Vertriebenengruppen nicht ohne Folgen bleiben.Die bisher aufgezeigten Unterschiede zwischen den zurSelbsthilfe historisch besonders disponierten Sudetendeut-schen und den aus bayerischer Sicht noch dazu deutlichfremderen preußischen Altreichsdeutschen, die durch dasschlesische Schisma ihre Kraft weiter schwächten, erfuhrenso eine wesentliche Vertiefung. In diesem Zusammenhangist auch ein Blick über Bayern hinaus aufschlussreich: Vonden rund 400 lokalen Patenschaften auf Bundesebene warenallein die Sudetendeutschen an 160 beteiligt,225 was einerQuote von 40 Prozent entspricht; und dies, obwohl dieDeutschböhmen nur etwa ein Viertel aller in den WestenDeutschlands gekommenen Vertriebenen ausmachten.

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226 So der im sudetendeutschen Plan geborene Jurist Fritz Wittmann, 1969 bis 1971 zuständiger Referent im Bayerischen Arbeitsministerium,dann Nachrücker in den Bundestag auf der CSU-Liste, der zu den treibenden Kräften des Projekts zählte. Fritz Wittmann, Die Sudeten-deutsche Stiftung, in: Bayerland 72 (1970), S. 30.

227 Pohl, Zwischen Integration, S. 456.228 Ebd., S. 463.229 Eine aktuelle Liste der Heimatstuben hat die Münchner Landesstelle für die nicht-staatlichen Museen in Bayern 2009 erstellt und uns

freundlicherweise Einsicht gegeben.230 So heißt es in der Errichtungsurkunde. Zit. n. Pohl, Zwischen Integration, S. 434.231 Ebd., S. 440.232 Ebd., S. 439 f.

Entwicklung ostdeutscherKulturarbeit bis heute

Von den landespatenschaftlichen Strukturen stark be-einflusst, entwickelten sich in der Folgezeit die politi-schen und kulturellen Zentren der Sudetendeutschenund der Schlesier wie auch der übrigen Vertriebenen-gruppen meist dort, wo die Masse der Betroffenen auf-genommen worden war.

Die bis heute relativ starke Wahrnehmung der sudetendeut-schen Volksgruppe in Bayern ist demnach auch die logischeFolge ihrer festen institutionellen Verankerung im kulturel-len Gefüge des Patenlandes, die in den siebziger und acht-ziger Jahren ausgebaut werden konnte. Die von der SL 1967geforderte Konkretisierung der Schirmherrschaft durchGründung einer Stiftung, ähnlich der, die das Land Schles-wig-Holstein für die Pommern 1966 errichtet hatte, führte1970 zum Erfolg. Auf dem Grundstock von Geldern desWestvermögens ehemaliger sudetendeutscher Kreditgenos-senschaften wurde die Sudetendeutsche Stiftung gegründet,die ein „unabhängiges Instrument der Schirmherrschaft zurWahrung und Förderung sudetendeutscher Belange, vorallem auch bei der Erhaltung des deutschen Kulturgutes derböhmisch-mährisch-schlesischen Länder“, sein sollte.226

Das enge Verhältnis der Stiftung zur bayerischenStaatsmacht dokumentiert die Präsenz des Minister-präsidenten, des Arbeitsministers und von fünf Abge-ordneten der Landtagsfraktionen im Stiftungsrat.227

Wenige Jahre nach Gründung der Stiftung schob Arbeits-minister Fritz Pirkl dann das große Projekt eines „Sudeten-deutschen Zentrums“ in München an, das „zum geistigenKristallisationspunkt und räumlichen Mittelpunkt derSudetendeutschen Volksgruppe werden“ und zukunftsori-entiert der „Gewinnung der nächsten Generation der Sude-tendeutschen“ dienen sollte.228 1985 wurde die Einrichtungunter dem Namen „Sudetendeutsches Haus“ eröffnet. Ne-ben diesem Münchner Zentrum (als Sitz der Landsmann-schaft, des Sudetendeutschen Rates und der Sudetendeut-

schen Stiftung, des Adalbert Stifter Vereins und des Colle-gium Carolinum, der Sudetendeutschen Akademie, des Su-detendeutschen Archivs und des Heimatpflegers) entstan-den regionale museale Schwerpunkte in Marktredwitz(Egerland-Kulturhaus), Kaufbeuren-Neugablonz (Iserge-birgsmuseum) oder Passau (Böhmerwaldmuseum), nicht zuvergessen das vom Bezirk Oberpfalz getragene Sudeten-deutsche Musikinstitut in Regensburg sowie eine Füllelokaler Heimatstuben. Über 80 Prozent aller in Bayernexistierenden Einrichtungen dieser Art (insgesamt 88 anno2009) haben einen sudetendeutschen Bezug.229

Ein besonderes Juwel ist das 1970 eröffnete „Mu-seum Ostdeutsche Galerie“ in Regensburg, getragen voneiner durch den Bund, die Länder und die Stadt gegründe-ten Stiftung. Die Ausstellung konnte auf den Sammlungendes Adalbert-Stifter-Vereins und der 1948 am Neckar vonSudetendeutschen und Schlesiern gemeinsam ins Lebengerufenen „Künstlergilde Eßlingen“ aufbauen. Sie sollte„das Erbe der ostdeutschen Zentren bewahren und denBeitrag des Ostdeutschtums zu moderner Kunstentwick-lung in repräsentativer Schau der Öffentlichkeit zugänglichmachen“.230 Die Benennung der Einrichtung sorgte aller-dings für einen bemerkenswerten Zwist. Der Adalbert Stif-ter Verein hatte einen Beschluss gefasst, wonach sich diePionierleistung der Sudetendeutschen Galerie auch in demNamen des neuen Museums spiegeln müsse, und vorge-schlagen, das Kind „Ostdeutsche Galerie – SudetendeutscheGalerie“ zu taufen.

