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Thomas Pollan. Die Strafe Gottes

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Leseprobe aus dem brisanten Thriller.

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PROLOG Nr. 1Weißrussische Sozialistische Sowjetrepublik. 1987

Graues Schneegestöber rauschte über den Bildschirm. Dann einSchatten, der Umriss einer Gestalt.»Ist er das?« Einer der Wissenschaftler beugte sich zum Moni-tor.»Wer?«, fragte der Techniker, während er weiter an den Reglerndrehte.»Na, der Vektor.«»Hä?« Der Techniker wollte nicht kapieren.»Idiot, die Kleine«, fauchte der Wissenschaftler.»Klar.« Der Techniker schluckte seinen Ärger hinunter. Mit denEierköpfen legte er sich nicht an. Er hatte gesehen, was sie auseinem machen konnten.»Geht’s schärfer?«Der Techniker drehte nochmals an den Reglern. Das Flimmernließ nach und die Querstreifen verschwanden. Die Männerkonnten das kleine Zimmer, das Bett, den Stuhl erkennen. ImHintergrund bewegte sich etwas.»Da.« Einer der Männer deutete mit dem Zeigefinger auf denMonitor. Nun konnten sie das Mädchen sehen.Dreißig Augenpaare musterten ihr Kindergesicht.»Süßes kleines Monster«, bemerkte ein Wissenschaftler.»In zehn Stunden«, bemerkte ein anderer.»Was?«»Na, Monster.« Sein Kollege grinste. »Ham, ham.« Er fletschtedie Zähne und lachte. Seine Kollegen stimmten mit ein.

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Während die Männer ihren Tod beschlossen, presste Ivanadreißig Kilometer weiter westlich ihre Erstklässler-Stupsnase ge-gen die Scheibe ihres Zimmerchens und blickte in den winzigenGarten. Die Zweige des alten Apfelbaumes bogen sich im Wind.Eine warme Brise vertrieb den Winter aus dem Land. DerSchnee begann zu schmelzen. Es roch nach nasser Erde. Heutewar ihr Geburtstag.

Um ein Uhr klopfte der Postbote und brachte ein Paket. IvanasMutter nahm es in Empfang und stellte den braunen Kartonvorsichtig auf den Küchentisch. Als sie sah, dass es an Ivanaadressiert war, lächelte sie. Es musste von Igor sein. Er hatteden Geburtstag seiner kleinen Schwester nicht vergessen, ob-wohl er schon seit Jahren im Westen lebte, wo er mit allen mög-lichen Jobs versuchte, das magere Einkommen der Familieaufzubessern.»Mama, was ist das?«, fragte Ivana, als sie das Päckchen sah.»Ich glaube, es ist ein kleines Geschenk für dich, mein Schatz«,erwiderte ihre Mutter. »Aber warte noch ein bisschen mit demAufmachen. Wenn Papa zu Hause ist, packen wir es gemeinsamaus, ja?«

An diesem Abend fiel es Ivana besonders schwer, auf ihren Va-ter zu warten. Immer wieder warf sie ungeduldige Blicke aufdie große Küchenuhr, deren Zeiger nur widerwillig auf die er-hoffte Stunde zustrebten. Sie saß am Küchentisch und betrach-tete das Paket. Mit der Hand streichelte sie über das rauePackpapier. Wenn sie ihre Nase nahe genug dranhielt, duftetees nach Reise und Abenteuer. Als ihre Mutter für einen Mo-ment nach draußen ging, nahm sie es, hielt es ans Ohr undschüttelte es.

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Nichts.Das Mädchen seufzte und stellte das Paket zurück auf den Kü-chentisch. In der rechten Ecke klebten exotische Briefmarken,und dort, wo der Name des Absenders stand, hatte der Regendie Schrift unleserlich gemacht.Den ganzen Nachmittag hatte Ivana das Geschenk nicht aus denAugen gelassen. Das Paket erschien ihr groß und ungeheuerkostbar. Igor hatte bestimmt lange dafür sparen müssen, dachtesie, auch wenn Mama immer sagte, dass er nun im Westen, imParadies, lebe. Dort, wo die Sonne unterging, musste es liegen,dieses sagenumwobene Reich. Weit weg von Belarus, diesemverwünschten Land, in dem seit dem seltsamen Unfall im nahenTschernobyl Kühe zweiköpfige Kälber zur Welt brachten.

