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Trokans Tor

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Nr. 1833

Trokans Tor

Herreach und Mutanten - dieGeistes-Schlacht am Pilzdom

entbrennt

von Susan Schwartz

Man schreibt das Jahr 1289 Neuer Galaktischer Zeitrechnung: Zigtausende dermysteriösen Igelschiffe haben in der Milchstraße zahlreiche Planeten besetzt undkomplett von der Außenwelt abgeschnitten. Die zerstrittenen Staaten der Galaxiswissen keine Lösung, sind derzeit auch weit von einer Einigung entfernt: Mißtrauenherrscht zwischen den großen Machtblöcken.

Kein Mensch in der Milchstraße weiß zudem Bescheid, wo Perry Rhodan sowieseine Freunde Reginald Bull und Alaska Saedelaere sind. Die drei Aktivatorträgerverschwanden im Pilzdom auf Trokan, dem »zweiten Mars«, und tauchten bishernicht wieder auf Während es Alaska in die Galaxis Bröhnder verschlagen hat, wo ersich zuletzt dem Zugriff der »Schrottsammler« erwehren mußte, sind Rhodan undBull in Plantagoo unterwegs und wollen dort zu den geheimnisvollen Galornen vor-stoßen.

Einer Gruppe von Freiwilligen ist es immerhin gelungen, das von den Fremden be-setzte Humanidrom zu sprengen sowie Larven der Tolkander zu bergen. Dadurchkonnten die Galaktiker einige Geheimnisse der merkwürdigen Invasoren lösen.

In der Zwischenzeit hat sich die Situation auf Trokan verändert; neue Gruppierun-gen sind entstanden. Und zwei Mutantinnen beginnen mit ihrer Arbeit an TROKANSTOR …

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Die Hautpersonen des Romans:Mila und Nadja Vandemar - Zwei Mutantinnen versuchen sich an den Geheimnissen des Pilzdoms.Myles Kantor - Der Wissenschaftler leitet das Unternehmen an Trokans Tor.Presto Go - Die oberste Künderin der Herreach treibt den Wiederaufbau voran.Caljono Yal - Die Mahnerin entdeckt ihre Gegnerschaft zur obersten Künderin.Jeromy Argent - Leiter der terranischen Hilfstruppen auf Trokan.

1.Die Prophezeiung

Kummerog ist der Gott, der hinter denToren des Tempels darauf wartet, von denHerreach erlöst zu werden. Und wenn dieHerreach weit genug vorangeschritten sind,in ferner Zukunft, dann werden sich die Toreöffnen, und der Gott Kummerog wird durchdie Pforte zu ihnen kommen. Dann wird derHimmel sich öffnen, und eine strahlend helleHälfte und eine dunkle werden zum Vor-schein kommen.

An dieser Prophezeiung hatte kein Herre-ach je gezweifelt, seit sie in der Frühzeit voneinem ihrer Urahnen, die sich damals nochHerrach nannten, zum ersten Mal vernom-men worden war. Die Prophezeiung hatteden Glauben an Kummerog begründet, derzum ganzen Lebensinhalt der Herreach wur-de. Jeder Herreach war gläubig, und jederGläubige wußte, daß Kummerog nicht nureine Legende war, sondern Wirklichkeit.

Der Tempel war da, und sein Flüsternkonnte von jedem Begabten, der sich daraufkonzentrierte, vernommen und verstandenwerden.

Der Tempel war schon dagewesen, als dieHerreach noch urzeitliche Kherrah gewesenwaren und noch nichts von den wahren Din-gen wußten, weil sie die Stufen zur Intelli-genz gerade erst beschritten hatten. Dochschon damals war die allererste Legendeentstanden, daß dieser Berg von etwas My-steriösem umgeben wurde: etwas, das denKherrah Schutz vor den gefräßigen Gnostesgewähren würde. Aus Kherrah wurden Her-rach und später die Herreach, und aus demgeheimnisvollen Ort des Friedens der spre-chende Berg.

Auf den Glauben an Kummerogs Erlö-sung aufbauend, begannen die Herreach,sich beim sprechenden Berg anzusiedeln,und die größte Stadt der Welt entstand:Moond. Der Cleros wurde gegründet, dessenwandernde Mitglieder, die weißgewandetenClerea, die Prophezeiung als Prediger überdie ganze Welt verbreiteten und an nachfol-gende Generationen weitergaben.

Kein Herneach hatte eine genaue Vorstel-lung darüber, wann die Prophezeiung eintre-ten würde, denn der Zeitpunkt war viel zuunbestimmt - ferne Zukunft. Wie weit wareine ferne Zukunft entfernt? Ferner als diebisher vergangenen Generations-Perioden,so fern, daß es nicht mehr in den bekanntenMaßstäben ausdrückbar war; weiter als ir-gendwelche Entfernungen auf der Welt?

Richtungweisend war immerhin, daß dieHerneach einen gewissen Grad geistigerReife erreicht haben mußten, um ihren Gottnicht nur befreien, sondern ihm auch gegen-übertreten zu können. So war es das Lebens-ziel eines jeden Herreach, während der ge-meinsamen Betstunden die tiefste Trance zuerreichen, um Kummerog nahe zu sein,ebenso die höchste Konzentration, um seinBild heraufzubeschwören. Eines Tages, des-sen waren sich die Mitglieder des Cleros si-cher, mit genügender Ausdauer, Geduld undgeistiger Reife würde sich die Prophezeiungerfüllen. In ferner Zukunft …

Als die ferne Zukunft dann tatsächlich zurGegenwart wurde, als der Riese Schimbaaendlich erschien, geschah das Unvorherge-sehene: Die Prophezeiung erfüllte sich wort-getreu, doch daraus erwuchs keineswegs einLeben in Überfluß und geistiger Erleuch-tung.

Ganz im Gegenteil …

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2.Trokan, 1. März 1289 NGZ

Verluste Caljono Yai glaubte nicht daran,betrogen worden zu sein. Sie gehörte zu je-nen Herneach, die viele Dinge eher nüchternbetrachteten, ohne die kunstvolle Ver-packung darum herum, und sich Änderun-gen gegenüber aufgeschlossen zeigten.

Dennoch war sie verunsichert. Sie hatteden festen Halt, auf den sie sich seit ihrerfrühesten Kindheit gestützt hatte, verloren.Sie wußte, daß es vielen anderen Herneachebenso erging die Verwirrung war groß.

Die Welt der Herneach war völlig verän-dert - ja, zusammengebrochen. Nichts warmehr wie gewohnt und überliefert.

Caljono Yai war dabeigewesen, als derRiese Schimbaa herbeigebetet worden war,um das Tor zu öffnen und Kummerog zu be-freien. Aber es war alles anders gekommen:In der Folge war der Tempel völlig zerstörtworden, und an dessen Stelle war der soge-nannte Pilzdom entstanden - aus dem dannwie erwartet Kummerog, der Gott, herausge-treten war. Doch zu welchem Preis!

Infolge einer gewaltigen Umweltkatastro-phe war die große Stadt Moond weitgehendzerstört worden; Hunderttausende von Her-reach waren verletzt worden oder hatten denTod gefunden. In Moond herrschte Chaos.

Und es ging noch weiter: Kummerog, deranbetungswürdige Gott, hatte angeblich aufeiner anderen Welt den Tod gefunden, undzum ersten Mal war der Glaube der Herne-ach nicht nur erschüttert, sondern auch ge-teilt. Der Cleros unter der obersten KünderinPresto Go glaubte weiterhin fest daran - undverbreitete diesen Glauben ungebrochen -,daß Kummerogs Geist in dem Pilzdom weil-te.

Caljono Yai war ganz anderer Ansicht.Nach allem, was geschehen war, konnte esunmöglich Kummerog selbst gewesen sein,der den Pilzdom verlassen hatte. Ihrer An-sicht nach hielt sich der Gott nach wie vornoch körperlich innerhalb des Pilzdoms auf.

Irgendwo tief darin gefangen.Dadurch war es zum Bruch zwischen ihr

und Presto Go gekommen …

*

Obwohl sie erst 33 Jahre alt war, trug Cal-jono Yai bereits die violette Kutte der Mah-ner und genoß einiges Ansehen, selbst unterden Clerea. Dieses Ansehen hatte sie sich al-lerdings durch ihren scharfen Verstand undihre außergewöhnliche Begabung beim Ge-bet erworben. Anders als Presto Go hatte sieniemanden getötet, um diese Position einzu-nehmen.

Die oberste Künderin des Kummerog hat-te ihre hohe Position nicht allein durch ihrTalent errungen, sondern auch mit Intrigenund sogar Mord. Niemand machte ihr darauseinen Vorwurf, sie hatte nun diese Stellunginne und konnte sie mühelos halten. KeinMahner, Clerea oder gar einer aus demHandwerker- oder Bauernstand wäre jemalsauf die Idee gekommen, Presto Go für ihrVerhalten zu verurteilen. Sie hatte getan,was sie für notwendig gehalten hatte.

Caljono Yai war bisher nicht der Gedankegekommen, jemanden zu beseitigen, der ihrim Weg war. Andererseits nahm auch keinanderer Mahner Anstoß daran, daß sie, rela-tiv unerfahren, Presto Go als Vertraute sonahestand.

Der eine oder andere hatte zwar ein weniggemurrt, jedoch Presto Gos Willen nicht wi-dersprochen. Es hatte alles seine Richtigkeit.

Die junge Mahnerin erinnerte sich nochgut an das Gefühl des Stolzes, als sie dieviolette Kutte das erste Mal angelegt hatte.Sie war zu dem Zeitpunkt natürlich eine sehrstreng gläubige Herreach gewesen und Pre-sto Go bei den Gebeten bereits eine großeHilfe. Dies war ihre Hauptaufgabe, anson-sten sah und hörte sie von der obersten Kün-derin nur wenig. Das bekümmerte sie nichtweiter; sie war ohnehin die meiste Zeit da-mit beschäftigt, die Erfüllung der Prophezei-ung herbeizuführen.

Zu dieser Zeit hatte Caljono Yai noch

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sehr wenig auf das alltägliche Leben derHerreach und den technischen Fortschrittgeachtet. Sie bemerkte wohl, daß eine Men-ge Erfinder und Städteplaner häufig bei Pre-sto Go ein- und ausgingen. Doch sie interes-sierte sich kaum dafür, da ihre Neigungennoch vollkommen auf das Religiöse ausge-richtet waren.

Mochten die gewöhnlichen Herreach sol-che Dinge tun, Caljono Yais Geist weiltestets in höheren, weit abgelegenen Sphären.Auf diese Weise wollte sie den Herreach zuWohlstand und Glück verhelfen, indem siedie Vollkommenheit und den Weg zu Kum-merog fand.

Damit gehörte sie zu Presto Gos eifrigstenMahnern und Anhängern, die sich darüberhinaus für keinerlei weltliche Belange oderpersönliches Ansehen interessierten. PrestoGo löste so zwei Probleme auf einmal: Ei-nerseits konnte sie ihre Position weiterhinhalten, andererseits sammelte sie die fähig-sten Gläubigen um sich, deren Gebetstranceungeahnte Tiefen erreichte.

*

Dann wurde Caljono Yais stille, ver-träumte Welt zerstört, als die Prophezeiungsich erfüllte und die Katastrophen begannen.Die halbe Welt lag in Schutt und Asche, her-vorgerufen durch furchtbare Stürme, Gewit-ter, sogar Erdbeben.

Von der Welt, wie die Herreach sie seitihrer Jugend und aus der Geschichte kannte,war nichts mehr übriggeblieben - nicht ein-mal der Glaube an Kummerog, zumindestnicht in derselben Weise. Ihr Leben und ihrDenken hatten sich von einem Moment zumnächsten ändern müssen.

Der Untergang der Stadt Moond war nichteinmal das wahrhaft Erschütternde. Sicher-lich hatte es etwas Ähnliches nie zuvor ge-geben, aber die Häuser konnte man wiederaufbauen. Andere Herreach, die das Landverließen, würden in die Stadt ziehen unddie Plätze der Verstorbenen einnehmen.Man konnte die Stadt wieder zu neuer Blüte

bringen, und das ziemlich schnell, dank derTechnik.

Doch es war noch etwas ganz anderes ge-schehen.

Inder Prophezeiung hatte es geheißen, daßeine strahlend helle und eine dunkle Seitezum Vorschein kommen würden, wenn derHimmel sich öffnete.

Kein Herreach hatte sich jemals etwasGenaues darunter vorstellen können - Gren-zen zwischen Hell und Dunkel gab es bei ih-nen nicht, denn überall im Freien herrschtedasselbe angenehme dämmrige Zwielicht.Nur in den Häusern hatte man Lampen be-nutzt. Die Zeiteinteilung erfolgte durch denWechsel zwischen Wachen und Schlafen;die meisten Herreach gingen zu denselbenZeiten schlafen und waren zu denselben Zei-ten wach. Es war ein bestimmter Rhythmus,der sich im Laufe der Zeit ganz natürlichentwickelt hatte.

Doch das war nun vorbei. Jetzt gab es inganz bestimmten Abständen Hell und Dun-kel, und die Herreach hatten auf sehrschmerzliche Weise die Bedeutung diesesTeils der Prophezeiung erfahren müssen.

»Hell« bedeutete ein grelles, sengendesLicht, das von einer mächtigen Feuerkugelam unverschleierten Himmel strahlte undlange, tiefschwarze Schatten warf.

Caljono Yai erinnerte sich voller Grauenan den ersten Moment, als das brennendeLicht sie voll getroffen hatte. Sie hatte gel-lend geschrien, doch ihre Stimme war nochin dem lauten Geschrei der anderen Herre-ach untergegangen. Sie waren geflüchtet,übereinandergerannt, hatten sich gegenseitigin größter Panik teilweise zu Tode getram-pelt.

Die junge Mahnerin hatte geglaubt, daßihre Augen ausgebrannt würden, daß ihretransparente, glatte Haut zu schwarzer Kohleverglühte. Sie war ins Bethaus geflüchtet,hatte sich in ihre violette Kutte gewickeltund die Kapuze übergeschlagen. Den Restdes Tages, während das grelle Licht andau-erte, hatte sie sich nicht mehr gerührt.

Auf die furchtbare Helligkeit folgte eine

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tiefschwarze Periode, die Nacht genanntwurde. Es war so dunkel im Bethaus, daßCaljono Yai ihre eigene Hand nicht mehr er-kennen konnte. Einen schrecklichen Mo-ment lang hatte sie geglaubt, für immer vondem feurigen Licht erblindet zu sein, bis ihreAugen sich allmählich an die Dunkelheit ge-wöhnt hatten und sie in der Ferne, am Endedes Gangs zum Betfeld hinaus, den schwa-chen Lichtschein einer Lampe ausmachenkonnte.

Vorsichtig hatte sie sich hinausgewagt,schon ein wenig getröstet, denn wo Lichtwar, gab es auch noch Herreach. Sie warnicht plötzlich allein auf der Welt, die einzi-ge Überlebende der furchtbaren Katastro-phe.

Niemand beachtete die junge Mahnerin,als sie das Betfeld betrat. Presto Go konntesie nirgends entdecken, doch das war jetztnicht wichtig. Sie bemerkte einen verklärten,entrückten Ausdruck auf den Gesichtern deranderen, deren Nas-Organe fast bis zur dop-pelten Größe aufgeplustert waren. Sie allehatten die Gesichter himmelwärts gewendetund flüsterten leise, fassungslose Worte.

Caljono Yai folgte dem Beispiel der ande-ren und verharrte ebenso staunend wie sie,fassungslos murmelnd. Noch nie hatte siesolch ein Wunder gesehen; es lag fern vonallem, was sie sich jemals vorgestellt hatte.

Der Himmel war schwarz und spanntesich wie eine Kuppel über die zerstörte, anvielen Stellen schwelende und brennendeStadt. Und in diesem Schwarz, wie in einembesonderen Stoff, funkelten und glänztenMillionen strahlender Lichter, von haarna-delklein bis kaum nagelgroß, und verbreite-ten ein schwaches, sanftes Licht.

Vergessen war der Schock des sengendenLichts, vergessen in diesem Moment sogardas Bewußtsein, daß die Welt nie wieder sosein würde wie zuvor, daß es nichts Vertrau-tes mehr gab.

