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V 24 348 24 Zwan H. Reinecker, P. Joraschky 24.1 Zwanserkrankunen im verhaltenstherapeutischen Kontext Aus der Literatur sind verschiedene Beispiele von Personen bekannt, bei denen wir heute eine Zwangsstörung diagnos- tizieren würden: Dazu gehören etwa die Gestalt der Lady Macbeth oder die zwanghafte Eifersucht bei Othello in den Dramen von W. Shakespeare; Stefan Zweig stellte die Prob- lematik in der Novelle „Der Zwang“ in literarischer Form dar. Frau E., eine 28-jährige Frau, wendet sich auf Anraten ei- ner ehemaligen Patientin an den Therapeuten. Sie leidet seit mehreren Jahren an einer deutlichen depressiven Verstim- mung als Folge der Zwangsgedanken, ihre Kinder (2 und 4 Jah- re) und evtl. auch ihren Ehemann mit „Gewaltgegenständen“ verletzen oder sogar töten zu können. Den Kontakt mit solchen Gegenständen (Messern, Scheren, aber auch Schnüren, Tele- fonkabeln, Steinen etc.) versucht sie völlig zu umgehen. Sie ver- meidet es nach Möglichkeit, allein zu sein, um die Kontrolle an andere Personen abgeben zu können. Nach mehreren Jahren fühlt sich Frau E. so sehr beeinträchtigt, dass sie praktisch nicht mehr in der Lage ist, den Haushalt und ihre Kinder zu versor- gen. Sie schämt sich des Inhaltes ihrer Gedanken in höchstem Maße („eine Mutter denkt so etwas nicht“) und zögert lange Zeit, sie ihrem Mann gegenüber zu äußern. Sie erscheint sehr erleichtert, als sie im Erstgespräch bemerkt, dass dem Thera- peuten die Problematik wohl bekannt ist. Sie fasst Vertrauen und schöpft Mut zur Bewältigung ihrer Probleme. Beschreibun und dianostische Kriterien Definition. Eine erste, durchaus präzise Beschreibung von Zwangsstörungen erfolgte bereits im vergangenen Jahr- hundert durch Esquirol (1838) bzw. durch den deutschen Psychiater Westphal (1878). Die seit langer Zeit bekannten Merkmale von Zwangsstörungen (Jaspers 1913, Schneider 1925) fanden auch Eingang in die üblichen Klassifikati- onssysteme (hier: DSM-IV, APA 1996). Demnach sind für Zwangsstörungen folgende Merkmale ausschlaggebend: Es handelt sich um einen inneren, subjektiven Dran, be- stimmte Dine zu tun oder zu denken. Die Person leistet zumindest einen ewissen Widerstand een den Impuls. Die Person besitzt Einsicht in die Sinnlosikeit der Gedan- ken und Handlunen. Gedanken bzw. Rituale führen zu einer deutlichen Beein- trächtiun des Lebensvollzus der Person. Speziell das letztgenannte Kriterium ist von besonderer Bedeutung, weil mit Zwangsgedanken und -handlungen zumeist deutliche Einschränkungen verbunden sind; die daraus folgende Beeinträchtigung der Lebensqualität bildet in den meisten Fällen das zentrale Motiv für das Aufsuchen therapeutischer Hilfe. Dianostische Kriterien. An den diagnostischen Kriterien sind zwei Aspekte von besonderer Bedeutung: Zum Ersten sind zentrale Kriterien der Zwangsstörun- gen subjektiver Natur (gedankliche Prozesse; subjektive Beeinträchtigung). Zwangsstörungen sind also ohne die Berücksichtigung des kognitiven Geschehens kaum zu verstehen, weswegen es bei den neueren theoretischen Modellen in besonderer Weise Berücksichtigung findet. In der Charakterisierung fehlt zum Zweiten das Merkmal der Angst. Dies ist insofern besonders erwähnenswert, als Zwangsstörungen nach wie vor zu den Angststörun- gen gezählt werden, was aus mehreren Gründen proble- matisch erscheint. Zwanghafte Denk- und Verhaltensmuster gehören zum All- tag (z. B. Ess- und Trinksitten, Begrüßungsrituale etc.). Sie sind nicht unbedingt störend oder pathologisch, im Gegen- teil: Viele Gewohnheiten erleichtern den Tagesablauf, indem sie uns von Entscheidungen entheben. Dazu zählen auch viele subklinische Zwänge, die in der Bevölkerung offenbar weit verbreitet sind (Gibbs 1996). Auch in Phasen des Über- gangs oder bei Verunsicherungen geben Rituale Sicherheit. Störend, pathologisch und damit behandlungsbedürftig werden Denk- und Verhaltensmuster dann, wenn sie ein zumeist sehr variables und subjektives Intensitäts- und Häu- figkeitskriterium überschreiten und dadurch eine deutliche Beeinträchtigung des Lebensvollzugs einer Person mit sich bringen. aus: W. Senf, M. Broda: Praxis der Psychotherapie (ISBN 9783131060952) © 2012 Georg Thieme Verlag KG

Thieme: Praxis der Psychotherapie · Dramen von W. Shakespeare; Stefan Zweig stellte die Prob-lematik in der Novelle „Der Zwang“ in literarischer Form ... nen Angst (vor Infektionen,

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24 Zwang�H. Reinecker, P. Joraschky

24.1 Zwang�serkrankung�en im verhaltenstherapeutischen Kontext

Aus der Literatur sind verschiedene Beispiele von Personen bekannt, bei denen wir heute eine Zwangsstörung diagnos-tizieren würden: Dazu gehören etwa die Gestalt der Lady Macbeth oder die zwanghafte Eifersucht bei Othello in den Dramen von W. Shakespeare; Stefan Zweig stellte die Prob-lematik in der Novelle „Der Zwang“ in literarischer Form dar.

Frau E., eine 28-jährige Frau, wendet sich auf Anraten ei-ner ehemaligen Patientin an den Therapeuten. Sie leidet

seit mehreren Jahren an einer deutlichen depressiven Verstim-mung als Folge der Zwangsgedanken, ihre Kinder (2 und 4 Jah-re) und evtl. auch ihren Ehemann mit „Gewaltgegenständen“ verletzen oder sogar töten zu können. Den Kontakt mit solchen Gegenständen (Messern, Scheren, aber auch Schnüren, Tele-fonkabeln, Steinen etc.) versucht sie völlig zu umgehen. Sie ver-meidet es nach Möglichkeit, allein zu sein, um die Kontrolle an andere Personen abgeben zu können. Nach mehreren Jahren fühlt sich Frau E. so sehr beeinträchtigt, dass sie praktisch nicht mehr in der Lage ist, den Haushalt und ihre Kinder zu versor-gen. Sie schämt sich des Inhaltes ihrer Gedanken in höchstem Maße („eine Mutter denkt so etwas nicht“) und zögert lange Zeit, sie ihrem Mann gegenüber zu äußern. Sie erscheint sehr erleichtert, als sie im Erstgespräch bemerkt, dass dem Thera-peuten die Problematik wohl bekannt ist. Sie fasst Vertrauen und schöpft Mut zur Bewältigung ihrer Probleme.

Beschreibung� und diag�nostische Kriterien

Definition. Eine erste, durchaus präzise Beschreibung von Zwangsstörungen erfolgte bereits im vergangenen Jahr-hundert durch Esquirol (1838) bzw. durch den deutschen Psychiater Westphal (1878). Die seit langer Zeit bekannten Merkmale von Zwangsstörungen (Jaspers 1913, Schneider 1925) fanden auch Eingang in die üblichen Klassifikati-

onssysteme (hier: DSM-IV, APA 1996). Demnach sind für Zwangsstörungen folgende Merkmale ausschlaggebend:

■ Es handelt sich um einen inneren, subjektiven Drang�, be-

stimmte Ding�e zu tun oder zu denken. ■ Die Person leistet zumindest einen g�ewissen Widerstand

g�eg�en den Impuls. ■ Die Person besitzt Einsicht in die Sinnlosig�keit der Gedan-

ken und Handlung�en. ■ Gedanken bzw. Rituale führen zu einer deutlichen Beein-

trächtig�ung� des Lebensvollzug�s der Person.

Speziell das letztgenannte Kriterium ist von besonderer Bedeutung, weil mit Zwangsgedanken und -handlungen zumeist deutliche Einschränkungen verbunden sind; die daraus folgende Beeinträchtigung der Lebensqualität bildet in den meisten Fällen das zentrale Motiv für das Aufsuchen therapeutischer Hilfe.

Diag�nostische Kriterien. An den diagnostischen Kriterien sind zwei Aspekte von besonderer Bedeutung:

■ Zum Ersten sind zentrale Kriterien der Zwangsstörun-gen subjektiver Natur (gedankliche Prozesse; subjektive Beeinträchtigung). Zwangsstörungen sind also ohne die Berücksichtigung des kognitiven Geschehens kaum zu verstehen, weswegen es bei den neueren theoretischen Modellen in besonderer Weise Berücksichtigung findet.

■ In der Charakterisierung fehlt zum Zweiten das Merkmal der Angst. Dies ist insofern besonders erwähnenswert, als Zwangsstörungen nach wie vor zu den Angststörun-gen gezählt werden, was aus mehreren Gründen proble-matisch erscheint.

