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183 DRAMEN, DISKURSE, INTERMEZZI. DIE SONATEN OP. 53 BIS OP. 90 Die übliche Gliederung der Klaviersonaten Beethovens in dia- chrone Einheiten (»früh«, »mittel«, »spät«) und die Probleme, die dabei entstehen, wurden in der Einleitung erläutert und be- gründet. Im Folgenden wird es um die zweite Gruppe der soge- nannten »mittleren« Klaviersonaten Beethovens gehen. Sie setzt sich schon dadurch von den früheren bis Opus 31 ab, dass Beet- hoven bei der Suche nach neuen Wegen erstmals von der Drei- und Viersätzigkeit zu einer Anlage aus nur zwei Sätzen findet. Dabei sind die Zweisätzigkeit ebenso wie die früheren Lösungen mit mehr Sätzen ebenso begründet wie jeweils individuell aus- geführt. Letztlich war die Satzzahl der Klaviersonate nicht derart normiert wie die der anderen führenden Instrumentalgattungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts: Sinfonie, Streichquartett und Solokonzert. Die Konzertsinfonie war seit Haydn viersätzig, des- gleichen das Streichquartett, während das Konzert in der Regel drei Sätze umfasste. In der Klaviersonate hatte sich durch Johann Chr. Bach, Haydn und Mozart zwar ebenfalls ein deutlicher Trend zur Dreisätzigkeit herausgebildet. Daneben aber gab es, vor al- lem bei italienischen Komponisten, zahlreiche Werke mit nur zwei Sätzen, etwa bei Boccherini oder Clementi. Prägend für den Unterschied ist der leichtere Ton dieser meist aus zwei schnellen Sätzen bestehenden Klavierwerke, wie man ihn noch deutlich an den sogenannten »leichten Sonaten« oder »Sonatinen«, zum Bei- spiel auch in Beethovens Opus 49, ablesen kann. Von den sieben Sonaten der nun zu besprechenden Gruppe sind vier zweisätzig: die ersten beiden, Opus 53 und Opus 54, die letzte, Opus 90, sowie die eigentümlich entrückte Fis-Dur-Sonate op. 78. Die übrigen haben jeweils drei Sätze. Gänzlich verab- schiedet zu haben scheint sich Beethoven von der Viersätzigkeit, die er doch mit seinem ›Opus 1‹ der Klaviersonaten, der f-Moll- Sonate op. 2/1, eingeführt und zehn Mal genutzt hatte, sogar noch in der letzten der vorangehenden Gruppe, der Es-Dur-So- nate op. 31/3. Vor diesem Hintergrund ist das letzte viersätzige Werk Beethovens umso bemerkenswerter: Opus 106. Es gehört ins sogenannte »Spätwerk« und bildet eine Art resümierenden Rückblick auf die Gattung. Die Zweisätzigkeit dagegen ist ein Kennzeichen der »mittleren« Sonaten, die mit Anlage und Cha- rakter der »leichten Sonaten«, so eigentümlich es klingen mag, durchaus, wenngleich auf vertrackte Weise zu tun hat, zumindest in Opus 54, Opus 78 und Opus 90.

DRAMEN, DISKURSE, INTERMEZZI. DIE SONATEN …€¦ · zwei Sätzen, etwa bei Boccherini oder Clementi. ... den sogenannten »leichten Sonaten« oder »Sonatinen«, zum Bei-spiel auch

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DRAMEN, DISKURSE, INTERMEZZI.