»Was ist das?« murmelte ein Clerea ne-ben ihr. »Löcher im Himmel? Die Nebelsind fort, und kein verstreutes Licht ist mehrda, es ist zusammengezogen zu diesen

Leuchtpunkten. Wie entstehen sie? Wo sindsie?«

»Es ist mehr, viel mehr«, wisperte Caljo-no Yai. »Es sind keine Löcher im Himmel,nein, das ist weit dahinter. Da gibt es nochandere …«

»Woher weißt du das?« fragte ein andererClerea, der zugehört hatte.

Caljono Yai erwachte wie aus einemTraum und starrte den Priester verwirrt an.

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie leise.»Der Gedanke kam mir so in den Sinn …«

*

Die Fremden tauchten auf, die von weitentfernten Sternen erzählten, von bewohntenPlaneten, auf denen intelligente Wesen leb-ten, unvorstellbar fremd. Sie bezeichnetendie Welt der Herreach als Trokan, und siebezeichneten den Wechsel von Hell undDunkel als Tag und Nacht. Sie erkundigtensich eingehend über Kummerog und brach-ten nach einiger Zeit die Kunde, daß derGott auf einer anderen Welt umgekommensei.

Eine Menge stürzte über die Herreachherein. Ihr gesamtes Weltbild brach zusam-men, als sie erkennen mußten, daß sie nichtallein existierten. Sie mußten erkennen, daßsie nur ein winziger Punkt in einem endlosscheinenden Universum waren, eine kleinebewohnte Welt unter Milliarden. Sie mußtenerfahren, daß sie nichts Besonderes waren,nicht einmal technisch weit entwickelt, dadie Terraner mühelos ihre Welt verlassenund zu anderen Welten fliegen konnten.

Das Wort fliegen konnten die Herreachnicht begreifen, es war ihnen völlig unbe-kannt. Auf ihrer Welt gab es kein Wesen,das fliegen konnte. Sie machten sich aller-dings weiter keine Gedanken darüber, wiesie im übrigen stets mit allen Dingen verfuh-ren, die sie nicht begreifen konnten. Entwe-der kam das Verständnis eines Tages vonselbst zu ihnen, oder es war zu unwichtig,um jemals ergründet zu werden.

Dank ihres stabilen Wesens, ihrer Gleich-

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mut und ihrer weitgehenden Interesselosig-keit Neuem gegenüber ertrugen die Herre-ach Veränderungen, auch derartig erschüt-ternde, relativ gelassen, zumindest ohne denVerstand zu verlieren. Sie gewöhnten sicherstaunlich rasch an die veränderten Um-stände, sprachen untereinander kaum dar-über, sondern dachten nur still für sich dar-über nach.

Nur die Wunder des Nachthimmels, diebedingungslose Schönheit dieses Strahlensund Funkelns beschäftigten sie länger.Schönheit und Harmonie waren Begriffe, diesie kannten, mit denen sie durch jahrtausen-delange Gebetstrance umgehen konnten. DieBetrachtung dieses Himmels gab ihnen wei-tere Hinweise zur Vervollkommnung ihrerGebete, möglicherweise auch zur Klärungder Religionsfrage.

Doch es gab noch mehr, nicht nur den Zu-sammenbruch der Weltordnung und religiö-se Streitfragen: Greifbareres, Notwendige-res, das das Leben der Herreach stark beein-trächtigte und womit sie gezwungen waren,sofort umzugehen - und zwar jeder von ih-nen, auch die Priester.

Die Pflanzen gingen in der sengendenHitze ein, die vom Erdboden einigermaßengeschützten Wurzeln wurden durch die hef-tigen Regenfälle ersäuft und verfaulten.Weltweite Beben, Stürme und Erschütterun-gen waren an der Tagesordnung und ver-nichteten auch zähe Pflanzen, die in vor Hit-ze und Wasser einigermaßen schützendenFelsschatten ums Überleben kämpften. Daswichtigste Glied der Nahrungskette war da-mit kaum mehr vorhanden und würde nachund nach das gesamte Leben verlöschen las-sen.

Die Welt der Herreach war lebensfeind-lich geworden.

Und Presto Go gab den Terranern dieSchuld, weil sie sich eingemischt hatten.

3.Lossagung

Caljono Yai hätte auch gern anderen die

Schuld gegeben, aber so einfach wollte siees sich nicht machen. Der Zusammenbruch,der erste Regen, Tag und Nacht hatten nichtnur die Welt, sondern auch sie selbst völligverändert. Sie war jung und flexibel genug,um nun nicht auf Althergebrachtem zu be-harren, sondern den Verstand zu gebrauchenund sich den neuen Anforderungen zu stel-len.

Um sich wenigstens etwas von ihremGlauben zu bewahren, war sie zu der Über-zeugung gekommen, daß ihr Gott Kumme-rog immer noch innerhalb des Pilzdoms ge-fangen war. Kummerog war kein Trugbild,immerhin war ein Teil der Prophezeiungeingetreten.

Daß sie sich nicht wie erwünscht erfüllthatte, lag allein an den eigenen Vorstellun-gen und Bildern, die sich die Herreach imLauf der Zeit gemacht hatten. Die Mahneringlaubte den Terranern nicht, daß Kummerogso leicht zu töten war, noch dazu auf eineranderen Welt. Ein Gott war ein sehr mächti-ges Wesen und würde sich zu schützen wis-sen. Ob er überhaupt durch fremde Handsterben konnte, diskutierte Caljono Yai übri-gens weder im stillen noch mit anderen, dar-über besaß sie keine Vorstellung. Das We-sen eines Gottes war zu abstrakt und spieltedaher in der Glaubensfrage keinerlei Rolle.

Weniger abstrakt war jedoch die Behaup-tung der Fremden, daß Kummerog angeblichüberhaupt kein Gott, sondern ein abgrundtiefböses Wesen gewesen sein sollte. DieseAussage erzürnte Caljono Yai über alle Ma-ßen; fast war sie geneigt gewesen, PrestoGos Meinung zu teilen und die Fremden, diesich ungefragt in ihr Leben gemischt hatten,als Dämonen zu verteufeln und jeden Kon-takt mit ihnen abzulehnen.

Aber sie war vernünftig genug, sich nichtallein von Gefühlen beherrschen zu lassen.Ihr strenger Glaube war bereits durch dieZerstörung ihrer Welt und die Tatsache er-schüttert worden, daß Kummerogs göttlicheErscheinung nicht hervorgekommen war.

Statt dessen waren diese sonderbaren,fetthäutigen Wesen mit den häßlichen fla-

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chen Gesichtern und den runden, kleinenblassen Augen gekommen. Caljono Yai hat-te sich bei der ersten Begegnung im Hinter-grund gehalten und wich auch weiterhinstets diesen Fremden aus, die die Macht überden Himmel besaßen.

Aber sie hörte ihnen zu. Immerhin warendiese Fremden keine durch Gebete herbeige-rufenen Phantasiegestalten, sondern Wirk-lichkeit, und sie besaßen ein völlig anderesWissen als die Herreach. Die Mahnerinnahm alle Informationen in sich auf undwog sie sorgfältig ab.

Presto Gos festgefahrene Meinung, daßdie Terraner Dämonen seien, und ihre un-aufgeschlossene, starre Haltung verursach-ten den ersten Riß in Caljono Yais Treuege-fühl der obersten Künderin gegenüber. Dä-monen konnten nichts Gutes tun. Diese Ter-raner jedoch verhielten sich durch ihre ket-zerischen Reden vielleicht wie Dämonen,aber sie halfen den Herreach.

Ohne die weltweite Wetterregulierung,die technische Unterstützung und die wirt-schaftliche Hilfe mit Nahrungsmitteln, Klei-dung und Energieversorgung wäre das Volkder Herreach bald ausgestorben - und mit ih-nen auch die wenigen Tiere und Pflanzen.Das Sonnenlicht und die einhergehendenKlimaveränderungen hätten das gesamte Le-ben des Planeten innerhalb kürzester Zeitausgerottet, bevor die Herreach einen Weghätten finden können, um sich anzupassen.

Durch diese konträren Ansichten war eszwischen Caljono Yai und Presto Go zumersten Mal zu einer Auseinandersetzung ge-kommen, bei der die Jüngere wagte, derobersten Künderin zu widersprechen. Sieließ sich nicht einmal durch den folgendenoffenen Zornesausbruch einschüchtern. Pre-sto Go jedoch duldete keinen Widerspruchund warf Yai hinaus - sie befahl ihr, sich ausihrem unmittelbaren Kreis zu entfernen.

Caljono Yai hatte sich schweigend ent-fernt, die violette Kutte jedoch anbehalten.Sie sah ihre Aufgabe als Mahnerin keines-wegs als beendet an. Niemand hinderte siedaran, die Kutte weiterhin zu tragen; man re-

dete sie wie bisher als Mahnerin an.Presto Go hinderte sie ebensowenig dar-

an, an den Forschungsarbeiten am Pilzdomteilzunehmen - Tausende Clerea und anderegläubige Herreach-Gruppen wie die herra-chischen Freiatmer und die Neuen Realistenwaren dort zugange. Die oberste Künderinwar gar nicht in der Lage, diejenigen fernzu-halten, die ihr nicht paßten.

Trotz ihres fanatischen Glaubens war sieklug genug, nicht einen Bruderzwist zu ver-ursachen, die die Herreach vielleicht aufewig in drei Glaubensgemeinschaften ge-spalten hätte. Gerade weil sie die Terranerfür so gefährlich hielt, mußten sich die Her-reach einig sein.

Sollten die anderen ruhig forschen, PrestoGo würde sich im Hintergrund halten, ruhigbeobachten und den geeigneten Zeitpunktabwarten. Sie wußte, daß die einfachen Her-reach sie weiterhin als die große Weise ver-ehrten und ihr zuhören würden.

Selbst die Freiatmer oder die Neuen Rea-listen würden nicht dagegen angehen kön-nen und würden damit auf die Funktion vonHandlangern degradiert, die letztlich dochnichts ohne Presto Gos Zustimmung unter-nehmen konnten - wenn sie nicht abseits vonallen in einen fernen Winkel der Welt ver-bannt werden wollten.

*

Caljono Yai hatte sich nach dem Bruchmit Presto Go für eine Weile zurückgezo-gen, um sich die nächsten Schritte zu überle-gen. Es fiel ihr nicht leicht, nun nicht mehrzum erwählten Kreis der Vertrauten zu ge-hören, aber sie hielt sich nicht lange mit sen-timentalen Gefühlen auf. Die Welt war nachwie vor im Umbruch, und es gab immernoch tägliche Änderungen und eine MengeProbleme zu bewältigen.

Eines davon war, etwas gegen die Schlaf-störungen zu unternehmen. Bedingt durchden Tag-Nacht-Wechsel und das Fehlen desangenehmen Zwielichts, begannen vieleHerreach mit der Zeit unter heftigen Schlaf-

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störungen zu leiden, die natürlich auf Ner-ven und Gemüt drückten. Die Herreachmußten sich an einen völlig neuen Schlaf-rhythmus gewöhnen, der an den Wechselvon Tag und Nacht angepaßt war.

Caljono Yai bekam manchmal ein wenigAngst, wenn ihr bewußt wurde, wieviel zutun war - und das in kürzester Zeit. Die Her-reach mußten lernen, so bald wie möglichauf die Unterstützung der Terraner zu ver-zichten, wenn sie nicht in alle Ewigkeit vonihnen abhängig sein wollten.

Die Mahnerin war den Fremden zwardankbar, denn ohne ihre Hilfe wären dieHerreach unweigerlich zum Tode verurteiltgewesen. Dennoch hätte sie die Terraner lie-ber heute als morgen wieder los gehabt. Siewollte nichts mit ihnen zu tun haben.

So viel zu tun und so wenig Zeit. CaljonoYai machte sich wie viele andere zum Pilz-dom auf, um diesem seine Geheimnisse zuentreißen. Einmal sah sie von ferne PrestoGo und war versucht, zu ihr zu gehen undeine Aussöhnung zu versuchen.

So sehr unterschieden sie sich nicht in ih-ren Ansichten. Die junge Mahnerin wußtegenau, wie wichtig die oberste Künderinwar. Vielleicht konnte sie ihren festgefahre-nen Standpunkt wenigstens ein bißchen er-schüttern.

Doch bis dahin war wohl noch ein weiterWeg …

4.Am Pilzdom

Die Zeit verging für Caljono Yai rasendschnell, seitdem sie sich dazu entschlossenhatte, den Beweis für Kummerogs Anwesen-heit im Pilzdom zu finden. Sie war dort nureine unter vielen, aber das interessierte siekaum. Die Mahnerin entwickelte geradezueine Besessenheit, als ob sich mit diesemBeweis alles zum Besseren wenden würde.

Die meisten Herreach, die den Pilzdomerforschten, hatten dort auch ihr Lager auf-geschlagen; primitive Zelte, größtenteils vonden Terranern zur Verfügung gestellt. Darin

hausten sie allein oder in kleinen Gruppen,je nachdem, wer, zusammenarbeitete. Nie-mand kümmerte sich sonderlich um Rein-lichkeit, regelmäßige Nahrungsaufnahmeund Schlafpausen. Wie alle Herreach warenauch die Forscher und Priester noch nicht andie neuen Umstände angepaßt und kamenhäufig wie Schlafwandler daher, als Zwi-schengänger zwischen Wachen und Träu-men.

Sie waren den Terranern, die ebenfalls dieGeheimnisse des Pilzdoms erforschen woll-ten, keine allzu große Hilfe, störten sich je-doch auch nicht an den Fremden. Man gingsich mehr oder minder aus dem Weg. ZuKonfrontationen kam es nur selten, und die-se gingen fast immer von den Fremden aus,die die Herreach zur Zusammenarbeit undmehr Interesse bewegen wollten - allerdingsohne Erfolg.

Caljono Yai war ebenfalls in ein kleinesZelt gezogen, in dem sie sich nur zumSchlafen aufhielt. Nur wenn der Hunger sieallzusehr quälte, machte sie sich zu einerSuppenküche auf, die von den Terranernversorgt wurde, und nahm mechanisch Nah-rung zu sich, ohne etwas zu schmecken.

Sie schien keinerlei Bedürfnisse mehr zuhaben - außer dem einen: Kummerog zu fin-den.

*

Eines Tages wurde die junge Mahnerinunerwartet angesprochen.

»Du bist Caljono Yai, nicht wahr?«Die Stimme des Herreach klang nicht un-

angenehm, auf jeden Fall auffordernd, undzum ersten Mal registrierte Yai bewußt, daßsie nicht allein war - und daß sie schon langemit niemandem mehr gesprochen hatte.

»Wer will das wissen?« gab sie zurück,nicht unwillig, sondern weil sie die Vorstel-lung des anderen als Höflichkeit erwartete.

Vorsichtig blinzelnd, die geschlitzten grü-nen Augen fast geschlossen, sah sie auf.

Es waren zwei Herreach, die in weiße Ka-puzenmäntel aus hitzeabweisendem Kunst-

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stoff terranischer Herstellung gehüllt waren.Schon mehrmals hatte ein Terraner versucht,Caljono Yai zur Annahme eines solchenMantels zubewegen, aber sie wollte ihre vio-lette Kutte nicht ablegen. Sie gehörte zu denResten ihres zertrümmerten Glaubens aus ei-ner untergegangenen Welt, an die sie sichnoch klammern wollte. Inzwischen hatte siesich an den dürftigen Schutz vor dem sen-genden Sonnenlicht gewöhnt, nachdem sieihr Haupt unter der Kapuze mit einem Tuchumwickelt hatte, das sie fast über die unge-schützten Augen zog.

Die beiden Herreach trugen eine verspie-gelte Sonnenbrille, ebenfalls terranischerFertigung.

»Ich bin Vej Ikorad«, antwortete der älte-re Herreach, der Yai angesprochen hatte. Erwies auf den Jüngeren neben sich. »Und dasist Tandar Sel.«

»Ihr seid die Sprecher der Neuen Reali-sten«, sagte Yai, und ihr Nas-Organ zog sichleicht in die Höhe.

»Und du warst bis vor kurzem die engsteVertraute von Presto Go«, entgegnete VejIkorad.