Zwanghafte Denk- und Verhaltensmuster gehören zum All-tag (z. B. Ess- und Trinksitten, Begrüßungsrituale etc.). Sie sind nicht unbedingt störend oder pathologisch, im Gegen-teil: Viele Gewohnheiten erleichtern den Tagesablauf, indem sie uns von Entscheidungen entheben. Dazu zählen auch viele subklinische Zwänge, die in der Bevölkerung offenbar weit verbreitet sind (Gibbs 1996). Auch in Phasen des Über-

gangs oder bei Verunsicherungen geben Rituale Sicherheit. Störend, pathologisch und damit behandlungsbedürftig werden Denk- und Verhaltensmuster dann, wenn sie ein zumeist sehr variables und subjektives Intensitäts- und Häu-figkeitskriterium überschreiten und dadurch eine deutliche Beeinträchtigung des Lebensvollzugs einer Person mit sich bringen.

aus: W. Senf, M. Broda: Praxis der Psychotherapie (ISBN 9783131060952) © 2012 Georg Thieme Verlag KG

24.1 Zwangserkrankungen im verhaltenstherapeutischen Kontext 349

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Klassifikation. Theoretische Vorstellungen über Zwangs-störungen waren zwar lange Zeit durch Modelle gekenn-zeichnet, wie sie für Angststörungen charakteristisch sind (z. B. Angstreduktionsmodell, Mowrer 1950; Rachman u. Hodgson 1980). Die zentrale Emotion bei Zwangsstörungen erscheint allerdings weniger als Angst, sondern vielmehr als Erregung, Unruhe, Unsicherheit, Ekel usw. Neuere Über-legungen zur Klassifikation von Zwangsstörungen gehen eher in die Richtung einer eigenständigen Betrachtung von Zwangsstörungen; sie sind gewissermaßen zwischen den Angst- und den Affektiven Störungen einzuordnen.

In der Klassifikation von Zwangsstörungen wurde zu-nächst in phänomenologischer Hinsicht unterschieden:

■ Zwangshandlungen (hier: Waschen bzw. Kontrollieren); ■ Zwangsgedanken (hier: Gedanken, Bilder, Impulse).

Die Differenzierung hat eine Reihe von Implikationen so-wohl für die unterschiedliche Entstehung der Untergrup-pen, als auch für deren theoretische Erklärung und insbe-sondere für die Prognose und Behandlung.

Epidemiolog�ie. Zwangsstörungen waren lange Zeit als sehr selten vorkommende Störung gesehen worden; dies mag mit der Tendenz zur Verheimlichung aufseiten des Pati-enten ebenso zusammenhängen (Dauer des Aufsuchens therapeutischer Hilfe: 7–10 Jahre) wie mit dem lange Zeit herrschenden „therapeutischen Nihilismus“, den Patienten nämlich so gut wie keine effizienten Hilfestellungen an-bieten zu können. Neuere epidemiologische Untersuchun-gen (Wittchen 1986, Rasmussen u. Tsuang 1986, Rasmus-sen u. Eisen 1991, 1992) zeigen 6-Monatsprävalenzraten im Bereich von 1–2 %. In Deutschland ist demzufolge von rund 1 Mio. Zwangspatientinnen und -patienten auszuge-hen, von welchen die meisten aus verschiedenen Gründen unentdeckt und nach wie vor nicht zielführend behandelt werden. Dies ist eine aus menschlicher ebenso wie aus ge-sundheitspolitischer und ökonomischer Sichtweise außer-ordentlich problematische Situation.

Nosolog�ie. Im klinischen Erscheinungsbild fällt eine Reihe von nosologischen Gemeinsamkeiten mit anderen Störun-gen auf, die hier nur angerissen werden können:

■ Ein erster Zusammenhang betrifft Zwänge und Angststö-rungen. Dies beinhaltet vor allem Waschzwänge, bei de-nen Angst (vor Infektionen, Krankheit, Schmutz...) häufig in der Entwicklung und Aufrechterhaltung mit eine Rolle spielt. Auch soziale Ängste, generalisierte Ängste, Panik-störungen etc. sind bei Zwangsstörungen zu beachten (Marks 1987).

■ Der Konnex zwischen Zwängen und Depressionen wird in der Literatur ausgiebig diskutiert. Unbestritten ist das häufige gemeinsame Auftreten („Komorbidität“), weitge-hend unklar ist allerdings der ätiologische und pathoge-netische Zusammenhang. Speziell in der Therapie muss der Aspekt der Depression berücksichtigt werden (De-mal et al. 1992).

■ Für die Entstehung einer Zwangsstörung wird häufig eine prämorbide „zwanghafte Persönlichkeitsstörung“ (Fiedler 1995) als entscheidend erachtet. Während Zwangsstörungen jedoch Ich-dyston sind, sind die Per-

sönlichkeitsstörungen als Ich-synton anzusehen und werden deshalb zu Recht auf Achse II des DSM-IV dia-gnostiziert.

■ Zwangsstörungen sind manchmal nicht einfach von sog. Borderline-Persönlichkeitsstörungen oder von Schizophre-nien zu trennen; Aufgabe einer präzisen funktionalen Analyse (Kanfer u. Saslow 1969) ist es somit, einzelne Merkmale im Detail zu beschreiben und sie in einen ent-sprechenden Zusammenhang mit internen und externen Variablen zu setzen.

Eine bloße diagnostische Kennzeichnung oder Klassifikati-on stellt lediglich ein Etikett („Kürzel“) dar, das eine funk-tionale Analyse als Grundlage einer konkreten therapeuti-schen Intervention nicht ersetzen kann.

So zeigte sich im obigen Beispiel Frau E. als zunächst äu-ßerst verzweifelt, depressiv und zurückgezogen, was sich

in der funktionalen Analyse allerdings als sekundär, d. h. als von ihrer zwanghaften Problematik abhängig erwies.

Die funktionale Analyse sollte die Ebenen des Verhal-tens, der Kog�nitionen sowie physiolog�isch relevante

Variablen berücksichtig�en.

Ein spezielles Konstrukt hat in neuerer Zeit große Auf-merksamkeit erhalten: Die sog. Zwangs-Spektrumsstörun-gen (Hollander 1993, Yaryura-Tobias u. Neziroglu 1996). Verschiedene psychische Störungen werden neuerdings im Zusammenhang mit Zwangsstörungen gesehen und analysiert (z. B. Gilles de la Tourette-Syndrom, somatofor-me Störungen, Essstörungen, verschiedene neurologische Störungen, zwanghaftes Spielen oder Kaufen). Auf die-se Verknüpfungen soll hier nur hingewiesen werden, sie werden in der folgenden Betrachtung ebenso ausgeklam-mert wie Überlegungen zu Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen (Knölker 1992, Flament et al. 1988, Last u. Strauss 1989, Rapoport et al. 1992, Swedo u. Rapoport 1990, Wolff u. Wolff 1991, Milby u. Weber 1991).

Theoretische Modelle

Eine zielführende Behandlung erscheint ohne eine zu-mindest implizite Berücksichtigung theoretischer Über-legungen problematisch. Zu klassischen und moder-nen Sichtweisen aus psychodynamischer Sicht siehe Hoffmann (1980) sowie den Beitrag von Joraschky. Aus kognitiv-verhaltenstherapeutischer Perspektive gibt es nicht das theoretische Modell: Innerhalb verschiedener Überlegungen werden – speziell mit Rückgriff auf verhal-tenstherapeutische und psychophysiologische Modell-vorstellungen –unterschiedliche theoretische Perspektiven angelegt, die gewissermaßen den Stand des Wissens re-präsentieren. Theoretische Modelle sind nie abgeschlos-sen: Sie sind vorläufige Annahmen über Ereignisse und Prozesse.

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■ Zwang als Angst-Reduktion: Das 2-Faktoren-Modell von H. Mowrer

Mowrers Modell wurde ursprünglich zur Erklärung von beobachtbaren Angstreaktionen entwickelt und erst spä-ter auf Zwangsstörungen übertragen; in diesem Modell hat man sich die Entstehung und Aufrechterhaltung von Zwangsstörungen (eben in Analogie zu Angststörungen, z. B. zu Agoraphobien) als einen 2-phasigen Prozess vorzu-stellen:

Erste Phase. In einer ersten Phase erwerben ursprünglich neutrale Situationen durch ein- oder mehrmalige Koppe-lung mit einer belastenden Situation aversive Qualität (Prin-zip der klassischen Konditionierung, der Assoziation oder der Stimulussubstitution). In der Folge lösen nun nicht nur tatsächlich aversive Reize (UCS) die Angstreaktion aus, son-dern ebenfalls die ursprünglich neutralen, nunmehr kon-ditionierten Stimuli (CS). In der Literatur wurde vielfach verdeutlicht, dass man sich den Prozess der klassischen Konditionierung nicht als passiven Prozess der Koppelung von Reizen vorzustellen hat (Kimble 1961, Rescorla 1988, McAllister u. McAllister 1995, Mineka u. Zinbarg, 2006). Lernen ist vielmehr ein aktiver Prozess der Wahrnehmung unter intensiver Beteiligung von Gedächtnis- und Bedeu-tungsstrukturen. Deshalb sollte das in Abb. 24.1 dargestell-te Prinzip des 2-Faktoren-Modells nur als grobe Vereinfa-chung eines komplexen Prozesses betrachtet werden.

