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TITEL 26 loyal 03 | 11 OPERATION „JADID“ Der Krieg der Bundeswehr in Afghanistan geht im vorigen Oktober in eine neue, heiße Phase. Im Tal des Baghlan-Flusses treten 600 Soldaten aus Bayern gegen 200 Auf- ständische an. Sie führen Gefechte und eine Offensive, wie sie die Bundeswehr in dieser Dimension noch nicht erlebt hat Aus Afghanistan von Marco Seliger Michael Schreiner

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OPERATION „JADID“ Der Krieg der Bundeswehr in Afghanistan geht im vorigen Oktober in eine neue, heißePhase. Im Tal des Baghlan-Flusses treten 600 Soldaten aus Bayern gegen 200 Auf-ständische an. Sie führen Gefechte und eine Offensive, wie sie die Bundeswehr in dieser Dimension noch nicht erlebt hat

Aus Afghanistan von Marco Seliger

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Sie leben in Gräben und Löchern, die sie manns-hoch ausgehoben haben. Aufklärer überwachenvon den Bergen aus das Tal des Baghlan-Flussesund die Stadt Pol-e-Khomri

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COP Chasma-i-SherP CCh COP GajiOP

COP Shahabuddinha buPOPCheckpointcChe ntnt

COP Mangalga

COP PauliuPau

COP Baghe ShamalP Baghe Shamal

CheckpointhecCOP Russian Hill

COP Gawargann

COP Jowna

LOC Uranus (Straße nach Mazar-i-Sharif)

LOC PlutoNord-Süd- Tangente

Baghlan-Fluss

Bagh

lan-Flus

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DISTRIKT POL-E-KHOMRI

DISTRIKT DAHANA- I -GOHRI

OP NorthGefechtsstandTask ForceMazar-i-Sharif

POL-E-KHOMRII

BAGHLANBB LANHLANAG

COP: Combat Outpost (Außenposten)LOC: Line of Communication (für die Bewegungs- freiheit der ISAF-Truppen elementare Straße)OP: Observation Post (Beobachtungsposten, Außenposten)

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ISAF-REGIONALKOMMANDOS AFGHANISTAN PROVINZENRC North, FührungsnationDeutschland

Provinz BaghlanAFGHANISTAN REGION BAGHLAN

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DISTRIKT BAGHLAN

600 Gebirgsjäger führen seit Oktober dieOperation „Jadid“, die längste Kampfopera-tion der Bundeswehrgeschichte. Gemein-sam mit afghanischen Soldaten und Poli-zisten sowie mit US-amerikanischen Kame-raden verjagen sie Aufständische und Ter-roristen aus einem Flusstal in der nordaf-ghanischen Provinz Baghlan. Sie verlierendabei keinen einzigen Mann, doch einigeMale stehen sie knapp vor der Katastrophe.

Das Geschoss faucht aus dem Nichts her-vor und zischt nur zwei Meter über dieKöpfe der Soldaten hinweg. Es schlägt ineine Mauer hinter ihnen ein, der Gefechts-kopf explodiert in einem Feuerball. Fest-stoffe wandeln sich im Bruchteil einer Se-kunde in Gas um, das sich mit Überschall-geschwindigkeit ausdehnt. Der Luftdruckdonnert in den Ohren der Soldaten, derenKöpfe ungeschützt aus einer Panzerlukeragen. Ein markerschütterndes Krachen,tief und dumpf. Stakkatohämmern setztein, Salven aus einem schweren Maschi-nengewehr. Die Kugeln schlagen gegen dieHülle eines Panzers, es klingt wie ein hel-les Klopfen. Dann das Tack, Tack, Tack ausKalaschnikows, ein zweiter Geschosshagel,unpräzise, weit entfernt. Und wieder dasFauchen der Panzerfaustgeschosse. „Kon-takt rechts, Kontakt rechts!“, brüllt der

as Gefecht ist in diesem Kriegdie Ausnahme. Die Todes-angst begleitet die Soldaten

ständig, doch fürchten sie weniger die Ku-geln als vielmehr die Straßenbomben. Diehinterhältigen Sprengsätze liegen gedul-dig in der Straßendecke oder am Weges-rand, getarnt in Müllhaufen, in Gräben, imGras. Warten darauf, ausgelöst zu werden,die Erde zum Bersten zu bringen. Tonnen-schwere Fahrzeuge wirbeln dann durchdie Luft, Soldaten werden durch Gurte inSitze gepresst, die Augen schreckensstarraufgerissen. Der Explosionsdruck verbiegtStahl, reißt Räder ab und den Motorblock

aus der Verankerung. Doch Splitterhagelund Feuerstrahl dringen nicht in den In-nenraum ein, die Zelle bleibt meist unver-sehrt, es sind unfassbare Gunst des Schick-sals und eine ingenieurtechnische Meister-leistung, die den Soldaten mehrfach in die-sem Krieg das Leben retten.

