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Als Notarzt lernt man, eigenständig zu entscheiden und dann konzentriert zu handeln. Jeder Handgriff muss sitzen. Aber was, wenn der Verunglückte bereits tot ist – und stattdessen die Umstehenden zum Problem werden? Eine Notärztin berichtet von einem Einsatz, bei dem sie eher als Psychologin gefragt war. Tod auf den Schienen Bildnachweis: Marco Schaack / Fotolia (Symbolbild) Heruntergeladen von: Thieme Verlagsgruppe. Urheberrechtlich geschützt.

Tod auf den Schienen - thieme.de · Opferfest ist, eins der höchsten islami-schen Feste, haben sie schon mittags frei und sind gemeinsam zum Bahnhof gegan-gen. „Es hatte wohl Streit

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Als Notarzt lernt man, eigenständig zu entscheiden und dann konzentriert zu handeln. Jeder Handgriff

muss sitzen. Aber was, wenn der Verunglückte bereits tot ist – und stattdessen die Umstehenden zum

Problem werden? Eine Notärztin berichtet von einem Einsatz, bei dem sie eher als Psychologin gefragt war.

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Rojahn J. Tod auf den Schienen. Lege artis 2013; 3: 190–193

Manchmal sieht Nora Hamp* die Bilder noch vor sich, wenn sie von irgendwoher mit der Bahn ankommt

und an Gleis 2 aussteigt: Den langen Gü-terzug am Bahnsteig, unter ihm das tote Mädchen – und rings herum eine hysteri-sche Schulklasse, kaum zu bändigen. „Das hatte ich noch nie erlebt“, sagt Dr. Hamp.

„So eine Aggression, soviel Wut. Mir ist das immer noch unerklärlich.“ Dabei ist sie damals schon eine erfahrene Notärztin:

„Ich fuhr seit eineinhalb Jahren regelmäßig Einsätze, 7 bis 8 Dienste im Monat. Ich hatte also viel Routine.“

Einsatz am Bahnhof Als an jenem Mit-tag ihr Piepser losgeht, sitzt sie gerade in der Kantine. Mal wieder bleibt die Mahl-zeit halb aufgegessen stehen. Hamp läuft hinüber zur Garage und trifft gleichzeitig mit ihrem Fahrer am Wagen ein. Auf die Rückbank zwängt sich noch ein Kollege, der gerade seine Notarzt-Ausbildung macht und froh ist über jede Fahrt, die er in seinem Logbuch ergänzen kann. Die Leitstelle meldet: Zugunglück am Bahnhof, eine Person wurde erfasst. Nora Hamp ist klar: Da ist wohl nicht mehr zu helfen. „Wer von einem Zug überfahren wird, hat keine Chance. Fast immer kann man nur noch den Tod feststellen.“ In den allermeisten Fällen wollte sich der Betref-fende umbringen. Aber das ist hier frag-lich: Bahn-Suizide werden meist auf offe-ner Strecke begangen. Dieses Mal ist es am Bahnhof passiert, mitten in der Stadt. Die Ärztin spürt, wie ihr Adrenalin-Spiegel steigt – trotz aller Routine.

16-Jährige überfahren Die Fahrt dauert nur wenige Minuten. Bei ihrer Ankunft sind auch schon Rettungswagen und der technische Dienst der Bahn vor Ort. „Nach denen schaue ich immer als erstes“, sagt Hamp. „Bevor die Bahn die Oberleitung nicht abgeklemmt hat, gehe ich nicht auf die Gleise.“ Der Notarztwagen hält auf dem Bahnhofsvorplatz. Nora Hamp greift nach ihrem Koffer, den sie vermutlich nicht brauchen wird, und steigt aus. Man zeigt ihnen den Weg: Am Bahnhofs-gebäude vorbei, dann durch die Unterfüh-rung zum nächsten Bahnsteig. Dort drän-gen sich Leute. Die Bahnmitarbeiter ha-ben rot-weiße Absperrbänder gespannt, zwischen denen sie die Notärzte hin-durchlotsen. Dabei berichten sie schnell das Nötigste: Ein 16-jähriges Mädchen ist auf das Gleis gerannt, der Lokführer konn-te nicht mehr rechtzeitig bremsen.