Zweite Phase. Unklar bleibt im ersten Teil des Prozesses die Stabilität zwanghaften Verhaltens: Die traumatischen/be-lastenden Bedingungen dauern in der Regel nicht an und so müsste es folglich zu einer Abnahme (Löschung) des zwang-haften Verhaltens kommen. Hier spielt nun der zweite Fak-tor (Vermeidungslernen) seine problematische Rolle (Abb. 24.1): Der CS wird zum diskriminativen Hinweisreiz auf die

aversiven Konsequenzen (Reaktionen = CR); das Individu-um sucht die Situation zu beenden (Flucht) bzw. zu umge-hen (Vermeidung). Erfolgreiche Vermeidung (= R) lässt die befürchteten aversiven Konsequenzen gar nicht erst erneut eintreten, das Vermeidungsverhalten wird kontinuierlich negativ verstärkt (R→C/) und deshalb im Repertoire des In-dividuums stabilisiert.

Überträgt man die theoretischen Überlegungen auf das Beispiel von Frau E., so führt die Vermeidung (z. B. Weg-

sperren von Messern) kontinuierlich zu einer Vermeidung der von der Patientin so sehr gefürchteten Situation (d. h. der Ver-letzung ihrer Kinder): Sie erlebt eine Art problematischer „Be-stätigung“ für die scheinbare Richtigkeit ihres Handelns.

Eine besondere Form der Stabilisierung ergibt sich vor al-lem dadurch, dass man bei Zwängen von sog. aktivem Ver-meidungsverhalten spricht, d. h. die Person entwickelt neue aktive Strategien (z. B. spezielle Waschrituale, spezielle For-men der Kontrolle), um sicherzugehen, dass ein gefürchte-tes Ereignis nicht eintritt.

Grenzen und Probleme. Dieses 2-Faktoren-Modell diente sehr lange Zeit als nachvollziehbares und durchaus robus-tes Modell zur Erklärung von Zwangsstörungen aus verhal-tenstherapeutischer Sicht. Besondere Bedeutung kommt dem Modell insofern zu, als es eine erste zielführende Be-handlungsstrategie – nämlich Konfrontation und Reakti-onsverhinderung – zu entwickeln erlaubte (Meyer 1966). Dies war sicherlich ein Durchbruch in der Behandlung von Zwangsstörungen. In der Zwischenzeit müssen allerdings verschiedene Grenzen und Probleme des Modells gesehen werden:

■ Das Modell bietet eine gute Klärung (und auch Behand-lungsansätze) insbesondere für beobachtbare Zwangs-handlungen. Zwangsgedanken (vor allem in reiner Form) lassen sich durch das Modell hingegen kaum erklären und auch effiziente Behandlungsstrategien nur begrenzt gewinnen.

■ Das Problem angst-erhöhender Zwänge entzieht sich ei-ner Beschreibung und Erklärung (Foa u. Tillmanns 1980): Patienten berichten häufig, dass sich ihre gedanklichen Zwänge, ihre Angst und Unruhe nicht reduzieren lassen, sondern geradezu eskalieren.

■ Die Annahme traumatischer oder konflikthafter Konstel-lationen ist für den ersten Teil des Modells zentral; ver-folgt man die Entwicklung von Zwangsstörungen, so lässt sich in bestenfalls ca. 1/4 aller Fälle eine solche mögliche Bedingung finden. Außerdem ist diese Annahme schon aus forschungsmethodologischen und wissenschaftsthe-oretischen Gründen kaum empirisch prüfbar.

■ Anders als Patienten mit Angststörungen, die verschiede-ne Situationen konsistent zu vermeiden versuchen, wer-den Patienten mit Zwangsstörungen von den belasten-den Situationen geradezu magisch angezogen (Leplow 1998, 2003). Patienten scheinen die Situationen (und aversive Konsequenzen) weniger vermeiden zu wollen, als vielmehr zu versuchen, Dinge richtig zu stellen usw.

C-

Abb. 24.1 Prinzip und Beispiel für das Zwei-Faktoren-Modell.

aus: W. Senf, M. Broda: Praxis der Psychotherapie (ISBN 9783131060952) © 2012 Georg Thieme Verlag KG

24.1 Zwangserkrankungen im verhaltenstherapeutischen Kontext 351

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Einige dieser Schwierigkeiten wurden und werden auch von Vertretern des Modells gesehen, konnten jedoch durch Er-gänzungen und Korrekturen des 2-Faktoren-Modells (Rei-necker 1994) teilweise relativiert werden (z. B. Modell der Preparedness, kulturelle Einbettung von Zwängen, entwick-lungspsychologische Besonderheiten). Das Modell ist trotz der Kritikpunkte bzw. weiterer Entwicklungen nicht falsch oder überholt: Das Grundprinzip und viele Elemente können heute noch als bedeutsam und handlungsleitend angesehen werden. Auf der Grundlage neuerer Entwicklungen der kog-nitiven Psychologie einerseits und neurophysiologischer Be-funde andererseits wurden Erklärungsmodelle entwickelt, die im Zentrum der nächsten Abschnitte stehen sollen.

■ Kognitive Modellvorstellungen (P. M. Salkovskis)

Kog�nitive Prozesse spielen bei nahezu allen Zwang�s-störung�en eine ausschlag�g�ebende Rolle.

In rund 1/4 aller Fälle liegen rein kognitive Zwänge (also ohne beobachtbare Handlungen) vor. Diese bereiten für Diagnostik, für Beschreibung und Erklärung und insbeson-dere natürlich für die Therapie größte Probleme. Durch die Entwicklung eines Modells, das kognitiven Elementen und Prozessen einen gebührenden Raum zuweist, hat sich ins-besondere die Forschergruppe um P.M. Salkovskis in Oxford verdient gemacht (Salkovskis 1985, 1989, Salkovskis u. Kirk 1989, 1996, Salkovskis u. Warwick 1988). Ausgangspunkt der Überlegungen war, den Gedanken innerhalb des Ablau-fes der Störung eine gebührende Beachtung zuzuerkennen. Gedanken, und nicht so sehr Verhaltensweisen sind es, die den problematischen Ablauf zwanghafter Muster immer wieder in Gang setzen (u. a. weil Gedanken kaum zu kont-rollieren, d. h. zu unterdrücken oder zu beenden sind, siehe dazu u.). Die Gedanken an sich erscheinen nicht patholo-gisch („Gedanken sind frei!”), sie werden erst durch eine spezielle Bewertung zum Problem: Diese Bewertung, also die Verknüpfung einer speziellen Bedeutung mit einem Gedanken vor dem Hintergrund der eigenen Biografie stellt

ein Schlüsselelement in der Stabilisierung von Zwangs-störungen dar (Abb. 24.2). Ein entscheidender Aspekt in dem kognitiven Modell ist die Trennung in 2 Elemente des Zwanges, nämlich in eine Stimulus- und in eine Reaktions-komponente der Zwangsstörungen (Abb. 24.2), die ganz unterschiedliche Funktionen besitzen.

Stimulus-Komponente. In diesem Kreislauf bildet die Stimulus-Komponente (Gedanke) gewissermaßen einen ubiquitären Ausgangspunkt: Es sind nicht die Inhalte ei-nes Gedankens, die problematisch sind, nicht der Gedan-ke selbst ist pathologisch, zum Problem wird er erst durch eine spezielle Form der Bewertung. Einer Untersuchung von Rachman und DeSilva (1978) zufolge, zeigen rund 95 % aller Menschen fallweise ähnliche Gedanken wie Zwangs-patienten (Gibbs 1996). Diese Personen werden allerdings nicht zu Zwangspatienten, weil sie die Gedanken nicht mit speziellen Bedeutungen verknüpfen. Erst die spezielle Be-deutung erhöht die (physiologische) Erregung und führt zu einem massiven Bedürfnis nach einer Reduktion der Erre-gung (Unruhe, Erregung, Ekel, „anxiety/discomfort“, Rach-man u. Hodgson 1980).

Neutralisieren. Die 2. Komponente, nämlich das Neutrali-sieren (Handlungen oder Gedanken), spielt insofern in der Aufrechterhaltung eine ganz problematische Rolle, als die versuchte (und nie gänzlich gelingende) Unterdrückung ein weiteres Signal für die Bedeutung des Gedankens darstellt (Rebound-Effekt, Wegner 1992). Das Neutralisieren ist – ähnlich wie das Vermeidungsverhalten im 2-Faktoren-Mo-dell – deshalb so stabil im Repertoire der Person, weil das Ritual unmittelbar negativ verstärkt wird. Da aber Angst und Unruhe des Patienten niemals gänzlich reduziert wer-den können, stellt dies wiederum einen Ausgangspunkt für aufdringliche Gedanken (= Stufe 1) dar.