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Es sind eine unfassbare Gunst desSchicksals und eine ingenieurtech-

nische Meisterleistung, die den Soldaten mehrfach das Leben retten

Infanteristen wie die Gebirgs- oder Fallschirmjäger sind geschult,außerhalb geschützter Fahrzeuge zu kämpfen. Das macht sie verwundbarer, erhöht jedoch ihre Akzeptanz in der afghanischenBevölkerung. Und um deren Sicherheit geht es in diesem Krieg

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Kommandant des „Fuchs“ in das Funkgerät.„Erwidern Feuer!“ Nach einigen Sekundenknarzt die Stimme des Zugführers im Funk-gerät: „Geben Sie Feindlage durch!“ Das Ma-schinengewehr setzt ein, derGruppenführer brüllt: „Ent-fernung Feind zirka 400Meter.“ Ein zweites MG rastlos. Der Zugführer befiehlt:„GraMaWa vor. Feuer auf 400,zwei Uhr“. Zwei „Dingo“ fah-ren in Position, die Schützenrichten die Granatmaschi-nenwaffen aus. Dann feuernsie die Sprengsätze mit tödli-cher Präzision. Zwanzig Mi-nuten sind vergangen. KeinFauchen mehr. Kein Zischen.Stopfen. „Keine Verletzten“, funkt der Zug-führer an die Gefechtszentrale.

Es war ein kurzer Feuerüberfall, die Patrouil-le wird fortgesetzt. Erst später, wenn dieMänner zur Ruhe kommen, steigt das Ge-fühl der Freude, der Erleichterung in ihnen

hoch. „Nochmal davongekommen, das hät-te auch schief gehen können!“ Der eineschweigt und kaut sein Essen, der andereredet unaufhörlich über das Gefecht und

raucht eine Zigarette nachder anderen. Die Adrenalin-stöße im Moment eines Feu-erüberfalls sind heftig, ihreIntensität, sagen die Solda-ten, nimmt jedoch mit derZahl der Gefechte ab. Mitjedem neuen Angriff derAufständischen wissen dieMänner mehr über Geschos-se, ihre Geräusche und Wir-kung. Sie können vorausbe-stimmen, ob sie akut gefähr-det sind, wo das Feuer ein-

schlägt und wie sie sich davor schützen. Esist ihr Handwerk. Kriegshandwerk.

150 Kilometer südwestlich von Mazar-i-Sha-rif und 90 Kilometer südlich von Kunduslaufen zwei Straßen an einem Punkt zu-sammen, an dem die Ausläufer des Hindu-

kusch das Tal desBaghlan-Flussesbilden. Sie vereini-gen sich zu einemAsphaltband, dassich nach Südenüber den Salang-Pass Richtung Ka-

bul erstreckt. Von oben gesehen, bilden dieStraßen ein Dreieck , das Highway-Triangel.Hier verläuft Afghanistans Lebensader.Lastwagen quälen sich unter der Last zen-tralasiatischen Waren von Nord nach Südauf die Märkte in Kabul, Kandahar oderHerat. In die entgegengesetzte Richtungfahren die Autos der Drogenschmuggler,beladen mit Opium aus dem Süden. Für dieNATO hat das Highway-Triangel strategi-sche Bedeutung. Über die Straßen wird derNachschub für 150 000 Soldaten transpor-tiert – und attackiert. Tankwagen brennen,Container explodieren und Fahrer sterben.Die Gebiete entlang des Triangels sind Ta-libanland, als Oberstleutnant NikolausCarstens im vorigen Oktober auf dem „Ob-servation Post North“ (OP North) eintrifft.

Von dort aus führt er seitdem 600 Gebirgs-jäger aus Bischofswiesen, Grenadiere ausRegen, Pioniere aus Ingolstadt, Aufkläreraus Füssen. OP North liegt zwei Kilometernördlich von Pol-e-Khomri, dem Zentrumdes Baghlan-Tals, auf einer Anhöhe. DenLehmhügel durchziehen Schotterpisten,auf Plateaus stehen Zelte, Container undFahrzeuge. Bei Trockenheit liegt der Staubwie eine Glocke über dem Berg. Er kriechtin Schlafsäcke, legt sich auf Zahnbürsten.Nach Regen klebt der Schlamm wie Breizentimeterdick an Stiefeln und Fahrzeu-gen. Unten an der Zufahrt wachen afghani-

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Die Adrenalinstöße im Momenteines Feuerüberfalls sind heftig,ihre Intensität nimmt jedoch mitder Zahl der Gefechte ab

Oberstleutnant NikolausCarstens, Kommandeurder Task Force Mazar

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Zwei Transporthubschrauber vom Typ CH-53 landen auf dem Bundeswehraußenposten „OP North“ in Baghlan. Dort befindet sich der Ge-fechtsstand der Task Force Mazar-i-Sharif, die fünf Monate lang im Tal des Baghlan-Flusses kämpfte

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machen das, wenn sie einander vertrauen.Mullah Kahar geht voran und sagt, er wolleseinem „Freund“ etwas zeigen. In einemSeecontainer liegen Matten und bunt be-stickte Kissen, auf denen Kahars Kämpferhocken. Sie erheben sich, als er mit Schus-ter eintritt. Freudig begrüßen sie denHauptfeldwebel und gießen heißen Tee inGläser. Vor ihnen stehen Teller mit Fladen-brot und Schüsseln mit gezuckerter Sahne.Nach dem Essen holt Mullah Kahar eine Di-gitalkamera hervor. Er schaltet sie an,wählt den Abspielmodus, rückt näher anSchuster und sagt in seiner Muttersprache:„Schau Dir das an.“

Aus Schusters Gesicht weicht die Farbe. DieBilder sind grässlich: ein zerfetztes Auto,zerrissene, blutüberströmte Leiber. FünfKinder, zwei Frauen und der Taxifahrer,entsetzlich entstellt, getötet durch eineStraßenbombe. „Das waren die Taliban“,sagt Mullah Kahar. „Der Teufel soll sie ho-len.“ Er war mit seinen Männern als erstesvor Ort, sie konnten nichts mehr für sie tun.Sie bargen nur noch die Leichen. Dannhatte Mullah die Idee mit den Bildern. Erzeigte sie in Kotub herum. „Seht her“, sagteer den Leuten, „das waren die Taliban. Sietöten Frauen und Kinder, sie sind Barba-ren.“ Die Einwohner schworen blutigen Wi-derstand, sollten die Aufständischen nocheinmal ihr Dorf betreten.