Am Gleis steht ein Güterzug, zwischen Zug und Bahnsteigkante schauen die Ärz-te hinunter auf einen menschlichen Kör-per: „Sie war nicht mehr zu identifizie-ren“, sagt Nora Hamp. „Es war klar, dass sie tot war.“ Ungewöhnlich ist, dass der Zug noch über ihr zum Stehen gekommen ist: Da er sehr lang ist, stehen die Wagen noch im Bahnhof, während die Lok schon viel weiter gefahren ist.

Hysterische Schulklasse Dem Mädchen können die Ärzte nicht mehr helfen, und die Bergung der Leiche ist nicht ihre Auf-gabe. Unter normalen Umständen wäre ihr Einsatz jetzt vorbei, sie würden zu-rückfahren und sich wieder abkömmlich melden. Aber an diesem Tag geht das nicht: „Rundherum herrschte das absolu-te Chaos!“, erzählt Hamp. „Eine ganze Gruppe Jugendlicher stand am Bahnsteig, die alles mit angesehen hatten.“

Und deren Reaktion überrascht die Ärzte: Sie sind nicht in Tränen aufgelöst oder stumm vor Schreck. „Statt dessen be-schimpften sie uns“, so Hamp. „Sie schrie-en uns an: ‚Was willst du denn hier, du blöde Fotze!‘ und ähnliches.“ Sie versucht zu erklären: „Ich bin hier die Notärztin!“ Aber sie hat den Eindruck, das dringt gar nicht bis zu den Jugendlichen vor. „Die waren so unverschämt und keiner Hilfe zugänglich – ein Albtraum!“

Unfall oder Suizid? Später erfährt sie, dass sie die Klassenkameraden des toten Mädchens sind, etwa 15–16 Jahre alt, fast nur Mädchen – und fast alle mit Migrati-onshintergrund. Weil an diesem Tag Opferfest ist, eins der höchsten islami-schen Feste, haben sie schon mittags frei und sind gemeinsam zum Bahnhof gegan-gen. „Es hatte wohl Streit gegeben, kurz bevor das Unglück passierte“, sagt Dr. Hamp. Worum es ging, hat sie nie erfah-ren. Fest steht: Das Mädchen ist vom Bahnsteig auf das Gleis gesprungen, die Warnungen der anderen kamen zu spät – dann war der Zug schon da.

Nicht nur Dr. Hamp fragt sich, ob sie den Güterzug nicht rechtzeitig gehört hat. „Ob das Mädchen aus Versehen oder absicht-lich vor den Zug gelaufen ist, konnte mei-nes Wissens nach nicht geklärt werden. Für ihre Mitschüler stand – zumindest an dem Tag – wohl fest, dass sie sich umbrin-gen wollte.“

Helfer versuchen, die Kinder zu bändigen Zur Erleichterung der Ärztin heißt es bald, dass sie mit der Gruppe in das Bahnhofs-gebäude können, in einen ungenutzten Nebenraum. Gemeinsam mit den Ret-tungssanitätern und einigen Mitarbeitern der Bahn lotsen sie die hysterischen Jugendlichen die Treppe runter, durch die Unterführung, auf der anderen Seite wie-der hoch und rein ins Haus.

„Normalerweise ist das ja nicht mehr un-sere Aufgabe“, so Hamp. Aber sie denkt keine Sekunde daran zu gehen: „Da brauchte man jeden, der klar bei Verstand war – auch, um die Kinder davon abzu-halten, sich was anzutun. Die waren außer Rand und Band, ich hatte das Gefühl, denen ist jetzt alles zuzutrauen.“

Auch die Polizei interessiert sich für das Geschehen Im Gebäude warten bereits einige Polizisten auf die Gruppe. Sie neh-men die Personalien der Schüler auf. „Da-bei stellte sich heraus, dass viele polizei-lich bekannt waren“, sagt die Ärztin.