»Was hat das eine mit dem anderen zutun?«

»Du bist es nicht mehr. Dein Denken hatsich verändert.«

Caljono Yais Nas-Organ zog sich jetzt be-drohlich in die Höhe. Einen Moment war sieunschlüssig, ob sie sich einfach umdrehenund gehen sollte. »Hör mich an!« bat VejIkorad.

Die Mahnerin in der violetten Kutte spür-te eine seltsame Schwingung in der Stimmedes Neuen Realisten, die sie bisher noch nievernommen hatte. Sie löste eine Empfin-dung in ihr aus, die sie sich nicht erklärenkonnte, die -sie jedoch zwang, zu bleiben.

Tandar Sel kramte unterdessen in verbor-genen Innentaschen seines weißen Umhangsund förderte schließlich eine Sonnenbrillezutage.

»Setz sie auf«, befahl er fast streng. »Esist keine Hexerei, nur ein guter Schutz fürdeine gequälten Augen.«

Widerstrebend nahm Caljono Yai dieBrille in Empfang und setzte sie auf. Schlag-artig wurde die Welt fast dunkel. Und beina-he ebenso schlagartig schwand der stetigedrückende Schmerz von ihrer Stirn und dasBrennen der Augen. Die Mahnerin stießeinen erstaunten und zugleich erleichtertenSeufzer aus.

»Dein Streit mit Presto Go ist bei uns be-kannt«, fuhr der erste Sprecher der NeuenRealisten unterdessen fort.

Als Anführer wurde er nicht bezeichnet,denn bei den. Herreach gab es immer nochkeine ausgeprägt hierarchischen Strukturen.

»Du siehst in den Terranern keine Dämo-nen«, sagte Vej Ikorad.

»Aber ich halte sie auch nicht für meineFreunde.«

»Herreach haben in der Regel keineFreunde. Die Neuen Realisten sind anders,wie du weißt. Und ich denke, daß auch dueine von uns bist.«

»Diese Ansicht teile ich nicht.«»Du teilst auch nicht Presto Gos Ansich-

ten, sondern glaubst daran, daß sich Kum-merog immer noch in dem Tempel befin-det.«

»Aus dieser Meinung habe ich keinenHehl gemacht.«

»Und du hast einige Anhänger, was dir si-cherlich noch nicht bewußt ist.«

»Nein«, gab Caljono Yai überrascht zu.»Ich spreche hin und wieder mit anderen,aber ich arbeite lieber allein.«

»Yai, wir müssen lernen, zusammen zuarbeiten. An andere zu denken.« Vej Ikoradmachte eine ausholende Geste. »Trokan istein Trümmerhaufen.«

»Trokan?« unterbrach Caljono Yai nichtohne Schärfe. Der ungewohnte Name gefielihr nicht. »Gewöhnst du dir schon dieSprechweise der Terraner an? Wir haben un-sere Heimat schlicht Welt genannt.«

»Unsere Welt ist nur eine von vielen. Siebraucht einen Namen. Und Trokan ist nichtbesser oder schlechter als andere Namen.«

»Es ist kein Name aus unserer Sprache.«»Diese Welt hieß schon so, als es uns

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noch nicht gab. Wir wußten es nur nicht.«Die junge Mahnerin plusterte ihr Nas-

Organ auf. Sie wußte nicht, sollte sie ärger-lich sein oder die Neuen Realisten für ver-rückt halten - doch sie war neugierig. Esstimmte, daß sie die Dinge realistisch be-trachtete und sich den Neuerungen gegen-über aufgeschlossen zeigte, deshalb war sieja auch von der obersten Künderin ver-dammt worden.

Aber bedingt durch die Schlafstörungenund die vielen Änderungen hatte sie denHalt verloren und wußte nicht mehr genau,wohin sie gehörte. Sie hatte sich in einSchneckenhaus zurückgezogen, um sichüber ihre Gedanken und ihren Glauben imklaren zu werden.

Aber das war keine Lösung auf Dauer,das erkannte sie jetzt. Es schien, als erwach-te sie allmählich aus einem langen Alp-traum. Sie vergaß sogar ihre Müdigkeit.

»Ich höre dir weiter zu«, sagte sie.

*

Vej Ikorad war sehr einfühlsam und be-redt. Es zeigte sich, daß er sich gut vorstel-len konnte, was in Caljono Yai vorging, unddaß er ganz genau wußte, wie er mit ihr um-gehen mußte. Er bestärkte sie in ihren eige-nen Ansichten und machte ihr deutlich, daßsie prinzipiell auf dem richtigen Weg war.

Manche Herreach hatten sich nach demZusammenbruch des Zeitrafferfeldes in ih-rem Wesen sehr verändert: Sie wurden auf-geschlossen, geradezu neugierig und zeigtenan den Terranern Interesse. Die Bewegungder Neuen Herrachischen Realisten war ent-standen. Keiner der Anhänger dieser Glau-bensbewegung war älter als fünfzig Jahre.Man wußte von gut 500 Anhängern, abervermutlich gab es weitaus mehr, die ähnlichdachten, nur noch nicht offen aufgetretenwaren bewußt oder unbewußt. Caljono Yaihatte wohl unbewußt zu ihnen gehört.

In den nächsten Wochen lernte die jungeMahnerin, mit den neuen Gedanken umzu-gehen. Sie näherte sich scheu den Terranern,

suchte von sich aus erste Gespräche undstellte fest, daß diese Kontakte fast wie eineSucht wirkten: Je mehr sie mit den merk-würdigen Fremden zusammen war, destoneugieriger wurde sie. Der häufige Kontaktmachte ihr immer weniger aus, und sie be-gann allmählich, neue Redensweisen zuübernehmen.

Nur ihre violette Kutte legte sie nicht ab.Und sie wollte sich auch nicht daran gewöh-nen, ihre Heimatwelt als Trokan zu bezeich-nen.

Nach dem Besuch der fremden Gruppedes sogenannten Forums Raglund, das voneinem sehr seltsam aussehenden Geschöpf,dem Blue Tayloz Üpkek angeführt wurde,war Caljono Yai Zeuge eines Gesprächszwischen einem weißhaarigen Mann namensAtlan und den beiden Sprechern der NeuenRealisten gewesen. Aufgrund der vielenVorfälle riet der Fremde den Herreach, sichvon den Terranern technisch und wissen-schaftlich ausbilden zu lassen. Sie konntensich nicht vom Rest des Universums abkap-seln - nicht in diesem Sonnensystem, in die-ser Position.

So schwer es auch fallen mußte, die Her-reach hatten keine andere Wahl, als sich völ-lig zu verändern.

Vej Ikorad und Tandar Sel hatten langeüber diesen Vorschlag diskutiert und warenschließlich übereingekommen, dieses Ange-bot anzunehmen. Wissen zu erhalten konntenichts Schlechtes sein. Eine bestimmte An-zahl auserwählter Herreach sollte irgend-wann nach Terra geschickt und ausgebildetwerden.

Zu diesem auserlesenen Kreis sollte auchCaljono Yai gehören. Aber noch war sienicht soweit. Sie anerkannte zwar das Wis-sen der Terraner, hielt jedoch manches fürunbewiesene Hirngespinste oder unbedeu-tend für die Sache der Herreach. Sie glaubtenach wie vor an die Macht des herrachi-schen Geistes, schließlich gab es hierfür ge-nügend handfeste Beweise, die selbst dieTerraner nicht von sich weisen konnten.

In dieser Hinsicht waren sie den Herreach

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sogar weit unterlegen, trotz all ihrer Technikund der Fähigkeit, durch das Weltall zu flie-gen. Sie waren nicht in der Lage, in einemkollektiven Gebet den unbezwingbaren Rie-sen Schimbaa und sein Gefolge, wie denZwerg Pallomin, den vielgestaltigen Brodikoder die mehrachsige Gretra, herbeizurufen.Alle diese sagenhaften Gestalten warennicht einfach immaterielle Projektionen,sondern nahezu greifbar, handlungsfähig,fast wirklich lebendig.

Ein Volk, das zu solchen Dingen fähigwar, mußte auch in der Lage sein können,die Geheimnisse des Pilzdoms zu lüften. Esbrauchte dazu eben nur seine Zeit.

Caljono Yai vertrat ihre Meinung auchden Terranern gegenüber und war erstaunt,auf ihr offenes Gehör zu treffen. Die Frem-den erachteten die durch die Gebete hervor-gerufenen Geschehnisse keineswegs als ge-ringwertig oder unwichtig; sie beschäftigtensich im Gegenteil sehr ausführlich damit undzeigten sich überaus aufgeschlossen mit im-mer neuen Fragen. Sie hatten auch Namenfür diese - wie sie sagten - übernatürlichenFähigkeiten (in Raumschiffen herumzuflie-gen hielten sie dagegen für ganz natürlich):ESP oder PSI.

Das war die erste Gemeinsamkeit, dieCaljono Yai mit den Terranern fand. Siekonnte die Bedeutung der Begriffe verstehenund erkannte, daß die Herreach auf einerPSI-Wertungsskala eine deutliche Positionweit über den Terranern einnahmen, mögli-cherweise aber trotzdem nicht mächtig ge-nug waren, in das Innere des Pilzdoms vor-zudringen. Es konnte sein, daß alle Versu-che, auch über Jahre hinweg, nichts nutzenwürden, wenn nicht genügend PSI-Potentialzusammenkäme.

Das ging der jungen Mahnerin nahe. Siehatte sich weiterhin zäh an die Hoffnung ge-klammert, mit der Zeit den richtigen Weg,das richtige Gebet finden zu können, um indas Innere gelangen zu können. Die Argu-mente der Terraner leuchteten ihr jedochein.

Welche Lösung gab es dann?

Diese Frage konnte zu ihrer Überraschungbeantwortet werden. Tatsächlich waren nichtalle Terraner gleich. Sie hatten viele andereWelten in fernen Sonnensystemen besiedeltund sich entsprechend verändert. Manchmalgab es menschliche Phänomene, die sie Mu-tanten nannten, die über PSI-Kräfte verfüg-ten.

Die Forscher hatten eine Botschaft zu derfernen Welt Camelot gesandt und um Hilfegebeten. Caljono Yai erfuhr, daß bereitszwei besonders PSI-Begabte auf dem Weghierher seien.

Und zum allerersten Mal fieberte sie demEintreffen von Fremden entgegen.

5.1. März 1289 NGZ

Mila und Nadja Vandemar beobachtetenamüsiert Myles Kantors Streit mit den terra-nischen Sicherheitsbehörden. Es war einegewisse Schadenfreude dabei.

Der Wissenschaftler hatte es nämlich fürzu gefährlich gehalten, Mutanten am Pilz-dom einzusetzen, solange dieser nicht aus-reichend erforscht war. Immerhin waren be-reits Perry Rhodan, Reginald Bull und Alas-ka Saedelaere spurlos in ihm verschwunden,und Myles wollte kein zusätzliches Risikoeingehen.

So hatten die beiden Schwestern weiter-hin auf Camelot ausgeharrt, bis ihre Dienstein Anspruch genommen werden sollten.

Myles Kantor mußte schließlich einsehen,daß ihm gar keine andere Wahl blieb, alsdoch die Esper in Anspruch zu nehmen. Mitseinen technischen Möglichkeiten war er amEnde, und trotz der Unterstützung durch dieNeuen Realisten waren sie am Pilzdom kei-nen Schritt weitergekommen.

Es gab also nur noch diesen einen Weg,um die verschollenen Gefährten nicht aufge-ben zu müssen - was natürlich undenkbarwar. Trotz aller Risiken für die Zwillinge …

Myles Kantor hatte von Camelot aus seinGILGAMESCH-Modul ENZA aus demScarfaaru-System angefordert, mit dem er

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nun die Zwillinge ins Solsystem flog. Erwollte es sich natürlich nicht nehmen lassen,bei dem Unternehmen persönlich mitzuwir-ken, wenn die Schwestern den Pilzdom mitihren Para-Fähigkeiten des Struktursehensund Strukturformens durchleuchteten.

Daß er dabei auf bürokratische Hindernis-se stoßen könnte, hatte er natürlich nicht er-wartet.

*

»Vielleicht hättest du dich rechtzeitig an-melden sollen«, stichelte Nadja Vandemarsanft.

Bedingt durch den Zellaktivator war sieebenso wie ihre Schwester in den vergange-nen Jahrzehnten nicht gealtert und auf denersten Blick unverändert eine attraktive jun-ge Frau Anfang Dreißig. Wenn man genauerhinsah, konnte man jedoch die feinen Spu-ren der Erfahrungen in ihrem Gesicht erken-nen; sie strahlte jene überlegene Ruhe undGelassenheit aus, wie sie nur Menschen miteinem reichen Erfahrungsschatz besitzen.

In ihrer Kleidung hatten sich beide kaumgeändert. Nach der Rückkehr von derGroßen Leere hatten sie sich entschlossen,das Leben zu entdecken und sich wie ganznormale junge Frauen zu benehmen. Ihr Zu-sammenleben war harmonisch geblieben, siehatten einen guten Kompromiß gefunden,sich gegenseitig großzügige Freiräume zuzu-gestehen, ohne der Qual der Trennung aus-gesetzt zu werden. Inzwischen lebten sierecht zurückgezogen und hielten sich meistunauffällig im Hintergrund; ebenso schlichtund ohne auffällige modische Akzente wa-ren nun auch wieder die Kleidung und diekurz gehaltenen Frisuren.

Ihre freundliche Amüsiertheit brachteMyles Kantor erst recht auf die Palme, dennmit seinen Gedanken war er längst auf Tro-kan am Pilzdom. Und nun maßte er sich hiermit derart lächerlichen Vorschriften herum-schlagen!

Esstand nun einmal fest, daß keine frem-den Raumschiffe mehr ohne Erlaubnis ins

Solsystem einfliegen durften; auch wegender beständigen Tolkander-Gefahr herrschteweiterhin Alarmstufe eins. Das terranischeSystem wurde durch 6000 unter CistoloKhans Befehl stehende Raumschiffe gerade-zu hermetisch abgeschirmt, es war unmög-lich, unbemerkt hindurchzufliegen.

Zudem hielt sich hartnäckig das Gerücht,daß das Solsystem durch eine der Öffent-lichkeit unbekannte technische Einrichtungzusätzlich abgesichert werden sollte.

Myles Kantor hatte sich die Passage ganzeinfach gedacht. Immerhin zählte er zu einerbekannten Persönlichkeit, und die GILGA-MESCH-Module waren zu auffällig und ein-zigartig, um mit anderen fremden Schiffenverwechselt zu werden.

Bedauerlicherweise aber war CistoloKhan selbst nicht anwesend, da er sich mitder PAPERMOON in Lokvorth aufhielt. So-mit hielten sich die Terraner an ihre Vor-schriften und verweigerten der ENZA dieEinflugerlaubnis.

Myles Kantor schrie, tobte und schimpfte,stieß jedoch auf taube Ohren und den Hin-weis, daß man sich eben an die Vorschriftenzu halten habe, noch dazu bei Alarmstufeeins.

Nadjas Einwurf brachte den Topf fastzum Überkochen, was die Gäa-Geborenennatürlich nicht im geringsten beeindruckte.Beiden war klar, daß die Erlaubnis früheroder später erfolgen würde, und auf die kur-ze Verzögerung kam es nun wirklich nichtan.

»Ja, amüsiert euch nur auf meine Ko-sten«, brummte Myles Kantor angesichts ih-rer erheiterten Mienen.

Dann maßte er aber selbst lachen.»Du hättest uns nur rechtzeitig zu holen

brauchen«, bemerkte Mila vergnügt. »Nunerlebst du den Beamtenapparat eben einmalam eigenen Leib. Unser Sonderstatus hat inden letzten Jahrzehnten erheblich gelitten,wir müssen uns nun an den Dienstweg hal-ten wie alle anderen auch.«

»Das ist mir vollkommen egal!« brausteder Wissenschaftler erneut auf. »Die wissen

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doch genau, wer wir sind! So weit kommt esnoch, daß wir so etwas wie ein Visum benö-tigen, um in unser eigenes Heimatsystemeinfliegen zu dürfen! Und ich komme im-merhin nicht nur von Camelot, sondern binseit Jahrzehnten auf Titan tätig!«

Alle diese Verweise nutzten nichts; esblieb ihm nichts anderes übrig, als sich andie höchste Stelle zu wenden. Die Erste Ter-ranerin Paola Daschmagan schaltete sichnach einiger Zeit persönlich ein - und dannendlich durfte die ENZA passieren.