Bevor er zu den Gebirgsjägern nach Bischofs-wiesen kam, ging Matthias Schuster bei

sche Soldaten, oben auf dem Gipfel thronteine Panzerhaubitze. Ihr 155-Millimeter-Geschützrohr ragt nach Südwesten. Wennsie feuert, krachen ihre Abschüsse, dass dieErde bebt. Das Echo rollt tosend den Berghinab. Der dumpfe Hall der Einschlägeviele Kilometer entfernt dringt kaum zu-rück. Eine Schutzmauer um das Lager gibtes nicht, nur ein paar Stellungen, umgebenvon Hescos. Das sind Drahtkörbe, die mitSchotter gefüllt werden und gegen Hand-waffen und Raketenbeschuss schützen. AufOP North hat die Task Force Mazar-i-Sharifihren Gefechtsstand errichtet, ein Außen-posten am Rand des Feingebiets. Hier be-ginnt die Operation „Jadid“. „Jadid“ heißt„neu“. Es soll ein Neuanfang für das gesam-te Tal des Baghlan-Flusses werden, ohne Ta-liban, ohne Angst, ohne Terror, ohne Tod.

Das erste Dorf, aus dem die Gebirgsjägerdie Taliban vertreiben, heißt Kotub. Im Sep-tember tobte in der Nähe eine fürchterlicheSchlacht um einen Außenposten (CombatOutpost, COP). Er wurde von ehemaligenMitläufern des Terrorfürsten GulbuddinHekmatyar gehalten, die auf Regierungs-seite gewechselt waren. Die Taliban spreng-ten die einzige Brücke, die über einen Ne-benarm des Baghlan führt und schnittendie „Verräter“ von ihren deutschen und US-amerikanischen Verbündeten ab. Das Mas-saker, das sie anrichteten, ließ die Bevölke-rung zweifeln, ob sie sich wirklich von denTaliban lossagen sollte. Deutsche Soldatenlegten eine Militärbrücke über den Flussund jagten die Mörder. An dem Flussüber-gang gibt es jetzt einen Außenposten derBundeswehr. Er ist benannt nach dem hiergefallenen Oberfeldwebel Florian Pauli,den am 7. Oktober ein Selbstmordattentä-ter mit in den Tod riss. COP Pauli ist seit De-zember Heimat von Hauptfeldwebel Mat-thias Schuster* und 20 Gebirgsjägern.

Ein Kuss links, ein Kuss rechts, Mullah Ka-har und Matthias Schuster begrüßen sich,wie es Freunde in Afghanistan tun. „SalamAleikum, wie geht es dir?“, sagt der Haupt-feldwebel und blickt lächelnd in das Ge-sicht seines Gegenübers. Mullah Kahar,schwarzer Vollbart, tiefe dunkle Augen,trägt einen Pakol auf dem Kopf, ein Symboldes tadschikischen Widerstands gegen dieTaliban. Um die Schultern hat er eine brau-ne Decke gelegt, die Kalaschnikow baumeltvon der rechten Schulter. Er nimmt Schus-ters rechte Hand, Männer in Afghanistan

Hauptfeldwebel Matthias Schuster (ganz rechts) im Gespräch mit Mullah Kahar (ganzlinks), Chef der Bürgerwehr am „COP Pauli“. Kahars Leute kämpften früher für die Tali-ban. Schuster sagt, man müsse die Vergangenheit ruhen lassen

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Combat Outpost und Behelfsbrü-cke über einen Nebenarm desBaghlan-Flusses, beide benanntnach dem hier gefallenen Ober-feldwebel Florian Pauli. In diesem Außenposten hatte die Bundes-wehr bis vor Kurzem zwanzig Infan-teristen gemeinsam mit Taliban-Überläufern stationiert

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*Name zum Schutz des Soldaten geändert

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einer Firma für Zentralheizungs- und Lüf-tungsbau in die Lehre. Er erlernte einen so-liden Handwerksberuf, der ihm von demAugenblick an unwichtig erschien, in demzwei von Terroristen gesteuerte Flugzeugein die New Yorker Zwillingstürme krach-ten. „Mir war klar, dass ich etwas gegen dieLeute tun wollte, die Amerika angegriffenhaben“, sagt Schuster. Nach seinem erstenEinsatz in Afghanistan entschied er sich,dauerhaft bei der Bundeswehr zu bleiben.Er befindet sich in seinem dritten Lebens-jahrzehnt und verbringt jetzt einen Teildavon mit ehemaligen Taliban. Mullah Ka-har und seine Leute sind Überläufer einerMiliz, die bis vor Kurzem für die Aufständi-schen gekämpft hat. „Die sind nicht zim-

perlich“, sagt Matthias Schuster. „Aber siekämpfen jetzt mit uns. Und das zählt.“

