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Kapitel 8 Grundlagen der Entwicklungspsychologie 8.1 Gegenstand und Aufgaben der Entwicklungspsychologie 113 8.2 Die Entwicklungspsychologie der Lebensspanne nach P. Baltes 113 8.3 Entwicklungsaufgaben 115 8.4 Entwicklungsverläufe 116 8.5 Entwicklungsfaktoren 117 8.6 Kognitive Entwicklung nach Jean Piaget 120 8.7 Psychosoziale Entwicklung nach E.H. Erikson 123 aus: Ekert u.a., Psychologie für Pflegeberufe (ISBN 9783131389633) © 2014 Georg Thieme Verlag KG

Thieme: Psychologie für Pflegeberufe · 2020. 2. 24. · Baltes und Baltes (1989) beschreiben in ihrem SOK-Mo-dell des „erfolgreichen Alterns“ ein gutes Konzept, um mit negativen

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  • Kapitel 8

    Grundlagen derEntwicklungspsychologie

    8.1 Gegenstand und Aufgaben derEntwicklungspsychologie 113

    8.2 Die Entwicklungspsychologieder Lebensspanne nach P. Baltes 113

    8.3 Entwicklungsaufgaben 115

    8.4 Entwicklungsverläufe 116

    8.5 Entwicklungsfaktoren 117

    8.6 Kognitive Entwicklung nachJean Piaget 120

    8.7 Psychosoziale Entwicklungnach E.H. Erikson 123

    aus: Ekert u.a., Psychologie für Pflegeberufe (ISBN 9783131389633) © 2014 Georg Thieme Verlag KG

  • 8 Grundlagen der Entwicklungspsychologie

    „Denn das ist eben die große und gute Einrichtung dermenschlichen Natur, dass in ihr alles im Keim da ist undnur auf eine Entwicklung wartet.“ Johann Gottfried vonHerder (1744–1803), Dichter, Übersetzer, Theologe

    ●XExamensschwerpunkteGegenstand und Aufgaben der Entwicklungspsychologie(S.113), Entwicklungspsychologie der Lebensspannenach P. Baltes (S.113), Entwicklungsaufgaben (S.115),Entwicklungsverläufe (S.116), Entwicklungsfaktoren(S.120), Kognitive Entwicklung nach J. Piaget (S.120),Psychosoziale Entwicklung nach E.H. Erikson (S.123).

    8.1 Gegenstand und Aufgaben derEntwicklungspsychologieDie Entwicklung eines Menschen zu beobachten, ist einespannende Angelegenheit, denn Leben bedeutet Verände-rung von der Zeugung bis zum Tod.

    ●LDefinitionDie Entwicklungspsychologie ist eine Teildisziplin derPsychologie, die den Blick auf das Verhalten und Erlebendes Menschen richtet, wie es sich von der vorgeburtli-chen (pränatalen) Zeit bis zum Lebensende verändert. Eswird versucht, Gesetzmäßigkeiten zu finden, Entwick-lungsphasen zu beschreiben und unter bestimmten Vo-raussetzungen einen Entwicklungsverlauf vorherzusa-gen. Bedingungen, die menschliche Verhaltens- und Er-lebensweisen beeinflussen, sie fördern, schädigen oderverhindern, werden erforscht.

    So ist z. B. die körperliche Reifung des Nervensystems undder Muskulatur Voraussetzung dafür, dass ein Kind grei-fen, laufen und sprechen lernt. Das an biologische Ent-wicklungsprozesse gebundene Verhalten eines gesundenKindes, lässt sich vorhersagen: entsprechend der körper-lichen Entwicklung wird es sich im Alter von etwa einemJahr zum Stehen aufrichten, erste Schritte wagen, einigeWörter verstehen und erste Wörter sprechen.

    ●PAufgabe1 Betrachten Sie ein Foto aus Ihrer Kinderzeit. Was hatsich von damals bis heute verändert? Sammeln Sie Ver-änderungen und Entwicklungen aus Ihrem Leben. Tra-gen Sie die Ergebnisse in der Gruppe zusammen und ver-suchen Sie, das Vielerlei etwas zu ordnen.

    Alle menschlichen Lebensläufe ähneln sich in gewisserWeise und doch gibt es kaum etwas Verschiedeneres aufder Welt als zwei Menschenleben. Alle Menschen werdengeboren und sterben – und doch, wie verschieden gestal-ten sich Anfang und Ende und das Leben selbst! Obwohljeder Mensch etwa zum gleichen Zeitpunkt das Stehen,Laufen, Sprechen beginnt, ist er schon in diesem Altereine kleine Persönlichkeit geworden, die sich eindeutigvon anderen unterscheidet. Das Leben eines alten Men-schen kann ganz im Zeichen von Abbau und Defizit ste-hen, ein anderer erfreut sich bis ins hohe Alter einer gu-ten Gesundheit und Leistungsfähigkeit.

    In dem Spannungsfeld zwischen der den Menschen ge-meinsamen Entwicklung und deren Individualität stehtdie Entwicklungspsychologie. Psychologen beobachtenGesetzmäßigkeiten, die bestimmten Altersstufen zuge-ordnet werden können. Sie diagnostizieren, ob ein Ent-wicklungsstand altersentsprechend, also „normal“ ist, obein Entwicklungsrückstand oder ein Entwicklungsvor-sprung vorliegt. Eine solche Diagnose hilft, eine passendeund damit wirkungsvolle Entwicklungsförderung ein-zuleiten.

    Der menschliche Lebenslauf mit all seinen Veränderun-gen ist in der Psychologie seit etwa 1850 beliebter For-schungsgegenstand. Psychologen konzentrierten sich an-fangs auf die menschliche Entwicklung im Kindes- undJugendalter. Heute hat sich der Forschungsbereich aus-gedehnt: Die ganze Entwicklung von der vorgeburtlichen(pränatalen) Zeit bis zum hohen Alter ist von Interesse.Um die einzelnen Lebensabschnitte besser zu verstehen,betrachtet man den gesamten Lebenslauf.

    Auch in früheren Zeiten gab es ein Nachdenken überdie einzelnen Altersstufen und den ganzen Lebenslauf. Inunserer Zeit gibt es ein wachsendes Interesse an der Le-bensspannen-Sicht.