Der Bundeskulturreferent der SL fürchtete, dassein nominelles Aufgehen der Sudetendeutschen Galerie ineiner „allgemeinen Ostdeutschen Galerie die sudetendeut-sche kulturpolitische Position und damit das heimatpoliti-sche Anliegen schwächen“ würde. Andere gaben zu beden-ken, ob sich der Begriff „sudetendeutsch“ überhaupt alsUnterbegriff von „ostdeutsch“ verstehen lasse.231 Die Kultur-referenten der Landesflüchtlingsverwaltungen entschiedensich aber im Vorgriff auf die Ergebnisse der damals geradeentwickelten „Neuen Ostpolitik“ für den Begriff „Ostdeut-sche Galerie“. Sie betonten, mit „ostdeutsch“ ausdrücklichnur einen kulturellen Bezug zu meinen, „keineswegs“ aber„territoriale Ansprüche“ dokumentieren zu wollen.232

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233 Bahlcke, Schlesien, S. 173; Hupka, Unruhiges Gewissen, S. 416.234 Schmilewski, Entwicklung und Tätigkeit der Stiftung Kulturwerk Schlesien, S. 74.235 Helmut Meyer, Chronik der Landsmannschaft der Oberschlesier, S. 56.236 Vgl. Kessler, Ostdeutsches Kulturgut, sowie die Aktivitäten des Schlesischen Museums zu Görlitz, das ein Projekt „Schlesische

Heimatstuben in der Bundesrepublik Deutschland“ durchführt.

Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertr iebenengruppen

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Das Oberhaus Museum in Passau: Außenansicht von Süden; S. 45 Wappenhalterin (Skulptur um 1500)

Fotos: Oberhaus Museum Passau

Während die Sudetendeutschen in München und Bay-ern, von ihrem Patenland notfalls auch gegen den poli-tischen Zeitgeist unterstützt, an ihren kulturellen Zen-tren arbeiten konnten, hatten die Schlesier in den frü-hen siebziger und nochmals in den neunziger JahrenStreit mit ihrem rot bzw. rot-grün regierten PatenlandNiedersachsen.233

Auch deshalb liegen ihre Einrichtungen heute weit verstreutim ganzen Bundesgebiet: von dem Anfang der achtzigerJahre eingeweihten Haus Schlesien in Königswinter (beiBonn) über das nach der Revolution von 1989/90 möglichwerdende Landesmuseum in Görlitz an der Neiße, imdeutsch gebliebenen Westzipfel Schlesiens, der heute zuSachsen gehört, bis hin zum Kulturwerk Schlesien mit Sitzin Würzburg234 – ganz abgesehen davon, dass die Ober-schlesier in Ratingen-Hösel (seit 1983) selbstverständlich

ihr eigenes Kulturzentrum haben, an dessen Gestaltung bei-spielsweise auch die mittelfränkische LdO-JugendgruppeSchwabach mittels Anfertigung von Ortswappen für das„Wappenzimmer“ beteiligt war.235 In Bayern sind dagegenlediglich einige kleinere Heimatsammlungen mit Schlesien-Bezug entstanden, etwa die Schlesischen Heimatstuben imStadtmuseum Rehau, die Heimatstube Schlesien in Vilsbi-burg, die Schlesierstube im niederbayerischen Massing, einZimmer im Waldnaabtal-Museum in Windischeschenbachoder die (anno 2008 aber nicht zugängliche) Sammlung derLS in Herzogenaurach.236

Das Kulturwerk Schlesien (KWS) ist die wichtigstekulturelle Einrichtung für die Schlesier in Bayern.

1952 gegründet, gehört die Stiftung KWS neben dem Nord-ostdeutschen und Südostdeutschen Kulturwerk und dem

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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertr iebenengruppen

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237 Schmilewski, Entwicklung und Tätigkeit der Stiftung Kulturwerk Schlesien, S. 78.238 Festschrift. Bekenntnis zu Schlesien, S. 8.239 Kossert, Kalte Heimat, S. 260.

sudetendeutschen Adalbert-Stifter-Verein zu den vier „gro-ßen“ ostdeutschen Kulturwerken. Ihren Sitz hatte die Stif-tung Kulturwerk Schlesien zunächst in Neumarkt in derOberpfalz, dem Wohnort ihres ersten Leiters (bis 1965), desaus Oberschlesien stammenden damaligen bayerischenBezirksschulrats Karl Schodrok. 1957 wurde der Sitz desKWS in das zentraler gelegene Würzburg verlegt. Danachdurchlebte es eine bewegte, von Rückschlägen nicht freieGeschichte.

So drängte das für die Förderung zuständige Bun-desvertriebenenministerium schon 1964 auf die Einstellungder „Schriftenreihe Kulturwerk Schlesien“, weil nicht mehrso viel Geld zur Verfügung stehe. Auf der KWS-Jahres-hauptversammlung im Juni 1964 wurde daraufhin geäußert:„Wenn man [...] z.B. vergleicht, welche große SummenBayern für sein Patenkind Sudetenland aufwendet, könnteman [im Kulturwerk Schlesien, M.K.] mutlos werden“.237

Allerdings half der Freistaat Bayern auch den Schlesiern.

Nach der Westvermögenszuführungsverordnung von 1974wurde das KWS durch Genehmigung des BayerischenStaatsministeriums für Unterricht und Kultus (vom No-vember 1975) als öffentliche Stiftung bürgerlichen Rechtserrichtet.

Auch ermöglichte der Freistaat den Schlesiern in Nürn-berg seit 1991 die Ausrichtung des Schlesiertages, als dieLandsmannschaft diesen wegen des Konflikts mit derniedersächsischen Landesregierung nicht mehr inHannover durchführen wollte oder konnte.238

In der Ära Kohl stiegen zudem die Bundeszuwendungenfür das KWS bis Ende der neunziger Jahre auf 670.000 Markjährlich an, dann aber erfolgte unter der rot-grünen Bundes-regierung die Einstellung der institutionellen Förderung,womit zwei Drittel der jährlichen Einnahmen wegbrachen.Die Ausstellungstätigkeiten mussten stark eingeschränkt,Studientagungen für Studenten ganz aufgegeben werden.Von einst acht Mitarbeitern blieben noch zwei. Der Ein-bruch war auch durch die Anstrengungen des Ende der sieb-ziger Jahre gegründeten, stark wissenschafts- und medizin-geschichtlich ausgerichteten Gerhard-Möbus-Instituts fürSchlesienforschung an der Universität Würzburg nicht zukompensieren, mit dem das KWS stets kooperierte.

So stellt sich die Lage für die Kulturarbeit der Schlesier,den größten Teil des „fünften Stammes“, heute nichteben befriedigend dar. Vor diesem Hintergrund kommteinem – für Nicht-Eingeweihte wohl zunächst überra-schenden – „schlesischen Erinnerungsort“ in Bayerneinige symbolische Bedeutung zu: der jährlichenSchlesierwallfahrt nach Kloster Andechs.