Zentrale Konstrukte. Für dieses kognitive Modell sind also Mechanismen der gedanklichen Verarbeitung von Informa-tionen von größter Bedeutung: In der einschlägigen Literatur gibt es unzählige Hinweise auf selektive Wahrnehmung, auf eine problematische Form der Bedeutungszuschreibung, der

(z.B. „ich könnte einKind verletzen“, „ichkönnte mich anstecken“)

Abb. 24.2 Prinzip des kognitiven Modells von Zwangsstörungen nach P.M. Salkovskis.

aus: W. Senf, M. Broda: Praxis der Psychotherapie (ISBN 9783131060952) © 2012 Georg Thieme Verlag KG

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Speicherung und Verknüpfung von Information (Lang 1979, 1985, Purdon u. Clark 2000). Wenn man versucht, die zent-ralen Konstrukte des Modells herauszustellen, so sind dies

Spezielle Erwartung�en des Patienten. Patienten besitzen eine überhöhte Erwartung, dass negative Ereignisse eintre-ten könnten, wobei sie die Eintretenswahrscheinlichkeit in hohem Maße überschätzen.

Das Ereignis der Verletzung oder Tötung von Familien-mitgliedern steht ständig im Blickfeld der o. g. Patientin

Frau E. Information aus den Medien springt ihr gewissermaßen ins Auge und sie schätzt die Wahrscheinlichkeit, dass auch ihr etwas Derartiges passieren könnte, sehr hoch ein.

Patienten mit Zwangsstörungen zeigen eine erhöhte Selbst-beobachtung und Selbstaufmerksamkeit (Wells 1997, Wells u. Mathews 1994, 1997, Clark u. Purdon 1993, Frost u. Ste-ketee 2002). Befunde aus der Forschung zur Stimmungs-kongruenz zeigen, dass diese Information tatsächlich stän-dig zugänglich ist und von der Person stets aktiviert werden kann (Bower 1981, 1987, Singer u. Salovey 1988). Darüber hinaus vermischen die Patienten die Grenzen von Hand-lungen und Gedanken („thought-action-fusion“, Rachman 1993, 1997).

Unsicherheit. Das Thema der Unsicherheit ist für Patien-ten mit Zwangsstörungen besonders charakteristisch: Da einer Entscheidung selbst bei trivial erscheinenden Ge-danken und Handlungen höchste Bedeutung zugemes-sen wird, zeigt sich der Patient äußerst zögerlich. Dieses Zögern ist mit vermehrter Unruhe verbunden (= Stufe 3 im Salkovskis-Modell); dies ist aus allgemein-psycho-logischer Perspektive gesehen sehr sinnvoll, da in einer solchen Situation üblicherweise günstige Bedingungen für Problemlösungen gegeben sind. Für den Patienten ist die Situation der chronischen Erregung und Unsicherheit höchst aversiv; das Ritual bietet zumindest eine gewisse Stabilität in der Unsicherheit (vgl. dazu auch die Funkti-on von Ritualen in verschiedenen Kulturen, in Situationen des Übergangs, der Unsicherheit und großen emotionalen Beteiligung, z. B. bei Tauf-, Hochzeits-, Reinigungs- oder Beerdigungsritualen).

Schuld und Verantwortlichkeit. Dieses Thema spielt für die gedankliche Verarbeitung eine zentrale Rolle: Der Pa-tient dehnt seine Verantwortung auf Bereiche aus, die im Prinzip außerhalb seiner Einflussmöglichkeiten liegen, so dass in vielen Fällen wohl von einer Form des magischen Denkens gesprochen werden muss.

Frau M. ist erst nach umfangreichen und zeitraubenden Kontrollen aller Wasserhähne und Toilettenspülungen in

der Lage, die Firma zu verlassen, in der sie angestellt ist. Da sie – gerade wegen dieser Kontrollen – zumeist die letzte Per-son ist, die das Gebäude verlässt, könnte sie ihrer Logik nach für eine Überflutung und einen damit verbundenen Wasserscha-den verantwortlich gemacht werden.

Gemeinsam mit den beiden anderen Konstrukten ergibt dieses Gefühl der Schuld und Verantwortlichkeit (Salkovs-kis 1989, spricht von „inflated responsibility“) eine Art Teufelskreis, aus dem die Patientin nur durch vermehrte Kontrollen zu entkommen glaubt. Im Sinne eines „meta-kognitiven Modells“ (Tallis 1995, Wells u. Mathews 1997) spielen damit die Gedanken des Patienten (vor allem seine Gedanken über seine Gedanken...) eine entscheidende Rol-le für die Stabilisierung des zwanghaften Systems.

Bewertung� des Modells. Die kognitiven Modellvorstellun-gen aus der Arbeitsgruppe um Salkovskis stellen in mehrfa-cher Hinsicht eine enorme Bereicherung dar:

■ Zum einen leistet das Modell einen Versuch zur Beschrei-bung und Erklärung rein kognitiver Abläufe, da das zen-trale Problem bei Zwangsstörungen vor allem gedankli-cher Art zu sein scheint.

■ Das Modell bietet weiterhin eine geradezu ideale Ein-bindung von Befunden der kognitiven Psychologie, der Gedächtnispsychologie und neuerer Emotionstheorien: Viele dieser Aspekte erweisen sich zur Klärung patholo-gischer Abläufe bei Zwangspatientinnen und Zwangspa-tienten als äußerst zielführend.

■ Nicht zuletzt enthält das Modell für die Therapieplanung und Therapiedurchführung eine Reihe von konkreten Hinweisen; als zentral muss demnach der Aspekt der Bewertung eines Gedankens angesehen werden. Ansätze der Veränderung von Bedeutung und Bewertung im Sin-ne kognitiver Therapie (siehe u.) bieten sich deshalb in besonderer Weise an.

■ Psychobiologische Modellvorstellungen (J. E. Schwartz)

Jedes körperliche und kog�nitive Geschehen ist mit physiolog�ischen und biolog�ischen Prozessen ver-

knüpft.

Aus diesem Grunde sind rein verhaltensorientierte oder rein kognitive Modellvorstellungen zumindest einseitig oder unvollständig. Für psychische Störungen wird deshalb in neuerer Zeit von einem biopsychosozialen Modell ausge-gangen, das jede Form von Reduktionismus verbietet (Da-masio 1997).

Aus verhaltenstherapeutischer Sicht haben Analysen von psychobiologischen Prozessen bei Zwangsstörungen bereits Tradition (Rachman u. Hodgson 1980, Schwartz u. Beyette 1997). Schwartz geht in seinen Überlegungen so weit, die Zwangsstörungen gewissermaßen als eine „Krankheit des Gehirns“ zu bezeichnen. Untersuchungen aus seinem ei-genen Labor haben gezeigt, dass das Gehirn durch Mecha-nismen des Lernens und der kognitiven Umstrukturierung beeinflussbar ist, dass also entsprechende Wechselbezie-hungen bestehen (mit entsprechenden Implikationen für die Therapie von Zwangsstörungen).

Nach unserem heutigen Wissen sind am Ablauf von Zwangsstörungen vor allem folgende Hirnareale beteiligt (Baxter et a. 1992, Greisberg u. MacKay 2003, Kathmann 2009):

aus: W. Senf, M. Broda: Praxis der Psychotherapie (ISBN 9783131060952) © 2012 Georg Thieme Verlag KG

24.1 Zwangserkrankungen im verhaltenstherapeutischen Kontext 353

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■ Corpus striatum (Basalganglien): In diesem Bereich er-folgt die automatische Übertragung von Handlungen (Putamen) bzw. von Gedanken (Nucleus caudatus). Die automatische Verarbeitung scheint bei Zwangspatienten beeinträchtigt.

■ Orbitaler Kortex: Hier erfolgt die Zusammenschaltung von Emotionen, Gedanken und Handlungen; durch die Störung des automatischen Ablaufes ergibt sich eine ge-wissermaßen chronische Aktivierung und Überaktivie-rung des Fehlernachweis-Reglers.

■ Gyrus cinguli: Die Beteiligung des limbischen Systems bringt entsprechende Angst, Unruhe und emotionale Erregung mit sich, die vom Individuum besonders unan-genehm und belastend erlebt wird; durch das oben ange-sprochene Neutralisieren kann der Patient diese Unruhe zumindest partiell reduzieren.

Potenzielle Zusammenhänge der einzelnen Systeme – unter Beteiligung des Thalamus – werden in Abb. 24.3 dargestellt.

Aktivierung� des Systems. Ähnlich wie im kognitiven Mo-dell von Salkovskis bestehen verschiedene Möglichkeiten der Aktivierung des Systems: Ein externer Reiz (Wasser-hahn, Schmutz, Gewaltgegenstand...) ebenso wie gedank-liche Prozesse (Bilder, Vorstellungen etc.) lösen einen ge-danklichen oder Verhaltensablauf aus. Die Hemmung des automatisierten Ablaufs (z. B. einfache Kontrolle des Was-serhahns oder eine visuelle Kontrolle) funktioniert nicht, weil im orbitalen Kortex eine Art chronische Fehlermel-dung erfolgt; die Beteiligung des limbischen Systems ergibt eine Aufschaukelung aversiver Gefühle („etwas ist nicht in Ordnung“). In dieser Situation versucht die Person zu-nächst, partielle Sicherheit herzustellen und die Unruhe zu neutralisieren, und erreicht durch das Ritual zumindest eine kurzfristige Beruhigung (negative Verstärkung). Sie ist sich allerdings unsicher (s. o., kognitive Modelle) und über-

nimmt große Verantwortung für Handlungen und für das Unterlassen von Handlungen, so dass das System über den Weg der Informationsverarbeitung nie abgeschlossen ist.