    8.2 Die Entwicklungspsychologieder Lebensspanne nach P. BaltesPaul Baltes, Psychologe und Gerontologe, lebte von 1939bis 2006. Bei seiner Arbeit in Deutschland und Amerikaging er der Frage nach: „Wie geschieht Entwicklung überden ganzen Lebenslauf hinweg?“ In gemeinsamer Arbeitmit seiner Frau, Margret Baltes, ebenfalls Psychologin undGerontologin, wurde das Altern erforscht und ein Kon-zept für erfolgreiches Altern entwickelt – das SOK-Modell(S.114).

    Paul Baltes entwickelte 7 Leitsätze einer Entwicklungs-psychologie der Lebensspanne:1. Lebenslange Entwicklung,2. Multidirektionalität,3. Entwicklung als Gewinn und Verlust,4. Plastizität,5. Geschichtliche Einbettung,6. Kontextualismus,7. Multidisziplinäre Betrachtung.

    8.2 Die Entwicklungspsychologie der Lebensspanne nach P. Baltes

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    aus: Ekert u.a., Psychologie für Pflegeberufe (ISBN 9783131389633) © 2014 Georg Thieme Verlag KG

  • ▶ 1. Lebenslange Entwicklung. Der erste Leitsatz gehtdavon aus, dass Entwicklung lebenslang stattfindet. Erle-ben und Verhalten eines Menschen können sich zu jedemZeitpunkt des Lebenslaufs verändern. Leben geht mit Ent-wicklung und Veränderung einher. Vom Lebensbeginn biszum Lebensende ist Entwicklung möglich.

    ▶ 2. Multidirektionalität. Multidirektionalität (lat.: mul-tus = viel, zahlreich; directio = Richtung) besagt, dass dieEntwicklungsprozesse in verschiedene Richtungen gehenkönnen. Ein Beispiel aus dem Bereich der Intelligenz: In-telligenz kann sich in der Lebensspanne verändern. DieIntelligenzkurve der fluiden Intelligenz zeigt zunächst ei-nen Anstieg bis ins Erwachsenenalter. Nach einer stabilenPhase fällt sie mit dem Älterwerden ab. Die kristalline In-telligenz (S.86) steigt auch nach dem Erwachsenenalterweiter an.

    Bei Kindern findet derzeit leider oft eine unerfreulicheEntwicklung statt: Während viele Kinder sich im Bereichder Feinmotorik durch Computerspiele verbessern, ver-schlechtert sich durch den Bewegungsmangel die Ganz-körpermotorik.

    ●IFallbeispielMultidirektionalität Peter ist 10 Jahre alt. Für seineHausaufgaben benutzt er immer öfter und gekonnt dasInternet. Täglich verbringt er mit Spielen mehrere Stun-den am Computer. Seine Finger bewegen sich auf derTastatur mit großem Geschick und einer beachtlichenGeschwindigkeit. Im Sportunterricht ist er hingegennicht in der Lage, mit geschlossenen Füßen über einenBalken zu springen.

    ▶ 3. Entwicklung als Gewinn und Verlust. Entwicklungbedeutet nicht nur Wachstum und Gewinn im Sinne vonimmer besserem, erfolgreicherem Verhalten, sondern ver-läuft zwischen Gewinn (Wachstum) und Verlust (Abbau).So ist in der Lebensspannenpsychologie der Gedankewichtig, dass Altern nicht nur (im biologischen Sinn) alsAbbau, sondern (im psychologischen Sinn) auch alsWachstum gesehen wird (Expertentum, Weisheit).

    ●IFallbeispielGewinn und Verlust Gesundheits- und KrankenpflegerinAnke arbeitete, bis sie im Alter von 57 Jahren einenschweren Bandscheibenvorfall erlitt, in einer chirurgi-schen Abteilung. Da es ihr danach körperlich nicht mehrmöglich war, schwer zu heben und zu tragen, machtesie eine Weiterbildung und verschiedene Fortbildungenin Wundmanagement und arbeitet nun gerne und zu-frieden in dieser Funktion.

    Baltes und Baltes (1989) beschreiben in ihrem SOK-Mo-dell des „erfolgreichen Alterns“ ein gutes Konzept, ummit negativen Veränderungen umzugehen:

    ● Selektion beschreibt die Strategie, aus den verbleiben-den Möglichkeiten solche auszuwählen, die noch mög-lich sind, anstatt dem Unmöglichen nachzutrauern.

    ● Optimierung bedeutet, sich in den ausgewählten Berei-chen zu steigern, zu verbessern, „Experte“ zu werden.

    ● Kompensation bedeutet, was nicht mehr möglich istdurch Hilfestellung, Hilfsmittel zu ermöglichen oderseine Interessen und Einstellungen zu verändern.

    Gesundheits- und Krankenpflegerin Anke wählte aus denverbleibenden Möglichkeiten den Bereich des Wundma-nagements aus (Selektion). Diesen optimierte sie durchFort- und Weiterbildungen. Bei der Wundversorgungschwerer Patienten nimmt sie gerne die Unterstützungihrer Kolleginnen und Kollegen in Anspruch (Kompensa-tion).

    ●HMerkeEntwicklung geht mit Wachstum und Abbau, Gewinnund Verlust einher.

    ▶ 4. Plastizität (Veränderbarkeit). Verhalten und Erle-ben sind veränderbar. Lebenslanges Lernen bringt Verän-derung in jedem Lebensalter mit sich. Bis ins hohe Alterkönnen körperliche und kognitive Leistungen trainiertwerden. Plastizität kann zu einer Optimierung des Lebensim Alter beitragen. Die Lebensspannenpsychologie er-forscht die Möglichkeiten und die Grenzen der Veränder-barkeit.

    ●IFallbeispielPlastizität Im Alter von 88 Jahren hat Herr Decker er-folgreich an einem Computerkurs teilgenommen.

    ▶ 5. Geschichtliche Einbettung. Die geschichtliche Ein-bettung eines Lebenslaufs, der historische Kontext, bildeteinen Rahmen für die individuelle Entwicklung des Men-schen. Sie ist Bedingungen unterworfen, die aus der his-torischen Zeit hervorgehen. In Kriegs- oder Bürgerkriegs-zeiten ist Lebenszeit damit ausgefüllt, Leben zu schützenund zu erhalten. In politisch stabilen Zeiten kann ein Le-benslauf andere Ziele verfolgen, z. B. Bildung, Gesundheit,materielle und ideelle Werte. Es gibt heute mehr Pflicht-schuljahre als früher. Dadurch hat sich, z. B. aufgrund vonWissenszuwachs, das schulische Bildungsniveau verbes-sert. Die individuelle Entwicklung wird also durch his-torische und gesellschaftliche Faktoren bestimmt.