Ihr historischer Bezugspunkt ist die dem Geschlecht derGrafen von Andechs entstammende Gemahlin des Piasten-herzogs Heinrich I. von Breslau, die Heilige Hedwig. Siewar im Mittelalter zusammen mit bayerischen Bauern,Handwerkern und Mönchen nach Schlesien gezogen. 1929hatte der Breslauer Kardinal Bertram dem Benediktiner-kloster Andechs eine Schädelreliquie der als Landespatro-nin Schlesiens hoch verehrten Fürstin vermacht. Nach 1945wurde Andechs vor allem für die vertriebenen katholischenSchlesier in Bayern zu einem Wallfahrtsort, an dem seit der700-Jahr-Feier der Heiligsprechung auch eine eigene Hed-wigskapelle zu finden ist.239

Aber nicht nur die verewigte Heilige, sondern auchlebende Menschen konnten zum Symbol der Heimat wer-

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240 Feiber, Zum Heimatbegriff, S. 56 f.241 Hultsch, Schlesische Glocken.242 Der zentrale Ort der Ostpreußen in der Bundesrepublik ist aber Lüneburg, wo neben dem Ostpreußischen Landesmuseum auch das

Nordostdeutsche Kulturwerk seinen Sitz hat.

Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertr iebenengruppen

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den. Als etwa eine katholische Niederschlesierin auf einerFlüchtlingswallfahrt in Altötting einige Jahre nach derVertreibung „ihren“ alten Laubaner Pfarrer Pikorz erkann-te, war „sofort […] Heimat da“ für sie „in dieser großenMenschenmenge“.240 Zu den zwar nicht sicht-, aber hörba-ren Erinnerungsorten kleinerer Art zählen zudem einigeDutzend Glocken aus evangelischen Kirchen Schlesiens, diein den Kriegswirren nach Bayern gelangten und heute dortin lutherischen Gotteshäusern wieder läuten.241

Was die anderen, kleineren Vertriebenengruppenbetrifft, so gehören zu deren sichtbarsten Zeichen –abgesehen von einer Reihe immer noch vielfältigsterlokaler Aktivitäten – zunächst das stattliche Ostpreu-ßische Kulturzentrum im mittelfränkischen Ellingensowie die – allerdings im Umbruch befindlichen –

Einrichtungen der Ost- und Westpreußenstiftung inOberschleißheim (eine Dauerausstellung in dem voreinigen Jahren vom Landkreis München übernomme-nen Gelände neben der Flugabteilung des DeutschenMuseums sowie eine Ost- und Westpreußenausstellungin der Obhut des Bayerischen Nationalmuseums imAlten Schloß Schleißheim).242

Über die sehr kleine Gruppe der Deutschen aus dem Bu-chenland in der heutigen Westukraine und in Nordrumäni-en übernahm der bayerische Regierungsbezirk Schwabenschon 1955 die Patenschaft. Er bezog sich dabei auf dieschwäbische Herkunft eines Teils der einst im 18. Jahrhun-dert von der Donaumonarchie ins Land geholten, nach demZweiten Weltkrieg teilweise wieder im bayerischen Schwa-ben angesiedelten Menschen. Wichtigstes Ergebnis der Be-

Der Ausstellungssaal „Begebenheiten und Gestalten“ im Schlesischen Museum Görlitz Foto: Udo Meinel, Berlin

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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertr iebenengruppen

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243 Zu nennen sind hier das Brauchtums- und Trachtenpuppenmuseum/Heimathaus der Banater Schwaben in Würzburg-Heidingsfeld, dieLovriner Stube in Donauwörth (ebenfalls mit Banater Bezug), die an einen ungarndeutschen Ort bei Fünfkirchen erinnernde MaischerHeimatecke in der landwirtschaftlichen Sammlung der Gemeinde Eching oder die (donauschwäbische) Weprowatzer Heimatstube inZirndorf. Gemischte Bestände haben das Heimatmuseum Geretsried (u. a. Donauschwaben, Siebenbürgen), das Karlsfelder Heimatmu-seum (u. a. Schlesien, Ostpreußen sowie südostdeutsche Gebiete), das Haus der Heimat in Landshut (u.a. Siebenbürger Sachsen) und dasAufbau-Museum im Haus der Heimat in Moosburg (Donauschwaben und Schlesien).

244 1950 war in Garching b. München die erste Ortsrandsiedlung der donauschwäbischen Dorfgemeinschaft entstanden, der bald weiterefolgten. Ausgangspunkt waren Flüchtlinge, die z. B. mit dem Bauerntreck aus Neu-Futok in der südlichen Batschka 1945 im LandkreisAltötting gelandet waren, vgl. Alfred Karasek-Langer, Volkstum im Umbruch, S. 626.

245 Das ist das Donauschwäbische Zentralmuseum in Ulm, wo auch der mit Mitteln aus dem § 96 des BVFG geförderte Kulturreferent für dieGeschichte der Südostdeutschen seinen Sitz hat.

246 So ist im ehemaligen Deutschordensschloss Horneck in Gundersheim am Neckar (in Baden-Württemberg leben nach Bayern die meistenSiebenbürger Sachsen) das „Heimathaus Siebenbürgen“ – mit Siebenbürgen-Institut und Archiv, Museum sowie Geschäftsstellen diverserKulturvereinigungen – eingerichtet worden, das als kulturelles und wissenschaftliches Zentrum der Sachsen gelten kann. Gündisch,Siebenbürgen, S. 242, 244.

247 Eine Gruppe dieser Nordsiebenbürger war im Treck 1944/45 in den westmittelfränkischen Raum von Rothenburg ob der Tauber gekom-men, wo sie zunächst in verschiedenen Dörfern der Gegend eine Unterkunft fanden und einige sogar später einen Bauernhof erhielten,vgl. Karasek-Langer, Volkstum im Umbruch, S. 627; Kossert, Kalte Heimat, S. 105. Aus der kleinen Landsmannschaft der SathmarerSchwaben hat sich 2004 auch noch eine eigenständige Heimatortsgemeinschaft der Oberwischauer e. V. herausentwickelt (BdV-Blick-punkt, Juni 2005, S. 10 f.). Der Sonderweg der vielfach erst nach 1990 ausgesiedelten Oberwischauer hat nicht zuletzt mit sozialen Unter-schieden zwischen den Oberwischauer Waldarbeitern und den oft gebildeteren, aber weitgehend magyarisierten Sathmarer Schwaben zutun. Johann Traxler: Leopold Traxler. Ein Mann der ersten Stunde, in: Wassertaler Heimatbote (1) vom 20. Dezember 2004, S. 19.

zirkspatenschaft war 1989 die Gründung eines Bukowina-Instituts in Augsburg, das an die Tradition der einst östlich-sten deutschsprachigen Universität in Czernowitz an-knüpft und 2003 vom Bayerischen Wissenschaftsministeri-um die Rechtsstellung eines An-Instituts der UniversitätAugsburg verliehen bekam.