Umkehrung� des „omission error“. Als besonderer Aspekt der chronischen und gedanklichen Handlungsaktivierung kommt hinzu, dass es bei Patienten mit Zwangsstörungen offenbar zu einer problematischen Umkehrung des bei nor-malen Personen gegebenen „omission error“ kommt (Sal-kovskis 1996; Salkovskis u. Kirk 1996): Normale Personen fühlen sich für aktive Handlungen und deren Folgen stär-ker verantwortlich als für Handlungen, die sie unterlassen haben und die im Prinzip ebenso problematische Konse-quenzen haben (Beispiel: Unterlassen einer Geldspende für karitative Zwecke). Zwangspatienten scheinen diese Logik umzukehren: Sie fühlen sich in besonderer Weise verant-wortlich für Handlungen und Gedanken, deren Unterlas-sung möglicherweise problematische Folgen haben könnte (Beispiel: Kontrolle im Straßenverkehr, gedankliche Sprü-che, Formeln, Zählen etc. um ein Unglück zu vermeiden). Die Stabilität der Rituale ergibt sich in besonderer Weise dadurch, dass sie kontinuierlich negativ verstärkt werden (s. dazu auch 2-Faktoren-Modell).

Bewertung� des Modells. Die Relevanz von psychobiologi-schen Modellvorstellungen ist nicht so sehr in der bloßen Komplexitätserweiterung zu sehen; die Berücksichtigung des psychobiologischen Geschehens erscheint vielmehr unabdingbar. Von besonderem Wert ist diese Modellvor-stellung auch deshalb, weil sich einzelne Elemente harmo-nisch ergänzen: Prinzipien aus den klassischen Lerntheorien lassen sich hier ebenso gut integrieren wie Überlegungen zu kognitiven Prozessen, zum Thema der Bedeutung, der Verantwortlichkeit usw. Das Modell erscheint darüber hin-aus offen für Ergänzungen und Erweiterungen, die für das Verständnis von Zwangsstörungen große Bedeutung haben. Zu nennen sind entwicklungspsychologische Prinzipien (z. B. über die Rolle von Phasen des Übergangs, mit einem solchen Übergang verbundene Verunsicherung und der Rückgriff auf Rituale), aber auch Hinweise aus der Ethologie (siehe z. B. Rolle von Übersprungshandlungen) oder auf die Thematik einer kulturellen und sozialen Einbettung von Zwangsstörun-gen (z. B. Themen der Schuld, der Reinigung, der Verantwor-tung etc. in verschiedenen Kulturen). Dass gerade mit psy-chobiologischen Modellen Überlegungen zur Bedeutung un-terschiedlicher Therapiemodalitäten verknüpft sind, ist u. a. Thema der Erörterungen im folgenden Abschnitt.

Behandlung� von Zwang�sstörung�en

Im gesamten Spektrum psychischer Störungen gelten Zwangsstörungen zu Recht als besonders schwierig behan-delbar, was mit der Pathologie im engeren Sinne ebenso zusammenhängt wie mit der Struktur der psychosozialen Versorgung, aber auch mit Merkmalen der therapeuti-schen Interaktion. In den obigen Ausführungen wurde von einem Durchbruch in der Behandlung von Zwangsstörun-gen durch das Verfahren der Konfrontation und Reaktions-verhinderung (Meyer 1966) gesprochen. Das Prinzip steht Abb. 24.3 Psychobiologisches Modell für Zwangsstörungen.

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nach wie vor im Zentrum von verhaltenstherapeutischen Behandlungsansätzen. Hinzu kommen Variationen, Ergän-zungen und Verbesserungen im konkreten Vorgehen; eine besondere Rolle spielen auch das sog. Vorfeld der Behand-lung und prognostische Faktoren.

■ Vorbereitung der Behandlung

Die Durchführung von Verhaltenstherapie ist in einen kon-tinuierlichen Prozess eingebettet. An dessen Beginn steht die Klärung von Rollen, der therapeutischen Beziehung, des therapeutischen Settings; daran schließt sich eine Klärung und der Aufbau von Änderungsmotivation sowie eine prä-zise und detaillierte Verhaltens- und Zielklärung an (Kanfer et al. 2005).

Der konkrete technische Einsatz therapeutischer Metho-den steht in diesem Prozessmodell an relativ später Stelle und bedarf einer entsprechend genauen Vorbereitung der anderen Stufen. Das Gesagte gilt für Verhaltenstherapie im Allgemeinen. In der therapeutischen Arbeit mit Zwangspa-tienten zeigen sich einige Besonderheiten, deren Kenntnis und Berücksichtigung für eine effiziente Arbeit unverzicht-bar erscheint.

Verheimlichung�. Patienten mit Zwangsstörungen stehen ei-ner therapeutischen Intervention sehr zögerlich und ambi-valent gegenüber (Turner u. Beidel 1988). Dies zeigt sich u. a. daran, dass Patienten ihr Problem in der Regel sehr lange Zeit verheimlichen. Die Verheimlichung hat mit dem Schamge-fühl der Patienten ebenso zu tun wie mit der problemati-schen Struktur des Versorgungssystems. Besonders klar und eindringlich geschildert ist diese Problematik in der Darstel-lung einer ehemaligen Patientin (Ulrike et al. 1996).

Therapeutische Vorg�eschichte. In der Vorbereitung sollte berücksichtigt werden, dass Patienten mit Zwangsstörun-gen üblicherweise eine Kette von erfolglosen Behandlungs-versuchen hinter sich haben. Diese gehen in der Regel von Haus- und Fachärzten, stationären Klinikaufenthalten über Heilpraktiker, verschiedene psychotherapeutische Versu-che, Ansätze im paramedizinischen und nonprofessionel-len Feld, bis hin zu dubiosen und zum Teil unvertretbaren „Therapien“ auf dem Psycho-Markt. Patienten sind nach diesen Irrwegen zumeist entmutigt bis verzweifelt. Diese Tatsache ist unbedingt in Rechnung zu stellen (d. h. warum sollte aus Sicht des Patienten gerade die anstehende The-rapie helfen?).

Therapeutische Beziehung�. Die Interaktion und Beziehung mit einem Patienten verlangt vom Therapeuten ein hohes Ausmaß an Ruhe, Geduld und Frustrationstoleranz: Patien-ten treten einer Therapie oft mit Feindseligkeit, Ablehnung und zum Teil offener Aggressivität gegenüber (z. B.: „Sie ha-ben ja keine Ahnung, in welcher Situation ich mich befin-de!”). Auf der anderen Seite zeigt der Patient oft eine Form von Abhängigkeit (Übertragung?) die sich in Kombination mit dem oben Gesagten als problematisch erweist (z. B.: „Sie sind meine letzte Rettung, wenn sie mir nicht helfen, kann ich mich auch umbringen!”).

Motivation. In der Psychotherapieforschung ebenso wie in der therapeutischen Praxis gilt entsprechende Motiva-tion eines Patienten als besonders bedeutsam. Motivation meint dabei ganz konkret die Bereitschaft, sich auf einzel-ne Veränderungsschritte einzulassen und am Prozess der Zielerreichung mitzuarbeiten. Es liegt auf der Hand, dass gerade dieser Punkt bei Zwangspatienten eine besondere Schwierigkeit darstellt, bedeutet doch Therapie, zwar pa-thologische, allerdings auch gewohnte und stabile Verhal-tensmuster zu unterlassen. Aufgabe des Therapeuten ist es in diesem Kontext, Motivation nicht nur zu klären, sondern nach Möglichkeit zu unterstützen und zu fördern, indem Perspektiven und positive Beispiele aufgezeigt werden.

Plausible Erklärung�. In der Vorbereitung der Behandlung (vor allem der Exposition) stellt die plausible Erklärung der Problematik ein bedeutsames Element dar. Patienten mit Zwangsstörungen sind besonders verunsichert, da ihnen die Zwangsgedanken und Rituale unerklärlich sind. Aufga-be des Therapeuten ist es deshalb, dem Patienten in ver-ständlichen Worten den Stand unseres Wissens – bezogen auf seine individuelle Lebenssituation und Problematik – zu vermitteln. Die plausible Erklärung erleichtert nicht nur den Einstieg des Patienten in die Behandlung, sondern stellt auch ein Gebot der Transparenz unter dem Blickwin-kel des Selbstmanagement dar.

Makro-Ebene. Zum Aspekt des Vorfelds der Behandlung ge-hört es auch, den breiteren Lebenskontext des Patienten ge-bührend zu berücksichtigen. Auf der Makro-Ebene besitzt die Zwangsstörung in der Regel eine spezielle Funktion, die einer genauen Analyse bedarf (Marks 1987). Therapie be-deutet nicht nur einen Eingriff in die engere Problematik, sondern sie beinhaltet eine Veränderung des persönlichen, familiären und des sozialen Kontextes.