„Manche hatten schon Jugendstrafen hin-ter sich.“ Die Polizisten lassen keinen der Schüler gehen, bevor sie sie befragt haben. Außerdem versuchen sie, die Eltern anzu-rufen, damit sie ihre Kinder abholen. Auch das ist schwieriger als gedacht: „Manche waren gar nicht erreichbar, und einige Schüler wollten nicht, dass ihre Eltern kommen.“ Vielleicht eine Handvoll wer-den schließlich abgeholt, die übrigen blei-ben vorerst.

Aggressionen gegen sich selbst und andere Der Beruhigung der Lage dient das nicht: „Einige sind völlig durchge-dreht“, so Dr. Hamp. „Die riefen ‚Ich bringe mich auch um‘, stießen ihren Kopf an die Wände und ritzten sich mit irgendwel-chen Sachen an den Armen herum. Es war absurd, schrecklich!“ Zum Glück ist der Raum vollständig leer und nicht möbliert.

„Wer weiß, was die sonst noch angestellt hätten! Vielleicht spielte auch der Streit eine Rolle, den es auf dem Bahnsteig gege-ben hatte.“

Schlüsselerlebnis

Das Mädchen war vom Bahnsteig auf das Gleis

gesprungen. Die Warnungen der anderen kamen zu spät.

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Schlüsselerlebnis

Schreiben Sie uns!

Hatten auch Sie ein persönliches Schlüssel­erlebnis? Ob positiv oder negativ – in Lege artis können Sie davon erzählen und Ihre Kollegen am konkreten Beispiel lernen lassen. Sie erreichen die Redaktion unter Tel. 0711/8931­ 677 oder per E­Mail: [email protected]. Gemeinsam prüfen wir, ob sich Ihre Geschichte für eine Publi­kation eignet – und natürlich garantieren wir absolute Vertraulichkeit.

Nora Hamp hat zwar schon viele Unfälle gesehen, auch mehrere Selbstmorde, aber noch nie so ein Verhalten: „Normalerwei-se sind die Angehörigen traurig, apathisch oder weinen still vor sich hin.“ Das tun hier nur wenige. „Und für die hatte keiner von uns Zeit, weil wir uns vor allem um die auffälligen kümmern mussten.“ Verstärkung bekommen die Helfer durch einige Notfallseelsorger, die bald im Bahn-hof eintreffen. „Im Wesentlichen haben wir versucht, mit den Kindern zu spre-chen, sie irgendwie zu beruhigen“, so Hamp. „Aber ein paar Mädchen waren keinem Gespräch zugänglich – mit ihrer Hysterie steckten sie die anderen immer wieder an.“

Einweisung in die Psychiatrie Der Not-ärztin wird klar: Mit Reden kommt man hier nicht weiter, die Situation kann im-mer noch eskalieren. Allein gehen lassen können sie die völlig aufgelösten Mäd-chen aber auch nicht. Nora Hamp fragt ih-ren Kollegen, was er davon hält, die schlimmsten in die Psychiatrie zu schi-cken. Er ist sofort einverstanden. Dr. Hamp ruft in der nächsten psychiatrischen Kli-nik an und schildert kurz die Lage. Als sie das Okay bekommen, nimmt sie ihre ganze Autorität zusammen: „Du, Du, Du, Du und Du – ihr geht jetzt raus zu den Rettungswagen und fahrt mit ins Kran-kenhaus.“ Das wirkt: Alle 5 folgen den Sanitätern nach draußen. Was die Kolle-

gen in der Psychiatrie genau mit ihnen gemacht haben, weiß Dr.