Neben diesen auffälligeren, meist vom Freistaat Bayern(mit) bezuschussten Einrichtungen gibt es für andereGruppen des „fünften Stammes“ allenfalls kleinereHäuser bzw. Heimatstuben,243 oft aber gar keinebaulichen Kristallisationspunkte, sondern nur solcheorganisatorischer Art.

Hinsichtlich der Südostdeutschen wäre für die Vertriebenenaus Jugoslawien zunächst das 1998 eröffnete „Haus derDonauschwaben in Bayern“ in Haar bei München zu nen-nen,244 das ebenfalls durch eine Bezirkspatenschaft, nämlichdie Oberbayerns über die Donauschwaben (seit 1992), mitermöglicht wurde. Doch haben die Donauschwaben ihreigentliches kulturelles Zentrum245 ebenso wie die anderenSüdostdeutschen außerhalb des Freistaats,246 während siedort vor allem durch die kulturellen Aktivitäten der sehrstark ausdifferenzierten Landsmannschaften präsent sind.So engagiert sich die Landsmannschaft der Banater Schwa-ben für die 1944 erst zu einem kleinen Teil mit der zurück-weichenden Wehrmacht geflohenen, überwiegend erst inden neunziger Jahren ausgesiedelten Menschen aus demrumänisch-katholischen Teil des Banats, die Landsmann-schaft der ebenfalls katholischen Sathmarer Schwaben fürdie Sprachinsel in Nordwestrumänien,247 wo der Heimat-verlust ebenfalls in diesen zwei Phasen, aber in der Grö-ßenordnung der Abwanderung umgekehrt erfolgte, undschließlich als größter unter diesen kleineren Verbänden dieLandsmannschaft der Siebenbürger Sachsen, die traditionell(im Gegensatz zu den Banater und Sathmarer Schwaben)der protestantischen Kirche Augsburgischen Bekenntnissesangehören. Daneben sind als Glieder des bayerischen BdVheute noch die Karpatendeutsche Landsmannschaft derSlowakei und eine kleinere Landsmannschaft altreichsdeut-

Herzogin Hedwig, Aquarell vom Ende des 15. Jahrhunderts,

Burg Trausnitz, Landshut

Bild: Bayerische Schlösser- und Seenverwaltung

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248 Vgl. den Artikel von Ernst Schroeder im BdV-Blickpunkt, Juni 2006, S. 12, sowie den Beitrag von Friedrich Birkholz „Bayern und Pom-mern“, in: Landkreis Erding (Hg.), Flüchtlinge und Heimatvertriebene, S. 871. Hier erfährt man etwa, dass die große Glocke aus Stargardin Pommern, die im Krieg eingezogen worden war, nach 1945 in Nördlingen läutete. Das Gros der einschlägigen Museen/Bildungsein-richtungen für die Pommern befindet sich indes weit weg von Bayern in Lübeck/Travemünde und Greifswald. Allerdings hat der BezirkMittelfranken vor einigen Jahren seine ältere Verbindung mit der französischen Region Limousin zu einer tri-regionalen Partnerschaftunter Beteiligung der heutigen polnischen Woiwodschaft Pommern erweitert. In diesem Rahmen haben jüngst das Fränkische Freiland-museum in Bad Windsheim, eine Projektgruppe des Ansbacher Gymnasiums Carolinum sowie das Mittelpommersche Museum in Stolp/Słupsk eine Ausstellung zum Thema „Zwangsarbeit im ländlichen Franken 1939–1945“ organisiert.

249 Die 1998 noch als landsmannschaftliche Landesgruppen im BdV Bayern genannte Landsmannschaft Berlin-Mark Brandenburg sowie dieLandsmannschaften der Bessarabiendeutschen, der Dobrudscha- und Bulgariendeutschen und der Deutschen aus Polen (BayerischesStaatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Integration von Spätaussiedlern in Bayern. pdf-Datei. www.stmas.bayern.de/vertriebe-ne/aussiedler, (Stand: 4. Mai 2009), S. 54) haben ihre bayerischen Landesverbände zwischenzeitlich mangels Masse eingestellt. Grund-legend zur Geschichte vieler kleinerer Landsmannschaften: Kotzian, Die Umsiedler.

250 Vgl. etwa BdV-Blickpunkt, März 2009, S. 8, oder den Artikel von Nina Paulsen „Beckstein: Spätaussiedler Gewinn für Bayern. Landes-treffen der Deutschen aus Russland“, in: BdV-Blickpunkt, September 2008, S. 6–7.

Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertr iebenengruppen

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Titel der von russlanddeutschen Landsmannschaft heraus-

gegebenen Zeitung

scher Provenienz, die Pommer’sche, zu erwähnen, die gerneauf den im 12. Jahrhundert wirkenden PommernapostelBischof Otto von Bamberg verweist,248 sowie der Bund derDanziger, die Landsmannschaft der Deutschen aus Litauenund die Deutsch-Baltische Landsmannschaft.249

Von besonderer Bedeutung allein wegen der großenZahl der meist erst als Spätaussiedler seit den neunzigerJahren in den Freistaat gekommenen Menschen ist fer-ner die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland,

deren bayerische Landesgruppe indes bereits seit 1957besteht.

Der ähnlich wie die Siebenbürger Sachsen oder die BanaterSchwaben von einer überdurchschnittlich jungen Mit-gliederschaft geprägte Verband entwickelt vielfältige Akti-vitäten sozialer wie kultureller Art.250 Er ist nicht zuletzt imHaus der Heimat in Nürnberg sehr aktiv, dessen ErrichtungEnde der neunziger Jahre wesentlich auch mit der Heraus-forderung der Spätaussiedlerwelle aus Russland begründet

Aus Schlesien mitgebrachte Schlüssel, heute Exponate im Schlesi-

schen Museum Görlitz

Foto: Die Partner

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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertr iebenengruppen

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251 Zur Entstehungsgeschichte des Hauses, das auf eine Initiative des aus Pommern stammenden Nürnberger CSU-LandtagsabgeordnetenSieghard Rost zurückgeht, vgl. Haus der Heimat Nürnberg (Hg.), Ein Stück Heimat, S. 10 f.