Als der Vater endlich nach Hause kam, sprang Ivana auf und fielihm in die Arme. Sein von Sorgen gealtertes Gesicht wurdeweich, als er seine Tochter umarmte und küsste. Ivana nahm ihnbei der Hand und zerrte ihn in die Küche, in der es warm undgemütlich war, während draußen ein kalter Frost eingesetzt hatte.Der Vater schüttelte den letzten Rest der Kälte ab, die wie eineisiger Schleier an ihm hing, stülpte die alte, schwere Jackeüber eine Stuhllehne und setzte sich zu seiner Familie an denKüchentisch. Ein zärtliches Lächeln huschte über sein Gesicht,als er Ivanas Begeisterung sah. Einen Augenblick später schobihm das Mädchen den Grund dafür entgegen.»Seltsam, dass Igor nichts von dem Geschenk erzählt hat«, sagteer zu seiner Frau und strich Ivana sanft über das Haar. »Er hatdoch erst letzte Woche angerufen.«Ihre Mutter zuckte mit den Achseln. »Vielleicht wollte er unsüberraschen.«»Mach es auf, meine Kleine«, antwortete der Vater und betrach-

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tete die blauen Kinderaugen seiner Tochter. Die Mutter lächelteund rückte ihren Stuhl näher an Ivana. Dann schnitt sie mit ei-ner Schere die Schnüre auf und reichte Ivana den Karton. »Jetztbist du dran, alles Gute zum Geburtstag, mein Engel.«Kaum hatte Ivana den Karton aufgeklappt, hielt sie den Ateman. Eine kleine schlanke Puppe lag vor ihr, eingeschweißt in ei-ner geblümten Hartplastikverpackung. Das Mädchen warsprachlos. Das war eine Puppe, wie keines der anderen Kinderim Dorf sie besaß: blond, mit großen Augen, in ein rosa Kleid-chen gehüllt und mit zerbrechlichen Puppenschuhen an denkleinen Füßen. Ivanas Augen glänzten vor Freude.»Baaarbiiie«, las die Mutter den Text auf der Verpackung undlächelte. »Na, mach sie auf.« Sie gab Ivana die Schere.Ivana machte sich an der Plastikverpackung zu schaffen. Es warnicht einfach, das harte Material zu zerschneiden. Sie rutschteab, versuchte es erneut und rutschte wieder ab.Die Mutter nahm Ivanas Hand und führte sie. Gemeinsam setz-ten sie die Schere an. Ivana lächelte. Die Mutter strich ihr übersHaar. »Langsam, Engelchen«, sagte sie.Dann ließ sie die Schere zuschnappen.

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Ivanas Großmutter war eine Frau, die schon vieles erlebt hatte.Nun war sie weit über siebzig und blickte mit ruhiger Gelassen-heit auf die verbleibenden Jahre. Wie an den meisten kalten Ta-gen stand die alte Frau auch heute in ihrer kleinen Küche undwärmte sich an dem eisernen Kohlenofen. Die wollene Jacke biszum Hals zugeknöpft, rührte sie den Teig für das süße Brot,welches Ivana so liebte, und warf alle paar Minuten einen Blickaus dem Fenster, auf das der Nachtfrost eisige Blumen gemalt

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hatte. Gleich würde, so wie jeden Tag, ihre Kleine kommen, umden Vormittag mit ihr zu verbringen.Doch Ivana kam nicht.Als das Mädchen um elf Uhr immer noch nicht da war, ahntedie alte Frau, dass etwas nicht stimmte. Der Wind heulte durchdas traurige kleine Dorf, als sie sich ihren Schal umband undsich auf den Weg machte, um nach dem Rechten zu sehen.Es war ein kurzer Fußmarsch zum Haus ihrer Tochter. Dochschon nachdem sie vor die Türe getreten war, spürte sie die bei-ßende Kälte. Über Nacht hatte der Frühling noch einmal denRückzug angetreten. Eisige Luft aus den Tiefen Sibiriens strichüber das Land und fuhr ihr durch Schal, Mantel und Kleid. DieGreisin ging schneller.Mit eiligen Schritten stapfte sie über die Lehmrinnen, die sich an-stelle einer Straße durch das Dorf zogen. Wie schäbig heute allesaussieht, fuhr es ihr durch den Kopf. Verkommen, dreckigund … so einsam. War es nicht so? Als hätten alle über Nachtdas Weite gesucht. Die Großmutter schüttelte den Kopf. Dochdas Gefühl blieb, etwas stimmte nicht. Nicht einmal der bissigeHund der Nabokovs schlug an, als sie sich an dem Haus des Bau-ern vorbeischlich. Es kam der alten Frau vor, als würde sie durchein Geisterdorf gehen. Ein Dorf voller verdammter Seelen.Noch einmal schüttelte sie den Kopf und balancierte vorsichtigüber eine tiefe Rinne. Was für Gedanken! Ihre Fantasie gingwieder einmal mit ihr durch.Sie war nur noch zwei Häuser vom Heim ihrer Tochter entfernt.Ihr Blick streifte über die schmalen Vorgärten, die wackeligenZäune, die vor den Häusern aufgeschichteten Brennholzstapel,welche im Winter bis zu den Fenstern reichten und nun kaumnoch kniehoch waren.Alles war so wie immer, und doch fehlte etwas.