    ▶ 6. Kontextualismus. Kontextualismus (lat.: con= zu-sammen, textus = gewebt, gefügt) meint die Tatsache,dass das Lebensalter eines Menschen einiges über seinenEntwicklungsverlauf aussagt, aber nicht alles. Neben demhistorischen gibt es weitere Kontexte. Entwicklung stehtauch im Zusammenhang mit kritischen Ereignissen, dieim Lebenslauf weniger Menschen geschehen (nicht nor-mativ).

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  • ●IFallbeispielKontextualismus Familie Bauer adoptierte Karin, ein 2-jähriges Mädchen, das aus schwierigsten sozialen Ver-hältnissen kam und zu diesem Zeitpunkt noch kein Wortsprach und auch in der Motorik deutlich entwicklungs-verzögert war. Nach 4 Jahren konnte das Kind einge-schult werden und hatte den Entwicklungsrückstandaufgeholt. Vor ihrem Hintergrund (Kontext) war das eineenorme Leistung.

    Lebenslange Entwicklung geschieht in vielerlei Zusam-menhängen, z. B. im Zusammenhang mit dem Lebens-alter, im Zusammenhang mit kritischen Lebensereignis-sen und im Zusammenhang mit der geschichtlichen Si-tuation. In diesem Drei-Faktoren-Gefüge von Einflussgrö-ßen ist die Entwicklung eines Menschen zu betrachten.

    ▶ 7. Multidisziplinäre Betrachtung. Entwicklung ge-schieht in verschiedenen Bereichen, z. B. körperlich, intel-lektuell und sozial. Eine multidisziplinäre Betrachtung(lat.: disciplina = Lehr- und Unterrichtsfach) entsprichtder Vielschichtigkeit der Entwicklung in einer Lebens-spanne. Unterschiedliche Wissenschaften beleuchten denVerlauf der Entwicklung eines Menschen aus unter-schiedlichen Blickwinkeln. Wenn z. B. Soziologie, Biologie,Psychologie, Medizin und Pflegewissenschaft ihre Er-kenntnisse zusammentragen, ergibt sich ein vielfältigesBild, was einem menschlichen Leben besser gerecht wird.

    ●IFallbeispielMultidisziplinäre Betrachtung Tim ist 10 Jahre alt. We-gen zunehmender Verhaltensauffälligkeiten wenden sichTims Eltern an das Jugendamt. Im Rahmen einer Hilfe-

    plankonferenz, an der auch Tim teilnimmt, tauschen sichEltern, Lehrerin, Psychologe, Schulsozialarbeiter und Kin-derarzt aus, um ein umfassendes Bild von Tim und seinerSituation zu gewinnen. Ziel der Konferenz ist es, einenHilfeplan zur Förderung einer positiven Entwicklung desJungen zu erstellen.

    ●HMerkeDen entwicklungspsychologischen Blick auf die Lebens-spanne zu richten, bedeutet, Veränderungen des Erlebensund Verhaltens unter neuen Blickwinkeln zu betrachten:

    Veränderungen geschehen lebenslänglich und in vie-lerlei Richtungen (Multidirektionalität), sie bestehen ausGewinnen und Verlusten, sie sind veränderbar (Plastizi-tät), sie sind in den historischen und andere Kontexteeingebettet und werden von ihnen beeinflusst. Sie zu er-forschen, bedarf es der Beiträge verschiedener Wissen-schaften (Multidisziplinäre Betrachtung).

    ●PAufgabe2 Finden Sie für jeden der sieben Leitsätze ein eigenesBeispiel.3 Erklären Sie den Begriff „Plastizität“ am Beispiel der In-telligenz

    8.3 EntwicklungsaufgabenIn jeder Lebensphase sollen bestimmte Entwicklungszieleerreicht werden. Im dann folgenden Lebensabschnittwerden neue Ziele verfolgt. Die Übergänge sind fließend.Die Entwicklung vieler psychischer Funktionen ziehensich auch über mehrere Abschnitte hin (▶ Tab. 8.1).

    Tab. 8.1 Entwicklungsaufgaben nach R. J. Havighurst

    Lebensphase Entwicklungsaufgaben nach Havighurst

    Säuglingsalter ● Lernen von Nahrungsaufnahme,● beginnende Sprachentwicklung.

    Kindheit ● Erwerb der Geschlechtsrolle,● Lernen von sozialer Kooperation,● Lernen von Basiskompetenzen im Lesen, Schreiben, Rechnen,● Entwicklung von Moral und Werten.

    Adoleszenz ● Akzeptieren der körperlichen Reifung,● Erwerb einer Geschlechtsrollen-Identität,● Gestalten von Peer-Beziehungen.

    Frühes Erwachsenenalter ● Partnerwahl/Ehe,● Familiengründung/Kinder,● Beginn einer Berufskarriere.

    Erwachsenenalter ● Übernahme sozialer und öffentlicher Verantwortung,● Kindererziehung,● Entwicklung der Berufskarriere.

    Hohes Alter Anpassung an:● Nachlassen von Körperkräften,● Ruhestand und Rollenveränderung,● Tod von Lebenspartnern.

    8.3 Entwicklungsaufgaben

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    aus: Ekert u.a., Psychologie für Pflegeberufe (ISBN 9783131389633) © 2014 Georg Thieme Verlag KG

  • ●LDefinitionEntwicklungsziele, die auf der Zeitachse des Lebensalterserreicht werden sollten, nennt man auch Entwicklungs-aufgaben. Dieser Begriff umfasst biologische, soziologi-sche und psychologische Aspekte. In den einzelnen Le-bensabschnitten müssen bestimmte Aufgaben bewältigtwerden: z. B. in der Kindheit Greifen, Sprechen, Lesenund Schreiben, im Jugendalter eine eigene Identität fin-den und im höheren Lebensalter Alltagsanforderungenbei gesundheitlichen Einschränkungen bewältigen.

    8.4 EntwicklungsverläufeDas Wort „Entwicklung“ wird in vielerlei Zusammenhän-gen verwendet. Entwicklung auf dem Gebiet der Techniklässt uns von vorneherein annehmen, dass es sich umetwas in seiner Art Besseres, Schöneres oder völlig Neu-artiges handelt. In der Werbung wird Entwicklung meistin Verbindung mit den Begriffen „neu“ oder „besser“ ver-wendet.