Herr E. nimmt – seit er von den Schwierigkeiten seiner Frau weiß – besonders viel Rücksicht auf sie; Werkzeug

lässt er weder im Garten, noch sonst im Haus liegen, damit sei-ne Frau nicht mehr beunruhigt wird, verschiedene „Gewaltge-genstände“ sperrt er in die Garage ein etc. Er versucht auch, besonders oft zu Hause zu sein, damit seine Frau nicht allein ist, bemüht sich, sie zu beruhigen und nimmt ihr eine Reihe von Entscheidungen ab.

■ Prognostische Faktoren

Der Effekt einer psychotherapeutischen Intervention hängt nicht nur von der Anwendung einer therapeutischen Maß-nahme im Kontext einer therapeutischen Beziehung ab; verschiedene Variablen beeinflussen die Prognose einer Behandlung gewissermaßen unabhängig von diesen Fakto-ren (Abb. 24.4).

Aus der Liste von Faktoren (Reinecker 1994) soll ein Bei-spiel jeder Spalte hervorgehoben werden:

■ Kurze Dauer gilt sicherlich deshalb als Faktor mit guter Prognose, weil sich die Problematik im Repertoire der Per-son und im Makro-Kontext (Bezugspersonen) noch nicht stabilisiert hat. Es ist einsichtig, dass das Alter der Person

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mit der Dauer der Störung korreliert, doch nicht das Alter der Person, sondern die kurze Dauer (interessanterweise auch nicht die Intensität der Störung) bildet den entschei-denden Prädiktor für eine mögliche Veränderung.

■ Als weitgehend irrelevant gilt zwanghaftes Verhalten in der Kindheit vermutlich deshalb, weil solches in der Kindheit äußerst weit verbreitet ist (dies meint nicht un-bedingt eine ausgeprägte Zwangsstörung im Kindesalter, Hemminger 1995).

■ Ein bekannt negativer Prädiktor ist mit sog. „overvalued ideas“ gegeben (Foa 1979, Foa et al. 1983, Kozak u. Foa 1994, 1996): Gemeint ist damit die Auffassung des Pati-enten, dass seine Ängste, Gedanken und Befürchtungen im Prinzip eine realistische Grundlage besitzen. Dass bei einer solchen Problemkonstellation eine Therapie nur sehr schwer möglich ist und daraus eine schlechte Prog-nose resultiert, liegt auf der Hand: Der Patient lässt sich auf die emotionale Bedeutung seiner Befürchtungen (Foa u. Kozak 1986, Kozak u. Foa 1996) nicht ein, so dass eine entsprechende Veränderung von Bedeutungen (Penne-baker 1993) nicht erfolgen kann.

Ein 32-jähriger Patient mit massiven Kontrollzwängen hin-sichtlich Straßenverkehr und potenzieller Unfälle, war im

Prinzip fest davon überzeugt, dass seine Kontrollen (Straße mehrfach abfahren, in angrenzenden Grundstücken nachsehen, auch nachts kontrollieren, Polizei anrufen usw.) höchst wichtig seien. Er hielt sich für in besonderer Weise dafür verantwortlich (siehe o.), diese Kontrollen durchzuführen, weil er beim Unter-lassen zwar unwahrscheinlicher-, aber möglicherweise doch Schuld auf sich laden würde, die er nicht ertragen könnte.

■ Prinzip der Behandlung

Das entscheidende Prinzip der Behandlung bei Zwangs-störungen besteht in Konfrontation und Reaktionsverhin-derung (Meyer 1966, Sturgis u. Meyer 1981, Marks 1975, 1987, Rachman u. Hodgson 1980, Turner u. Beidel 1988, Reinecker 1994, Kozak u. Foa 1996, Schwartz u. Beyette 1997, Lakatos u. Reinecker, 2007). Konfrontation verlangt eine präzise Identifikation derjenigen Stimuli (interner und externer Art), die die Unruhe und die damit verbundenen Rituale auslösen. Die Konfrontation des Patienten mit sol-chen Situationen setzt die oben angeführte Vorbereitung ebenso voraus, wie eine transparente Erklärung an den Patienten und den Hinweis, dass die Behandlung durchaus

unangenehm und belastend ist. Diese Belastung hängt u. a. damit zusammen, dass als 2. Komponente des Verfahrens die Reaktionsverhinderung greift (Marks 1987): Der Pati-ent wird dazu angeleitet, seine üblichen Vermeidungsritu-ale zu unterlassen, bis im weiteren Verlauf Angst, Unruhe, Erregung etc. abnehmen (Abb. 24.5).

Konfrontation und Reaktionsverhinderung bilden die für den Patienten einzige Möglichkeit zur konkreten Prü-fung seiner Erwartungen: Indem er seine bisherigen Ver-meidungsrituale unterlässt, erlebt er, dass die Rituale nicht notwendig sind. Dies lässt sich anhand des folgenden scherzhaften Beispiels, das manchmal auch zur Verdeut-lichung der zwanghaften Logik dem Patienten gegenüber verwendet wird, illustrieren:

Ein Mann sitzt beim Psychiater und schnippt unaufhör-lich mit den Fingern; nach einer Zeit fragt der Psychiater,

was es mit dem Schnippen der Finger auf sich habe. Antwort des Patienten: „Ich verscheuche die Fledermäuse in diesem Zimmer“. Der Psychiater: „Aber hier gibt es doch keine Fleder-mäuse“. Daraufhin der Patient: „Ja, weil ich immer mit den Fin-gern schnippe!”.

■ Praktische Durchführung

Stichwortartige, praktische Hinweise zur Durchführung des Verfahrens:

■ Die Durchführung sollte in der Regel in der Anwesenheit des Therapeuten erfolgen, unterstützt evtl. durch Co-The-rapeuten. Die Durchführung sollte im natürlichen Setting des Patienten erfolgen; auf Probleme der Anwendung in stationären Settings wird noch hingewiesen.

■ Die Dauer der Durchführung der Konfrontation und Reak-tionsverhinderung erscheint weniger bedeutsam als der Aspekt, dass der Patient eine Abnahme von Angst, Unru-he und Vermeidungstendenzen erlebt.

■ Die Dauer ist sicherlich offen, beträgt aber zum Teil meh-rere Stunden und verlangt vom Therapeuten entsprechen-de Flexibilität (s. Probleme der ambulanten Versorgung).

Abb. 24.5 Verlauf von Angst und Unruhe bei Vermeidung bzw. Kon-frontation/Reaktionsverhinderung.

Abb. 24.4 Prognostische Faktoren für die Behandlung von Zwangsstö-rungen.

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■ Der Patient sollte sich auf den emotionalen Inhalt seiner Ängste, Befürchtungen, Unruhe etc. einlassen. Das Prinzip „Wasch mich, aber mach mich nicht nass“ funktioniert in diesem Kontext keinesfalls. Bereits bei der Vorbereitung der Therapie wird Geduld aufseiten des Therapeuten verlangt, keinesfalls akzeptabel sind Überredung oder Überrumpelung. In der konkreten Durchführung der Intervention ist mit dem Hinweis auf die Vorbereitung durchaus Konsequenz erforderlich, was entsprechende Erfahrung und Kompetenz des Therapeuten voraussetzt.

■ Gewalt, auch psychische Gewalt, ist auf jeden Fall un-angebracht (z. B. auch ein Hinweis auf den Abbruch der Therapie). Die aktive Entscheidung des Patienten gegen den Beginn oder die Weiterführung der Therapie ist in jedem Fall zu respektieren.

■ Schrittweises Ausblenden von Hilfestellung und ein Über-gang zum Selbstmanagement bietet sich dann an, wenn der Patient Übungen selbstständig durchführen kann.

■ Notwendigkeit von Übungen, Aufgaben im Sinne von Hausaufgaben (siehe dazu auch Motivation) zwischen den einzelnen Sitzungen.

■ Bei Kontrollzwängen ist insbesondere die Übergabe der Verantwortung an den Patienten notwendig, was beson-derer Übung und Erfahrung des Therapeuten bedarf.

■ Information und Beteiligung von Bezugspersonen: Da diese üblicherweise mit dem zwanghaften System ver-netzt sind, erweist sich deren Einbindung in den thera-peutischen Prozess als wichtig. Dies gilt in besonderer Weise für die Stabilisierung von Veränderungen.

■ Unbedingt notwendig erscheint ein Aufbau von Alterna-tiven; Patienten waren oft viele Stunden mit zwanghaf-ten Ritualen beschäftigt. In der Therapie kann es nicht nur um eine Reduktion pathologischer Aspekte gehen, sondern um den Aufbau von „gesunden“ Denk- und Ver-haltensmustern (z. B. im Bereich des Berufes, der Freizeit, sozialer und persönlicher Beziehungen usw.).

■ Als unspezifische Faktoren der Intervention müssen si-cherlich Faktoren wie Beruhigung, Unterstützung, Ermu-tigung etc. genannt werden. Diese Faktoren sind in der Regel mit einer kompetenten Therapiedurchführung ver-bunden und somit davon nicht zu trennen.

Problematisch bleibt sicherlich der Umgang mit gedankli-chen Zwängen, weil Merkmale der kognitiven Vermeidung kaum kontrollierbar sind.