DIE SONATEN OP. 53 BIS OP. 90

Die übliche Gliederung der Klaviersonaten Beethovens in dia-chrone Einheiten (»früh«, »mittel«, »spät«) und die Probleme,die dabei entstehen, wurden in der Einleitung erläutert und be-gründet. Im Folgenden wird es um die zweite Gruppe der soge-nannten »mittleren« Klaviersonaten Beethovens gehen. Sie setztsich schon dadurch von den früheren bis Opus 31 ab, dass Beet-hoven bei der Suche nach neuen Wegen erstmals von der Drei-und Viersätzigkeit zu einer Anlage aus nur zwei Sätzen findet.Dabei sind die Zweisätzigkeit ebenso wie die früheren Lösungenmit mehr Sätzen ebenso begründet wie jeweils individuell aus-geführt. Letztlich war die Satzzahl der Klaviersonate nicht derartnormiert wie die der anderen führenden Instrumentalgattungendes ausgehenden 18. Jahrhunderts: Sinfonie, Streichquartett undSolokonzert. Die Konzertsinfonie war seit Haydn viersätzig, des-gleichen das Streichquartett, während das Konzert in der Regeldrei Sätze umfasste. In der Klaviersonate hatte sich durch JohannChr. Bach, Haydn und Mozart zwar ebenfalls ein deutlicher Trendzur Dreisätzigkeit herausgebildet. Daneben aber gab es, vor al-lem bei italienischen Komponisten, zahlreiche Werke mit nurzwei Sätzen, etwa bei Boccherini oder Clementi. Prägend für denUnterschied ist der leichtere Ton dieser meist aus zwei schnellenSätzen bestehenden Klavierwerke, wie man ihn noch deutlich anden sogenannten »leichten Sonaten« oder »Sonatinen«, zum Bei-spiel auch in Beethovens Opus 49, ablesen kann.

Von den sieben Sonaten der nun zu besprechenden Gruppesind vier zweisätzig: die ersten beiden, Opus 53 und Opus 54, dieletzte, Opus 90, sowie die eigentümlich entrückte Fis-Dur-Sonateop. 78. Die übrigen haben jeweils drei Sätze. Gänzlich verab-schiedet zu haben scheint sich Beethoven von der Viersätzigkeit,die er doch mit seinem ›Opus 1‹ der Klaviersonaten, der f-Moll-Sonate op. 2/1, eingeführt und zehn Mal genutzt hatte, sogarnoch in der letzten der vorangehenden Gruppe, der Es-Dur-So-nate op. 31/3. Vor diesem Hintergrund ist das letzte viersätzigeWerk Beethovens umso bemerkenswerter: Opus 106. Es gehörtins sogenannte »Spätwerk« und bildet eine Art resümierendenRückblick auf die Gattung. Die Zweisätzigkeit dagegen ist einKennzeichen der »mittleren« Sonaten, die mit Anlage und Cha-rakter der »leichten Sonaten«, so eigentümlich es klingen mag,durchaus, wenngleich auf vertrackte Weise zu tun hat, zumindestin Opus 54, Opus 78 und Opus 90.

184 Die Sonaten op. 53 bis op. 90

Ein Kennzeichen der hier behandelten Sonatengruppe ist fer-ner ihre Einzelstellung. Mit Opus 31 hatte Beethoven noch dreiWerke zu einem Opus zusammengefasst und gemeinsam dru-cken lassen. Ab Opus 53 entstehen jedoch nur noch Einzelwerke.Dies ist gleichfalls ein Zeichen für eine erneut gewandelte Auffas-sung von der Sonate. Das Individuelle ihrer Problemstellung undLösung, aber auch das besondere Gewicht, das Beethoven ihnenals Werk beimisst, wird schon äußerlich dadurch zum Ausdruckgebracht, dass sie in Individualdrucken erscheinen und jeweilseine eigene Opusnummer erhalten. Die Sonate wird, wie die Sym-phonie, zum Monolith. Nicht mehr auf die zyklische Beziehungdreier oder (wie in den »klassischen« Sonaten op. 14 und den»Fantasien« op. 27) zweier Werke, sondern allein auf das Einzel-werk kommt es nun an. Mit Opus 53 beginnt sich Beethoven aufdie Idee zu konzentrieren, mit einer einzigen Sonate den entwor-fenen Problemkreis vollkommen abzustecken und auszufüllen.Es ist dies zugleich die Zeit, in der er auch mit der Eroica op. 55und einem Konzept beschäftigt war, das der Symphonie eine völ-lig neue Position in der Gattungsgeschichte geben sollte. Freilichscheint Beethoven trotz dieser neuen Individualisierung der So-nate auch weiterhin am Gedanken einer übergreifenden zykli-schen Konzeption festzuhalten: Denn die Sonaten op. 53, op. 54und op. 57 z.B. lassen sich mit gutem Grund auch als Werke-Zyklus begreifen – ebenso, wie spätere Sonaten sich zu Gruppenzusammenschließen, besonders deutlich die letzten drei Sonatenop. 109 bis op. 111.