*

Vor dem Einsetzen des Zeitraffer-Effekteswar Trokan eine zernarbte Ödwelt gewesen.Seine Masse war mit der des Mars identisch,der Durchmesser etwas größer. Auch dieUmlaufbahn und der 25-Stunden-Tagstimmten ebenfalls weitgehend mit demMars überein. Einen Mond besaß der Planetnicht; Phobos und Deimos waren mit demMars ins Arresum transferiert worden.

Trokans dünne Atmosphäre beinhaltetenur zwölf Prozent Sauerstoff, die durch-schnittliche Temperatur betrug nach demVerschwinden des Zeitrafferfeldes sechsGrad Celsius, tagsüber selten mehr als zwölfGrad Celsius und nachts lag sie meistens un-ter dem Gefrierpunkt. Die steppenartigeOberfläche war nur mäßig fruchtbar; Tierar-ten gab es nur sehr wenige.

»Ich kann mir gut vorstellen, was die Her-reach nun durchmachen«, bemerkte Nadja,während sie den Landeanflug auf der Pro-jektionswand beobachtete. »Nach dem im-merwährenden Zwielicht nun ungehindertesSonnenlicht …«

»Ich würde wahrscheinlich verrückt wer-den«, stimmte Mila zu.

»Nicht die Herreach«, widersprach MylesKantor. »Das ist ein eigenartiges Völkchen.«

»Was hast du für einen persönlichen Ein-druck?« wollte Mila wissen.

Der Wissenschaftler zuckte jedoch ledig-lich mit den Achseln. »Ihr werdet schon se-hen.«

Vielleicht wollte er die beiden nur neugie-rig machen.

Die ENZA steuerte Trokan an und landetenahe den Ruinen der Stadt Moond - in derenZentrum stand der Pilzdom. Durch die Wet-terbeeinflussung von NATHAN war diesesGebiet zumeist dicht bewölkt und die Son-nenstrahlung weitgehend blockiert.

Dennoch war es für die Herreach immernoch zu schmerzhaft hell. Abgesehen vonwenigen Ausnahmen, liefen die meisten mitden terranischen verspiegelten Sonnenbril-len herum. Lediglich direkt um den Pilzdom,auf einer Fläche von zwei KilometernDurchmesser, war unter der wissenschaftli-chen Leitung von Jeromy »Jerry« Argentmittlerweile ein semitransparenter Schutz-schirm errichtet worden, der ein ungehinder-tes Bewegen im gewohnten Dämmerlicht er-möglichte.

Inzwischen unterstützten rund 200 NeueRealisten die Terraner bei ihrer Forschungs-arbeit. Einige Zeit nach dem Caljono Yai zuder Anhängerschaft unter Vej Ikorad undTandar Sel gestoßen war, hatten die Terra-ner energisch durchgegriffen. Abgesehenvon den 200 Neuen Realisten, konnte keinweiterer Herreach mehr in den erlauchtenKreis hinter dem Schutzschirm.

»Genügen diese 200 Herreach denn?«fragte Nadja den Wissenschaftler. »Soweitmir bekannt ist, entfalten sich ihre PSI-Kräfte doch um so besser, je mehr sie sind.«

»Jeromy Argent weigert sich, mehr Herre-ach hineinzulassen«, antwortete Myles.»Ihm ist dieses metaphysische Zeugs, wie eres nennt, suspekt. Ich möchte mich nicht aufeinen Streit mit ihm einlassen - noch nicht.Erst möchte ich feststellen, was ihr allein er-reichen könnt.«

6.Gebete ohne Erfolg

Mila und Nadja Vandemar hielten sichanfangs im Hintergrund, um die Herreach zubeobachten und kennenzulernen. Die Herre-ach ihrerseits beachteten die »Neuen« kaum;

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für sie sahen alle Menschen gleich aus.Wahrscheinlich fiel es ihnen nicht einmalauf, daß jemand von der fernen Welt Came-lot angekommen war.

Das Forschungsgebiet um den Pilzdomwar längst nicht mehr mit dem Chaos vorwenigen Monaten zu vergleichen.

Die provisorischen Zeltlager waren abge-brochen worden, da sich nur noch -wenigeHerreach in diesem Bereich aufhielten. Pre-sto Go hatte ihnen allerdings auch den Zu-tritt zum Bethaus verwehrt; daher hatten dieTerraner in der Nähe des Doms Notunter-künfte mit allem Drum und Dran errichtet,die sogar besser eingerichtet und ausgerüstetwaren als die baufälligen Bruchbuden in denTrümmern Moonds.

Allerdings durfte man nicht ungerechtsein; dank Presto Gos Initiative war schonviel geschehen. Die oberste Künderin hieltdie Herreach dazu an, die Stadt so schnellwie möglich wieder aufzubauen. Dabeikonnte sie auch gleich die Probleme der Hy-giene, der technischen Unterstützung zurVersorgung und des Verkehrs angehen.

Es war bekannt, daß Presto Go unermüd-lich arbeitete: Erfinder und Handwerker gin-gen pausenlos bei ihr ein und aus. Die Städ-ter wurden mit eiserner Hand bei der Stangegehalten, und so geschah in kurzer Zeit Er-staunliches. Der Zuzug vom Land tat das üb-rige dazu, Moond wieder zum Leben zu er-wecken.

Hilfsangebote der Terraner lehnte dieoberste Künderin selbstverständlich ab. ImGegenteil: Sie schien beweisen zu wollen,daß es auch ohne fremde Hilfe ging.

Jerry Argent sorgte dennoch dafür, daßden Herreach auf dem Land geholfen wurde,denn so weit reichte Presto Gos Arm nicht.Zusammen mit der Wetterregulierung, deman kargen Boden besonders angepaßtenSaatgut und verbesserten landwirtschaftli-chen Geräten würde aus Trokan sicherlicheines Tages - nach einem langen Weg - einblühender Planet werden.

Viele Herreach litten nach wie vor unterSchlafstörungen, und sie mochten sich noch

nicht so recht an die hygienischen Vorschrif-ten der Terraner gewöhnen - aber sie wareneinerseits gleichmütig genug, derart gewalti-ge Änderungen hinzunehmen, und anderer-seits aktiv genug, sich das Leben zu erleich-tern und verbessern zu wollen.

Es war absehbar, daß sich die sozialeStruktur der Gesellschaft eines Tages ändernwürde, denn die Zahl der Neuen Realistennahm stetig zu. Die Neuen Realisten warenaufgeschlossen und neugierig, sie nahmenlebhaften Anteil an allen Vorgängen. Viel-leicht würden sie eines Tages sogar den Be-griff »Fliegen« verstehen lernen.

*

Den beiden Gäa-Geborenen bot sich balddie Gelegenheit, die ungewöhnlichen Fähig-keiten der Herreach selbst zu erleben. Bisherkannten sie alles nur aus dreidimensionalenAufzeichnungen. Die 200 Neuen Realistenversammelten sich rund um den Pilzdomzum Gebet und hielten sich an den vierfing-rigen Händen.

Leise summend versetzten sie sich inTrance. Je tiefer sie hinabsanken, desto mehrwar eine Veränderung der Umgebung zuspüren.

Mila und Nadja empfanden diese Verän-derung aufgrund ihrer eigenen PSI-Talenteintensiver als Myles Kantor, für sie roch dieLuft geradezu danach. Fasziniert beobachte-ten sie die versunkenen Herreach, die nun-mehr in völlig anderen Sphären zu weilenschienen.

Sie wußten bereits, daß diese 200 Herre-ach früher zu den Jüngern Kummerogs ge-hört hatten und besonders starke geistigeKräfte besaßen; sie waren damals auch beider Erschaffung des Riesen Schimbaa dabei-gewesen.

Mila fiel vor allem ein Herreach auf, dersich zufällig in ihrer Blickrichtung befandund durch die violette Kutte auffallend her-vorstach. Kein anderer der hier anwesendenNeuen Realisten trug etwas anderes als dasweiße terranische Kapuzengewand - bis auf

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diesen einen. Etwas an diesem war anders,das glaubte sie zu spüren. Sie nahm sich vor,Myles später darauf anzusprechen, da siesich nun voll und ganz auf die Gebetstrancekonzentrieren wollte.

Ohne daß sich bei den Betenden etwas inHaltung oder Gesang veränderte, fing dieLuft an mehreren Stellen plötzlich zu flim-mern an. Sie wurde diffus, und seltsameFormen begannen sich abzuzeichnen.

Manche der halbmateriellen Fabelgestal-ten waren Mila und Nadja aus den Berichtenbekannt: der Zwerg Pallomin, der vielgestal-tige Brodik, die mehrachsige Gretra. Es tra-ten noch einige, auch den anwesenden Wis-senschaftlern bisher unbekannte visionäreWesen auf.

Sie waren hell und dunkel, klein undgroß, vielarmig und -beinig, augenlos odernur aus Augen bestehend, sie rotierten umihre eigene Achse oder bewegten sich auf ei-nem einzigen federnden Stachel. Ihre Glied-maßen waren verschieden lang und asyn-chron gelenkig, sie besaßen Hände oder feu-rige Tentakel. Der Phantasie schienen keineGrenzen gesetzt zu sein.

Später erfuhren die Zwillingsschwesternden einen oder anderen Namen der größten-teils für menschliche Begriffe schaurigenGestalten: der augengekrönte Goll, der dorn-giftige Seelebrae oder die allumwachsendeMura.

All diese durchscheinenden, semistoffli-chen Geschöpfe umschwärmten den Pilz-dom und versuchten - weiterhin vergeblich -hineinzugelangen. Sie behinderten sichmanchmal dabei gegenseitig, und dann kames zum lärmenden Kampf, der jedoch stetsnur kurz währte - bis die Herreach sie wie-der in ihrer Gewalt hatten.

Schließlich vereinten die visionären Sche-men ihre Kräfte und versuchten gemeinsam,in den Pilzdom einzudringen. Das geschah-unter großem Getöse, so daß der Boden so-gar leicht vibrierte; gewaltige Mengen Staubwurden dabei aufgewirbelt.

Als die Herreach ihre Kräfte völlig er-schöpft hatten, ließ die Gebetstrance nach.

Die Gestalten lösten sich nach und nach auf,verflüchtigten sich wie ein zarter Wind-hauch, ohne eine Spur zu hinterlassen. DieBetenden sanken erschöpft in sich zusam-men; einige Zeit rührte sich niemand.

»Ich dachte, daß sie auch den RiesenSchimbaa rufen würden«, meldete sich Nad-ja schließlich als erste wieder zu Wort.

»Nicht mehr«, entgegnete Myles. »Das istihnen zu gefährlich geworden, sie könnenden Riesen nicht mehr kontrollieren. Und eswürde auch nichts bringen, egal ob sie nunSchimbaa oder die anderen gegen den Domanrennen lassen. Es ist unmöglich, ihn zuöffnen.«

»Sonst wären wir ja wohl auch kaum an-gefordert worden«, bemerkte Mila lako-nisch. »Was tun sie jetzt als nächstes?«

»Sie werden sich erholen. Dieses Kollek-tivgebet bringt sie stets an den Rand ihrerKräfte. Danach werdet ihr Vej Ikorad undeinige andere kennenlernen, damit wir dieweitere Vorgehensweise besprechen kön-nen.«

*

Sie gingen zu einer der Baracken mit Kü-che, Speiseraum und Besprechungszimmer,dort ließen sich Myles und die Zwillingenieder.

»Nun, was habt ihr für einen Eindruck?«wollte der Wissenschaftler wissen.

»In jedem Fall sind diese 200 Herreachsehr starke PSI-begabte Persönlichkeiten«,lautete Milas Antwort, und Nadja nickte.»Wir konnten es sehr deutlich spüren. Ein-zeln können sie dieses Talent zwar nicht be-sonders nutzen, aber in diesem Kollektivbringen sie eine Menge zustande. Ich möch-te lieber nicht darüber nachdenken, was siebewerkstelligen könnten, wenn sie diese Ga-be auf andere Ziele lenken würden - und un-ter anderen Voraussetzungen.«

»Diese Gefahr besteht nicht«, sagte Mylessofort. »Herreach sind in ihrer Denkweisevöllig anders. Sie haben völlig andere Werteund Moralvorstellungen. Schon ihre Gesell-

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schaftsstruktur ist ungewöhnlich, da es kei-nerlei Hierarchie gibt. Presto Go mag zwarals Anführerin und teilweise gar als Tyran-nin auftreten, aber das klappt nur, solangedie anderen mitmachen. Wenn ein Herreachihre Befehle nicht ausführen will, tut er eseben nicht.«

»Ohne Bestrafung?«»Er wird möglicherweise sogar getötet.

Aber das ist allein Angelegenheit zwischenihm und Presto Go. Es gibt keine Gerichts-barkeit, keine schriftlich fixierten Gesetze.Es gibt nicht einmal Familien. Es bestehenzwischen den Herreach lediglich Sympathie-bande. Doch auch unter Freunden kümmertsich keiner um die Angelegenheiten des an-deren.«

»Weshalb hören sie dann überhaupt aufandere wie Presto Go?«

»Wenn sie einen Sinn drin sehen oder essich mit ihren eigenen Neigungen oder Vor-haben vereinbaren läßt. Ihr dürft natürlichnicht den Glauben vergessen, der bisher beiden Herreach die größte Rolle gespielt hat.«

Nadja runzelte die Stirn und rieb sich denrechten Nasenflügel, wie sie es immer tat,wenn sie sehr aufmerksam zuhörte undnachdachte.

»Dieser Glaube ist schon seltsam genug«,meinte sie. »Er richtet sich nur auf den ge-fangenen Gott und ein angeblich besseresLeben nach seiner Befreiung. Aber anson-sten scheint er im täglichen Leben keineRolle zu spielen.«

Myles nickte. »Es gibt keinen Aberglau-ben, so wie einst auf Terra …«

»… und auch heute noch«, warf Mila lä-chelnd ein. »Heute gibt das nur keiner zu,und es fällt auch nicht immer auf.«

»Zum Beispiel?«»Glücksbringer, alte und verbeulte Dinge,

an denen man hängt …«»Lenkt nicht ab«, unterbrach Nadja. »Ihr

Handeln ist also nicht von abergläubischenRiten bestimmt, abgesehen mal von dem Ri-tual der Gebetstrance, das jedoch nur einemeinzigen Zweck dient. Sie haben also nie füreine bessere Ernte oder Liebeszauber ir-

gendwelchen Hokuspokus veranstaltet? DiePriester hätten sich ihre Stellung dadurchdoch verbessern können!«

»Nein, ich sagte bereits, daß es keineHierarchie gibt. Dementsprechend will auchniemand Macht in dem Sinne, wie wir siekennen, ausüben. Der Glaube spielt wederim täglichen Leben eine Rolle noch beimTod! Die Herreach machen sich darübernicht die geringsten Gedanken. Nach demAblauf von ungefähr 110 terranischen Jah-ren sind sie eben alt und sterben. Nach demMotto: Das war's. Keine Trauer, kein Ge-denken, kein Bergräbnis. Tote Herreachwerden einfach irgendwo verscharrt, damitsie zu dem Staub werden können, aus demTrokan besteht. Wenn einer krank wird undfrüher stirbt oder ermordet wird, Pech. Dasbekümmert niemanden, nicht einmal Freun-de oder frühere Liebespartner.«

»So gleichgültig wirken sie aber garnicht«, widersprach Nadja hartnäckig. »Sohingebungsvoll, wie sie sich in die Tranceversetzen und diese unglaublichen Geschöp-fe erschaffen …«

»Sie sind nicht gleichgültig, aber gehenalles mit einer stoischen Ruhe an. Sie akzep-tieren alles, nehmen es einfach hin, weil esso ist. Wenn einer das Bedürfnis hat, Hand-werker zu werden, wird er das. Will er Cle-rea werden, auch kein Problem. Jeder tutdas, wofür er sich berufen fühlt, und keinerkommt auf die Idee, ihn daran zu hindern.Etwa durch langjährige harte und teure Aus-bildungen, Prüfungen, Standesdünkel oderwas auch immer.«

Myles Kantor seufzte.»Offen gestanden, ich möchte zwar kein

Herreach sein, aber dieses Volk ist irgend-wie unglaublich frei, und darum beneide iches. Es gibt keine Ängste, Auseinanderset-zungen und Rivalitäten. Keine Verrückten,die die Weltherrschaft anstreben oder sowas.«

»Aber auch keine Liebe, Träume, Sehn-süchte, Hoffnungen«, sagte Mila leise.»Keine Sentimentalitäten, impulsive Glücks-gefühle …«

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»Wo Licht ist, ist auch Schatten«, zitierteMyles lächelnd. »Aber ich glaube nicht, daßsie etwas vermissen. Weil sie es nicht ken-nen. Sie sind vollkommen zufrieden.«

»So wird es aber nicht bleiben«, orakelteNadja. »Der Einfluß des stetigen Zwielichtesist vorbei und damit vermutlich auch dieZeit der Ausgeglichenheit und Gleichgültig-keit. Die Herreach müssen zu Tagwesenwerden, obwohl ihnen das SonnenlichtSchmerzen zufügt. Sie verfügen nicht übereine Nachtsichtigkeit, und die technischenMöglichkeiten sind gering und Rohstoffesehr selten. Sie werden sich an den Wechselvon Hell und Dunkel gewöhnen, ebenso dar-an, daß manches im Dunkel verborgen wer-den kann. Sobald es die ersten Geheimnissegibt, sind auch die ersten Unterschiede ge-boren -und sie werden über sich selbst unddie übrigen anders denken.«

»Verdirb mir doch nicht alles!« Der Wis-senschaftler hob die Hände und lächelte.»Dennoch glaube ich nicht, daß die Herre-ach jemals so werden wie wir und die übri-gen Galaktiker. Dafür ist ihre Entwicklungeinfach zu verschieden verlaufen.«

Er schaute sinnend durch das Fenster nachdraußen.