252 Volk auf dem Weg 4 (2006), S. 20 ff.253 Volk auf dem Weg 5 (2006), S. 7.254 SZ v. 2. Oktober 1970, zit. n. Böhm, Weg und Ziel, S. 169.255 Pohl, Zwischen Integration, S. 443.256 Ebd., S. 443.

wurde.251 Ein Museum für russlanddeutsche Kulturge-schichte gibt es seit zehn Jahren in Detmold,252 einen akti-ven Förderverein seit 2006 in Augsburg,253 doch in Bayernsind die Russlanddeutschen, heute die nach den Schlesiernzweitgrößte Gruppe des „fünften Stammes“, in Form einesbaulichen oder institutionell geförderten Erinnerungsortesnoch nicht angekommen. Die soziale und wirtschaftlicheIntegration steht im Vordergrund.

Der „fünfte Stamm“ und das Haus desDeutschen Ostens in München

Gewiss kann man die Frage stellen, wie sichtbar die Einrich-tungen des „fünften Stammes“ bayernweit sind, was zumeinen mit ihrer teils schwierigen finanziellen und personel-len Situation zu tun hat, zum anderen mit der Tatsache, dassgesamtbayerische Wirkung im Freistaat offensichtlich nochimmer am ehesten von München aus erzielt wird – Ausnah-men wie die Ostdeutsche Galerie in Regensburg bestätigeneher die Regel.

Geht es um die Präsenz des „fünften Stammes“ in derbayerischen Erinnerungskultur, richtet sich der Blickdemnach vor allem auch auf das „Haus des DeutschenOstens“ (HDO) in München. Seine Eröffnung 1970

hatte Staatsminister Fritz Pirkl ausdrücklich mit „derFürsorge des Freistaates für seine bayerischen Mitbür-ger“ begründet, „die aus Ost- und Westpreußen, ausPommern, Schlesien, dem Sudetenland und den Län-dern Südosteuropas stammen“.254

Die Reihenfolge, in der Pirkl die Regionen nannte, ent-sprach tendenziell in etwa dem Maß, in dem sie der Fürsorgebedurften. Die Entstehungsgeschichte des HDO zeigte dieseinmal mehr. Denn eine frühe Initiative ging auch hier vonden Sudetendeutschen, vom Adalbert-Stifter-Verein aus,der schon 1951 einen Verein „Haus der vertriebenen Deut-schen“ angeregt hatte. An einem zentralen Ort, gedacht waran den Odeonsplatz 12 am Hofgarten, sollte nicht nur Ge-selligkeit gepflegt, sondern „vor allem die Kultur und dieGeschichte der aus Ost- und Südosteuropa vertriebenenDeutschen dokumentiert, repräsentiert, erinnert und er-forscht werden“.255

Da sich aber angesichts der prekären materiellen Lageder Flüchtlinge in den fünfziger Jahren die Meinungdurchsetzte, man brauche „kein Haus der Vertriebenen,sondern Häuser für die Vertriebenen“,256 kam erstwieder Mitte der sechziger Jahre Bewegung in dieDiskussion.

Lovis Corinth: Der Jochberg am Walchensee, 1924

Fotos: Kunstforum Ostdeutsche Galerie, Regensburg

Kunstforum Ostdeutsche Galerie

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257 Singbartl, In der Obhut, S. 55.258 So hieß es im § 2 der Verordnung über die Errichtung des HDO vom 2. April 1970, zit. n. Pohl, Zwischen Integration, S. 446. Zum Fol-

genden ebd., S. 447.259 Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hg.), In der Obhut Bayerns, S. 12.260 Singbartl, In der Obhut, S. 55.261 Kossert, Kalte Heimat, S. 342.262 Pohl, Zwischen Integration, S. 464.263 Ebd., S. 384. Bemerkenswert auch die Kritik daran, dass „Vertriebenenpolitiker“ in den fünfziger Jahren einen eigenen Sitz im BR-Rund-

funkrat „für die interessenpolitisch organisierten Vertriebenen“ durchsetzen konnten, „wodurch diese künstlich als gesellschaftlicheSondergruppe konserviert“ worden seien. Ebd., S. 167.

264 Pohl, Zwischen Integration, S. 475.

Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertr iebenengruppen

Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 0950

Die SPD hatte 1963 die Berücksichtigung der Vertreibungs-gebiete in einem damals geplanten „Haus der BayerischenGeschichte“ angeregt. Obwohl der Landtag daraufhin imDezember 1964 die Staatsregierung aufforderte, ein „Ost-deutsches Haus“ in München zu errichten, dauerte es auchwegen Rangeleien mit dem von einem sudetendeutschenSozialdemokraten (Walter Richter) geführten BdV-Landes-verband noch über ein halbes Jahrzehnt, ehe das HDO 1970im ehemaligen Benediktinerinnenkloster am Lilienberg na-he der Isar-Museumsinsel errichtet werden konnte. Es soll-te Begegnungsstätte sein, aber vor allem auch als „landes-weit tätiges Kulturinstitut“257 zentral die Aufgaben wahr-nehmen, „die dem Freistaat Bayern aus dem § 96 des Geset-zes über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flücht-linge […] für die kulturelle Förderung […] erwachsen“.258

Anders als schließlich realisiert hatte das Arbeitsministe-rium deshalb im HDO ursprünglich auch die in Münchenansässigen außeruniversitären Forschungseinrichtungenansiedeln wollen, die sich mit Ost- und Südosteuropa be-schäftigen.

Zwar ist das HDO, eine dem Ministerium nachge-ordnete Behörde, trotz erfolgreichen Wirkens vom Stellen-abbau in finanzpolitisch schwierigen Jahren nicht verschontund gerade in seiner Kulturarbeit beeinträchtigt worden,doch zum 1. Januar 2007 ist ein neuer Organisationserlassfür die Einrichtung in Kraft getreten und die Erhaltung desHDO als „Kultur- und Bildungseinrichtung“ bekräftigtworden. Seine Funktion als Begegnungszentrum für dieDeutschen aus dem Osten wird gewiss kaum in dem Maßeabnehmen, wie dies sympathisierende Pessimisten fürchtenund notorische Vertriebenengegner hoffen.