    ●LDefinitionIn der Psychologie meint Entwicklung dagegen – zu-nächst ohne jede Bewertung – alle Veränderungen, dieim zeitlichen Verlauf des menschlichen Lebens, von derZeugung bis zum Tod, auftreten.

    Dabei kann es durchaus vorkommen, dass eine spätereVerhaltensweise eine Einschränkung einer früheren dar-stellt.

    Beispiele für Bereiche, die eine Entwicklung durchlau-fen, sind:● Sprache,● Wahrnehmung,● Motorik,● Gefühle.

    8.4.1 SpracheDie Sprachentwicklung zeigt, dass der Entwicklungspro-zess vom Kind zum Erwachsenen von einfachen Verhal-tensweisen zu einer zunehmenden Variabilität des Ver-haltens führt.

    In der „Sprache“ eines 9 Monate alten Babys findensich sämtliche Lautkombinationen aller Sprachen derWelt, in der Sprache des 6-jährigen Kindes nur noch dieseiner eigenen Sprache. Aus dem gemeinsamen „Sprach-schatz“ aller Babys gehen die einzelnen, jeweils verwen-deten Sprachen hervor. Erst durch oft mühsames Erlernenkönnen Lautkombinationen verschiedener Sprachen spä-ter wieder erworben werden.

    Die vielen neuen Wörter, die ein Kind in den ersten Le-bensjahren verstehen und sprechen lernt, bleiben in derweiteren Entwicklung nicht ungeordnet nebeneinander

    stehen, sondern werden nach und nach in grammatika-lischer Form strukturiert und in schriftlicher und mündli-cher Form verwendet. Aus der Vielfalt an Verhaltensmög-lichkeiten wird einiges ausgewählt, andere Möglichkeitengehen verloren. Die Anpassungsfähigkeit ist in den erstenEntwicklungsstadien am größten und geht nach und nachzu Gunsten der Differenzierung und Spezialisierung ver-loren.

    ●HMerkeEntwicklung geht zunächst mit zunehmender Differen-zierung einher: Erleben und Verhalten entwickeln sichvom Undifferenzierten zum Differenzierten.

    8.4.2 WahrnehmungIm optischen Bereich besteht nach der Geburt die Fähig-keit Hell und Dunkel zu sehen, dann folgt das Erkennenvon Bewegungen, später von Formen und Farben bis sichschließlich ein nahezu vollständiges Bild unserer sicht-baren Umwelt ergibt. Das im Auge entstandene Bild wirddurch das Gedächtnis ergänzt und erweitert.

    8.4.3 MotorikIm Bereich der Grob- und Feinmotorik, beim Laufen undGreifen, bei der Mimik und Gestik finden wir den glei-chen Ablauf der Entwicklung vom Ganzheitlichen, Ein-fachen zum Differenzierten und zum gesteuerten Einsatz(▶Abb. 8.1). Das Neugeborene reagiert auf angenehmeund unangenehme Reize mit dem ganzen Körper. Diewillkürliche Muskulatur nimmt an dieser primitiven Reiz-beantwortung teil. Empfindet ein Säugling an einer Stelleseines Körpers Schmerz, reagiert er mit Schreien und Be-wegung des ganzen Körpers. Später kann der Menscheine schmerzende Stelle gezielt bewegen oder benennen.Aus den Ganzkörperbewegungen („Bewegungssturm“)wird ein zielsicheres Greifen, ein verneinendes Kopf-schütteln oder ein Lächeln. Aus einer diffusen, ganzheitli-chen Bewegung wird eine Vielzahl variabler, sehr diffe-renzierter Bewegungen. Auch durch ungewohnte Bewe-gungsabläufe findet die weitere Differenzierung derGrobmotorik statt (▶Abb. 8.2)

    Vielfältig sind beim Erwachsenen die motorischenMöglichkeiten z. B. der Hand oder die mimischen Aus-drucksformen: das verächtliche Herabziehen der Mund-winkel, das nachdenkliche Runzeln der Stirn, der fragen-de, gleichgültige oder bohrende Blick, der durch kleinsteMuskelveränderungen der Augenpartien entsteht.

    8.4.4 GefühleDie Gefühlsskala ist beim Säugling bipolar, sie umfasst zu-nächst Wohlbefinden und Unwohlsein (in älterer analyti-scher Sprache: Lust und Unlust). Im Verlauf der emotiona-len Entwicklung differenzieren sie sich zu einer Vielzahlvon Emotionen. Ein erwachsener Mensch kennt Gefühle

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    aus: Ekert u.a., Psychologie für Pflegeberufe (ISBN 9783131389633) © 2014 Georg Thieme Verlag KG

  • wie Freude, Liebe, Wut, Ehrgeiz, Begeisterung, Eifersucht,Trauer, Mitleid und viele andere.

    ●PAufgabe4 Zeigen Sie an einem weiteren Entwicklungsgeschehen,z. B. am Sozialverhalten, an der Musikalität, an den sport-lichen Fähigkeiten oder an der Intelligenz, dass Entwick-lung mit zunehmender Differenzierung einhergeht.

    8.5 EntwicklungsfaktorenWodurch werden Entwicklungsprozesse ausgelöst? Wastreibt die Entwicklung weiter? Was lenkt sie in eine be-stimmte Richtung?

    ●LDefinitionMit dem Begriff Entwicklungsfaktoren bezeichnet mandie Faktoren, die Entwicklung in Gang setzen, aufrecht-erhalten und positiv oder negativ beeinflussen.

    Die Frage nach den Faktoren, die die Entwicklung beein-flussen, bewegt vor allem Eltern und Erzieher: WelcheRolle spielen genetische Anlagen und welche die Umge-bung, in der ein Mensch aufwächst (Umwelt)? Heute wer-den drei Entwicklungsfaktoren unterschieden, die sichgegenseitig beeinflussen können:1. genetische Anlagen,2. Umweltfaktoren,3. Eigenaktivität.

    8.5.1 Genetische AnlagenJeder kennt die stolze oder anklagende Bemerkung: „Dashat das Kind vom Vater, jenes von der Mutter geerbt.“

    Wie hoch ist der Anteil der genetischen Anlage undwie stark ist der Umwelteinfluss eines Verhaltensmerk-mals? Diese Frage ist noch ungeklärt.