»Und sie wollen weiterhin nichts mit unszu tun haben … glücklicherweise«, fügte erhinzu.

7.Die Mahnerin

Bald darauf sollte es für die Zwillingezum ersten persönlichen Kontakt mit denHerreach kommen. Vej Ikorad, Tandar Selund der Herreach mit der violetten Kuttefanden sich ein, begleitet von Jerry Argent.Sie waren bereits in eine Unterhaltung ver-tieft, als sie den Raum betraten.

Vej Ikorad äußerte sich über die neuerli-che Erfolglosigkeit des letzten Gebetes undverlangte zum wiederholten Mal, daß dieZahl der zugelassenen Herreach auf 400 er-höht werden sollte.

Ebenso wiederholt lehnte Jeromy Argem

ab mit derselben Begründung, daß sämtlicheMetaphysik nichts ausrichten konnte, um ei-ne Tür zu öffnen. Ob 200 oder 400 oder gar1000 Herreach, das könne dabei keine Rollespielen.

»Das ist nicht einfach eine Tür«, sagteTandar Sel.

»Und eben darum haben wir Unterstüt-zung angefordert«, antwortete Jerry Argentund wies auf die Schwestern.

»Darf ich vorstellen: Mila und NadjaVandemar. Sie sind von Camelot gekom-men, um euch mit ihren PSI-Kräften zu un-terstützen. Ich bin mir sicher, daß ihr mit ih-rer Hilfe mehr Erfolg haben werdet.«

Damit zog er sich zurück, weil er angeb-lich viel zu tun habe. Die beiden Spiegelge-borenen wußten jedoch, daß er sich in Ge-genwart von paranormal Begabten unwohlfühlte.

Auch Vej Ikorad und Tandar Sel hieltensich nicht lange auf. Sie stellten lediglich dieMahnerin Caljono Yai vor, die mit den Neu-ankömmlingen sprechen sollte, und ver-schwanden wieder.

Der Herreach in der violetten Kutte waralso eine Frau! Äußerlich war sie in nichtsvon den männlichen Herreach zu unterschei-den.

Wie bei jedem Herreach waren ihreschmalen Körperproportionen humanoid, le-diglich die Arme waren etwas länger als beiden Menschen und reichten fast bis zu denKnien. Die Hände besaßen zwei Daumenund zwei Finger. Ellenbogen und Kniekonnten zu beiden Seiten bewegt werden,was die Beweglichkeit sehr erhöhte undeinen etwas seltsam anmutenden Stelzschrittverursachte. Die bloßen Füße bestanden auseinem kurzen Fußbett mit vier stark ge-spreizten, langen, beweglichen Zehen. DieHaut der Herreach war vollkommen haarlosund machte einen fast transparenten Ein-druck. Mit etwas Phantasie konnte man dieKörperorgane pulsieren sehen. Die sehrgroßen Lungen wurden von den TerranernKollektorlungen genannt.

Alles in allem sahen sich die Herreach

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einander sehr ähnlich, selbst in Größe undGewicht gab es kaum Unterschiede.

Auch die eiförmigen, mit der Spitze nachunten auf einen dicken, muskulösen Halsaufgesetzten Köpfe und die Gesichtsformenunterschieden sich nicht sehr voneinander.Das Gehirn wurde durch eine dicke Schädel-platte gegen Schläge geschützt, der Kopfwar daher auf der Oberseite stark ausge-buchtet.

Das Gesicht nahm wie beim Menschendie untere Hälfte der Vorderseite ein undwurde nicht nur von den sehr großen, schräggestellten, geschlitzten und stets leuchtendgrünen Augen beherrscht. Den größten Teilder Fläche nahm das Nas-Organ, ein flei-schiger Rüssel, ein, über den sich auch fastausschließlich die Mimik ausdrückte. DerMund war lediglich ein schmaler zahnloserSchlitz. Tief im Rachen saßen zum KauenKnochenleisten.

Wie sich an Caljono Yai zeigte, warenMänner und Frauen für Terraner äußerlichabsolut nicht voneinander zu unterscheiden.Ihre Paarungsbereitschaft war, anders als beiden Menschen, nur etwa ein Viertel des Jah-res aktiv. Zu diesen Zeiten erkannten dieHerreach einander am Geruch; wenn sie sichsympathisch fanden, gingen sie möglicher-weise eine Bindung ein. Die Kinder wurdenvon beiden erzogen, allerdings nicht in einerso festgefügten Familie wie bei den Men-schen, sondern in einer lockeren Gemein-schaft, bei der jeder weiterhin sein eigenesLeben führte.

Caljono Yai war knapp über zwei Metergroß und 33 Jahre alt, wie sie übrigens in na-hezu einwandfreiem Interkosmo - berichtete,also sozusagen erst seit acht Jahren erwach-sen. In dieser kurzen Zeit hatte sie bereitsErstaunliches zuwege gebracht, und ihreAusstrahlung beeindruckte auch die Men-schen.

Mila und Nadja lauschten nicht ohne Fas-zination ihrer Lebensgeschichte, die sie frei-mütig berichtete. Die Mahnerin gab zu, daßsie immer noch unter der Trennung von Pre-sto Go litt.

»Viele hegen Vorurteile gegen sie, undauch ihr Terraner redet nicht gerade freund-lich über sie«, sagte sie. »Aber sie hat sehrviel Gutes für die Herreach getan, sie istsehr weise und besitzt eine große Geistes-macht.«

»Nun, es ist für uns nicht ganz einfach,eure Lebensgewohnheiten zu verstehen«,entgegnete Nadja vorsichtig.

»Worauf beziehst du das?« wollte Yaiwissen.

»Das betrifft alle eure Lebensbereiche.«»Nein, ich meine Presto Go.«»Das ist gar nicht so wichtig, denke ich.

Wir haben manchmal mit ihr zu tun, und sielehnt uns ab«, mischte sich Myles Kantorein.

Die Mahnerin richtete ihre leuchtendenAugen auf den Wissenschaftler.

»Es ist für mich wichtig, damit ich euchverstehen lerne«, sagte sie ruhig. »Anderskann ich mir eine Zusammenarbeit nichtvorstellen, nur mit Offenheit.«

»Na schön«, lenkte der Wissenschaftlerein. »Wir können uns nicht so leicht damitabfinden, das Presto Go einen Mord bege-hen kann, ohne dafür zur Rechenschaft ge-zogen zu werden.«

- »Das ist alles?« Yais Nas-Organ legtesich überrascht in Falten. »Das sollte keinHindernis für unser Verständnis sein.«

»Nun, wir - haben da eben andere Moral-vorstellungen«, sagte Mila zögernd.»Tatsächlich? Ich finde eure Moralvorstel-lungen sehr seltsam, und ich verstehe sienicht so recht. Mißversteht das bitte nicht,ich habe bereits viele Wörter eurer Spracheerlernt und mir die unübersetzbaren erklärenlassen. Ich begreife diese Ausdrücke und ih-ren Sinn, aber ich verstehe ihre Anwendungoder Auslegung oft nicht. Wenn ich sage,daß ihr seltsame Moralvorstellungen habt, someine ich damit die Verurteilung eines Mor-des, wie ihn Presto Go begangen hat, wäh-rend ihr, wie mir berichtet wurde, anderer-seits Kriege führt, bei denen Millionen Le-bewesen sterben - ohne daß deren Mörderverurteilt werden! Abgesehen davon, daß

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Krieg ein in Herrod unübersetzbares Wortist, verstehe ich diese Vorgehensweise nicht,daß einerseits jemand für eine Handlungverurteilt wird, für die andererseits anderezu Helden erkoren werden.«

Als Caljono Yai schwieg, blieben auchdie Menschen ruhig. Verwirrt und betreten.

*

Caljono Yais Äußerungen trübten die Zu-sammenkunft keineswegs, wie Mila und Na-dja rasch erkennen mußten. Die Herreachhatte lediglich einige Feststellungen getrof-fen, jedoch ohne Emotionen. Sie zeigte sichals sehr intelligente, aufgeschlossene undrealistische Persönlichkeit.

Genau wie Vej Ikorad und Tandar Sel undalle übrigen Herreach zeigte sie sich interes-siert am Wissen der Terraner, machte jedochdeutlich, daß es dabei blieb. Darüber hinauswollten nur wenige Herreach etwas mit denFremden zu tun haben, denn Fremde würdensie bleiben. Die Mahnerin machte ebensodeutlich, daß die Terraner nur solange aufihrer Welt erwünscht waren, wie sie ge-braucht wurden.

Die Schwestern Vandemar hatten keinProblem damit; sie lebten selbst zurückgezo-gen und beobachteten die Umwelt lieber ausder Distanz. Das hatte sich nur kurzzeitignach der Rückkehr von der Großen Leeregeändert, als sie das Leben ausgekostet hat-ten. Doch selbst da hatten sie nie den Bodenunter den Füßen verloren, der Verstand hattestets die Gefühle beherrscht.

Caljono Yai schien das wohl zu spüren.Die Frauen saßen noch lange, nachdem My-les Kantor sich ebenfalls verabschiedet hat-te, in dem Besprechungsraum und lerntensich besser kennen.

»Ihr seid anders als die Menschen, die ichbisher getroffen habe«, sagte die Mahnerin.

»Inwiefern?«»Ich spüre bei euch eine starke geistige

Kraft, aber ganz anders als bei uns. Dastrennt euch von euren eigenen Leuten.«

»Gut erkannt«, sagte Nadja beeindruckt.

»Ich spüre aber auch, daß ihr davon nichtunbelastet seid. Es ist wohl etwas Besonde-res, PSI-begabt zu sein.«

»Ja. Obwohl wir damit geboren wurden,waren wir nie frei von Belastungen. Dasscheint wohl eine menschliche Eigenschaftzu sein.«

»Bei den Herreach ist das anders. Wirwerden alle mit der Gabe geboren, sie ist nurunterschiedlich stark ausgeprägt. Wir hieram Pilzdom verfügen über starke geistigeKräfte. Aber es wäre mir lieber, wenn PrestoGo dabei wäre. Sie verfügt über sehr großeKräfte und kann sie auch steuern.«

»Hast du je versucht, mit ihr zu spre-chen?« erkundigte sich Mila.

»Mehrmals schon«, bestätigte die Mahne-rin. »Aber sie läßt sich nicht überzeugen. Siegibt euch die Schuld an den Zuständen aufder Welt - auf Trokan.«

Die Schwestern merkten wohl das Zögernbei Caljono Yai, den Namen auszusprechen.Diese plusterte leicht das Nas-Organ auf.

»Ich gewöhne mich allmählich daran, denNamen auszusprechen, aber er ist immernoch sehr fremd für mich. Andererseits - einName ist so gut wie der andere. Das hat VejIkorad zu mir gesagt.« Sie strich bedächtigüber die Falten ihrer violetten Kutte. »Ichhabe sehr viel in den vergangenen Zeitab-schnitten … Monaten gelernt, doch nicht aufalles verzichtet. Ich habe mich an vieles ge-wöhnt, aber ich teile nicht alle eure Ansich-ten.«

»Das wäre auch ein bißchen viel ver-langt«, lächelte Nadja.

»Es betrifft aber elementare Dinge«, fuhrYai fort. »Ich lehne eure Technik nicht di-rekt ab, aber ich glaube mehr an die Machtdes Geistes. Außerdem glaube ich fest dar-an, daß Kummerog noch im Tempel weilt.«

*

Über diese Aussage entbrannte eine Dis-kussion, als Mila und Nadja versuchten, dieMahnerin von der Wahrheit zu überzeugen.Doch sie zeigte sich uneinsichtig, obwohl

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sie sonst so realistisch wirkte. Sie wollte eseinfach nicht wahrhaben, daß Kummerogein absolut böses Wesen gewesen war, dasbereits den Tod gefunden hatte.

»Ich glaube euch ja, daß ein sehr bösesund fremdes Wesen auf eurer Welt den Todgefunden hat«, wiederholte Caljono Yai zumx-ten Mal. »Aber das kann nicht Kummeroggewesen sein. Kummerog ist ein Gott, er hatuns erschaffen. Er gab uns eine Prophezei-ung.«

»Wie aber kann ein Gott, ein so mächtigesWesen, gefangen sein?« hakte Nadja nach.

»Ich habe nicht gesagt, daß Kummerogallmächtig ist. Er hat uns beispielsweisenichts über das Fliegen gelehrt, das ihr be-herrscht. Wir kannten dieses Wort nicht ein-mal. Vielleicht ist es selbst Kummerog un-bekannt. Dennoch ist er ein mächtiger Gott,und er ist unser Gott. Bezeichnest du uns alsböse?«

»Nein«, mußte Nadja bereitwillig zuge-ben.

»Wir sind aber seine Geschöpfe. Ihr selbsthabt das sogar zugegeben, daß wir durch einSchöpfungsprogramm, das von Kummeroginitiiert wurde, entstanden sind. Um ihn ei-nes Tages zu befreien, mit Hilfe des RiesenSchimbaa. Dadurch sollten wir auch vomZwielicht erlöst werden. Ich kann darinnichts Schlechtes erkennen, und ich weiß,daß wir nicht böse sind. Zumindest nicht indem Sinne, wie ihr es versteht. Für uns exi-stiert dieser Begriff überhaupt nicht, da wirdiese Wertung nicht kennen.«

»Aber wie …«, begann nun Mila, dieMahnerin unterbrach sie jedoch sofort.

»Ich zweifle nicht an, daß tatsächlich einWesen aus dem Tempel hervorkam, bei alldem Durcheinander, das damals herrschte.Ich bezweifle auch nicht, daß dieses Wesenböse gewesen sein mochte und schließlichauf Camelot umkam. Aber das war keines-falls Kummerog.«

Mila seufzte. Sie war längst nicht so ge-duldig wie ihre Schwester, das war sie niegewesen. Aber sie hielt sich zurück, schließ-lich wollten sie mit den Herreach zusam-

menarbeiten.»Wie können wir dich überzeugen?« frag-

te sie daher nur.»Indem ihr mir Beweise gebt«, antwortete

Caljono Yai sofort. Ihr Nas-Organ vibrierteleicht, möglicherweise lächelte sie.

Selbstverständlich gab es keinerlei Bewei-se. Und selbst wenn es welche gegeben hätte- die Mahnerin hätte sie angezweifelt undnicht für die ihres Gottes anerkannt. IhrGlaube war über tausend Generationen hin-weg festgefügt.

Deshalb war sie auch so stark daran inter-essiert, den Pilzdom endlich zu knacken.