Vor diesem Hintergrund ist die Entscheidung, Sonaten alsEinzelwerke zu veröffentlichen, die lediglich aus zwei Sätzen be-stehen, nur auf den ersten Blick befremdlich und nicht etwa einBetrug am Kunden: Nicht die Anzahl der Sätze macht eine So-nate zum eigen- und vollständigen »Opus«, sondern die Schlüs-sigkeit ihres Konzepts und die Gewichtigkeit der Ausführung.Und dass die neue ›Form‹, wenn man die Zweisätzigkeit einmalso bezeichnen darf, schlüssig ist und auch Spielern ebenso wieHörern durch und durch einleuchtet, das zeigt gleich die ersteSonate der Gruppe, die Waldsteinsonate. Es ist – neben der Pa-thétique, der sogenannten Mondscheinsonate sowie der Appas-sionata – die wohl berühmteste Klaviersonate Beethovens. Undder Grund ihrer Zweisätzigkeit ist ebenso ein Argument für uns,mit diesem Werk einen neuen Abschnitt im Gesamtkonzept derSonaten Beethovens beginnen zu lassen.

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VERLUST ALS GEWINN INDIVIDUELLER FORMLÖSUNGEN.DIE KLAVIERSONATE C-DUR OP. 53 WALDSTEINSONATE

Die Waldsteinsonate, die ihren Namen vom Widmungsträger hat,Beethovens Gönner seit seinen Bonner Jahren1, war anfangs drei-sätzig. Ferdinand Ries berichtet, Beethoven habe den ursprüng-lichen langsamen Mittelsatz herausgenommen, nachdem »einFreund« die Sonate für zu lang befunden hatte.2 Das schon kom-ponierte Andante wurde als Einzelsatz 1806 gedruckt.3 Stattdes-sen entstand die langsame »Introduzione«, die attacca zum Ron-do-Finale überleitet.

Trotz der Kürzung ist die Sonate aber immer noch eine derlängsten Beethovens und länger als viele viersätzige. Als »sonatagrande« im Autograph überschrieben gehört sie zu den tatsäch-lich »großen« und damit zugleich virtuosen Sonaten Beethovens.Von gleichem Typ, wenn man denn davon sprechen will, war zu-letzt die andere große C-Dur-Sonate, die allerdings viersätzig ist:Opus 2/3. Wie diese scheint auch die Waldsteinsonate der Vor-stellung eines Konzerts zu folgen, eines Konzerts freilich für Kla-vier allein.

In Opus 53 wird jedoch ein neuer Ton virtuoser Größe ange-schlagen. Zum Klavierkonzert-Typus tritt nämlich zugleich eindeutlich symphonischer Zug hinzu, sowohl im Blick auf die in-nere Ausführung wie auf den kalkulierten Anspruch. Dass dasWerk entgegen der ursprünglichen Absicht dann dennoch – äu-ßerlich – zweisätzig wurde, tut seinem Charakter keinen Ab-bruch. Dem Rat des Freundes wäre Beethoven wohl nicht ge-folgt, wenn ihm nicht eine einleuchtende Idee gekommen wäre,die nur dem Anschein nach auf einen Kompromiss hinausläuft:Die Introduzione ist mehr als nur eine Einleitung. Sie tritt tat-sächlich an die Stelle des langsamen Satzes, vertritt ihn also einer-seits, allerdings ohne andererseits eine eigenständige Einheit wieder herausgenommene Satz oder andere langsame Sätze Beetho-vens zu sein. Damit wird dem langsamen Satz im Sonatenzykluseine neue Rolle zugewiesen. Das Ergebnis dieser Maßnahme frei-lich ist, dass die Sonate zwischen Drei- und Zweisätzigkeit chan-giert, ihre Satzanordnung durch den Eingriff ambivalent gewordenist. Damit aber ist der erste Schritt in die neue Sonatengliederunggetan, die ambivalente Züge nie mehr ganz aufgeben wird. Wirsehen Beethoven, (möglicherweise) durch einen äußeren Grundveranlasst, ungewohntes Terrain betreten und werden Beobach-ter der kompositorischen Ausführung eines im wahren Sinne desWortes erneut ›außerordentlichen‹ Sonatenkonzepts, das dasProblem der Ambiguität auf die Gesamtanlage ausdehnt.