Selbst im Falle einer günstigen Entwicklung aber lautetjetzt, in der Phase des Übergangs von der Erlebnis- zurVermächtnisgeneration, die entscheidende Frage, obstaatlicherseits institutionelle Pflöcke eingeschlagenwerden, um das Kulturerbe des historischen deutschenOstens im Freistaat dauerhaft zu sichern.

Kaum ein Land hat sich so aktiv der altostdeutschen Kultur-pflege angenommen wie Bayern. Es ist nicht nur das seinemSelbstverständnis nach „in der Vertriebenenarbeit führende

[…] Land […] der Bundesrepublik“,259 sondern hier habentatsächlich auch „weit mehr Einrichtungen der Kulturarbeitim Sinne des § 96 BVFG […] ihren Sitz als in jedem ande-ren Bundesland“.260 Neben der Schirmherrschaft über dieSudetendeutschen und die Ostpreußen ist die anhaltendeinstitutionelle Förderung für den bayerischen Landesver-band des Bundes der Vertriebenen (BdV) durch das Sozial-ministerium zu nennen, die sämtlichen Gruppen des „fünf-ten Stammes“ zugute kommt. Doch selbst in Bayern ist manweit davon entfernt, die Forderung zu erfüllen, die AndreasKossert im Hinblick auf Schleswig-Holstein erhoben hat:Wenn dort „vierzig Prozent der Bevölkerung Vertriebenemit ihren Nachfahren sind, müssten streng genommen vier-zig Prozent der Kulturförderung für das Land zur Pflegevon deren Traditionen aufgewandt werden“.261 Schon einBruchteil der nach dieser weit gehenden Argumentationsich für Bayern ergebenden Summe von 20 bis 25 Prozentder Kulturförderung würde ausreichen, um das nationaleKulturerbe des historischen deutschen Ostens angemessenzu wahren.

Tatsächlich aber musste nicht nur der „fünfte“,sondern auch der „vierte Stamm“ oft hart und jahrelang mitden Finanzpolitikern um die Erfüllung elementarer Wün-sche ringen, wie etwa die lange Planungsgeschichte des Su-detendeutschen Hauses zwischen 1973 und 1982 (Grund-steinlegung) zeigt.262 Insofern sollte man nicht vorschnellkritisieren, dass „viele bayerische Staatsbürger sudeten-deutscher Herkunft“ wegen der Patenschaftsbeziehungzum Freistaat „ein Sonderbewusstsein pflegten und einefordernde Haltung gegenüber dem Staat kultivierten“.263

Gewiss fällt ins Auge, wenn es etwa seit 1988 aucheine hauptamtliche Heimatpflegerin der Sudetendeutschengibt, deren Finanzierung sich der Freistaat und die Bezirketeilen,264 während für den „fünften Stamm“ eine derartigeStelle nicht existiert.

Offensichtlich ist aber auch, dass es ohne die politischeSchlagkraft des „vierten Stammes“ auch dem „fünften“in Bayern viel schlechter ergangen wäre. Man denkenur an die Entstehung des HDO, das heute von beiden„Stämmen“ gemeinsam genutzt wird.

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Ein fünfter Stamm in Bayern ? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertr iebenengruppen

Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09 51

265 So berichtet Arthur Müller-Doldi (Augsburg) in einem Zeitzeugengespräch mit dem Verfasser (am 4. Mai 2009 am HDO), dass seine ausder national-protestantischen Kreuzburger Enklave in Oberschlesien stammende Mutter sich über die Sudetendeutschen dahingehendgeäußert habe, dass diese gar keine richtigen „Reichsdeutschen“, sondern bloß „Volksdeutsche“ gewesen seien.

266 Pohl, Zwischen Integration, S. 78, 118. Zu gemeinsamen Veranstaltungen von Sudetendeutschen und Schlesiern vgl. auch LandkreisErding (Hg.), Flüchtlinge und Heimatvertriebene, S. 648 („Sudetendeutsche und Schlesier halten zusammen“).

267 Gatz, Expellees, S. 293.268 Die Protokolle der im Folgenden herangezogenen Beiratssitzungen befinden sich im Privatarchiv des Verfassers.269 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass es selbst für die kleineren Gruppen der Südostdeutschen in Bayern zumindest

mehr Heimatstuben gibt als für die Schlesier.

Die in diesem Aufsatz aus wissenschaftlichem Interesse her-ausgearbeiteten Unterschiede zwischen den Vertriebenen-gruppen dürfen also nicht darüber hinwegtäuschen, wiekonstruktiv vierter und fünfter Stamm unbeschadet einigerAnimositäten265 in vielen kleineren und großen Fragen ko-operiert haben; sei es, wenn im Bayerischen Landtag dieKulturförderung diskutiert wurde, sei es in dem von einemSudetendeutschen 1949 gegründete Tennisverein im kleinenKemnath in der Oberpfalz, in dessen bald in der Landesligaspielender Damenmannschaft von vier Sportlerinnen zweiSudetendeutsche waren, eine Schlesierin und eine aus demWartheland.266

In den nächsten Jahren wird es darauf ankommen, wiesich die altostdeutsche Erinnerungslandschaft um daszentrale Sudetendeutsche Museum in München herumentwickeln wird, dessen Bau die MinisterpräsidentenStoiber, Beckstein und Seehofer zugesagt haben.

Die tausendjährige Geschichte der Deutschen in Böhmen,Mähren und Sudetenschlesien wird so wohl einen angemes-

senen Platz in der Geschichtskultur des Freistaates einneh-men können. Lässt sich dies aber tendenziell auch als Bestä-tigung der These der US-amerikanischen Historikerin Gatzlesen, wonach die Sudetendeutschen im Gegensatz zu denOstpreußen nicht von der bayerischen Gesellschaft „absor-biert“ worden seien, sondern sich als eigene Gruppe in ihrhätten etablieren können?267

Handlungsbedarf besteht jedenfalls gerade angesichtsderartiger Befunde hinsichtlich der Ostpreußen, derSchlesier und der vielen anderen Teile des „fünftenStammes“.268 Dabei scheint bei den Schlesiern derAbstand zwischen ihrem quantitativen Gewicht undihrer institutionellen Verankerung in Bayern amdeutlichsten.269

Vor diesem Hintergrund wird im HDO-Beirat über eineInitiative nachgedacht, die Einrichtung zu einer „Kultur-brücke“ Bayerns nach Osten auszubauen und es als Be-gegnungszentrum auch für die jüngeren Spätvertriebenenetwa aus Siebenbürgen und den deutsch-russischen Sied-

Eröffnungsveranstaltung des HDO am 24. Oktober 1970 im Plenarsaal der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Im Bild 2., 3., 4. v. li.: Ministerpräsident Alfons Goppel, Staatsminister Dr. Fritz Pirkl und Staatssekretär Dr. Karl Hillermaier.