Das konkrete Vorgehen wurde aus der Sicht einer Patien-tin (Ulrike et al. 1996) sehr genau und im Detail beschrie-ben. Hier sind durchaus Hinweise zu belastenden wie auch erleichternden Faktoren bei der Bewältigung einzelner Si-tuationen zu entnehmen.

Frau E. wurde nach wenigen Therapiesitzungen ermu-tigt, ein Küchenmesser (eingewickelt in ein Küchentuch)

in die Handtasche zu legen, zu sich ins Auto und zur Therapie mitzubringen. Dieses Messer wurde dann auf den Tisch gelegt; in dieser Situation zeigte die Patientin zunächst eine massive Unruhe. Mit der Zeit beruhigte sie sich und wurde dazu ange-halten, mit dem Messer zu hantieren. Dies war anfänglich mit

größter Angst verbunden. Im Laufe der Zeit wurde die Patien-tin auch aufgefordert, mit anderen Gewaltgegenständen um-zugehen; sie sollte wieder beginnen, Tageszeitungen zu lesen und Gartengeräte zu benutzen. Außerdem suchte sie gemein-sam mit dem Therapeuten und der Co-Therapeutin die Garage auf. Gerade in diesem Bereich war es durchaus schwierig, die Verantwortung an die Patientin abzugeben, weil sie sich durch die Anwesenheit des Therapeuten und der Co-Therapeutin be-ruhigt fühlte. Wichtig war vor allem, zu Übungen überzuge-hen, in denen ein hoher Anteil an Selbstkontrolle und Selbst-management enthalten war (Hausaufgaben etc.). Von besonderer Bedeutung war in diesem Kontext auch ein Aufbau von Alternativen sowie die Veränderung der Kommunikation mit dem Partner (hinsichtlich der Bereiche Dominanz, Gefühle, auch aggressive Gefühle zulassen zu können und sie in der Kommunikation auszudrücken). Im Bereich der Alternativen kam es z. B. zu einer Wiederaufnahme der Berufstätigkeit, zu vermehrter Selbstständigkeit und größerem Selbstvertrauen der Patientin. In einem Follow-up nach 2 Jahren zeigte sie sich völlig beschwerdefrei; sie konnte ihrer früheren Halbtagsbe-schäftigung wieder nachgehen und schilderte auch die part-nerschaftliche und die soziale Interaktion als besonders befrie-digend.

■ Zur Diskussion von ambulanter versus stationärer Behandlung

Diese Frage erscheint keineswegs eindeutig zu beantwor-ten. Die Entscheidung wird nicht so sehr von der Problema-tik und deren Intensität abhängig sein, sondern vielmehr von Makro-Faktoren (z. B. familiäre Belastung etc., Ecker 1991, Crombach 1991). Bei fallweise durchaus sinnvollen stationären Behandlungen erscheint es besonders wichtig, einem nahtlosen Übergang zu ambulanter Therapie beson-dere Beachtung zu schenken und den Aspekt des Selbst-management zu betonen, weil Probleme vor allem eben zu Hause und nicht so sehr in der Klinik auftreten.

Kognitive Verhaltenstherapie bei Zwangsstörungen er-fordert, verglichen etwa mit unterschiedlichen Gruppen von Angststörungen, in der Regel einen größeren Aufwand und mehr Zeit. In vielen Fällen ist eine Langzeittherapie (rund 40–60 Stunden, Dauer 1–2 Jahre) angemessen. Man sollte bei der Behandlung von Zwangsstörungen sog. „Auf-frischungssitzungen“ mit den Patienten planen und abspre-chen: Auch nach dem formellen Ende der Therapie sollten Patienten Gelegenheit haben, sich an ihren behandelnden Therapeuten zu wenden, um einzelnen Restschwierigkei-ten – im Rahmen zumeist weniger Sitzungen und Übun-gen – zu begegnen. Solche Nachbehandlungen sollten nicht als Fehler des Therapeuten oder der Therapiedurchführung bzw. gar des Patienten angesehen werden. Die Schwierig-keiten, die Nachbehandlungen u. U. erforderlich machen, ergeben sich vielmehr aus der Dynamik der Störung und ihrer Vernetzung mit dem individuellen Lebenskontext. Schwartz u. Beyette (1997) sprechen in diesem Kontext sogar explizit von „Zwangsstörungen als einer chronischen Krankheit“.

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Behandlung� von Zwang�sg�edanken

Bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Zwangsstö-rungen spielen gedankliche Prozesse eine höchst bedeut-same Rolle: Sie besitzen in der Regel für den Ablauf des ge-samten zwanghaften Rituals die Funktion eines Auslösers (s. obiges Modell, Abb. 24.1). Eine besondere Schwierigkeit in der Behandlung stellen rein gedankliche Zwänge dar, also Zwangsstörungen ohne beobachtbare Rituale. Nosolo-gisch gesehen betrifft dies rund 25 % aller Zwangsstörun-gen (Rachman u. Hodgson 1980), im Versorgungskontext etwa die Hälfte dieser Rate (d. h. ca. 12 % im stationären Be-reich, Reinecker u. Zaudig 1996). Dies dürfte mit Faktoren der Selbst- und Fremdselektion ebenso zusammenhängen wie mit dem Umstand, dass Patienten mit rein kognitiven Zwängen offenbar noch eher in der Lage sind, persönlichen, sozialen und beruflichen Verpflichtungen nachzukommen.

Zwei Funktionen von Zwang�sg�edanken. Die zentrale Schwierigkeit in der Behandlung von Zwangsgedanken be-trifft nicht nur die „Flüchtigkeit“ von gedanklichen Prozes-sen, sondern insbesondere den Umstand, dass gedankliche Zwänge zwei ganz unterschiedliche Funktionen annehmen können:

■ Zum Einen die eines gedanklichen Ereignisses mit Stimu-luscharakter, damit also des Auslösers einer speziellen Bewertung und eines damit verbundenen Anstiegs von Erregung, Unruhe usw. (Beispiel „Ich könnte ein Kind mit einem Gewaltgegenstand verletzen oder sogar töten!”).

Diese sog. „angsterhöhenden“ Zwänge stellen speziell für ein Angstreduktionsmodell (Abb. 24.2) ein unlösbares Problem dar. In verschiedenen Überlegungen wird insbe-sondere darin (nämlich im Aspekt der Angsterhöhung vs. der Angstreduktion) der bedeutsame Unterschied zwi-schen Zwangshandlungen und Zwangsgedanken gesehen (Foa u. Tillmanns 1980).

■ Zum anderen können gedankliche Zwänge die Funktion von Reaktionen besitzen; hier bilden sie einen Versuch zur Reduktion von Angst, Unruhe und Erregung (z. B. „Lieber Gott, lass mich das nicht tun!”).

In der Behandlung� von Zwang�sg�edanken ist in beson-derer Weise auf deren unterschiedliche Funktion zu

achten, weil sie problematischerweise inhaltlich identisch sein können.

Dies wird am obigen Beispiel weniger deutlich als in ande-ren Fällen, etwa religiösen oder Zählzwängen: Das Denken einer bestimmten Zahl oder eines bestimmten Verses war für eine Patientin mit extremer Unruhe und Angst verbun-den (= Stimuluscharakter). Wurde der Gedanke allerdings 4-mal oder ein Vielfaches von 4-mal gedacht, so reduzierte sich die Unruhe (= Reaktionscharakter). Während gedank-liche Zwänge mit Stimuluscharakter der Konfrontation (Exposition) bedürfen, sollte Gedanken mit Reaktionscha-rakter (also das Neutralisieren) durch Reaktionsverhin-derung begegnet werden (Marks 1987, Salkovskis u. Kirk 1996).

Exkurs: Zur Rolle der Medikation bei der Behandlung von Zwangsstörungen

Nahezu alle Patienten haben bei Beginn einer kognitiven Verhaltenstherapie eine bereits lange dauernde „Karrie-re“ unterschiedlicher Behandlungsmaßnahmen hinter sich (ca. 7–10 Jahre, Reinecker u. Zaudig 1996). Unter diesen verschiedenen Maßnahmen nehmen medikamentöse Ver-fahren in der Versorgung sicherlich einen wichtigen Platz ein. Wenn man bisherige Forschungsergebnisse zu dieser Thematik zusammenfasst, so lässt sich Folgendes festhal-ten: Aus der breiten Gruppe von Psychopharmaka können unterschiedliche Antidepressiva als durchaus zielführende Medikamente angesehen werden. Dies mag damit zusam-menhängen, dass zwischen Depressionen einerseits und Zwangsstörungen andererseits biochemische Gemeinsam-keiten bestehen (Turner et al. 1985). Einschränkend aber muss bereits hier festgehalten werden, dass es einen spezi-fisch auf die Zwangsproblematik gerichteten pharmakologi-schen Effekt nicht gibt, so dass auch der Wirkmechanismus weitgehend unklar bleibt.