Hamp nicht – nur, dass sie alle im Lauf des Tages wieder entlas-

sen wurden.

Schulpsychologen übernehmen Als die „Problemfälle“ weg sind, wird es et-was ruhiger im Raum. Trotzdem kommt Nora Hamp die gute Stunde, die sie dort insgesamt verbringen, wie eine Ewigkeit vor. „Es war das reinste Irrenhaus! Bis schließlich die Schulpsychologen kamen, die konnten mit der Gruppendynamik besser umgehen.“ Die Psychologen teilen die Schüler unter sich auf: Jeder geht mit 5 von ihnen in einen separaten Raum. „Dann habe ich nichts mehr von ihnen gehört“, so Hamp.

„Offensichtlich hatten sie die Lage endlich unter Kontrolle, sodass wir gehen konn-ten.“ Vorher fragt sie aber noch die Not-fallseelsorger nach ihrem Eindruck: „Sie waren auch schockiert – über die Hysterie in der Gruppe und die Reaktion der Kinder auf uns.“

Anstrengender als so manche Reanima-tion Dr. Hamp ist beruhigt, dass sie zu-mindest nicht allein ist mit ihrer Bestür-zung an diesem Nachmittag. Sie ist ja sonst nie so lange vor Ort, wenn der Verunglückte schon tot ist. Und wenn sie Verletzte versorgt, ist sie derart auf die Behandlung konzentriert, dass sie nichts von der Umgebung mitbekommt. „Ob die Umstehenden seltsam reagieren oder sich ein Stau von Schaulustigen bildet – das sehe ich gar nicht, solange ich damit beschäftigt bin, Zugänge zu legen und die Atmung zu prüfen.“ Nichts davon war hier gefragt. Trotzdem fühlt sie sich geschlaucht, als sie schließ-lich wieder im Auto sitzen: „Mein Kollege, der Fahrer und ich waren völlig platt. Ich weiß gar nicht mehr, ob wir an dem Tag noch weitere Einsätze hatten.“

Am nächsten Tag: gleich noch einmal Woran sie sich aber erinnert, ist der nächste Morgen: „Es war noch vor 8 Uhr. Ich hatte gerade meinen Piepser geholt, da ging er auch schon los.“ Als sie ins Auto steigt, sagt der Fahrer: „Stell dir vor, wir müssen schon wieder zu einem Bahn-suizid!“ Im ersten Moment kann Dr. Hamp es nicht glauben. „Ist das ein Witz? Dann ist es kein guter.“ Aber es ist ernst: Dieses Mal ist es ein 65-jähriger Mann, auf offener Strecke. „Sozusagen der Normalfall“, sagt Nora Hamp im Rückblick. „Aber an dem Tag kam mir das alles absurd vor, zwei Mal direkt hintereinander!“ Als sie ankommen, zeigt ihnen wieder ein Bahnmitarbeiter, wo der Tote in etwa liegt. Die Ärztin und der Fahrer steigen auf den Bahndamm und gehen in der Winterkälte die Schienen entlang, bis sie die Körper-teile sehen können. Dr. Hamp stellt den Tod fest, nach 10 Minuten sitzen sie wie-der im warmen Auto. Sie verabschieden sich von den Bahnangestellten, die noch auf den Leichenwagen warten. „Ich kam mir vor wie in einem schlechten Traum“, sagt die Ärztin. „Den ganzen Tag stand ich irgendwie neben mir.“

Mitgefühl? Schwierig! Das Erlebnis am Bahnhof beschäftigt sie noch wochenlang. Auch, weil sie auf dem Weg zur Klinik täg-lich am gleichen Gleis aussteigt: An der Stelle, wo das Mädchen überfahren wurde, stehen noch lange Kerzen und Blumen. Auch die Jugendlichen sieht sie ab und zu in der Gegend wieder. Oft muss sie dann an den Einsatz denken. „Es hat mich so schockiert, dass die Jugendlichen selbst in einer Extremsituation wie dieser nicht zugänglich waren. Mitgefühl war deshalb kaum möglich.“