    Während der genetische Anteil bei einigen körper-lichen Merkmalen, wie z. B. der Augenfarbe, eindeutignachgewiesen ist, ist er besonders im Bereich der Persön-lichkeitsmerkmale äußerst umstritten. Es gibt im Bereichdes menschlichen Verhaltens keine Methode, um dieseFrage eindeutig zu beantworten.

    fetale Haltung Kinn anheben Brust anheben greifen, aber verfehlen sitzen mit Unterstützung

    sitzen im Kinderstuhl, sich bewegendes Objekt ergreifen

    allein sitzen

    stehen mit festhalten

    stehen mit Unterstützung

    krabbeln gehen mit Unterstützung

    Treppen hinaufklettern

    sich zum Stand emporziehen

    alleinstehen

    allein gehen

    sitzen im Schoß, Objekt er-greifen

    13 Monate 14 Monate 15 Monate

    5 Monate 6 Monate 7 Monate 8 Monate

    Geburt 1 Monat 2 Monate 3 Monate 4 Monate

    9 Monate 10 Monate 11 Monate 12 Monate

    Abb. 8.1 Differenzierung der Motorik von der fetalen Haltung bis zum freien Gehen (nach Zimbardo)

    8.5 Entwicklungsfaktoren

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  • ReifungsprozesseEs stellt sich die Frage, welche Rolle körperliche Reifungbeim Entwicklungsgeschehen spielt und wie weit sich dieUmwelt hier fördernd oder hindernd auswirkt. Ent-wickeln sich manche Verhaltensweisen ohne mitmensch-lichen Einfluss? In vielen Bereichen existieren genetischvorprogrammierte Reifungsprozesse, bei denen Umwelt-prozesse eher eine untergeordnete Rolle spielen.

    Fehlt die Voraussetzung der körperlichen Reifung, dannwird sich eine neue Verhaltensweise, der nächste Ent-wicklungsschritt, auch bei intensiver Förderung nicht ein-stellen. So viel eine ehrgeizige Mutter ihr 6 Monate altesBaby auch auf die Beine stellt und zum Laufen ermuntert,es wird es nicht tun, weil die biologische Reife noch nichtvorhanden ist: Muskulatur und Knochenbau bieten nochnicht die notwendigen Voraussetzungen.

    ●HMerkeVoraussetzung für die motorische Entwicklung ist dieReifung des Nervensystems, der Muskulatur und der Sin-nesorgane. Die einzelnen auf biologischer Reifung beru-henden Entwicklungsschritte treten bei gesunden Men-schen etwa im gleichen Lebensalter auf. Beim Laufen ler-nen handelt es sich um einen Entwicklungsvorgang, derstark von der körperlichen Reifung abhängt.

    Besonders im ersten Lebensjahr finden sich Entwick-lungsprozesse, die biologische Reifung voraussetzen. Siewerden mit zunehmendem Alter immer seltener.

    8.5.2 UmweltfaktorenPsychische Merkmale sind komplexer als biologischeMerkmale wie Größe oder Haarfarbe. Es ist bekannt, dassMerkmale wie Geiz, Misstrauen, Nervosität und viele an-dere familiär gehäuft auftreten können. Dabei ist oftschwer erkennbar, ob dies auf genetische Anlagen oderauf Lernprozesse zurückzuführen ist.

    ▶ Verhaltenstradition. „Großmutter war so nervös,Mutter ist nervös und jetzt zeigen sich schon Anzeichenvon Nervosität bei dem kleinen Jungen.“ Schnell wird nungefolgert: „Das liegt in der Familie!“ In der Tat gibt es eineVerhaltenstradition in der Familie: Auf unruhiges mütter-liches Verhalten reagiert eben auch ein Kind mit Unruheund Nervosität (ohne dass eine genetische Anlage dafürverantwortlich sein muss) und ruft dadurch möglicher-weise bei der Mutter wieder Ungeduld hervor.

    ▶ Modelle. Außerdem lernen Kinder an den Modellenihrer Umgebung. So werden Verhaltensweisen, die sichspäter zu eigenen Persönlichkeitsmerkmalen entwickelnkönnen, z. B. von den Eltern, von Geschwistern, Lehrern,Freunden, Großeltern oder auch von Personen aus demBereich der Medien abgeschaut.

    ▶ Chancen. Die Umgebung ist für die Entwicklung einesMenschen sehr wichtig. Hier werden Einstellungen ge-prägt und unterschiedliche Chancen zur Weiterentwick-lung bereitgestellt: Welche Schulen gibt es, welche Ver-eine? Gibt es die Möglichkeit ein Studium zu finanzieren?Welche Freunde, Kollegen usw. umgeben den Menschen?All diese Faktoren können die Entwicklung massiv beein-flussen. Jedoch ist auch die Bereitstellung der bestenMöglichkeiten keine Garantie für einen reibungslosenEntwicklungsverlauf.

    8.5.3 EigenaktivitätHeute wird Entwicklung nicht nur als ein Resultat von ge-netischer Anlage und Umweltbedingungen betrachtet.Schließlich ist jeder Mensch auch selbst an seiner Ent-wicklung beteiligt. Er kann mit steuern, was aus ihmwird.

    Abb. 8.2 Hüpfen und Springen fördern die Entwicklung derGrobmotorik.

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  • ●LDefinitionDie Eigenaktivität beschreibt die Art und Weise, in derein Mensch auf Entwicklungsreize antwortet: Wie er sieverarbeitet, Neues ausprobiert, in seine Verhaltensmög-lichkeiten aufnimmt, Lust an der Wiederholung undÜbung hat und sich schließlich am Erfolg freuen kann.

    Zu den Entwicklungsfaktoren Anlage, Reifung und Um-welt kommt also ein dritter, den Vorgang der Entwick-lung beeinflussender Aspekt hinzu: Die Eigenaktivitäthält, durch die angeborene Neugier bei der Begegnungdes Kindes mit seiner Umwelt – spontan und ohne Hilfevon anderen Personen – die Entwicklung in Gang.

    Auch ein Kind, das alleine in einem Zimmer ist, wirdsich irgendwann auf den Weg machen, um seine Umge-bung zu erforschen. Ohne mitmenschliche Unterstützung,allein durch Interaktion mit Gegenständen, die eckig oderrund, hart oder weich, leicht oder schwer sind und he-runterfallen oder die ein Geräusch von sich geben, wennman sie bewegt, schreitet Entwicklung fort.