Abbildungen: Haus des Deutschen Ostens 1970–1990; Festschrift hg. v. Horst Kühnel, München 1990, S. 16; li.: ebd., S. 84.

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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertr iebenengruppen

270 Bericht der Bundesregierung über die Maßnahmen zur Förderung der Kulturarbeit gemäß § 96 des Bundesvertriebenengesetzes in denJahren 2005 und 2006. Deutscher Bundestag, Drucksache 16/7571, 11.12.2007, S. 3.

271 Christa Stewens, Der HDO-Beirat: Sachverstand und Bildungswirkung, in: HDO-Journal, 6 (2008), S. 2–3, hier S. 3.272 Mit gutem Grund hat auch der Bericht der Bundesregierung über die Maßnahmen zur Förderung der Kulturarbeit gemäß § 96 des

Bundesvertriebenengesetzes in den Jahren 2005 und 2006 (Deutscher Bundestag, Drucksache 16/7571, 11.12.2007, S. 15) bemerkt, dass dieGeschichte der historischen Siedlungsgebiete der Deutschen im Osten „von der allgemeinen Wissenschaft bisher nur bedingt bearbeitetwird“. Im Blick auf manche Hervorbringungen „progressiver“ Ostmitteleuropaforschung, die reflexhaft auf möglichst weiten Abstand zuder tatsächlich allzu deutschtumsfixierten „Ostforschung“ alter, vom Nationalsozialismus in Anspruch genommener Art bedacht sind, istder Eindruck zu gewinnen, dass im Gegensatz zu früher die „multikulturellen“ Dimensionen einseitig Berücksichtigung finden und statt„der“ Polen oder Tschechen nun bisweilen „die“ deutschen Heimatvertriebenen ein Feindbild abgeben.

273 Vgl. Singbartl, In der Obhut Bayerns, S. 49.274 Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hg.), In der Obhut Bayerns, S. 15.275 Pohl, Zwischen Integration, S. 121.276 Ebd., S. 123.277 Feiber, Zum Heimatbegriff, S. 132.278 Singbartl, In der Obhut Bayerns, S. 54.

lungsgebieten ebenso zu stärken wie im Hinblick auf seinekulturelle Breitenarbeit. Gleichzeitig hat das Haus einerGesamtentwicklung Rechnung zu tragen, die laut demjüngsten Bericht der Bundesregierung zur Förderung derKulturarbeit nach § 96 Vertriebenengesetz dahin geht, diese„verstärkt auf fachliche und wissenschaftliche Grundlagenzu stellen“.270 Staatsministerin Christa Stewens hat in einerRede im Dezember 2007 in diesem Sinne ausgeführt, denGedanken einer eigenen HDO-Forschungsstelle für dieZeitgeschichte der preußischen Ostprovinzen zu erwä-gen.271 Dies wäre in der Tat nicht nur eine weitere Konkre-tisierung der bayerischen Patenschaft über die Ostpreußen,sondern auch ein Schritt zur verstärkten Berücksichtigungder Schlesier (und der anderen „Altreichsdeutschen“).

Ein weiterer Fortschritt für die betroffenen Grup-pen wäre die Einrichtung einer Heimatpflegestelle für den„fünften Stamm“, die sich insgesamt den Kulturen der klei-neren Vertriebenengruppen widmen und ebenfalls amHDO angesiedelt sein könnte. Zudem wird vielfach nichtnur die Integrationsgeschichte des vierten und fünftenStammes als wichtige langfristige Aufgabe der BayerischenLandesgeschichte gesehen, sondern auch die intensiverePflege und deutlichere institutionelle Verankerung der His-torie der östlichen Herkunftsgebiete an den bayerischenUniversitäten.272 Infolge der Heiratsbeziehungen nach 1945dürfte zwischenzeitlich sogar etwa jeder zweite bayerischeStaatsbürger familiäre Wurzeln in den früheren deutschenSiedlungsgebieten im Osten Europas haben. Es verwundertinsofern ein wenig, dass selbst in den Zeiten der jüngstenuniversitären Stellenmehrung das versandete Projekt einesLehrstuhls für Integrationsforschung im Zusammenhangmit dem Bayreuther Lastenausgleichsarchiv273 nicht neuthematisiert wurde.

Nur mit verstärkten Anstrengungen wird es lang-fristig möglich sein, der von Staatsminister Gebhard Glück1989 formulierten Leitlinie bayerischer Integrationspolitik

annähernd zu entsprechen, die einen ganz anderen Akzentsetzt als das gleichmacherische melting-pot-Konzept derBesatzungsbehörde und eher als „Salatschüssel-Modell“ zuverstehen ist: „Nicht undifferenzierte Verschmelzung, son-dern Integration in der Weise, dass jeder Teil unserer Be-völkerung seine besondere und unverwechselbare Ausprä-gung behält“ – auch die „bei uns ansässig gewordenenLandsleute aus Ostdeutschland, aus dem Sudetenland, ausSiebenbürgen und dem Banat sowie aus weiteren Siedlungs-gebieten im Osten“.274