1 Von Graf Waldstein stammtder berühmte Spruch, den erdem jungen Beethoven mitauf seinen Weg nach Wiengab: »Durch ununterbroche-nen Fleiß erhalten Sie: Mo-zart’s Geist aus Haydens Hän-den« (Faksimile bei Rexroth,Beethoven, S. 53).

2 Ries, Biographische Notizen,S. 101.

3 Bekannt als »Andante favo-ri« WoO 57. Vgl. dazu denBeitrag von René Michaelsen,Mitteilungen aus der Nuss-schale [...], insbesondere: Ver-stecktes Virtuosenstück [...],S. 566–588, in diesem Band.

Die Klaviersonate C-Dur op. 53 Waldsteinsonate

186 Die Sonaten op. 53 bis op. 90

Mit der Umwandlung der Sonate zu einer zweisätzigen mitlangsamer Einleitung des Schlußsatzes vollzieht Beethoven fer-ner einen weiteren innovativen Schritt: den der besonderen Her-vorhebung des Finale als dem Ziel des zyklischen Prozesses dergesamten Sonate. Schon in früheren Werken war dies als Ten-denz und in den unterschiedlichsten individuellen Ausprägungenzu beobachten. Hier in Opus 53 aber wird das Finalprinzip, wiewir es nennen können, auf ein neues Reflexionsniveau gestellt.

Schon in den vorangehenden Kapiteln wurde mehrfach darü-ber gesprochen, dass und wie bei Beethoven erstmals das The-ma, die initiale Idee eines Satzes oder gar Werkes, zum Problemdes Satzes oder Werkes, zum Problem des Beginnens und desgesamten musikalischen Prozesses wird. Carl Dahlhaus hatte fürBeethovens »neuen Weg«, der sich auch in dieser neuen Haltungausdrückt, den Begriff der »thematischen Konfiguration« vor-geschlagen, vom »radikalen Prozesscharakter der musikalischenForm« gesprochen und die grundsätzliche »Ambiguität als arti-fizielles Moment« und als »Formidee« herausgestellt.1

Hieran anknüpfend lässt sich darüber hinaus, insbesonderemit und seit Opus 53, genau genommen aber auch schon abOpus 312, von einer kompositorischen Haltung Beethovens spre-

1 Dahlhaus, Beethovens »neuerWeg«, S. 46–62. Vgl. auchDanuser, Zum Problem musi-kalischer Ambiguität, S. 22–28.

2 Dahlhaus wählte als BeispielOpus 31/2.

Erste (links) und letzte Seite(rechts) des Autographs derWaldsteinsonate op. 53. AmRand der ersten Seite hat Beet-hoven eigenhändig notiert: »Nb:Wo ped. steht wird die ganzeDämpfung sowohl vom Bass alsDißkant aufgehoben, o bedeu-tet, daß man sie wieder fallenlaße«.

Auf der letzten Seite hat Beet-hoven Ausführungsvorschlägefür den Triller im Schlussteil ge-macht: »Nb: für diejenigen de-

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BEETHOVENS »CLAVIERSACHEN« UND IHREZEITGENÖSSISCHE REZEPTION

Ist heute von Beethovens Klavierwerk die Rede, dann dominiertein ganz bestimmtes Bild: Ein Konzertpodium mit geöffnetemSteinway-Flügel, klangmächtig genug, um einen ganzen Saal zufüllen, in dem ein Publikum dem Klavierabend eines professio-nellen Pianisten (oder seltener einer Pianistin) lauscht. Beetho-vens Klaviersonaten zählen zum Standard-Repertoire, prägen dieanspruchsvolle Gattung. Indessen unterscheidet sich dieses Bilderheblich von den Gegebenheiten zu Beethovens Zeit.