Innerhalb der Antidepressiva zeigen sich 2 Medikamen-tengruppen als sinnvoll und in der Anwendung bei Zwangs-störungen indiziert (in der Regel allerdings unbedingt in Kombination mit Verhaltenstherapie, v. Balkom et al. 1994, Hohagen 1998): Dies sind zum Einen trizyklische Antidepres-siva (Ananth 1986, Insel u. Mueller 1984, Turner u. Beidel 1988, DeVeaugh-Geis u. Katz 2000) und zum Anderen die selektiven Serotonin-Reuptake-Hemmer (SSRIs, Goodman

1982, Fineberg et al. 1992, Zohar u. Kindler 1992, Pigott u. Seay 2000). Beide Medikamentengruppen bewirken eine Veränderung des Serotonin-Systems, wobei die letztgenann-te Gruppe offenbar geringere Nebenwirkungen zeigt als die trizyklischen Antidepressiva. Interessant erscheint in dem Zusammenhang, dass Patienten mit Zwangsstörungen (im Vergleich speziell zu Angststörungen) kaum auf Placebos an-sprechen. Die Bedeutung medikamentöser Behandlung im Spektrum psychotherapeutischer Verfahren lässt sich heute kaum sachlich diskutieren. Die Argumentationen sind stärker durch berufspolitische Positionen als durch die Notwendig-keit der Versorgung und die Bedürfnisse von Patienten ge-kennzeichnet. In einer Übersicht verschiedener Studien zeigt Abel (1992), dass antidepressive Medikation (in Kombination mit Verhaltenstherapie) speziell zur kurzfristigen Verbesse-rung der Stimmung und zur Verbesserung der Motivation zur Behandlung durchaus angezeigt sein kann. Die Probleme medikamentöser Behandlung, insbesondere bezüglich uner-wünschter Nebenwirkungen und Rückfällen beim Absetzen der Behandlung, sollten dabei nicht übersehen werden: Die Rückfallquoten liegen im Bereich von 80–100 % bei rein medi-kamentöser Behandlung (Ananth 1986, Pato et al. 1988, Tur-ner u. Beidel 1988), was nach übereinstimmender Meinung aller Autoren unbedingt für die langfristige Kombination mit kognitiver Verhaltenstherapie spricht (v. Balkom et al. 1994, Stanley u. Turner 1995, Hohagen 1998, Kozak et al. 2000).

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In der Behandlung von reinen Zwangsgedanken können nach heutigem Stand folgende Wege bzw. deren Kombina-tion beschritten werden:

Konfrontation mit Gedanken und Verhindern des Neut-ralisierens. Die Konfrontation erfolgt hier in der Vorstel-lung (z. B. indem der Therapeut den Inhalt des Gedankens verbal darlegt). Der Klient sollte in dieser Situation ver-suchen, bei dem Gedanken zu bleiben (= Exposition) und nicht auf Strategien des Neutralisierens zurückgreifen (= Reaktionsverhinderung). Dieses Vorgehen stellt sich in der Praxis als äußerst schwierig dar: Weder die Vorstel-lung, noch das Unterbleiben des Neutralisierens lässt sich vom Therapeuten überprüfen. Auch für den Patienten ist es sehr schwierig, über längere Zeit hinweg bei einem – darüber hinaus noch aversiven – Gedanken zu verweilen. Eine gewisse Möglichkeit bietet die Strategie, Gedanken aufzuschreiben oder, noch besser, auf ein Tonband mit Endlosschleife zu sprechen. Das Tonband sollte dann vom Patienten über längere Zeit abgehört werden. Durch die monotone Darbietung bleibt der Patient beim Inhalt sei-nes problematischen Gedankens, so dass es zur Habituati-on und idealerweise Generalisierung kommen kann (Sal-kovskis 1989, Salkovskis u. Westbrook 1989, Salkovskis u. Kirk 1996).

Koppelung� mit externen Auslösern. Gedankliche Zwänge sind in der Regel nicht „gleichmäßig“ über den gesamten Tag und über verschiedene Situationen verteilt, sondern zumeist an externe und somit beobachtbare Auslöser ge-koppelt. Aufgabe der funktionalen Analyse ist es, diese Zusammenhänge zu erfassen und zu dokumentieren. Ein solches Vorgehen bietet zumeist einen in therapeutischer Hinsicht optimalen Ansatzpunkt.

Frau K. vermied es seit langer Zeit, eine Kirche aufzusu-chen, weil sie dort besonders häufig von blasphemischen

Gedanken gequält wurde. Der Anblick Jesu am Kreuze, ebenso bildliche Darstellungen und in generalisierender Weise auch bloße Kreuze lösten einen belastenden Gedanken aus (z. B. „Je-sus hängt nackt am Kreuz – ich könnte ihn berühren!”). Die Pa-tientin versuchte eine Kontrolle und Unterdrückung des Gedan-kens durch sog. religiös gute Gedanken (z. B. „Heilige Gottesmutter, Heilige Jungfrau Maria, bitte für uns!” und Ähnli-ches) und trug damit eindeutig zur Stabilisierung des gedankli-chen Ablaufes bei. Ein zentraler Aspekt der Behandlung be-stand darin, Kirchen und Kapellen aufzusuchen, emotionale Unruhe und das Abklingen der Unruhe durch länger dauernde Konfrontation zu erleben.

Es ist selbstverständlich, dass sich die Therapie der zwang-haften Problematik nicht in einer Konfrontation mit exter-nen Auslösern (z. B. auch bei aggressiven, schuldhaften The-men) erschöpfen kann; die Konfrontation bietet allerdings einen zumeist wichtigen Einstieg in die für den Patienten bedeutsame emotionale Thematik (Foa u. Kozak 1986, Pen-nebaker 1993). Gerade in diesem Bereich, nämlich wäh-rend der Auseinandersetzung mit zentralen emotionalen Themen, können Gemeinsamkeiten verhaltenstherapeuti-scher und psychoanalytischer Praxis gesehen werden.

■ Prinzipien kognitiver Therapie

Die Ansätze der kognitiven Therapie sind nicht neu, sie werden vielmehr von der Behandlung anderer psychischer Störungen her gewissermaßen übertragen und nutzbar ge-macht (Beck u. Emery 1985, Salkovskis u. Kirk 1989, 1996). In der Behandlung von Zwangsgedanken sind sie nicht mehr wegzudenken (Lakatos 1997, Wells 1997, Lakatos u. Reinecker 2000).

Das Prinzip kognitiver Therapie ergibt sich in besonderer Weise aus der Betrachtung des kognitiven Geschehens un-ter dem Blickwinkel des oben dargestellten Modells (Abb. 24.2). Von besonderer Bedeutung ist der Zusammenhang insofern, als nicht so sehr der Gedanke, sondern die mit ihm verbundene Bedeutung das zentrale Problem (vor al-lem für die Stabilisierung) der zwanghaften Probleme dar-stellt. Diese Bedeutung hängt selbstverständlich von indi-viduellen Bewertungen vor einem speziellen biografischen Hintergrund ab (z. B. die im obigen Beispiel angeführte The-matik der religiösen Gedanken mit den Themen Sexualität und Schuld der Patientin).

Die Bedeutung� der Zwang�sg�edanken. Gegenstand der kog-nitiven Therapie ist es nicht nur, „mit der Patientin zu spre-chen“, sondern die von ihr als zentral erachteten Aspekte der Bedeutung eines Gedankens zum Thema der Interven-tion zu machen. Schon auf der Ebene des Interviews bietet sich durch die Position des Therapeuten als „naivem Außen-stehenden“ für die Patientin die Möglichkeit an, sich ihren Gedanken in veränderter Sichtweise zu nähern. In weiterer Folge können durch eine Art „Sokratischen Dialog“ bisher vermiedene Folgerungen aus zwanghaften Gedanken zu-gänglich gemacht und einer neuerlichen Bewertung unter-zogen werden (Ellis u. Hoellen 1997). Auch das gewisserma-ßen paradoxe (Ascher 1989) Angebot an den Patienten, mit seinen Zwängen und Problemen weiterzuleben oder die mit dem Gedanken verbundene Unsicherheit, potenzielle Kon-sequenzen etc. zu ertragen, schafft vielfach einen Einstieg in eine veränderte Sichtweise des Problems und eine Erhö-hung der Motivation zur konkreten Behandlung.

Risikoübung�en. Dass kognitive Therapie nicht auf die kog-nitive Ebene beschränkt bleibt, zeigt sich in einer gemein-samen Erarbeitung sog. Risikoübungen, die der Patient zwi-schen den Sitzungen umsetzen kann und die eine deutliche Erweiterung des Verhaltensspielraums nach sich ziehen.

Herr U. musste beim Verlassen seiner neu bezogenen Wohnung eine Reihe von gedanklichen Kontrollen reali-

sieren, z. B. „Habe ich das Licht im Bad abgedreht...?”, „habe ich alle Fenster geschlossen...?”, „ist die Stereoanlage ausge-schaltet...?” Der Patient gewöhnte sich an stabile Muster in der Abfolge der Gedanken, die nicht verändert oder durchbrochen werden durften. In diesen (häufigen) Fällen musste alles neu beginnen usw. Arbeit und soziale Kontakte wurden immer schwieriger, weil der Patient immer zu spät kam und unter im-mer größeren Druck geriet. Im Laufe des Beginns der Behand-lung wurde gemeinsam mit dem Patienten die Idee entwickelt, in der Abfolge Fehler bewusst einzubauen und speziell kleine Risiken einzugehen, z. B. das Fenster den Tag über gekippt zu

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