Diese Kulturpolitik in die Nähe eines „statischen,essentialistischen Gesellschaftsbildes“ zu rücken, das„durch die Ideologie des Nationalsozialismus gefestigt wor-den“ sei und „Integration durch Vermischung ablehnte“,275

wäre ein Missverständnis. Natürlich sind Assimilationspro-zesse in einer offenen Gesellschaft normal. Man denke nuran die Beobachtung etwa eines Landrats in Oberfranken,dass die heimatvertriebene Jugend sich schon in den frühenfünfziger Jahren „in einem Maße integriert[e]“, dass sie„den örtlichen Dialekt angenommen“ habe,276 oder an dasBedauern einer „waschechte[n] und heimatstolze[n] Bres-lauerin“ (1951), dass sie ihrer schon in Franken geborenenkleinen Tochter die Geschichten vom Rübezahl „zum bes-seren Verständnis mit so viel Farbtönen aus der ihr vertrau-ten fränkischen Welt versehen“ müsse, „dass mich der Herrdes Riesengebirges ob der verfälschten Eigenart bestimmtmit einem zünftigen Bannstrahl“ belegen würde.277 Gleich-wohl geht es beim Umgang mit dem nationalen Kulturerbeder Deutschen aus dem Osten bis heute auch um die Bewah-rung wertvoller kultureller Identitäten in einer zunehmendglobalisierten Welt. Der frühere bayerische Ministerpräsi-dent Edmund Stoiber hat sich vor diesem Hintergrund zuden Vertriebenen in Bayern einmal mit den Worten geäu-ßert: „Sie haben uns kulturell bereichert. Wir werden des-halb unseren Beitrag dazu leisten, ihren kulturellen Reich-tum zu erhalten“.278❙

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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09 53

Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertr iebenengruppen

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• Prinz, Friedrich (Hg.), Integration und Neubeginn. Dokumentationüber die Leistung des Freistaates Bayern und des Bundes zur Einglie-derung der Wirtschaftsbetriebe der Vertriebenen und Flüchtlinge undderen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung des Landes, Bd. 2,München 1984.

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• Reichling Gerhard, Die Heimatvertriebenen im Spiegel der Statistik,Berlin 1958.

• Reinhart, Michael (Hg.), Die Entwicklung Bayerns durch die Integra-tion der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge. Abschlussbericht derDokumentationsstelle Bayreuth am Lehrstuhl für Bayerische Landes-geschichte von Prof. Dr. Rudolf Endres an der Universität Bayreuth imJahr 1994, Bayreuth 1994.

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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertr iebenengruppen

Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09 55

• Reitzner, Almar, Das Paradies lässt auf sich warten. Erinnerungen einesSozialdemokraten, München/Wien 1984.

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• Sallinger, Barbara, Die Integration der Heimatvertriebenen im Land-kreis Günzburg nach 1945, München 1992.

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• Schlemmer, Thomas, Aufbruch, Krise und Erneuerung. Die Christlich-Soziale Union 1945 bis 1955, München 1998.

• Schmilewski, Ulrich, Entwicklung und Tätigkeit der Stiftung Kultur-werk Schlesien seit 1952, in: Johannes Schellakowsky/ders. (Hg.),Integration und Erbe. Zum politischen, gesellschaftlichen und kulturel-len Beitrag der Vertriebenen in Deutschland und Bayern, Würzburg2005, S. 69–89.

• Singbartl, Hartmut, In der Obhut Bayerns – der Freistaat Bayern alsAufnahmeland und Partner der deutschen Vertriebenen und Aussiedler,in: Dietrich Grille/Ekkehard Wagner (Hg.), Ganz Deutschland unserVaterland. Anmerkungen zum Lebensmotto der deutschen Vertriebe-nen. Festschrift für Sieghard Rost, Pegnitz 2002, S. 42–59.

• Sonnewald, Bernd, Die Entstehung und Entwicklung der ostdeutschenLandsmannschaften von 1947 bis 1952, Berlin 1975.

• Steinert, Johannes-Dieter, Vertriebenenverbände in Nordrhein-West-falen 1945–1954, Düsseldorf 1986.

• Stewens, Christa, Der HDO-Beirat: Sachverstand undBildungswirkung, in: HDO-Journal, 6/2008, S. 2–3.

• Stickler, Matthias, „Ostdeutsch heißt gesamtdeutsch“. Organisation,Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschenVertriebenenverbände 1949–1972, Düsseldorf 2004.

• Vergnon, Bastian, Mehr Show als Substanz? Die bayerische Sozialde-mokratie und die Sudetendeutschen nach 1945 (unveröff. Magisterar-beit, Regensburg 2009, Bibliothek des IfZ).

• Weger, Tobias, „Volkstumskampf“ ohne Ende? Sudetendeutsche Orga-nisationen, 1945–1955, Verlag Peter Lang, Frankfurt/M u.a. 2008.

• Werner, Emil, Im Dienst der Demokratie. Die bayerische Sozialdemo-kratie nach der Wiedergründung 1945, München 1982.

• Wittmann, Fritz, Die Ostdeutschen in Bayern, der vierte Stamm, in:Hanns-Seidel-Stiftung (Hg.), Freistaat Bayern. Eine Publikation zurAusstellung „Freistaat Bayern“, München 1976, S. 79–83.

• Woller, Hans, Die Loritz-Partei. Geschichte, Struktur und Politik derWirtschaftlichen Aufbau-Vereinigung (WAV) 1945–1955, Stuttgart1982.

• Wotzlaw, Helmut, Antek und Franzek. Oberschlesische Witze, Humo-resken und Anekdoten der Nachkriegszeit, Dülmen 2007.

• Zeitler, Peter, Neubeginn in Oberfranken 1945–1949. Die LandkreiseKronach und Kulmbach, Kronach 1997.

• Zeitler, Peter, „Politik von Flüchtlingen – für Flüchtlinge“. Leben undWirken zweier oberfränkischer Nachkriegspolitiker, in: Rudolf Endres,Bayerns vierter Stamm, die Integration der Flüchtlinge und Heimatver-triebenen nach 1945, Köln u.a. 1998, S. 95–117.

• Zenetti, Ferdinand, Dokumentation über die Heimatvertriebenen imLandkreis Neu-Ulm. Dokumentation einer Aufbauleistung, Neu-Ulm1991.

• Ziegler, Walter (Hg.), Die Vertriebenen vor der Vertreibung. Die Hei-matländer der deutschen Vertriebenen im 19. und 20. Jahrhundert.Strukturen, Entwicklungen, Erfahrung, 2 Bde., München 1999.

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BayerischeLandeszentralefür politischeBildungsarbeit

Weitere Themenhefte vonEinsichten und Perspektiven

Themenheft 1.08

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Themenheft 1.06

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Diese und andere Publikationen können Sie bei der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit beziehen.Praterinsel 2, 80538 München, Fax: 089 - 21 86 - 21 80, [email protected],www.politische-bildung-bayern.de

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voller Höhen und Tiefen

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und Kulturtransfers

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Jahr unter Romano Prodi

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