Seitdem hat der Instrumentenbau eine rasante Entwicklungerfahren. Es gab nicht ›den Flügel‹ bzw. ›das Klavier‹, sonderneine Vielfalt von Tasteninstrumenten, die mit ganz unterschied-licher Klangfülle und -farbe ein differenziertes Hörbild dieserMusik zu vermitteln vermochten. Beispielsweise der Kopfsatzder Sonata quasi una fantasia op. 27/2 ließ sich auf einem Ham-merflügel (italienisch: Pianoforte oder Fortepiano) mit durchwegaufgehobenem Dämpfer spielen, ohne dass sich die Töne zu ei-nem dissonanten Cluster mischten. Bis zu sieben Pedale, darun-ter Verschiebung, Moderator und Fagottzug, ermöglichten Nu-ancen, vergleichbar einer Registrierung oder gar Orchestrierungder Musik, die auf modernen Instrumenten nicht darstellbarsind. Zudem gab es lokale Traditionen, und zwischen einem eng-lischen Broadwood-, einem französischen Erard- oder einemWiener Graf-Flügel lagen Welten; außerdem unterschieden sichdie Instrumente je nach Klaviermanufaktur und deren Klang-ideal, das sich auch an den Wünschen der Kunden orientierte.Die schnelle Entwicklung, bei der Komponist / Interpret und gleich-falls als ausübende Musiker tätige Klavierbauer in enger Koope-ration standen, war bereits für die Zeitgenossen Beethovensdeutlich zu spüren: Am 5. September 1824 unterbreitete JohannAndreas Streicher brieflich Beethoven den Vorschlag einer He-rausgabe seiner sämtlichen Werke, verbunden mit der Bitte, die-ser möge »alle Clavier-Stüke, welche vor Einführung der Piano-forte von 5 1/2 oder 6 octaven, geschrieben worden, hie und daumändern und nach den jetzigen Instrumenten einrichten«.1 Inder Bonner und frühen Wiener Zeit standen Beethoven Instru-mente mit einem Umfang von fünf Oktaven zur Verfügung; seinErard-Flügel von 1803 umfasste fünfeinhalb, der 1817 von Tho-mas Broadwood geschenkte sechs und der ihm im Januar 1826von Conrad Graf geliehene Flügel sechseinhalb Oktaven. Wer-ke aus einem Zeitraum von mehreren Jahrzehnten um 1800 sind

1 Beethoven, Briefwechsel 5,S. 359.

484 Beethovens »ClavierSachen« und ihre zeitgenössische Rezeption

somit nicht gleichzusetzen mit dem heutigen Begriff ›Klaviermu-sik‹; eine Differenzierung wäre auch mit Blick auf die Rezeptionnotwendig.

BEETHOVEN AM PIANOFORTE

Für Beethovens Laufbahn maßgeblich waren seine Fähigkeitenals Pianist: als Interpret eigener Kompositionen, bei denen er dieMöglichkeiten des Instruments in neuer Weise ausnutzte, aberauch als improvisierender Virtuose. Beethoven suchte das Publi-kum, wie jener Brief vom 16. November 1801 an seinen BonnerJugendfreund Franz Gerhard Wegeler belegt, in dem auch vonersten Gehör-Problemen die Rede ist: »ich muß mich nun nochwacker herumtummeln, wäre mein Gehör nicht, ich wäre nunschon lang die halbe Welt durchgereißt, und das muß ich – fürmich gibts kein großeres Vergnügen als meine Kunst zu treibenund zu zeigen«.1 Die Klaviermusik-Rezeption geht daher zunächsteinher mit der Rezeption des Pianisten Beethoven. Zeugnisseüber ihn und sein Spiel nehmen manches voraus, was später beider Besprechung seiner Werke zu finden ist.

Václav Jan Tomásek berichtet in seiner Autobiographie übereinen Auftritt Beethovens:

»Im Jahre 1798 […] kam Beethoven, der Riese unter den Klavierspielern,nach Prag. Es gab im Konviktsaale ein sehr besuchtes Konzert, in welchemer sein C dur Konzert, op. 15., dann das Adagio und das graziöse Rondoaus A dur, op. 2., vortrug, dann mit einer freien Phantasie über das ihm vonder Gräfin Sch…. aus Mozarts Titus gegebene Thema ›Ah tu fossti il primooggetto‹ schloß. Durch Beethovens großartiges Spiel und vorzüglich durchdie kühne Durchführung seiner Phantasie wurde mein Gemüth auf eineganz fremdartige Weise erschüttert, ja, ich fühlte mich in meinem Inners-ten so tief gebeugt, daß ich mehre Tage mein Klavier nicht berührte […].[…] Dann hörte ich ihn zum drittenmal beim Grafen C…, wo er nebst demgraziösen Rondo der A dur Sonate über das Thema ›Ah! – vous dirai je Ma-man‹ phantasirte. Ich verfolgte diesmal mit ruhigerm Geiste BeethovensKunstleistung, ich bewunderte zwar sein kräftiges Spiel, doch entgingenmir nicht seine öftern kühnen Absprünge von einem Motiv zum andern,wodurch dann die organische Verbindung, eine allmählige Ideenentwick-lung aufgehoben wird. Solche Uebelstände schwächen oft seine großartigs-ten Tonwerke, die er in seiner überglücklichen Konzeption schuf. Nichtselten wird der unbefangene Zuhörer durch sie gewaltsam aus seiner über-seligen Stimmung herausgeworfen. Das Sonderbare und Originelle schienihm bei der Komposition die Hauptsache zu sein [...].«2