    Fast alle Kinder malen einen Menschen zunächst alsKopffüßler (▶Abb. 8.3). Diese undifferenzierte Gestalt re-präsentiert den Menschen auf dieser Wahrnehmungs-und Gestaltungsstufe. Eines Tages erlebt das Kind (auchohne Korrektur durch die Eltern!), dass das gezeichneteBild dem Wahrgenommenen nicht mehr entspricht. Eslöst spontan (Eigenaktivität) diesen Konflikt, indem esseine Zeichnung der objektiven Menschenfigur etwasmehr annähert (Arme und Beine werden gezeichnet).

    8.5.4 Zusammenwirken von geneti-scher Anlage, Umweltfaktoren undEigenaktivitätEntwicklung ist ein kompliziertes Geschehen. GenetischeAnlage, körperliche Reifung, fördernde oder einschrän-kende Umwelteinflüsse, gegenständliche und mit-menschliche Umgebung und die Eigenaktivität sind insich ergänzender Weise am Entwicklungsgeschehen be-teiligt (▶Abb. 8.4).

    ▶ Sprachentwicklung.. Das Zusammenspiel all dieserFaktoren wird hier exemplarisch am Beispiel der Sprach-entwicklung dargestellt. Im Alter von etwa einem Jahrsind i. d. R. folgende Voraussetzungen erfüllt:● muskuläre und neuronale Beherrschung der Lautbil-dung durch Mund, Kiefer, Zunge und Stimmbänder(Reifung),

    ● Hören und Verstehen einzelner Wörter (sensorischeVoraussetzung),

    ● Förderung durch Menschen, die mit dem Kind sprechen(Umwelt),

    ● Wiederholung einzelner Wörter wie „Mama“, „Papa“,„Auto“. Das Kind freut sich an der Verständigung undführt sie immer wieder herbei, es hat Lust am Sprechen(Eigenaktivität).

    Eine gute Sprachentwicklung wird durch das gelungeneZusammenwirken dieser verschiedenen Entwicklungs-faktoren ermöglicht.

    ●IFallbeispielGenetische Anlage, Umweltfaktoren, EigenaktivitätAnna ist ein auffallend hübsches Mädchen. Sie ist groß,schlank, hat schöne blonde Haare und blaue Augen (ge-netische Anlage). Annas Mutter ist Modedesignerin undhat früh Annas Interesse an schöner Kleidung geweckt.Bereits in der Grundschule hatte Anna Freundinnen (Um-welt), die sich nachmittags trafen, um sich gegenseitigzu schminken. Durch diese Umgebung wurde AnnasNeugier für diesen Bereich immer stärker. Als in der Dis-kothek eine „Miss-Wahl“ angekündigt wird, meldet An-na sich als Kandidatin an (Eigenaktivität).Abb. 8.3 Kinderzeichnung: der Mensch als Kopffüßler.

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    Abb. 8.4 Zusammenwirken der Entwick-lungsfaktoren.

    8.5 Entwicklungsfaktoren

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  • ●HMerkeWir fassen zusammen: Entwicklung ist ein Zusammen-spiel von Reifungsfaktoren, psychischen und soziokul-turellen Faktoren. Die motorische und sensorische Ent-wicklung, die Umwelteinflüsse und die Eigenaktivität desKindes wirken dabei wechselseitig aufeinander ein. Dasgenetische Erbe stellt den Rahmen dar, in dem durchUmwelteinflüsse und Eigenaktivität unterschiedlicheAusprägungen erreicht werden.

    ●PAufgabe5 Sophie ist 13 Monate alt. Sie ist ein temperamentvollesKind und bewegt sich seit 5 Monaten schnell und sicherdurch Krabbeln fort. Seit einigen Tagen zieht sie sich anden Möbeln hoch und geht mit Festhalten an den Hän-den einige Schritte. Als sie eines Tages wieder eifrig„übt“, gelingt es ihr, drei Schrittchen frei zu gehen. Sieist selbst erstaunt, ihre Eltern und Geschwister klatschenin die Hände. Sogleich versucht Sophie, die neue Art derFortbewegung zu wiederholen, wieder zu aller Freude. Inkurzer Zeit beherrscht sie das freie Laufen.

    Analysieren Sie das Geschehen. Beschreiben Sie dasZusammenspiel von motorischen und sensorischen Rei-fungsvorgängen, von Umweltfaktoren und Lernaktivitätdes Kindes.6 Zeigen Sie, dass Entwicklung auch im hohen Lebens-alter von Anlagen, Umwelteinflüssen und Eigenaktivitätbeeinflusst wird.

    8.6 Kognitive Entwicklung nachJean PiagetDer Schweizer Entwicklungspsychologe Jean Piaget lebtevon 1896 bis 1980. Viele Jahrzehnte seines Lebens ver-brachte er mit der Erforschung der kindlichen Entwick-lung. Schon früh stellte er die spannende Frage: Wiekommt der Mensch zu Erkenntnissen und Wissen überdie Welt? Er wollte wissen, wo die Anfänge der kogniti-ven (erkennenden) Fähigkeiten liegen, und wie das Welt-bild eines Kindes zustande kommt. Unermüdlich beob-achtete und befragte er Kinder, auch seine eigenen, undwar dabei fasziniert davon, wie Kinder die sie umgebendeWelt wahrnehmen und über sie denken, und wie sich diekognitiven Fähigkeiten immer wieder verändern und imLaufe der kindlichen Entwicklung immer weiter fort-schreiten.

    ●LDefinitionUnter Kognition versteht man alle Prozesse, die mitWahrnehmen, Erkennen und Denken zu tun haben.

    Alle Funktionen, die das Erkennen und Erfassen der Weltermöglichen, sind kognitive Fähigkeiten, z. B.: Wahrneh-men, Denken, Sprache, Gedächtnis und Intelligenz(▶Abb. 8.5). Sie sind Gegenstand des lebenslangen Inte-resses von Jean Piaget. Am psychologischen Institut inGenf betrieb er seine wissenschaftlichen Forschungenund sammelte und veröffentlichte die Ergebnisse zahlrei-cher Studien.

    Er kommt zu dem Schluss, dass Kinder anders denkenals Erwachsene, und dass sich ihr Denken in verschiede-nen, voneinander unterscheidbaren Phasen entwickelt.