Die Gebirgsjäger leben und arbeiten ge-meinsam mit 24 Ex-Taliban auf einem vonHascos umgebenen Flecken staubiger Erde.COP Pauli hat so gut wie nichts Behagli-ches. Die Männer waschen sich mit kaltemWasser aus Kanistern, die an Panzern hän-gen. Ihre Toilette besteht aus einem Plastikstuhl mit einem Loch in der Sitzflä-che, in dem eine Tüte hängt. „Kack undPack“ ist das Klo des Frontsoldaten, saubergearbeitet, rundum geschlossen mit einemtadellosen, bequemen Sitz. Anfangs genier-ten sich die Soldaten, in aller Öffentlichkeitihr Geschäft zu erledigen. Doch im Lauf der

Zeit überwanden sie ihre Scham. Sie kno-ten den Beutel zu, werfen ihn wie eine nor-male Abfalltüte in ein Erdloch, schüttenDiesel darüber und zünden ihn an. In ihrenFleece- und Wollpullovern, Skimützengegen die Kälte auf dem Kopf, schauen sieaus wie Waldarbeiter. Nach Wochen imFeld stehen die Klamotten vor Dreck, man-cher Soldat ist schmutzig bis in die Porenund unter die Nägel. Journalisten werdengebeten, sie in diesem Aufzug nicht zu fo-tografieren. Jemand in Berlin könntegleich wieder den Zustand der Truppe in-frage stellen. Sie schlafen dicht an dicht ineiner Bretterbude, in die sie zweistöckigeBetten aus Sperrholz gezimmert haben.Wenn sie in ihrer Koje liegen, können siemit ausgestrecktem Arm zwei Kameradenauf einmal ertasten. An der Wand hängenWaffen und Munitionswesten, die Ausrüs-tung liegt so bereit, dass sie jederzeit greif-bar ist. „Alles, was hier passiert, kommtüberraschend“, sagt Matthias Schuster.

Fußpatrouillen lenken vom drögen Alltag imCOP ab. Infanteristen wie die Gebirgsjägersind diejenigen Soldaten, die das führen,was als Krieg im klassischen Sinn angese-hen wird. Sie nehmen die größten Entbeh-rungen auf sich, sie leben im Schmutz undin der ständigen Gefahr, getötet oder ver-wundet zu werden. Anders als die überwie-gende Zahl der deutschen Soldaten in Af-

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In der Ortschaft Jowna hatten sich 30 Aufständische in einer Schule verbarrikadiert und leis-teten den angreifenden US-Spezialkräften heftigen Widerstand. Eine 250-Pfund-Bombe zer-störte das Gebäude und machte dem Taliban-Spuk ein Ende. Am Rand der Ortschaft hat dieBundeswehr einen Außenposten errichtet, den sie zusammen mit afghanischen Polizisten besetzt hält. Gemeinsame Patrouillen unterbrechen den drögen Alltag, allgegenwärtig drohtden Soldaten Gefahr durch versteckte Straßenbomben und Sprengsätze

Soldaten schüttelndie Hände Einhei-mischer und erklä-ren ihnen, dass siezu ihrem Schutzvor den Aufständi-schen hier sind.„Die Bevölkerungvertraut uns, siesieht, dass wir esernst meinen“,sagen die Solda-ten. Doch wie ent-wickeln sich dieDinge, wenn siewieder weg sind?

An der Wand hängen Waffen und Munitionswesten, die Ausrüstungliegt jederzeit griffbereit. „Alles, washier passiert, kommt überraschend.“

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der. Sie fühlen sich sicher, sie patrouillie-ren ihr Dorf. Mullah Kahar schüttelt dieHände von Leuten, die er lange nicht gese-hen hat. „Er war vor den Taliban geflohen“,erklärt er und deutet auf einen Gesprächs-partner. Beide verschwinden für eine Wei-le, als er zurückkehrt, wendet sich Kahar anSchuster. Er zeigt in Richtung der Straße,die sich hinter der Pauli-Brücke nach Südenschlängelt, und sagt, dort solle eine Bombeliegen. Schuster informiert den Gefechts-stand auf dem OP North. Als die Bomben-entschärfer eintreffen, haben Mullah Ka-hars Leute den Sprengsatz schon gefunden.Er besteht aus einem mit Ammoniumni-trat gefüllten Metallrohr, das mit einerZündschnur versehen und mit Stahlkugelngespickt ist. Es fehlte nur der Auslöser.„Dreckskerle“, fluchen Schusters Männer.Die Bombe war für sie gedacht.

Mitte Januar fahren dunkle Limousinen amCOP Pauli vor. Der Provinzgouverneur vonBaghlan steigt aus, Kameras und Mikrofo-ne richten sich auf ihn. „Wer mit der Regie-rung zusammenarbeitet, wird davon profi-tieren“, sagt er und blickt wohlwollend aufMullah Kahar. „Ich heiße die verlorenenSöhne mit großer Freude willkommen.“Applaus im Außenposten, Beifall in Berlinund Washington. Es sind Männer wie Mul-lah Kahar, bekehrte Taliban, die dem Wes-ten den Notausgang aus Afghanistan öff-

ghanistan haben sie nicht die weitgehendeSicherheit und Sauberkeit eines vorgescho-benen Stützpunkts (FOB), wie sie etwa dasFeldlager in Mazar-i-Sharif bietet. Die meis-ten Soldaten dort bringen den Einsatz hin-ter sich, ohne auch nur ein einziges Mal dieBasis verlassen zu haben. Die Fronttruppenamüsieren sich über die markigen Kriegs-sprüche der „Etappenhengste“ („Ich bin imKrieg!“), hassen die Bürokratie der Feldla-ger und schimpfen über das eigene Lebenin „Dreckslöchern“.