Diese Einschätzung wurde auch von Personen geteilt, die dasMusikleben anderer Metropolen kannten. Als zweites, späteresBeispiel sei aus den Souvenirs des Louis Baron de Trémont (eigent-

1 Beethoven, Briefwechsel 1,S. 89.

2 Tomašek, Selbstbiographie,S. 374.

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lich Louis-Philippe-Joseph Girod de Vienney) zitiert, der im Mai1809 im Gefolge Napoleons von Paris nach Wien gekommen unddort in Kontakt zu Beethoven getreten war:

»[…] pendant mon séjour a Vienne et, pour moi seul, il improvisait uneheure, et jusqu’a deux heures de suite. […] Les improvisations de Beethovenm’ont causé, peutêtre, mes plus vives emotions musicales. Je puis assurerque si on ne l’a pas entendu improviser bien à son aise, on ne connait qu’im-parfaitement l’immense portée de son talent. […] Lorsqu’il était bien dis-posé le jour fixé pour son improvisation, il etait sublime. C’était de l’inspi-ration, de l’entraînement, de beaux chants et une harmonie franche, parceque, dominé par le sentiment musical, il ne songeait pas, comme la plumea la main, a chercher des effets; ils se produisaient d’eux mêmes sans diva-gation. […] On comprend alors comment ses improvisations, toutes d’in-spiration, etaient supérieures a sa musique ecrite.«1

[Übersetzung:] »[…] während meines Aufenthaltes in Wien und, nur fürmich allein, improvisierte er eine Stunde und sogar bis zu zwei Stunden hin-tereinander. […] Die Improvisationen Beethovens haben bei mir meine viel-leicht stärksten musikalischen Empfindungen ausgelöst. Ich würde sogarbehaupten, dass man die ungeheure Tragweite seines Talents nur unvoll-kommen kennt, so lange man ihn nicht gehört hat, wenn er frei und zuseinem Vergnügen improvisiert. […] Wenn er an dem für seine Improvisa-tion festgelegten Tag gut aufgelegt war, war er in seinem Spiel einfach groß-artig. Es war voller Einfallsreichtum, Schwung, schöner Melodien und inder Harmonie frei, denn – ganz vom musikalischen Gefühl beherrscht –dachte er nicht daran, bestimmte Wirkungen zu erzielen, wie wenn er dieFeder in der Hand hielt; sie stellten sich ganz von selbst und unvermitteltein. […] Folglich wird man verstehen, auf welche Weise seine Improvisa-tionen, ganz auf Einfällen [Inspiration] beruhend, seiner notierten Musiküberlegen waren.«

Alle diese Zeugnisse für Beethovens Talent als Pianist und beson-ders als improvisierender Künstler betonen seine völlig andereArt des Klavierspiels – sowohl hinsichtlich des Ausdrucks alsauch der Technik, einschließlich unorthodoxer Fingersätze. Beet-hoven selbst hatte Vorstellungen vom Pianofortespiel, die seinerZeit weit voraus waren. An den Klavierbauer Johann AndreasStreicher schrieb er:

»[...] wenn mich auch nur einige verstehen, so bin ich zufrieden. es ist ge-wiß, die Art das Klawier zu spielen, ist noch die unkultiwirteste von allenInstrumenten bisher, man glaubt oft nur eine Harfe zu hören, und ich freuemich lieber, daß sie von den wenigen sind, die einsehen und fühlen, daßman auf dem Klawier auch singe[n] könne, sobald man nur fühlen kan[n],ich hoffe die Zeit wird kommen, wo die Harfe und das Klawier zwei ganzverschiedene Instrumente seyn werden.«2