»Das können wir natürlich nicht.« Milamußte lachen. »Wir sind sehr verschieden,aber trotzdem habe ich den Eindruck, daßwir uns gut verstehen. Denkst du, wir kön-nen zusammenarbeiten?«

»Auf alle Fälle«, bestätigte die Mahnerinin der violetten Kutte.

8.Erster Versuch

Der Pilzdom ragte 33 Meter aus dem Bo-den - und weitere 66 Meter in die Tiefe. Vielmehr als diese Maße hatten die Wissen-schaftler bisher nicht herausgefunden. Esgab keine Mittel, die Hülle auch nur anzu-kratzen. Nicht einmal Thermo- oder Desin-tegratorstrahlen konnten der Hülle etwas an-haben. Allerdings wollten die Forscher keinezu großen Geschütze auffahren lassen, dennschließlich hielten sich Perry Rhodan undseine Freunde noch im Innern auf.

Dennoch müßten sich nach dem Beschußirgendwelche Spuren zeigen. Aber alle Kräf-te verpufften wirkungslos; entweder wurdensie absorbiert oder in unbekannte Dimensio-nen abgeleitet.

Mit keinen der zur Verfügung stehendenMethoden war es möglich, das Innere desPilzdoms zu erfassen. Denn auch dieseStrahlen wurden irgendwohin abgeleitet, oh-ne daß eine meßbare Spur zurückblieb. DerPilzdom war wie aus einem Guß und ver-weigerte nicht nur den Zutritt, sondern auch

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jeglichen Einblick in seine Struktur.Mila und Nadja planten, die ersten Unter-

suchungen ohne die Unterstützung der Her-reach zu beginnen, um sich einen Überblickzu verschaffen. Sie wollten nicht sofort ver-suchen, die Tür zu den Geheimnissen zu öff-nen, sondern feststellen, wie der Pilzdomüberhaupt beschaffen war.

Obwohl das nicht unbedingt notwendigwar, begaben sich die Zwillinge in das Inne-re des Schutzfeldes. Sie ließen sich nur andie notwendigsten medizinischen Meßgeräteanschließen, da sie nicht von einer Gefahrausgingen, die ihnen drohen konnte.

Das dämmrige Zwielicht machte einenseltsamen Eindruck auf sie; es war eine ganzandere, fremde Welt. Sie wirkte stiller, har-monischer, schattenlos und ohne die extre-men Grenzen von Wärme und Kälte, Hektikund Ruhe.

Die Herreach bewegten sich hier viel frei-er und ungezwungener als draußen: Sie wa-ren in ihrer natürlichen Umgebung.

*

Caljono Yai befand sich stets in der Näheder Schwestern, um Fragen zu beantworten,aber auch um selbst zu beobachten.

Seit dem ersten Zusammentreffen mit VejIkorad und Tandar Sel hatte in ihrem Geistein Wandlungsprozeß stattgefunden. Heutekonnte sich die Mahnerin kaum mehr vor-stellen, wie sie früher einmal gewesen war,obwohl diese Zeit noch nicht länge zurück-lag. Und obwohl sie auch da bereits andersals die meisten gedacht hatte, was ja nichtzuletzt zu dem Bruch mit Presto Go geführthatte.

Sie hätte diese Episode am liebsten schonlängst abgehakt, aber sie kam einfach nochnicht darüber hinweg. Sie hatte die obersteKünderin sehr verehrt und war es niemalsmüde geworden, ihren Worten zu lauschen.

Presto Go war eine sehr starke, unermüd-lich aktive Persönlichkeit, die es verstand,andere zu begeistern und zu führen. Sie wardie erste Vertreterin einer neuen sozialen

Struktur mit leichten hierarchischen Ansät-zen.

Das führte jedoch noch nicht soweit, daßdadurch sofort alle Herreach das taten, wasihnen aufgetragen wurde. Sie entschiedennach wie vor selbst darüber, ob sie einerWeisung folgen wollten oder nicht, undnach wie vor mußten sie sich dafür auchnicht rechtfertigen. Darin würde sich wohlauch in Zukunft nichts Wesentliches ändern.

Auch aus diesem Grund beobachtete diejunge Mahnerin die Terraner so intensiv, umdaraus zu lernen und zu verhindern, daß dieHerreach eines Tages genauso würden. Cal-jono Yai hatte in den vergangenen Monatenziemlich genaue Vorstellungen über die Zu-kunft ihres Volkes entwickelt und wolltediese mit Vej Ikorads Hilfe auch durchset-zen.

Dazu gehörte aber als erstes die Öffnungdes Pilzdoms und die Erbringung eines Be-weises für die Anwesenheit des GottesKummerog.

*

»Bereit, Schwester?«Diese Frage gehörte stets zum Ritual, be-

vor sie sich an ihre Arbeit machten, und siewurde stets von Mila gestellt.

»Bereit«, lautete Nadjas gewohnte Ant-wort.

Obwohl sie inzwischen hinreichendÜbung besaßen, bereiteten sie sich immerintensiv mit Entspannungsübungen vor. DasAusüben ihrer Fähigkeiten war sehr anstren-gend und verbrauchte viel Energie.

Mila, die die Fähigkeit des Struktursehensbesaß, konzentrierte sich als erste. Baldspürte sie Nadjas empathische Nähe, und ge-meinsam drangen sie in die Oberfläche deräußeren Hülle des Pilzdoms vor.

Zumindest versuchten sie das.Mila brach bald der Schweiß aus, so sehr

mußte sie sich konzentrieren, um das»äußerliche Sehen« wegzuschalten und sichauf die Strukturen, die für das normale Augeunsichtbar waren, einzustellen.

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Doch die Sicht blieb unklar, verschwom-men. Sie konnte sich anstrengen, wie siewollte: Es war nicht möglich, auch nur dieStrukturen der äußeren Mauern des Pilz-doms zu erkennen und zu analysieren.

Dennoch gaben sie beide nicht auf. Nadjaunternahm mehrere Vorstöße, wenigstensStrukturen zu erfassen und sie aufzubrechen.Als Strukturformerin war sie in der Lage,nahezu jede gewünschte Form, die ihreSchwester durchleuchtete, aufzubrechen undneu zu kombinieren. Vielleicht gelang, ihrwenigstens dies, damit das Bild besser zu er-fassen war.

Die Mutantinnen waren so versunken, daßsie Myles Kantor nicht bemerkten, der seiteiniger Zeit versuchte, sie aus ihrer Tranceaufzuwecken. Sie wußten nicht, daß sie einBild des Schreckens boten, sie warengraubleich, schweißnaß am ganzen Körper;die Augen sonderten ununterbrochen Flüs-sigkeit ab, sogar aus dem Mund floß Spei-chel.

Caljono Yai hatte den Wissenschaftler so-fort alarmiert, als sie diese Veränderung be-merkte; obwohl sie über die Fähigkeiten derZwillinge nicht Bescheid wußte, begriff sie,daß hier etwas nicht stimmte.

Selbst die lautlose, über Gefühle vermit-telte Kommunikation der Schwestern warins Absurde abgedriftet, doch beide bemerk-ten das nicht einmal. Sie konnten nicht mehraufhören, weiter gegen diese undurchdring-lichen Mauern anzurennen. Es mußte einenWeg geben! Sie durften einfach nicht aufge-ben, das hätte völlige Resignation bedeutet.

Und sicherlich den Tod Perry Rhodans,Reginald Bulls und Alaska Saedelaeres.

Ein unvorstellbarer Gedanke. Die einzigeHoffnung lastete auf den Schwestern, undsie würden niemals aufgeben, selbst wenn essie das eigene Leben kostete - noch dazu, daihre Fähigkeiten als unüberwindlich galten!

*

Als Blutdruck und Pulsschlag bedrohlichsanken und es zu dem ersten Aussetzen der

Herzschläge kam - was bei Zellaktivatorträ-gern eigentlich unmöglich war -, ließ MylesKantor sie sofort in die Medizinstation beiden Notunterkünften bringen.

Das Beängstigende dabei war, daß dieZwillinge nicht ansprechbar waren. Sie la-gen wie in einem todesähnlichen Schlaf, ob-wohl ihre Augen weit geöffnet waren undauf Lichtreize reagierten. Aber Geist undKörper schienen irgendwie voneinander ge-trennt worden zu sein.

Myles Kantor machte sich pausenlos Vor-würfe, dabei wußte er genau, daß er wederdie Schuld daran trug, noch den Zwillingenraten konnte, beim ersten Mal nur einen kur-zen Vorstoß zu wagen. Er wußte erstensnicht, was tatsächlich geschehen war, undzweitens konnte er die Parafähigkeiten nichtvollends erfassen.

Caljono Yai versuchte ihn zu beruhigen,indem sie ihm genau diese Argumente vor-brachte, doch das half natürlich nicht viel.

»Gleich beim ersten Versuch!« stöhnte er.»Anscheinend sind wir hier an die Grenzenunserer Möglichkeiten gestoßen. Es gibt ein-fach Geheimnisse, die wir niemals lösenkönnen …«

»Aber dieses schon«, widersprach dieMahnerin fest. »Kummerog ist dort drin,und wenn Prophezeiungen einen Sinn habenmögen, dann können wir eines Tages auchdort hinein. Vergiß nicht, es ist eine halbeEwigkeit vergangen, bis wir das erste Torüberhaupt öffnen konnten. Wir schaffenauch dieses Hindernis.«

»Zuerst aber müssen wir die Frauen wie-der zu sich bringen«, knurrte Myles. »Hastdu hier schon eine Idee?«

Yai zögerte. »Vielleicht hilft ein Gebet…« Sie bemerkte Kantors skeptische Mieneund zog das Nas-Organ nach oben. »DeineMethoden versagen ja offensichtlich, undmeine richten sicherlich keinen Schadenan!«

Myles Kantor sank in sich zusammen. Eswar schon alles egal.

»Versuch es«, stimmte er zu. »Aber laßJerry Argent nicht dahinterkommen.«

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Die Mahnerin ließ nach drei gut ausgebil-deten Neuen Realisten schicken, setzte sichmit ihnen zusammen und versank in Gebet-strance. Sie erschufen dabei keine semistoff-liche Gestalt, aber dennoch begann die Luftum die Zwillinge seltsam zu flirren und zuflimmern. Es sah aus, als bildeten sich klei-ne Wirbel.

Etwa fünf Minuten, nachdem das Gebetbeendet war, kamen die Gäa-Geborenen zusich.

*

Sie waren noch völlig erschöpft und zeig-ten sich durch Myles Kantors Ansturm anFragen leicht gereizt.

Sie wußten selbst kaum Antworten, wasgeschehen war, weshalb sie nicht mehr auf-geweckt werden konnten.

Beide berichteten übereinstimmend, daßsie bereits an den Mauern des Pilzdoms ge-scheitert waren. Sie hatten weder die Struk-tur analysieren noch formen können; siekonnten nicht einmal berichten, was sie ge-sehen hatten.

Trotzdem war etwas mit ihnen geschehen;einerseits hatten sie selbst nicht aufgebenwollen, andererseits aber hatten sie sichauch irgendwie verloren. Sie wußten nicht,was stärker gewesen war.

»Es liegt nicht an der Fremdartigkeit derStrukturen«, behauptete Mila. »Nichts kannfremd genug sein, daß wir es nicht trotzdemerfassen könnten, denn wir lassen uns hiernicht von menschlichen Erfahrungswertenleiten.«

»Immerhin haben wir selbst etwas soGroßes und absolut Fremdartiges wie dieAbruse analysieren und umformen können«,ergänzte Nadja.

»Aber vielleicht …«, versuchte Myleseinzuwenden, wurde jedoch von beiden wü-tend unterbrochen.

»Der Pilzdom ist ein lächerlich kleinesGebilde gegen die Abruse! Und damals ver-fügten wir noch nicht einmal über die Aus-bildung und Erfahrung wie heute! Es ist ein-

fach unmöglich, daß unsere Fähigkeiten andiesem Winzding scheitern!« fauchte Mila.

»Und trotzdem geschieht es«, brummteMyles.

Er schien den Angriff persönlich genom-men zu haben und wirkte ein wenig belei-digt.

»Ja, aber das liegt nicht an unseren Fähig-keiten, sondern an etwas ganz anderem«,sagte Nadja.

»Das wäre?«»Nichts, das wir nicht überwinden könn-

ten. Wir wissen jetzt, woran wir sind und ha-ben beim nächsten Mal bestimmt mehr Er-folg.«

Einige Zeit herrschte Stille im Raum. My-les Kantor betrachtete die Geschwister nach-einander mit gefurchter Stirn.

»Ausgeschlossen«, sagte er dann.»Vielleicht könnte ich …«, wagte Caljono

Yai einen vorsichtigen Vorstoß. Die etwasheftige Auseinandersetzung war ihr unange-nehm und unverständlich. Dennoch bliebsie, um nichts zu versäumen. Als niemandablehnend reagierte, fuhr sie fort:»Immerhin haben wir durch unser Gebet Mi-la und Nadja helfen können.«

»Ist das wahr?« stellte der Wissenschaft-ler den beiden Mutantinnen die Frage.

Beide zuckten synchron mit den Achseln.Obwohl jede von ihnen die andere weitmög-lich in der Gestaltung des Lebens gewährenließ, bildeten sie nahezu eine Einheit. Siewaren sich zum Verwechseln ähnlich, selbstin den meisten Gesten und Reaktionen. Sieergänzten sich gegenseitig so sehr in gewis-sen Unterhaltungen, die keinen privatenCharakter hatten, daß der Diskussionspart-ner häufig das Gefühl hatte, mit nur einerPerson zu sprechen.

»Kann sein«, sagte Mila. »Irgendwie kannich mich nicht genau erinnern.«

»Ich halte es schon für möglich, daß dieGebetstrance auf mentaler Ebene etwas beiuns bewirkte«, meinte Nadja. »Immerhinsind die Herreach PSI-begabt, und wir kön-nen einander daran erkennen. Es besteht ei-ne Verbindung. Ich habe zwar auch keine

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Erinnerung mehr daran, aber auf einmal kamich hier wieder zu mir.«

»Ich denke, das Problem liegt nicht darin,daß ihr nicht in die Strukturen vordringenkönnt«, machte Yai deutlich. »Ihr verlierteuch vielmehr darin, werdet abgelenkt …«

»… und absorbiert«, vollendete MylesKantor den Satz. Seine Miene wurde sehrernst. »Das wäre eine logische Schlußfolge-rung. Genauso wie, jegliche Energiestrahlenabsorbiert werden, geschieht das möglicher-weise auch mit euren PSI-Kräften. Ihr habtselbst gesagt, daß ihr einer Art Saugwirkungausgesetzt wart.«

»Diesen Eindruck hatten wir«, nickte Mi-la. »Möglicherweise hatten wir uns deshalbdarin verloren.«

»Dann wiederhole ich meine Aussage vonvorhin: Ich gestatte unter gar keinen Um-ständen, daß ihr weitermacht«, bestimmteMyles Kantor mit aller Strenge.

»Red keinen Unsinn, Myles«, sagte Nadjasanft. »Wir müssen weitermachen, das weißtdu ganz genau. Wir können unsere Freundenicht einfach aufgeben, nur weil es ein biß-chen gefährlich wird. Risiken gehören nuneinmal dazu. Außerdem wissen wir ja jetzt,was auf uns zukommt und können uns bes-ser darauf einstellen. Und wenn Caljono Yaiuns einmal zurückgeholt hat, kann sie dasauch ein zweites Mal.« Sie lächelte. »Undverbieten kannst du uns ohnehin nichts.«

9.Zweiter Versuch

Nachdem die Schwestern sich gründlicherholt hatten, wollten sie sich am nächstenTag erneut um die Enträtselung des Geheim-nisses bemühen. Auch diesmal weigerten siesich, in der Medostation zu bleiben, da sieihrer Aussage nach den unmittelbaren Sicht-kontakt mit dem Pilzdom benötigten. Undaußerdem wußten sie jetzt, was auf sie zu-kam - sie konnten entsprechend reagieren.

Abgesehen davon hatte die Medostationihnen auch nicht helfen können; es würde al-so nach wie vor reichen, lediglich an Meß-

geräte angeschlossen zu sein. Bis zur Stationwaren es ja nur ein paar Meter.