Die meisten Männer aus Schusters Einheitstammen aus Bayern, er selbst wohnt fünfKilometer von der Burg der zu Guttenbergsin Franken entfernt. Sie tragen Figuren desheiligen Christopherus an Ketten um denHals und Rosenkränze in den Taschen.Mancher führt eine Kindersocke oder einenSlip der Freundin als Talisman mit sich, ver-staut zwischen Schale und Innenteil des Ge-fechtshelms. Und mancher blickt auf dasFoto der Liebsten, bevor er den Posten ver-lässt. Sollte er getötet werden, so wäre diesdas Letzte gewesen, das er von zu Hause ge-sehen hat. „Angst“, sagen die Soldaten miteinem spöttischen Grinsen im Gesicht, „ge-hört dazu. Du darfst sie nur nicht zeigen.“

Sie gehen in Reihen links und rechts desWegs. Vorweg laufen die Leute von MullahKahar wie eine Horde Kinder durcheinan-

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Morgenstunde im Feld, Erwachen in mit Regenplanen umwickelten Schlafsäcken, die auf Isomatten zwischen zwei Panzerfahrzeugen liegen.Der eine braucht eine Zigarette, der andere ein paar Löffel Süßspeise aus der Ein-Mann-Packung, um in die Gänge zu kommen. Alle tragendicke Winterklamotten, die sie sich gegen die Kälte in der Nacht übergezogen haben

Morgentoilette mit „Kack undPack“ (oben) und Wasser ausKanistern (unten), um dieZähne zu putzen

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nen sollen. Afghanistans Präsident HamidKarzai hat Kahars Leute nun in den Statuseiner lokalen Polizei, einer Bürgerwehr, er-hoben. Sie verdienen 80 bis 125 Dollar proMonat, tragen einen Pass, der sie als Polizistausweist, und eine registrierte Kalaschni-kow. Sie schützen ihr Dorf vor den Taliban,sorgen für Ordnung. Sie haben Befugnissewie die offizielle Polizei, und wie er siedurchzusetzen beabsichtigt, demonstriertMullah Kahar hin und wieder an den eige-nen Leuten. Wer nicht spurt, den peitschter höchstselbst aus. „Das entspricht zwarnicht unserem Verständnis von Menschen-führung“, sagt Matthias Schuster. „aber dahalten wir uns raus.“

Mit jeder neuen Operationsphase dringen dieGebirgsjäger tiefer in das Tal. Sie nehmenDorf um Dorf ein, bauen bis Ende Februarelf Außenposten und stationieren Polizei-

Wenn die Soldaten durch die Dörfer kom-men, stehen die Kinder am Straßenrandund formen mit den Händen einen Kreis.„Sie lieben Fußball“, erklärt ein Stabsunter-offizier. „Sie sind verrückt nach Bällen. Lei-der haben wir heute keine dabei.“ Es läuftgut in Baghlan, die Fortschritte werden inKabul erfreut zur Kenntnis genommen. US-General David Petraeus, Oberbefehlshaberder internationalen Truppen in Afghanis-tan, empfiehlt inzwischen seinen Kom-mandeuren, sich am Vorgehen der Bundes-wehr ein Beispiel zu nehmen. Vorbei dieZeiten, als in Kabul, Washington und Lon-don über die „deutschen Angsthasen“ ge-ätzt wurde, die sich nicht aus ihren Feldla-gern trauten. Die Angsthasen, sagt ein Sol-dat, säßen ohnehin weniger in den Campsals vielmehr in den Berliner Amtsstuben.

Die Offensive kostet Kraft, laugt die Männeraus. Manche verleitet der Erfolg zu Diszi-plinlosigkeit. Was der Feind nicht erreicht,schafft der Übermut. Als kurz vor Weih-nachten zwei Mannschaftssoldaten ineinem Unterkunftszelt im OP North mitihren Waffen herumfuchteln, löst sich einSchuss und trifft den Hauptgefreiten OliverOertel tödlich in den Kopf. Parlamentarier

einheiten oder Bürgerwehren. An ihrer Seitekämpfen die „Black Sheeps“, eine Einheitder 10. US-Gebirgsdivision, afghanische Sol-daten und Polizisten. Auch das Wetter spieltmit. Der Winter ist für nordafghanische Ver-hältnisse ungewöhnlich mild und trocken.Selbst in höher gelegenen Bergdörfern, diefür konventionelle Truppen mit Fahrzeugensonst monatelang unerreichbar sind, kön-nen sich die Taliban nicht sicher fühlen. DieSoldaten gönnen ihnen keine Verschnauf-pause und treiben sie aus dem Gebiet umKotub in das benachbarte Dande Ghori. Alsdie Truppen dorthin vorrücken, schlägtihnen hartnäckiger Widerstand entgegen.Die Aufständischen feuern Mörsergranatenund hängen Raketen mit elektrischen Zünd-sätzen in Straßenbäume, die sie aus derFerne auslösen. Doch Dorfbewohner infor-mieren rechtzeitig den afghanischen Ge-heimdienst, der die Deutschen vor der Ge-

fahr warnt. „DieLeute sind auf un-serer Seite, sie ver-trauen uns“, sagtein Offizier im Ba-taillonsstab. „Siesehen, dass wir esernst meinen.“