Julia Rojahn

„Ich konnte kaum Mitgefühl mit ihnen haben. Selbst in so einer Extremsituation waren

sie nicht zugänglich.“

Bildnachweis: Tatyana Savchenko / Fotolia (Symbolbild)

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Rojahn J. Tod auf den Schienen. Lege artis 2013; 3: 190–193

Schlüsselerlebnis

Kommentar von Prof. Dr. Frank-Gerald B. Pajonk

Akute Belastungsreaktion am eigenen Leib erlebt

Suizide: Aktuelle Daten Nach vielen Jahren des Rückgangs hat die Zahl der Suizide in den letzten 4 Jahren wieder zu-genommen. Im Jahr 2011 registrierte das Statistische Bundesamt 10 144 Suizide. 21 davon entfielen auf die Altersgruppe der 10- bis 15-Jährigen, 172 auf die der 15- bis 20-Jährigen. Die gute Nachricht: Die Zah-len für diese Altersgruppen haben nicht zugenommen und sind in den letzten Jah-ren sogar leicht rückläufig. Trotzdem bleiben Suizide (nach Verkehrs-unfällen) die zweithäufigste Ursache für tödliche Verletzungen bei 15- bis 20-Jäh-rigen: Im Jahr 2010 waren es 28,8 %, das sind 189 Sterbefälle. Die Suizidrate lag da-mit bei 4,5/100 000, das ist 2,5-fach höher als die Rate tödlicher Heim- und Freizeit-unfälle. Jungen sind in dieser Altersgruppe etwa 3-mal häufiger betroffen als Mädchen. Nach Studienergebnissen sind zudem tür-kische Mädchen unter 18 Jahren beson-ders gefährdet: Ihre Suizidrate ist doppelt so hoch wie die ihrer deutschen Alters-genossinnen [1].

Gruppenreaktion auf Suizid Diese Fak-ten erklären allerdings weder das wüten-de, feindselige und beleidigende Verhal-ten der Mädchen in der hier beschriebe-nen Situation noch das Entsetzen und die Fassungslosigkeit der Notärztin. Die psy-chische Reaktion einer Menschengruppe, die einen solch gewaltsamen Suizid beob-achtet, ist nicht vorhersehbar. Dazu müss-te man eine Vielzahl von Einflussfaktoren mit einbeziehen, die in der Notfallsituati-on nicht verfügbar sind bzw. nicht über-blickt werden können:

▶ Hat es vorher Streit gegeben?

▶ War das Mädchen möglicherweise Op-fer von vorherigen Anfeindungen?

▶ Wie bewerten verschiedene Kulturen und Religionen einen Suizid, und wie äußert sich in ihnen Trauer?

▶ In welcher sozialen Struktur bewegen sich die Zeugen?

Kinder und Jugendliche reagieren auf trau-matische Ereignisse oft sehr anders als Er-wachsene, direkte Zeugen anders als An-gehörige, die nicht unmittelbar anwesend waren. Letztlich bleibt hier aber ungeklärt, ob es sich wirklich um einen Suizid han-delte, um einen Unfall, oder ob das Mäd-chen evtl. vor den Zug gestoßen wurde.

Mit Gewalttätigkeit muss man rechnen Aggressionen einzelner Personen gegen sich selbst oder andere sind keine seltene Reaktion auf ein akutes traumatisches Ereignis. Weniger häufig sind aber kollek-tive Aggressionen. Die Beobachtung, dass einige der Zeugen polizeibekannt waren und bereits Jugendstrafen hinter sich hat-ten, weist auf ein erhöhtes kriminelles Verhalten und höhere Aggressionsbereit-schaft hin. Auch Alkohol und andere Dro-gen können aggressives Verhalten nach ei-nem traumatischen Erlebnis begünstigen. Dr. Hamps verständliche Fassungslosig-keit resultiert genau aus dem unerwarte-ten, feindseligen Verhalten der Mädchen ihr gegenüber. Und dies vor dem Hinter-grund ihrer eigenen Bestürzung über den tragischen Tod einer 16-Jährigen – trotz aller Professionalität und Erfahrung. Dabei hat sie völlig richtig gehandelt.