    8.6.1 Phasen der kognitivenEntwicklungNach Jean Piaget lässt sich die kognitive Entwicklung in 4Phasen einteilen. Eine Phase baut auf der anderen auf. DieEntwicklung läuft also immer in der gleichen Reihenfolgeab. Die Übergänge können fließend sein, d. h., es werdennoch die alten kognitiven Strukturen (z. B. Greifen mit derganzen Hand) verwendet, während die neuen (z. B. derZweifingergriff) schon ausprobiert werden, bis sie so si-cher funktionieren, dass die alten abgelegt werden. DieAltersangaben können von Kind zu Kind variieren.

    Sensomotorische Phase (ca. 0–2 Jahre)In dieser Phase geht es um Sinneswahrnehmung und Be-wegung. Von Geburt an stehen dem Menschen Möglich-keiten zur Verfügung, der ihn umgebenden Welt zu be-gegnen:● Sinnesfunktionen wie Sehen, Hören, Fühlen,● Motorik in Form von Reflexen wie Suchen, Saugen,Schlucken.

    Abb. 8.5 Alle Funktionen, die das Erkennen und Erfassender Welt ermöglichen, sind kognitive Funktionen.

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  • Durch eigenes Verhalten werden mit der Zeit gezielt an-genehme Erlebnisse herbeigeführt: Das Baby kann diebunte über sein Bettchen gespannte Kugelkette anschau-en (Sinneswahrnehmung). Durch ein zunächst zufälligesHändeklatschen auf die Bettdecke, gerät die Holzkette mitGlöckchen in Bewegung und gibt Töne von sich. Das Kindführt nach einigen Wiederholungen der Bewegungen dasVergnügen daran selbst aktiv herbei. Schon in dem sehrfrühen Alter bemerkt das Kind seine eigene Wirkung aufdie Umwelt. Durch eigenes Verhalten kann es Reaktionenvon Gegenständen oder Menschen erreichen.

    Während der ersten Lebensmonate erlebt das Baby ei-nen versteckten Gegenstand als verschwunden. Zu seinenKenntnissen über die Welt gehört etwa ab dem 6. Lebens-monat, dass auch noch existiert, was im Moment nichtsichtbar ist. Piaget nennt diese neue Erkenntnis Objekt-permanenz.

    ●IFallbeispielObjektpermanenz In einem unbeobachteten Momenthat der 7 Monate alte Benjamin aus der Kitteltasche desArztes einen Kugelschreiber genommen und will ihn inden Mund stecken. Es gelingt dem Arzt, den Kugel-schreiber an sich zu nehmen. In der Absicht, dass sichder Vorgang nicht wiederholt, lässt er ihn in einer Schub-lade verschwinden. Wäre Benjamin 4 oder 5 Monate alt,wäre die Angelegenheit nach dem Motto „aus den Au-gen, aus dem Sinn“ erledigt. Der kleine Junge aber be-ginnt sofort, aktiv den Kugelschreiber zu suchen.

    Das 7 Monate alte Kind hat i. d. R. eine Vorstellung voneinem vorher sichtbaren Gegenstand, auch dann noch,wenn dieser im Moment nicht mehr sichtbar ist. Hierkommt die kognitive Funktion des Gedächtnisses zumTragen.

    Präoperationale Phase (ca. 2–7 Jahre)In dieser Zeit steht dem Kind als neue kognitive Funktiondie Sprache zur Verfügung. Unabhängig von den realenGegenständen und Handlungen entwickelt es Vorstellun-gen von den Dingen. Jetzt stehen Wörter für die konkre-ten Dinge und Handlungen. Wörter symbolisieren dierealen Dinge (symbolisches Denken).

    Wenn das Kind in der sensomotorischen Phase einenGegenstand haben wollte, musste es danach greifen; jetztkann es ihn mit Worten fordern: „Gib mir den Teddy!“

    Ohne einen Hund vor Augen zu haben, kann man mitihm über einen Hund reden, weil es eine Vorstellung voneinem Hund entwickelt hat.

    In diesem Entwicklungsstadium sieht das Kind dieWelt nur aus seiner eigenen Perspektive. In seinem Welt-bild hat die Sichtweise anderer Menschen auf die gleicheGegebenheit noch keinen Platz. Diesen sog. Egozentris-mus des Kindes veranschaulichte Piaget in seinem „Drei-Berge-Versuch“ (▶Abb. 8.6): Vor einem Modell mit dreinach Höhe und Form unterschiedlich gestalteten Bergensitzt ein Kind in Position 1. Es beschreibt seine Sicht der

    Bergelandschaft. Werden Kinder im Alter der präopera-tionalen Phase aufgefordert zu beschreiben, was eine Per-son aus den Positionen 2 oder 3 sieht, geben sie ihre eige-ne Darstellung wieder. Sie sind noch nicht in der Lage,sich eine Situation aus der Perspektive einer anderen Per-son vorzustellen.

    ▶ Animismus. (lat.: anima = Seele). Zu den Vorstellungenvon der Welt gehört, dass alles, was sich bewegt, als le-bendig erachtet wird und auch die Eigenschaften von Le-bewesen hat. Es kann wachsen, böse oder lieb sein. DasBlatt im Wind versucht, vor dem Kind davonzulaufen.Sonnenstrahlen wollen mit ihm spielen. Ein kleiner Steinist noch nicht so gewachsen wie ein großer. In dem hierbesprochenen Alter hält das Kind die Welt für „beseelt“,also lebendig. Es wird später bemerken, dass diese An-nahme nicht den Tatsachen entspricht, seine kognitiveStruktur erweitern und zwischen lebendig und leblos un-terscheiden können.

    Das Denken ist in diesem Alter stark an die Anschau-ung gebunden, wie folgender Versuch, den jeder leichtmit Kindern dieser Altersgruppe durchführen kann, deut-lich macht:

    Wird vor den Augen des Kindes Wasser von einem Glasin ein gleich großes und gleich geformtes Glas gefüllt, er-kennt das Kind, dass es sich um die gleiche Flüssigkeits-menge handelt. Auch wenn es beobachten kann, dass diegleiche Wassermenge in ein schmäleres hohes Glas ge-schüttet wird, urteilt es nach dem anschaulich gegebenenWasserspiegel: „In diesem Glas ist mehr drin (▶Abb. 8.7).“

    ●HMerkeSinnesfunktionen und Motorik bestimmten im Säug-lingsalter die Interaktionen mit der erfahrbaren Welt.Die 2- bis 7-Jährigen verfügen über neue Denkstruktu-ren: Symbolisches und anschauliches Denken sind Merk-male der präoperationalen Phase.