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Sie nehmen Dorf um Dorf ein,bauen bis Ende Februar elf Außen-posten und stationieren Polizei-einheiten oder Bürgerwehren

Wenn die Schützenpanzer (hier mit Barracuda-Tarnsystem) auf dem Gefechtsfeld erscheinen, ziehen sich die Aufständischen meist sofortzurück. Die 20-Millimeter-Kanone wirkt noch auf zwei Kilometer genau, ihre Explosivgeschosse entfachen beim Auftreffen im Zieleinen tödlichen Splitterhagel. Die „Marder“ haben sich als wirksame Waffe erwiesen, weshalb sie von den Taliban zunehmend gezieltmit gerichteten IED oder Panzerfäusten neuerer Generation ins Visier genommen werden

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kämpfen. „Das Einzige“, sagt er verächt-lich, „was die Dreckskerle können, ist, unsBomben unter den Arsch zu legen.“

Sie sitzen und warten. Warten auf das, wasgeschehen wird. In ihren Panzern fühlensie sich sicher. Doch wenn sie seine schüt-zende Stahlhülle verlassen, sind sie ver-wundbar. Dann entscheidet der Zufall übersie. Niemand weiß, was kommt. Es könnteein Fauchen sein. Aus dem Nirgendwo.

NACHTRAG

Die Schlusssätze dieser Reportage warenlange geschrieben, ich war bereits drei Wo-chen von meiner Reise nach Baghlan zu-rück, als sich der Ausspruch von Hauptfeld-webel Matthias Schaller auf tragischeWeise bewahrheiten sollte. „Alles, was hierpassiert, kommt überraschend“, hatte ergesagt. Wohl kaum ein Soldat hätte damitgerechnet, von einem Verbündeten aus derafghanischen Armee erschossen zu wer-den. Und doch geschah genau das am 18.Februar auf „OP North“. Neun Panzergre-nadiere aus Regen arbeiteten an einem„Marder“, als der wohl terroristischen Krei-sen zuzuordnende Mann das Feuer hinter-rücks auf die ungeschützten und arglosenDeutschen eröffnete. Ein Hauptfeldwebelund zwei Hauptgefreite erlagen ihren Ver-letzungen, sechs weitere Männer wurdenschwer verwundet. Die Soldaten standenkurz vor dem Ende ihres Einsatzes undwurden Opfer eines Ereignisses, das sie inGespächen mit mir als Gefahr beschriebenhatten, die allerdings gering sei. Doch es istkein Geheimnis, dass afghanische Armeeund Polizei von Aufständischen unterwan-dert sind. Die Bundeswehr hat das nun leid-voll erfahren müssen. Marco Seliger

sie aus dem Schmutz des Afghanistan-kriegs zurück in Bayern sind, dann wollensie gern weitermachen. Weitere vierDienstjahre beim Bund, noch einen Ein-satz – ja, das könnten sie sich vorstellen. Esist keiner unter ihnen, dem der Krieg in denvergangenen fünf Monaten den Soldaten-beruf verleiden konnte. „Die Kamerad-schaft, das Wir-Gefühl – das findet man sonur in der Truppe“, sagt Marco. Sie schau-en einander an, nicken, bestätigen sichihre Bruderschaft. Sie kennen sich gut, hierim Krieg, sagen sie, seien sie eine Familie.Frontsoldaten, die ihre Erfahrungen zu-sammengeschweißt haben.

Das Warten auf neue Befehle, auf die Fort-setzung der Operation oder nur auf eine Pa-trouille übertünchen sie mit dem Überle-bensritualen des Frontsoldaten: Sie essen,trinken Kaffee und reißen Witze. Patrickdeutet auf den Innenraum des Panzers.„Das ist unser Wohnzimmer“, sagt er undgrinst. Im Fahrzeug stapeln sich Munitionund Kartons mit „Meal Ready to Eat“, aufeiner Sitzbank liegt ein Soldat in vollerMontur mit Schutzweste und Stiefeln undschläft mit angezogenen Knien. Sie habenHumor, reißen derbe, gemeine Witze, mitdenen sie ihrem langweiligen Alltag undihrer Angst begegnen. Doch es gibt auchdiese Nachdenklichkeit, die die jungenMänner immer wieder an der Front befällt.„Wer weiß denn schon daheim, was hierläuft“, fragt Marco. „Die wenigsten kennenden Krieg. Wer soll uns denn verstehen?“Das dürfte selbst dem Divisionskomman-deur schwerfallen. Wie die meisten Offizie-re der Bundeswehr hat er nie an der Frontgekämpft. „Dennoch“, sagt Waldemar,„hätte ich mir den Krieg krasser vorgestellt,bedrohlicher, ultimativ“. Jan meint, die Ta-liban seien zu feige, um offen gegen sie zu

und Medien in Deutschland mutmaßenumgehend, in Baghlan gebe es Führungs-und Ausbildungsmängel. Bataillonskom-mandeur Carstens wird vorgeworfen, erhabe die Truppe nicht im Griff. Das trifftihn, setzt ihm zu. Er verteidigt sich, ein ru-higer, besonnener Mann, der seine Wortewägt. „Wir haben hier wirklich Erfolg“, sagter leise. „Meine Soldaten nehmen monate-lange Entbehrungen auf sich und haben esnicht verdient, dass dieses tragische Un-glück das einzige sein soll, was zu Hause vonihnen wahrgenommen wird.“