Empfohlenes Vorgehen In einem Fall wie hier bringt man die Beteiligten am besten rasch vom Ort des Geschehens weg. Wenn kein gemeinsames Trauern möglich ist, sondern eher eine aggressive und feindselige Stimmung herrscht, sollte man die Gruppe trennen. Insbesondere die Hochauffälligen sollten identifiziert und separiert werden. Außerdem benach-richtigt man möglichst unverzüglich die Angehörigen. Wenn auch das Kriseninterventionsteam, Notfallseelsorger oder – wie in diesem Fall – Schulpsychologen die Lage nicht beruhi-gen können, sollte man eine psychiatri-sche Klinik einschalten. Dabei ist es nicht ungewöhnlich, wenn die Betroffenen dort

nur ambulant behandelt werden: Die Ent-fernung vom Unfallort, das Wiedergewin-nen eines Realitätsbezugs durch eine straff organisierte Untersuchung und Behandlung durch Menschen, die eine Distanz zum Suizid- oder Unfallgeschehen haben und die Einschaltung von Bezugs-personen, zu denen eine emotionale Öffnung möglich ist, führen in der Regel rasch zu einer Beruhigung hoch emotio-naler Reaktionen.

Ärztliche Kompetenzen sind plötzlich nutzlos Für Notärzte sind solche Erleb-nisse meist sehr viel belastender als ein „Routineeinsatz“ – selbst wenn dieser eine frustrane Reanimation einschließt. Auch dies beschreibt Dr. Hamp vorzüglich. Alle Fähigkeiten, die üblicherweise gefor-dert sind, waren in diesem Fall sinnlos: die volle Konzentration auf den Patienten, die Prüfung der Vitalfunktionen, das Legen von Zugängen etc. Die Notärztin erfuhr am eigenen Leib die Nutzlosigkeit aller eigenen Kompetenzen – und damit massive Hilflosigkeit.

Nachwirkungen Anschließend erlebte sie Symptome einer akuten Belastungs-reaktion:

▶ ein Gefühl der Unwirklichkeit und Ent-fremdung von sich und der Welt

▶ emotionale „Betäubung“ ▶ Bewusstseinseinengung mit reduzier-ter Aufmerksamkeit

▶ dissoziatives Erleben mit partieller Amnesie

In aller Regel klingen diese Symptome nach einigen Tagen wieder ab. Bei weniger resilienten Personen können sich daraus aber Anpassungsstörungen oder eine posttraumatische Belastungsstörung ent-wickeln. Ob ein systematisches Debriefing solcher Einsätze sinnvoll ist, wird derzeit zurückhaltend beurteilt. Empfehlenswert ist dagegen eine Nachbesprechung im Kollegenkreis oder eine psychotherapeu-tische Kurzintervention: So kann man die Erfahrung in den Kontext des eigenen Erlebens einordnen.

1 Razum O, Zeeb H. Suizidsterblichkeit unter Türkinnen und Türken in Deutschland. Der Nervenarzt 2004; 75: 1092–1098

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Prof. Dr. med. Frank-Gerald B. Pajonk ist Professor für Psychiatrie an der Georg­August­ Universität Göttingen, Lehrbeauftragter für Psychiatrie und Psychosomatik an der Ludwig­ Maximilians­Universität München und Leiter der Praxis Isartal für Erkrankungen der Psyche, Schäftlarn. Er gehört zum Herausgebergremium von Lege artis. E­Mail: [email protected]

Alle ärztlichen Fähigkeiten sind plötzlich nutzlos.

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