Myles Kantor sah ihnen mit sorgenvollgefurchter Miene nach; der Wissenschaftlerhatte ein sehr schlechtes Gefühl. Nicht dienormale Sorge und den Wunsch, daß hof-fentlich nichts passieren möge, sondern eineganz greifbare, unheilvolle Vorahnung.

Vergeblich versuchte er ein letztes Mal,die Zwillinge von ihrem Vorhaben abzubrin-gen. Ihre Gegenfrage, weswegen er sie dannüberhaupt erst geholt habe, konnte erschlecht mit dem Argument, es sich jetzt an-ders überlegt zu haben, beantworten. Erschämte sich auch zuzugeben, daß sein Wi-derwille nur auf einer düsteren Vorahnungberuhte, wie wenn man sich nach einemAlptraum fürchtet, das Haus zu verlassen.

»Es kann einfach nicht gutgehen«, sagteer deshalb nur schwach.

»Das überlasse bitte uns«, entgegnete Mi-la kühl. »Wir sind erwachsen.«

Caljono Yai begleitete die beiden wiebeim ersten Mal; ihr Angebot zur Unterstüt-zung wurde jedoch abgelehnt.

»Das müssen wir allein machen. Sollte eswieder zum Extremfall kommen, kannst dues mit einem Gebet versuchen. Aber jetztkönnen wir uns nur auf uns selbst konzen-trieren.«

Nadja musterte die Herreach, aber natür-lich konnte sie in dem fremden, starren Ge-sicht keine Mimik erkennen. Auch das Nas-Organ zeigte sich lediglich aufgeplustert,was Aufmerksamkeit bedeutete.

»Fängst du auch schon das Orakeln an?«fragte sie.

»Was bedeutet das?«»Nun, daß du ein schlechtes Gefühl hast

wie Myles.«»Ich habe tatsächlich kein besonders gu-

tes Gefühl und bin beunruhigt«, gab Yai zu.»Ein ähnliches Gefühl habe ich das letzteMal gehabt, als die Prophezeiung sich erfüll-te.«

»Und die endete in einer Katastrophe. Na,wunderbar. Ihr versteht es wirklich, einemMut zu machen.« Nadjas Stimme klang

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leicht ärgerlich, aber nur kurz. Jetzt mußtesie sich auf ihre weit wichtigere Aufgabekonzentrieren.

Im Gegensatz zu allen anderen waren dieGäa-Geborenen durchaus zuversichtlich. Sievertrauten auf ihre Fähigkeiten und ihre Er-fahrung. Sie hatten ihre Feuertaufe längstbestanden, gegen ein Wesen oder Un-Wesenwie die Abruse, das weitaus größer, mächti-ger und noch dazu auf eine gewisse Weiselebendig und intelligent gewesen war.

Inzwischen hatten sie Zeit genug gehabt,weitere Erfahrungen zu sammeln, ihre men-tale Verbindung zu stabilisieren und ihre Fä-higkeiten besser zu nutzen. Sie waren geistigausgeglichen und körperlich gesund. Siekonnten also ein Gebilde wie diesen Pilz-dom knacken!

*

Beim ersten Versuch waren die Zwillingewie gegen eine undurchdringliche Mauer an-gerannt, das sollte ihnen kein zweites Malpassieren. Mila hielt sich nicht lange mitdem Vortasten und Erspüren auf, sondernkonzentrierte sich auf eine bestimmte Stelle.

Nadja bemühte sich nicht erst, die Struk-turen im einzelnen zu erfassen, sondernwagte einfach einen schwachen Vorstoß, derMila den Weg zum Durchbruch ebnen soll-te.

Dieser Versuch gelang; die Erfahrungs-werte aus dem ersten Versuch zeigten ihreWirkung.

Mila konnte sich, unterstützt von Nadja,nun bis in den subplanetaren Bereich desPilzdoms vortasten. Dort gab es jede MengeHohlräume.

Das war aber auch alles, was die Mutan-tinnen feststellen konnten. Sie konnten nichtin Erfahrung bringen, was sich in diesenHohlräumen befand oder wie groß und wiehoch sie waren. Die Strukturen verzerrtendie Räume zu aberwitzig ineinander ver-schachtelten und verknüpften Gebilden, diebaulich und technisch so nicht machbar wa-ren. Mila und Nadja waren sich darüber im

klaren, daß sie hier einem Täuschungseffektunterlagen, aber sie konnten nichts dagegenunternehmen.

Wie beim ersten Versuch gab es keinerleiMöglichkeit, die Strukturen zu manipulierenoder eine klare Sicht zu bekommen. Undwie beim ersten Mal verloren sich die bei-den wieder.

Je mehr Energie sie aufwandten, destomehr wurden sie eingesogen. Die verzerrteSichtweise verwirrte sie zusätzlich und führ-te schließlich zur völligen Desorientierung.

Aber dieses Mal waren sie gewappnet, siehielten sich sozusagen gegenseitig fest. Vor-sichtig zogen sie sich zurück, als sie erkann-ten, daß ihre Kräfte vollkommen erschöpftwaren und sie unter keinen Umständen mehrweiterkonnten. Aber der Rückzug gestaltetesich weit schwieriger als angenommen. Be-dingt durch die Desorientierung irrten sie inden verschachtelten Hohlräumen umher wiein einem Labyrinth ohne Ausgang.

Mit zunehmender Erschöpfung und Auf-bietung der Reserven stellte sich auch eineleichte Panik ein. Je mehr Kräfte sie einsetz-ten, desto schwächer und hilfloser wurdensie und desto mehr verloren sie sich in ver-knüpften Gebilden und Spiralen.

Schließlich waren sie so ausgezehrt, daßsie einfach aufgaben und sich treiben ließen,noch von einem letzten Rest Hoffnung, wie-der herauszufinden, beseelt.

Und dann vernahmen sie einen fernenmentalen Gesang, der sie in eine bestimmteRichtung lockte. Ohne zu überlegen, folgtendie Schwestern den geistigen Tönen bis zuihrem Ursprung, ohne auf die um sie umge-benden Strukturen zu achten …

… und erwachten auf den Liegen der Me-dostation.

*

»Das war knapp!« konstatierte CaljonoYai, allerdings ohne Vorwurf oder Erleichte-rung.

Die Zwillinge richteten sich auf und ächz-ten leise. Sie waren am Rand ihrer Kräfte,

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ihre Körper zitterten wie unter Schüttelfrost.»Das letzte Mal haben wir wohl ebenso

gehandelt, allerdings nur noch unbewußt«,stieß Nadja hervor. »Eure Gebetstrance hatuns wieder zurückgeholt, nicht wahr?«

»Allerdings.«»Ich kann mich auch erinnern, etwas ver-

nommen zu haben«, krächzte Mila. »Es istalso sehr viel besser gelaufen als beim erstenMal.«

Nun konnte Myles sich nicht mehr zu-rückhalten.

»Besser gelaufen!« platzte er los. »Ichwerde euch eure medizinischen Berichte zei-gen, dann werdet ihr das nicht mehr behaup-ten! Das war haarscharf am Tode vorbei,und ich werde kein drittes Experiment mehrdulden! -Nein, Schluß! Es kommt nicht inFrage!«

Die Zwillinge warteten, bis der Nachhallseiner Stimme verklungen war. Caljono YaisNas-Organ war auf doppelte Größe aufge-plustert, und sie starrte den Wissenschaftlerunverhohlen neugierig an.

»Aber wir haben sehr viel mehr erreicht«,wagte Mila dann den zaghaften Einwurf.»Wir waren bei weitem nicht so in Gefahrwie das letzte Mal. Vielleicht mögen unsereKörperfunktionen verrückt gespielt haben,aber wir blieben die ganze Zeit bei Bewußt-sein. Wir können uns jetzt von vornhereinbewußt darauf einstellen, und Caljono Yaikann uns zurückholen, sobald es die erstenAnzeichen eines Zusammenbruches gibt.«

»Wir wären auch damit einverstanden,uns hier an die Maschinen hängen zu las-sen«, fügte Nadja hinzu. »Nun brauchen wirden direkten Sichtkontakt nicht mehr, wirkennen den Weg. Immerhin haben wir eineMenge herausgefunden. Wir haben nicht nurbewiesen, daß der Pilzdom innen wirklichvollkommen hohl ist, sondern zudem ent-deckt, daß die Innenmaße sehr viel größersind, als es die Außenmaße erlauben dürf-ten.«

»Wir sind also auf eine mathematischeUnmöglichkeit gestoßen, die es zu ergrün-den gilt!« sagte Mila begeistert. »Wir haben

uns keinesfalls getäuscht: Innen ist der Pilz-dom größer als außen. Warum? Wie kann…«

»Vergeßt es«, lehnte Myles Kantor kate-gorisch ab und ließ sich auch durch CaljonoYais Argumente nicht umstimmen.

Vorerst mußten die Mutantinnen also auf-geben. Sie waren im Moment nicht beson-ders diskussionsfreudig, da sie viel zu er-schöpft waren. Sie entschlossen sich, ersteinmal einen oder zwei Tage Ruhepausezum Kräftesammeln einzulegen und dannMyles Kantor davon zu überzeugen, daß sieweitermachen wollten, gleichgültig, ob ersein Einverständnis gab oder nicht.

Caljono Yai nutzte die Gelegenheit, umVej Ikorad Bericht zu erstatten. Nach denErzählungen über die Fähigkeiten der Gäa-Geborenen gab sie sich sehr zuversichtlich,Kummerogs Geheimnis bald lüften zu kön-nen.

Und die Ruhepause der Geschwister solltekürzer ausfallen als erwartet.

10.Draußen: Presto Go

In den äußeren Ruinen von Moond tatsich einiges. Der Aufbau im Innern gingweiterhin gut voran, doch Presto Go be-schränkte sich offensichtlich nicht alleindarauf.

In kurzer Zeit tauchten Herreach aus allenRichtungen auf und versammelten sich rundum den Pilzdom. Es handelte sich aus-nahmslos um Jünger des Kummerog unterder obersten Künderin Presto Go. Kein Neu-er Realist war dabei, überraschenderweiseaber auch kein Herrachischer Freiatmer. GenTriokod sorgte wohl persönlich dafür, sichhier herauszuhalten weswegen auch immer.

Schließlich waren es rund 5000 Herreach,die sich außerhalb des Schutzschirms umden Pilzdom versammelten. Ein drohenderAufmarsch, der selbstverständlich den Ter-ranern keine Angst machen konnte, aber injedem Fall beunruhigte. Was hatte die ober-ste Künderin vor?

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Das sollte sich bald herausstellen. Sieschickte einen Boten, der Myles Kantor undJeromy Argent zu einem Gespräch forderte.

Die beiden Männer fanden sich bald dar-auf bei den Ausläufern der Ruinen ein, wosie von Presto Go erwartet wurden. Die Her-reach erschien ungewöhnlich aufgeregt,ganz anders als sonst.

»Ich werde es nicht mehr länger dulden«,begann sie das Gespräch ohne Gruß.

Jerry Argent wies weitläufig um sich.»Was bedeutet dieser Aufzug?« stellte er

die ausweichende Frage, ohne auf die Herre-ach einzugehen.

»Das sind meine Anhänger«, gab PrestoGo zur Antwort - erstaunlicherweise in In-terkosmo, nicht in Hoch-Herrod. »Und ichbin nicht hier, um zu verhandeln oder miteuch zu diskutieren. Ich habe euch lediglichdies zu melden: Ihr stellt augenblicklich eureArbeiten ein und verlaßt den Dom.«

»Und wenn nicht?« entgegnete Myles.»Ihr werdet sehen. Ich gebe euch einige

Tage Zeit. Doch ihr solltet meine Drohungbesser ernst nehmen.«

Damit drehte sie sich um und schritt wür-devoll in dem typischen Stelzgang zwischenden Trümmerteilen davon, bald nur noch einSchatten zwischen den Steinen.

Die beiden Männer blickten sich grimmigan.

»Kurz und bündig«, sagte Jerry Argent.Seine Augen blitzten vor Zorn.

»Jedenfalls kann man nicht behaupten,daß sie lange um den heißen Brei herumre-det«, stimmte Myles Kantor zu.

*

Die Terraner hatten selbstverständlichnicht vor, nun plötzlich die Flinte ins Kornzu werfen und den Rückgang anzutreten.Natürlich bildete der Aufmarsch der 5000Herreach auch keine unmittelbare oder ern-ste Gefahr, aber die Menschen konnten esauf gar keinen Fall auf eine ernste Konfron-tation ankommen lassen - und womöglichnoch die Herreach zu entzweien! Trokan

war die Welt der Herreach.Daher schickte Jerry Argent Vej Ikorad

als Unterhändler zu Presto Go, und CaljonoYai ging als Unterstützung mit.

Die oberste Künderin empfing ihre Artge-nossen tatsächlich, obwohl Caljono Yai Be-denken angemeldet hatte. Sie kannte PrestoGo nur zu gut und wußte, daß mit ihr kaummehr zu reden war, wenn sie einmal einenschwerwiegenden Entschluß gefaßt hatte.

»Es überrascht mich, dich zu sehen«, sag-te sie statt einer Begrüßung zu Caljono Yai.»Ich habe es nicht glauben wollen, deshalbließ ich euch kommen.«

»Ich habe stets versucht, mit dir zu re-den«, gab die Mahnerin zurück. »Du woll-test es nicht.«

Presto Go ging nicht darauf ein.»Wie ich höre, machst du nicht nur ge-

meinsame Sache mit diesen Dämonen, dubist auch maßgeblich an dem Einsatz beson-ders Befähigter beteiligt, die Mutanten oderPSI-Begabte genannt werden.«

Die beiden unübersetzbaren Worte drück-te sie in widerwilligem, aber einwandfreiemInterkosmo aus.

Caljono Yai konterte sofort: »Wie ich hö-re, sprichst du inzwischen auch ihre Spra-che.«

»Selbstverständlich, denn nur so kann ichden Charakter der Fremden ergründen. Ichmuß verstehen lernen, aus welchen Wörternihre Sprache besteht, wie sie die Sprache an-wenden und ob sie das auch meinen, was siesagen. Und ich muß sagen, das alles gefälltmir nicht. Es überzeugt mich nur immermehr.«

»Du siehst immer nur eine Seite«, warfVej Ikorad ruhig ein.

»Ich sehe die sichtbare Seite - und die un-sichtbare«, widersprach Presto Go. »Selbstihr könnt nicht leugnen, daß sie unser Lebenvollkommen durcheinanderbringen und un-sere Werte erniedrigend herabsetzen.«

»Sie haben viel Gutes getan«, verteidigteCaljono Yai die Terraner. »Ohne sie wäreunsere Welt zum Untergang verurteilt gewe-sen.«

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»Weshalb sagst du nicht Trokan?«»Du bist boshaft.«»Ach, ich bin boshaft?« Presto Gos Nas-

Organ zog sich zornbebend nach oben.»Ja, boshaft«, unterstützte der Sprecher

der Neuen Realisten die abtrünnige Mahne-rin.

Die menschlichen Worte unfair oder un-gerecht hatten im Hoch-Herrod keine Ent-sprechung, da es keine Institutionen gab, diedie Gerechtigkeit abwägten und Urteile fäll-ten. Wenn sich jemand also danebenbenahmund ungerechtfertigte Vorwürfe machte,wurde er schlicht als boshaft bezeichnet.Dieses Wort wurde nicht oft ausgesprochen,da die Herreach selten eine derart emotiona-le Spannung untereinander aufbauten.

»Wir verdanken den Terranern unser Le-ben, und wir brauchen ihre Unterstützungauch weiterhin, bis die Welt sich den neuenVerhältnissen angepaßt hat.«

»Gehört dazu auch ihre Kleidung?« Pre-sto Go deutete auf Vej Ikorads weißes Ka-puzengewand.

»Wie du siehst, trage ich sie nicht!« sagteCaljono Yai heftig. »Du ziehst alle Argu-mente bei den Haaren herbei. Wofür hältstdu uns?«

»Ah, endlich kommen wir zum Kern derSache.« Presto Gos Nas-Organ entspanntesich, und sie fuhr mit absolut gleichmütigerStimme fort: »Ich halte euch für Verräter.«

Wenn sie einen heftigen Protest erwartethatte, so wurde sie enttäuscht. Die beidenUnterhändler hatten sich ebenfalls beruhigtund sahen keine Veranlassung, weiterhin aufeinen verbalen Angriff einzugehen.