Der Schock ist groß, doch die Operationwird fortgesetzt. Jan, Patrick, Jacob, Marcound Waldemar sind Panzergrenadiere ausRegen. Auf der herabgelassenen Heckklap-pe ihres „Marder“ fauchen Spirituskocher,auf denen sie ihre in Aluminium einge-schweißten Fertigmahlzeiten kochen. Esgibt eine indische Reispfanne, Gulasch mitKartoffeln und Hamburger in Tomatenso-ße, zum Nachtisch Grießspeise und Obst-salat. Die Soldaten sind Anfang zwanzigund können aus der 20-Millimeter-Kanoneihres kettenrasselnden Fahrzeugs Muniti-on verschießen, die auf zwei Kilometer Ent-fernung Menschen explodieren lässt. Bevorsie zum Bund kamen, haben sie einen Be-rufsabschluss gemacht: Koch, Stahl- undBetonbauer, Mechaniker, Konstruktions-techniker, Straßenbauer. Junge, mutigeKerle. Wenn ihr Einsatz zu Ende ist, wenn

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Die Panzergrenadiere Jan, Jacob, Waldemar und Marco (von links) sagen,an das spartanische Leben an der Front hätten sie sich gewöhnt. Die Kameradschaft lasse die Entbehrungen ertragen und doch sehne sichjeder nur danach, heile nach Hause zu kommen

Ein Bataillon kämpft erfolgreich inAfghanistan und niemand in der Hei-mat registriert es. So sehen es dieGebirgsjäger und fühlen sich verges-sen. Das beklagen sie auf Plakaten,die in den Stabscontainern hängen

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Page 11: TITEL OPERATION „JADID“ - · PDF fileTITEL 26 loyal03|11 OPERATION „JADID“ Der Krieg der Bundeswehr in Afghanistan geht im vorigen Oktober in eine neue, heiße Phase. Im Tal

Herr General, Ihre Truppen haben die Aufständi-schen aus wichtigen Gebieten der Provinzen Kun-dus und Baghlan vertrieben. Ist die Trendwendein Nordafghanistan erreicht?

Ich benutze gern das Bild des Bergsteigers. Wir ste-hen noch ein Stück vor dem Gipfel, müssen erstnoch drüber, bevor es auf die bessere Seite geht.Wir setzen den Taliban massiv zu. Sie haben er-kannt, dass es ums Ganze geht. Wir bleiben in denDörfern und schützen die Bewohner vor den Auf-ständischen. Wenn die den Kampf suchen, endeter für sie meist tödlich. Deshalb reagieren sie wü-tend und brutaler, auch der eigenen Bevölkerunggegenüber. Wir müssen uns beeilen, um die Bevöl-kerung vor weiterem Terror zu bewahren.

Sie suchen in diesem Jahr die Entscheidung?Absolut. Vor uns liegen harte Monate, die nocheinmal verlustreich sein können. Wir werden wei-terhin in Gebiete eindringen, in denen die Auf-ständischen bislang Ruhe vor uns oder den afgha-nischen Sicherheitskräften hatten. Der Momentist günstig, das Wetter auch, der Gegner befindetsich in der Defensive. Das gilt es auszunutzen.

Was planen Sie?Die Provinzen Kundus und Baghlan müssen nach-haltig sicher werden. Darum geht es zunächst indiesem Jahr.

Woran liegt es, dass die Taliban nach ihrer erfolg-reichen Rückkehr vor einigen Jahren nun wiederin die Defensive geraten sind?

Erstens: Wir haben unsere Kräfte signifikant ver-stärkt. Mit US-amerikanischen Hubschraubern,deutschen Infanterietruppen und inzwischen we-sentlich mehr und besser ausgebildeten afghani-schen Kräften lässt sich erheblich mehr Druck aufdie Aufständischen ausüben, als wir dies vor zweiJahren konnten. Zweitens: Die Menschen habengenug vom Krieg. Sie wollen Frieden, Sicherheit,Entwicklung, eine Zukunft für ihre Kinder, all das,was ihnen die Taliban nicht bieten können. Drit-tens: Die Leute sehen, dass sich ihre Lage mit unse-

rer Ankunft auch materiell verbessert. Wir brin-gen ihnen Strom, schottern Straßen, bauen Schu-len. Das wirkt.

Das macht einen Taliban noch lange nicht zumRegierungsanhänger. Wie wollen Sie verhindern,dass die Männer in den Dörfern im Frühjahr zur„Kampfsaison“ nicht wieder die Waffe ausgrabenund gegen Soldaten und Polizisten richten?

Die meisten Männer in den Dörfern sind keine Ta-liban. Sie verdingen sich bei ihnen, entweder umihre Familie zu ernähren oder um der Unterdrü-ckung durch die Aufständischen zu entgehen. Äl-teste beklagten in Gesprächen mit mir vielfach diehohe Arbeitslosigkeit in den Dörfern. Die Leutebrauchen Beschäftigung und finanzielles Einkom-men. Wenn es gelingt, die Wirtschaft anzukur-beln, verlieren die Aufständischen weiter anBoden. Deswegen haben sie kein Interesse an Auf-bau und Entwicklung in diesem Land.

Kundus und Baghlan waren vor einem Jahr nochTalibangebiet. Die Truppen konnten keinen Fußhineinsetzen, ohne angegriffen zu werden. Wiesind Sie vorgegangen, um die Lage zu verändern?