    Position 1

    Position 2Position 3

    Abb. 8.6 Piagets 3-Berge-Versuch (nach Oerter u. Montada2002).

    8.6 Kognitive Entwicklung nach Jean Piaget

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  • Phase der konkreten Operationen7–11 JahreWissen und Erkenntnis über die Welt erfahren etwa mitBeginn des Schulalters einen deutlichen Fortschritt. Dasbisher an die Anschauung gebundene Denken kann nunmehrere Merkmale der Umgebung einbeziehen. BeimUmfüllen der Flüssigkeit (s. o.) von einem Gefäß in ein Ge-fäß mit einer anderen Form, bezieht das Kind nun auchdie Breite und Höhe des zweiten Gefäßes ein; es kann sichauch gedanklich vorstellen, die Flüssigkeit in das ersteGefäß zurückzugeben und urteilt: „Es ist die gleiche Men-ge, egal in welchem Gefäß.“ Zu solchen Denkoperationenbraucht es zwar die konkrete Situation, aber hat sich inseiner Einschätzung des Vorgangs von der reinen An-schauung (Höhe des Wasserspiegels) gelöst. Der „Denk-fehler“ der präoperationalen Phase ist durch die richtigeSchlussfolgerung überwunden.

    Die kognitive Struktur erweitert sich enorm durch dieEntwicklung der Sprache, des Gedächtnisses und der Vor-stellungsfähigkeit. So können nun auch Objekte, Situatio-nen und Probleme aus dem Blickwinkel einer anderenPerson gesehen werden (s. o. 3-Berge-Versuch).

    Auch die Zeitperspektive gewinnt an Umfang. Vorherwar die Wahrnehmung der Gegenwart beherrschend,jetzt weitet sie sich in Richtung Vergangenheit und Zu-kunft.

    Die kognitive Struktur ist jetzt in der Lage, eine gewisseOrdnung in die Vielfalt der Welt zu bringen, indem Dingein Gruppierungen zusammengefasst und Oberbegriffe ge-bildet werden. Das Kind beherrscht die Fähigkeit, nachverschiedenen Kriterien Ähnliches in Klassen zusammen-zufassen.

    ●IFallbeispielGruppierungen Auf die Frage: „Was ist ein Pferd?“ sagtdas jüngere Kind im präoperationalen Stadium: „DerMax ist ein Pferd; er gehört meinem Opa.“ Ein Kind imAlter zwischen 7 und 12 Jahren erwidert mit einemOberbegriff: „Ein Pferd ist ein Tier.“

    Kinder können nun auch gedanklich mit der Hierarchievon Klassen umgehen. Ein Pferd gehört zu der höherenKlasse „Lebewesen“, „Säugetier“ und es gibt Untergrup-pen wie Reitpferd, Arbeitspferd, Stute, Hengst, Fohlen.

    Dr. Sauter ist ein Arzt, aber es gibt verschiedene Unter-gruppen von Ärzten, z. B. Augenarzt, Zahnarzt, Hausarzt.

    Logische Denkoperationen werden durchgeführt, z. B.:„Alle Pferde sind Säugetiere, sie ernähren sich vegeta-risch. Max ist ein Pferd, also ist Max ein Säugetier.“

    Phase der formalen Operationen(ab ca. 12 Jahren)Mit Beginn des Jugendalters wird die kognitive Strukturnoch komplexer. Das Denken löst sich von Anschauungund konkreter Situation. Es abstrahiert sich von dem, wasunmittelbar vor Augen ist und ist immer besser in der La-ge, einzelne Informationen miteinander zu kombinierenund Schlussfolgerungen zu ziehen. Das logische, abstrakteDenken gewinnt an Beweglichkeit. Dies zeigt sich z. B. ander zunehmenden Fähigkeit, Probleme „im Kopf“, alsonur durch Nachdenken von verschiedenen Seiten zu be-trachten, Annahmen aufzustellen und wieder zu verwer-fen, Vorausgegangenes einzubeziehen und Zukünftigesvorauszusagen. In Gedanken kann eine kommende Ent-wicklung vorweggenommen werden. Es gelingt jetzt im-mer besser, eine Handlung nicht erst selbst durchzufüh-ren, sondern ihr Ergebnis zu antizipieren.

    ●IFallbeispielLogisches, abstraktes Denken Jutta ist 17 Jahre alt undleidet seit 3 Jahren an Diabetes mellitus. Sie weiß genau:„Wenn ich heute Nachmittag Kuchen esse, muss ich dieInsulinmenge anpassen, sonst wird es mir schlecht ge-hen.“ Jutta muss dies nicht selbst ausprobieren, sie kanndie Folgen gedanklich vorwegnehmen.

    Es ist jetzt auch möglich, eine Sache von einem fremdenStandpunkt aus zu beurteilen und die Sicht einer anderenPerson einzunehmen. Die egozentrische Weltsicht verliertsich. Auch die eigene Meinung kann überdacht werden.Jugendliche können über sich selbst, ihre eigenen Einstel-lungen und Handlungen nachdenken

    Mit seiner Forschung hat Jean Piaget viele Erkenntnisseüber die Art, wie Kinder und Jugendliche denken, gewon-nen. Er hat Licht in die sog. „Denkfehler“ von Kindern ge-bracht und dabei ihre Vorstellungen von der Welt ken-nengelernt. Die Ergebnisse seiner Studien helfen allen, dieKinder verstehen wollen. Pflegende können besser mitKindern umgehen und ihnen verständlicher etwas erklä-ren, wenn sie die kognitiven Strukturen der Kinder ken-nen.

    A B B‘

    ?

    Abb. 8.7 Bei der Beurteilung von Mengen lassen sich dieKinder von dem Merkmal leiten, was anschaulich unddeutlich sichtbar ist.

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    8 Grundlagen der EntwicklungspsychologieGegenstand und Aufgaben der EntwicklungspsychologieDie Entwicklungspsychologie der Lebensspanne nach P. BaltesEntwicklungsaufgabenEntwicklungsverläufeSpracheWahrnehmungMotorikGefühle

    EntwicklungsfaktorenGenetische Anlagen UmweltfaktorenEigenaktivitätZusammenwirken von genetischer Anlage, Umweltfaktoren und Eigenaktivität

    Kognitive Entwicklung nach Jean PiagetPhasen der kognitiven Entwicklung

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