Am 19. November 1796 kritisierte er im Brief an Streicher dessen»forte piano, was wahrlich vortrefflich gerathen ist«, und be-merkte gleichzeitig, dass »es mir die Freiheit benimmt, mir mei-nen Ton selbst zu schaffen«.3

1 Bibliothèque nationale deFrance, Département des ma-nuscrits, Français 12756, fol.183–194; von der Verfasse-rin nach dem Autograph über-tragen und übersetzt in: Beet-hoven aus der Sicht seinerZeitgenossen in Tagebüchern,Briefen, Gedichten und Erin-nerungen, hrsg. von KlausMartin Kopitz und Rainer Ca-denbach, München 2009,S. 1003–1022.

2 Beethoven, Briefwechsel 1,S. 32. Der Brief stammt wohlaus dem Zeitraum August /September 1796.

3 Beethoven, Briefwechsel 1,S. 33.

Beethoven am Pianoforte

486 Beethovens »ClavierSachen« und ihre zeitgenössische Rezeption

AUFFÜHRUNGSSITUATION UND QUELLENLAGE

ZUR REZEPTION

Der Klavierabend als Kultur- und Konzertform ist eine Erfindungdes späten 19. Jahrhunderts, mit Anfängen ca. ein halbes Jahr-hundert nach Beethovens Tod. Besonders seine nach 1810 kom-ponierten Klavierwerke fanden erst mit erheblicher Verzögerungeine weitere Verbreitung: Zwar hatte bereits Nanette Streicher1819/1820 die Große Sonate für das Hammerklavier op. 106intensiv studiert, doch erstmals öffentlich spielte diese FranzLiszt 1836, gefolgt erst wieder 1860 von Hans von Bülow. Letz-terer war es, der ab den 1870er Jahren Beethovens pianistischesŒuvre, auf mehrere Konzertabende verteilt, auf seinen Tourneeneinem internationalen Publikum zu Gehör brachte. In Paris wur-den die Klaviersonaten Beethovens als Zyklus erstmalig 1893von Marie Jaëll im Konzert gespielt. Zu Beethovens Zeit gehör-ten Kammermusik und Klaviermusik indessen primär in den inti-men Rahmen eines Kulturlebens, in dem sich Kenner und Lieb-haber künstlerisch betätigten und in dem die jeweils neue Kla-vierliteratur die aktive Teilnahme am Musikleben garantierte.Allein in Wien und seinen Vorstädten gab es fast zweihundertKlaviermanufakturen, um die wachsende Nachfrage zu bedie-nen. Zudem blieb das Pianoforte das Hauptinstrument für Frau-en besseren Standes, denen das Spiel eines anderen Instrumentsoder gar die professionelle Musikausübung verwehrt war.1 Auchdas Widmungsverhalten Beethovens spiegelt diese Verhältnisse,denn nicht zufällig sind fast alle Werke, die er Frauen zueigne-te, für oder mit Klavier besetzt. Viele dieser Damen waren aus-gezeichnete Musikerinnen, manche seine Schülerinnen: Sie wa-ren es, die als Pianistinnen im häuslichen Rahmen auf hohem Ni-veau musizieren konnten – nicht als virtuose ›Tastenlöwinnen‹,wohl aber als musikalisch gebildete Interpretinnen anspruchs-vollster Musik. Geht es um die frühe Rezeption des Klavierwer-kes, müssen wir uns somit in eine völlig andere Aufführungs-situation als die heutige hinein versetzen.

Die primär im privaten Rahmen zu verortenden Aufführun-gen von Kompositionen für das Pianoforte haben auch Auswir-kungen auf die Quellenlage zur Rezeption von Beethovens Wer-ken: Zwar gibt es Konzertberichte und Rezensionen, die in Zei-tungen und in der musikalischen Fachpresse publiziert wordensind, doch wird damit nur der öffentliche Teil der Rezeption er-fasst. Was in häuslichen Zirkeln gespielt wurde, ist nicht Gegen-stand der Musikkritik, muss also aus persönlichen Zeugnissenvon Beteiligten erschlossen werden oder aus Berichten von an

1 Vgl. Hoffmann, Instrumentund Körper, S. 91–112.