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Die alte Frau grübelte, blickte einmal um sich. Sie hörte das Ra-scheln eines Busches, durch den der Wind fuhr. Irgendwo inder Ferne knallte die Brise einen Fensterladen zu, ein Hundheulte kurz auf und verstummte sogleich.Ansonsten – nichts.Ein unheimliches Gefühl beschlich sie. Eine Angst, die aus demBauch strömte und ihr Rückgrat emporkroch. Die dunklenFenster der verlassenen Häuser starrten sie an. Kein Lichtschimmerte hinter den Scheiben, kein Lachen, kein Streit,auch keine freundliche Unterhaltung drang zu ihr. Alle mensch-lichen Töne schienen von der Erde getilgt zu sein.Die Großmutter beschleunigte ihre Schritte. Sie stürzte über diePfützen, rannte die letzten Meter der Straße entlang zum Hausihrer Tochter und klopfte gegen die Tür.Niemand antwortete ihr.Die Großmutter klopfte noch einmal.Nichts.Ihre Fäuste trommelten gegen das Holz.Die Schläge verhallten im Haus.Mit aller Kraft stemmte sie sich gegen die Tür. Sie war nichtverschlossen.Eilig trat die Greisin ein und rief nach ihrer Tochter.Wieder kam keine Antwort.Die Großmutter zwang sich voranzugehen. Schritt für Schrittdrang sie tiefer in das Haus ein.»Hallo?«, rief sie und nötigte ihre zittrige Stimme zur Ruhe:»Wo ist mein großes Enkelkind?«Als sie auch diesmal keine Antwort bekam, begriff sie. Es wardie Stille, welche ihr beinahe den Atem nahm. Diese mörderi-sche, dunkle Stille. Sie hatte das unheimliche Schweigen schonbemerkt, als sie am Haus der Nachbarn vorbeigeschlichen war.

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Oder bereits zuvor? Heute Morgen, in ihrer eigenen kleinenHütte? War es ihr nicht aufgefallen, dass niemand einen Motoranließ, dass kein Kind auf dem Weg zur Schule lachte, dass sicheine seltsame Dunkelheit, die jeden Ton schluckte, wie ein Lei-chentuch über die wackeligen Hütten ihres Dorfes ausgebreitethatte?Ja, sie hatte es geahnt, seitdem sie heute Morgen die schwereWolldecke zurückgeschlagen und ihre alten Füße aus dem Bettgestreckt hatte. Etwas war über das Dorf hergefallen. Man konn-te es in jedem Winkel spüren. Auf der Anhöhe hinter demKarpfenteich, in der Gasse des Schmieds, vor dem alten Schul-gebäude, dessen Tor verschlossen blieb.War sie denn blind und taub gewesen, es nicht früher zu begrei-fen? Hatten ihre alten Sinne sie genarrt? War diese Stille nichtvon so einschneidender Schärfe gewesen, dass sie selbst denToten noch Schauer über den Rücken jagte?

Die alte Frau zitterte. Nun bemerkte sie, dass es auch hier, imInneren des Hauses ihrer Tochter, eiskalt war, als ob jemandvergessen hätte, heute Morgen zu heizen. Wo waren nur alle?Wo war ihre Tochter? Ihr Enkelkind? Ihre Ivana? Eine lähmen-de Angst fasste sie an der Kehle, wollte sie zu Boden ringen. Wowar die Kleine? Die Kraft schwand ihr aus den Armen und Bei-nen. Ihre Hand glitt von der Klinke der Küchentür.Doch dann riss sie sich zusammen. Mit einem Ruck drückte siedie Klinke herunter und stieß die Tür auf.Blankes Entsetzen ergriff sie.Sie konnte sich nicht rühren, nicht sprechen, nicht schreien,nicht weinen. Sie erstarrte, inmitten der Apokalypse.Weit weg hörte sie ein Ticken. Die Küchenuhr. Eine Sekunde,zwei …

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»Ivana«, murmelte die Greisin. Die Kleine lag am Boden. Sieumklammerte eine Puppe. Ihr Gesicht war eine entstellteFratze – die Lippen schwarz, der Mund zu einem stummenSchrei geöffnet. Und ihre Zähne – sie glänzten lang, scharf undblutrot. Neben dem Mädchen kauerte die Mutter, leblos, alswäre sie von einem Moment auf den anderen verwelkt. Einebreite Wunde klaffte an ihrem Hals, wie von einem stumpfenMesser oder einem … Biss? Daneben, auf dem Steinboden,der Vater. Auf seinem eingefallenen Gesicht ein Ausdruck gren-zenlosen Grauens.Die alte Frau stolperte, taumelte einen Schritt zurück und stol-perte wieder. Sie hielt sich an der Wand fest. Stützte sich gegeneinen Türpfosten. Und endlich brüllte sie. Sie brüllte, weinteund schrie, wie sie es noch nie in ihrem Leben getan hatte.

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Eine Stunde verging. Dann rückte das Team vor. SchweigsameGestalten in Schutzanzügen. Schwere Atemgeräte auf denSchultern. Automatische Gewehre in den Händen. Der Windhatte sich gelegt.Im Dorf herrschte Stille.

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