Alles, was wir machen, tun wir gemeinsam mitder afghanischen Armee und der Polizei. Wirleben, arbeiten und kämpfen zusammen. Außer-dem informieren wir vor jeder Operation die Men-schen in den Orten, was wir vorhaben. Die afgha-nischen Kräfte durchkämmen gemeinsam mit unsdann das Dorf nach Waffen und feindlichen Kämpfern, anschließend bleiben sie mit einigenunserer Soldaten dort und errichten einen Außen-posten. Die Leute sehen, dass wir es ernst meinenund helfen uns dabei, Taliban zu finden. Das ver-treibt die meisten Aufständischen.

Und wohin?In die Berge, in andere Dörfer, in denen wir nochnicht sind. Und wir rücken wieder nach und stel-len sie bei der nächsten Gelegenheit. Wir treibensie vor uns her, denn anders als früher können siein die Dörfer nicht mehr zurück.

„DER GEGNER BEFINDETSICH IN DER DEFENSIVE“Interview mit Generalmajor Hans-Werner Fritz, der neun Monate langdas Kommando über die ISAF-Truppen in Nordafghanistan geführt hat

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Page 12: TITEL OPERATION „JADID“ - · PDF fileTITEL 26 loyal03|11 OPERATION „JADID“ Der Krieg der Bundeswehr in Afghanistan geht im vorigen Oktober in eine neue, heiße Phase. Im Tal

gemacht haben. Oft misstrauensie der regulären Polizei, vor allemwenn die sich durch Diebstahlund Gewalt wie die Taliban gebär-det. Aber durch Training, bessereAusrüstung und regelmäßige Be-zahlung wird die Polizei langsambesser.

Die jüngsten Erfolge der Bundes-wehr in Afghanistan werden inDeutschland kaum wahrgenom-

men. Nach den tödlichen Schüssen auf deutscheSoldaten auf dem Außenposten „OP North“ istdas „Partnering“ mit den afghanischen Sicher-heitskräften aufgrund des damit verbundenen Risikos für unsere Soldaten in die Kritik geraten.Welche Alternativen sehen Sie zu dieser Zusam-menarbeit?

Der Tod unserer Kameraden auf dem „OP North“vor wenigen Tagen hat uns ausgesprochen betrof-fen gemacht. Bei aller Trauer: zum Partnering gibtes keine Alternative. Es hat sich bewährt, es warbisher erfolgreich, und das wird meiner Überzeu-gung nach auch zukünftig so bleiben. Die Schüssekamen von einem Einzeltäter, dessen Motive wirnicht kennen. Damit gibt es absolut keinen Grund,den afghanischen Partnern generell zu misstrau-en. Würden wir das tun, würden wir den Talibanin die Hände spielen. Sicherheit für Afghanistanals Voraussetzung für den Wiederaufbau geht nurgemeinsam. Risikofrei wird es niemals sein.

Das Gespräch führte Marco Seliger.

Aber doch nur, wenn das Bemühen um die Sicher-heit der Dörfer nachhaltig ist. Wie wollen Sie dasdie kommenden Jahre über gewährleisten?

Dazu werden Außenposten gebaut, in denen afgha-nische Polizisten oder Soldaten stationiert werden.Die bleiben dort und werden weiter ausgebildetund ausgerüstet. Deshalb sind die Polizeitrainer sowichtig, die die USA, aber auch Deutschland undandere Staaten nach Nordafghanistan geschickthaben. Unsere Truppen kämpfen die Dörfer frei,aber nur afghanische Sicherheitskräfte könnenund sollen die Bevölkerung langfristig schützen.

Die Regierung Karzai bietet Talibanüberläuferndie Chance, in eine reguläre Polizeitruppe aufge-nommen zu werden. Was halten Sie davon?

Es gibt derzeit keine Alternative dazu. Viele Män-ner, die bislang für die Taliban kämpfen, wollenkapitulieren. Die Regierung Karzai gibt ihnendiese Chance. Natürlich muss man sich jedenÜberläufer anschauen, ob er es ehrlich meint.Aber dafür sind die afghanischen Sicherheitskräf-te gemeinsam mit den Amerikanern verantwort-lich. Sie registrieren und überprüfen diese Leute.Lokale Polizeikräfte, manche sagen auch Bürger-wehren dazu, sind nicht in jedem Ort sinnvoll. Eskommt darauf an, was die Einwohner wollen.

Und was wollen die Einwohner?Manche Orte vertrauen ihre Sicherheit einer Bür-gerwehr an, andere der regulären Polizei. Dashängt davon ab, welche Erfahrungen die Menschen

„Von Disziplinmangel und Führungsschwäche in der Afghanistantruppe zu reden, verunglimpft 5000 Solda-ten, die unter schwierigen Bedingungen einen groß-artigen Job machen.“

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Bundeswehrsoldat auf demDach eines „Dingo“ an einerFLW (Fernbedienbare Leich-te Waffenstation) mit Ma-schinengewehr, Kaliber 7,62 mm, und Granatma-schinenwerfer 40 mm

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Generalmajor, war vom 20. Juni 2010 bis 23. Februar 2011 Komman-deur des Regionalkommandos Nord der ISAF in Mazar-i-Sharif. Sein Nachfol-ger ist Markus Kneip, Kommandeur der 1. Panzerdivision in Hannover.

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