Das Wort Verrat existierte im Herrodebenfalls nicht, auch hier hatte Presto Godas Interkosmo zu Hilfe nehmen müssen.Dieses Wort hatte also zwar keine direkteEntsprechung, aber die oberste Künderinverstand es als Steigerung von abtrünnig,das ihr an dieser Stelle wohl als zu mild er-schien.

»Das solltest du aber gut begründen kön-nen«, sagte Vej Ikorad. »Nebenbei gesagt,möchte ich dir gratulieren, wie du es ver-

stehst, mit der von dir so abgelehnten Spra-che umzugehen. Aber du warst schon immersehr beredt.«

»Als oberste Künderin muß ich über einumfassendes Wissen verfügen«, versetztePresto Go kühl. »Wissen ist sachlich, ohneemotionale Färbung. Ich kann den Terranernnicht begegnen, wenn ich nicht einmal ihreSprache beherrsche.«

»Und aus demselben Grund wollen wirihr Wissen erlernen!« warf Caljono Yai ein,erhielt jedoch einen mahnenden Blick ihresBegleiters. Es war zu früh dafür.

»Das steht nicht allen gleichermaßen zu,und vor allem dann nicht, wenn sie die Le-bensweise der Fremden annehmen«, meintedie oberste Künderin gelassen. »Ihr stürmtvor, ohne meinen Rat einzuholen und mirdie Verhandlungen zu überlassen. Ihr habtdurch euer Verhalten die Tradition der Her-reach in Grund und Boden getreten. Ohnegründlich zu überlegen, übernehmt ihr dieLebensweise der Fremden und biedert euchihnen als Handlanger und Arbeiter an. Ichweiß, wohin das letztlich führen wird: DasVolk der Herreach wird mit seiner Kulturund Tradition untergehen, seine Eigenstän-digkeit verlieren und irgendwie dahintrei-ben, als Wesen zwischen Licht und Dunkel.Das ist der Vorwurf des Verrats, den icheuch mache.«

»Aber das ist doch nicht wahr«, wider-sprach Vej Ikorad zum wiederholten Mal.»Die Lebensumstände der Herreach habensich geändert, dementsprechend müssen siesich anpassen. Das ist ohne Hilfe von außennicht möglich, und für diese Hilfe sind wirdankbar. Das bedeutet aber nicht, daß dieTerraner nun unsere besten Freunde sindund wir sie für immer willkommen heißenwerden. Im Gegenteil - sobald sie ihreSchuldigkeit getan haben, werden wir siebitten zu gehen!«

»Und werden sie dann gehen?«»Werden sie gehen, wenn du sie ablehnst?

Sie sind von selbst gekommen, und ebensowerden sie auch wieder gehen. Ich halte siefür feinfühlig und kultiviert genug, daß sie

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die Wünsche anderer respektieren und sichzurückziehen werden, wenn wir es aus-drücklich wünschen. Immerhin haben sie ei-nigen Auserwählten auch die Ausbildungangeboten. Wir könnten dann vieles erfah-ren, zum Beispiel über das uns umgebendeUniversum.«

»Wofür brauchen wir dieses Wissen?«Vej Ikorads Nas-Organ legte sich verdutzt

in Falten. »Was ist schlecht an Wissen?«Presto Gos geschlitzte Augen verschossen

grüne Blitze. »Was ist gut an Wissen, dasnicht genutzt werden kann? Letztlich ist esdas Wissen der Terraner. Wenn wir unsereEigenständigkeit und Kultur wahren wollen,können wir es nicht verwenden, weil wirsonst genauso denken, handeln und lebenwürden wie sie. Oder denkst du, alle Frem-den dort draußen würden uns genau dasselbeWissen auf dieselbe Weise präsentieren?«

Caljono Yais Nas-Organ war auf doppelteGröße angeschwollen, und sie warf einenverunsicherten Blick zu ihrem Begleiter. Sieselbst war stets im Zwiespalt, denn auch siefürchtete die Fremden in gewisser Weise -abgesehen von den beiden PSI-begabtenFrauen, die irgendwie nicht zu ihnen gehör-ten. Dennoch war sie weiterhin nicht bereit,sie zu verteufeln.

Der obersten Künderin entging das natür-lich nicht, und sie richtete ihre nächste Fragean ihre ehemalige Vertraute: »Was hast dubisher so Großartiges bei den Fremden ge-funden, daß du nach wie vor nicht in meinenKreis zurückkehren willst?«

»Weil ich deine einseitigen Ansichtennicht teile«, antwortete Yai.

»Aber du stehst ihnen auch nicht mehrvöllig ablehnend gegenüber.«

»Nun, ich …«»Was sollen denn diese Steinspaltereien«,

unterbrach der Sprecher der Neuen Reali-sten. »Presto Go, wir sind uns doch einigdarüber, daß die Fremden wieder verschwin-den müssen. Aber wir sollten uns trotzdemihr Wissen aneignen, damit wir ihnen ent-sprechend begegnen können, wenn sie einesTages wiederkommen sollten. Wir dürfen

ihnen nicht das Gefühl geben, mit uns leich-tes Spiel zu haben. Denn auch ich möchtedie Eigenständigkeit und den Glauben unse-res Volkes bewahren.«

»Den Glauben? Welchen Glauben?«»Einen Augenblick bitte, ich war noch

nicht fertig. Wenn unser Volk sich weiter-entwickeln soll, dann dürfen wir uns nichtallem verschließen.«

»Wir entwickeln uns von selbst. Immer-hin haben auch wir bereits die ersten Schrit-te in der Technik unternommen. Denkst du,damit kommen wir nicht von allein weiter?«

Vej Ikorad schwieg.Presto Go fügte hinzu: »Bist du so unzu-

frieden mit dem, was unser Volk darstellt,daß es dir nicht schnell genug geht? Dannfrage ich mich, weshalb du dich die ganzeZeit über nicht eis einziges Mal dafür inter-essiert hast, was in den Trümmern vonMoond vorgeht! Hast du eine Ahnung dar-über, welche Aktivitäten ich jeden Tag un-ternehme? Handwerker, Erfinder, kräftigeHerreach -ich habe sie aus allen Teilen derWelt herbeigerufen, um die Stadt größer undschöner denn je wiedererstehen zu lassen!Sie soll leuchten in der Nacht! Wir verfügenzwar über wenig Rohstoffe, aber wir werdeneinen Weg finden - vielleicht können wir dieWärme der Sonne auf irgendeine Weise nut-zen, von der wir in der Nacht dann profitie-ren können! Nun? Davon wißt ihr natürlichnichts, du und deine Anhänger, die du andeiner Kutte hängend hinter dir her-schleppst!«

Sie hielt den Unterhändlern ihre offenenHandflächen mit den gespreizten Fingernhin und hob noch dazu einen ihrer kräftigenFüße.

»Sie sind ganz anders als wir, und dasnicht allein vom Aussehen her! Selbst ihrGeschlechtsleben ist vollkommen anders, ih-re Gefühle, ihre Denkweise! Wie könnt ihrdavon ausgehen, daß es jemals zu einer Ver-ständigung kommen kann? Ich habe einfachdie große Angst, daß die Herreach sich - be-wußt oder unbewußt - anpassen werden, unddieser Gedanke ist mir so grauenvoll, daß

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ich ihn kaum zu Ende bringen kann!«

*

Während Jerry Argent und Myles Kantorim Lager nicht ohne Beunruhigung auf dieRückkehr der beiden Herreach warteten,ging die Diskussion bei Presto Go weiter.

»Du hast ja recht«, sagte Vej Ikoradschließlich. »Doch ich sehe nicht ein, wes-halb wir einen Vorteil, wenn er sich bietet,nicht nutzen sollten! Und es kann nur vonVorteil sein, wenn wir von ihnen lernen! Esist doch allein unsere Sache, was wir darausmachen, ob wir das Wissen nutzen könnenoder wollen oder nicht!«

»Ich finde es interessant, die Lebensweisedieser Fremden kennenzulernen«, mischtesich Caljono Yai in das Gespräch. »Mich in-teressiert auch ihr Wissen. An meiner Ein-stellung ändert sich dabei jedoch nichts - imGegenteil. Ich bin froh, eine Herreach zusein, und ich werde mich sicherlich nicht än-dern … oder gar anpassen. Und ich bin auchkein Handlanger irgendwelcher Fremden -oder von dir, Presto Go!«

Der Vorwurf war zum ersten Mal so deut-lich ausgesprochen und ein persönlicher An-griff gegen die oberste Künderin.

Presto Go musterte die jüngere Mahnerineinen langen Augenblick schweigend. Siekonnte nicht viel darauf erwidern, denn eswar schließlich bekannt, auf welche Weisesie in diese Position gekommen war und wiegut sie es verstand, andere zu manipulieren.Es war ihr auch jetzt mit ihrer Redekunst ge-lungen, Vej Ikorad zumindest zu verunsi-chern.

»Was dich nicht hindert, deinen Glaubenzu verleugnen«, sagte sie dann schließlichlangsam.

Das war der schlimmste Vorwurf, den einHerreach dem anderen machen konnte. DerGlaube an Kummerog war der Lebensinhaltaller Herreach, auch wenn sie keine Priesterwurden; er war tief in ihnen verwurzelt undder wichtigste Teil ihrer Identität. Den Glau-ben zu verleugnen würde bedeuten, alles ab-

zulehnen, ein Ausgestoßener der Gesell-schaft zu sein, an nichts mehr zu glaubenund daher rettungslos verloren zu sein.

Es war eine so furchtbare Vorstellung,daß kein Herreach auch nur im entferntestenzweifelte. So etwas war in der ganzen Ge-schichte der Herreach wohl noch nie vorge-kommen.

Caljono Yai war so betroffen, daß sienicht mehr sprechen konnte. Ihr Nas-Organfiel geradezu in sich zusammen.

»Sie trägt immer noch die violette Kutte«,verteidigte sie Vej Ikorad an ihrer Stelle.»Und gerade weil sie ihren Glauben weiter-hin vertritt und dafür kämpft, arbeitet sie mituns zusammen. Ich erwarte von dir, daß dudiesen Vorwurf zurücknimmst!«

Caljono Yai hatte sich wieder etwas ge-fangen, als sie sagte: »Du solltest dich anunser letztes Gespräch erinnern, das zu un-serer Trennung führte: Ich vertrat den Glau-ben, daß Kummerog nach wie vor innerhalbdes Pilzdoms weilt, und das tue ich nochheute. Deshalb arbeite ich dort, um meineThese zu beweisen. Denn anders finde ich jadoch kein Gehör.«

»Ich finde es allerdings erstaunlich, aufwelche Weise unser Glauben plötzlich aus-gelegt werden kann - jeder dreht ihn gerade-zu so hin, wie es ihm paßt.« Dieser Angriffwar gegen Vej Ikorad und die Neuen Reali-sten gerichtet.

»Selbst die großen Priester können sich ir-ren«, versetzte der Sprecher gelassen.»Wenn es unwiderlegbare Beweise gibt,sollte man ein wenig nachdenklich werdenund sich überlegen, ob man mit seinen eige-nen Vorstellungen nicht zu festgefahren ist.Es gibt keine Beweise, daß deine Einstel-lung auch die unserer Vorfahren ist.«

»Oh, damit stehe ich nicht allein.« PrestoGo deutete auf die Wand und damit imagi-när nach draußen. »Fünftausend Herreachvertreten dieselbe Ansicht wie ich -das letzteHeiligtum Kummerogs darf nicht zerstörtwerden.«

»Aber wir zerstören es doch gar nicht«,widersprach Caljono Yai. »Wir sollen seine

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Geheimnisse ergründen und Kummerogendlich befreien!«

»Es erstaunt mich, welches Vertrauen dudiesen Fremden entgegenbringst, die sogarnach ihrer eigenen Aussage unseren GottKummerog ermordet haben! Wer hängt nunmehr an seinen eigenen Vorstellungen, dasfrage ich mich allen Ernstes!«

»Weil es nicht Kummerog war, und ebendas will, nein muß ich beweisen!« verteidig-te die junge Mahnerin sich. »Die Terranerhaben ein Interesse am Pilzdom, weil einigeihrer Gefährten darin spurlos verschwundensind. Sie machen sich Sorgen, außerdemsind es wichtige Persönlichkeiten für sie. Sokönnen wir unsere Aktivitäten verbindenund gemeinsam daran arbeiten, das Geheim-nis zu lüften. Damit werden wir aber nochlange nicht zu dauerhäften Verbündetenoder gar Freunden!«

Erneut trat eine Gesprächspause ein, inder jeder den anderen auffordernd beobach-tete.

»Ich kann und will mit den Fremdennichts zu tun haben«, sagte Presto Goschließlich. »Ihre Behauptung, Kummerogsei kein Gott, sondern ein böses Wesen ge-wesen, kann mich nicht dazu bringen, in di-rekte Verhandlungen mit ihnen zu treten. Eszeigt mir, daß sie selbst Teufel sind, nur aufihren eigenen Vorteil bedacht, die Lügenverbreiten, um ein Volk und seinen Glaubenzu zerstören und in Zukunft für ihre Zweckezu benutzen. Kummerog ist unser Gott, undsie sind die Verblendeten. Ich werde es nie-mals zulassen, daß sie unser Heiligtum ent-weihen und zerstören.

Ihr könnt ihren Sprechern daher folgendesmitteilen: Ich fordere die Fremden im Na-men aller Herreach hiermit auf, unverzüg-lich ihr frevelhaftes Tun einzustellen undsich von unserem Heiligtum zurückzuzie-hen. Der Schutzschirm muß abgeschaltetund der Platz geräumt werden. Die Fremdendürfen sich auch nicht in Moond aufhalten,sondern, wenn sie schon nicht bereit sind,sofort zu verschwinden, außerhalb bei denHöfen und Dörfern.

Ich gebe ihnen eine Frist von zwei Tagen;ich denke, das ist entgegenkommend genug.

Danach werde ich nicht davor zurück-schrecken, Gewalt anzuwenden. Die Terra-ner sollten sich also lieber an meine Wei-sung halten. Und - versucht nicht noch ein-mal, mich zu überzeugen. Es gibt keinen ge-meinsamen Weg mehr für uns. Caljono Yai,deine violette Kutte ist eine Beleidigung fürden Cleros, nach allem, was du mir hier ent-gegengeschleudert hast.«

»Dieses Kleidungsstück stellt meinen un-gebrochenen Glauben dar«, entgegnete Cal-jono Yai kalt. »Es ist kein Abzeichen, dasvon dir persönlich verliehen wurde. Ich ste-he weiterhin in der Position der Mahnerin,und das werde ich auch bleiben. Gib dir kei-ne Mühe, mich noch einmal beleidigen zuwollen! Du hast dich so weit von der Reali-tät entfernt, daß du mich nicht mehr treffenkannst. Und sei gewiß, ich werde von miraus so schnell nicht mehr zu dir kommen.Mag ich in den letzten Zeitperioden auch ge-litten haben, das heutige Gespräch hat mirgezeigt, daß es nie wieder zu einer Versöh-nung kommen wird. Du hast die letzte Bin-dung, die zwischen uns bestanden hat, zer-rissen.«

»Zuerst haben dich die Neuen Realistenvergiftet, dann die Fremden, damit du ihnenalles nachplapperst. Du merkst nicht einmal,daß du nur noch ein Spielball zwischen ih-nen bist«, höhnte Presto Go.

»Gib dir keine Mühe«, wiederholte dieMahnerin. »Du hast für mich jeden Glanzverloren. Ich sehe dich nur als fanatische al-te Frau, die keinen anderen Weg mehr weiß,um ihre Position im Anbruch eines neuenZeitalters zu halten. Sei gewiß, deine Stundekommt bald!«

*

»Das wird sie tun?« fragte Jerry Argentbeunruhigt. Er meinte damit Presto Gos An-drohung der Gewalt.

»Ja«, sagte Vej Ikorad. »Wir dürfen siekeinesfalls unterschätzen. Die Fünftausend

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Herreach stellen ein gefährliches Potentialdar.«

»Ihr müßt euch etwas einfallen lassen«,fügte Caljono Yai hinzu. »Wir Neuen Reali-sten werden es nicht zulassen, daß ein ge-walttätiger Konflikt ausbricht. Sollte es dazukommen, werden wir uns sofort gegen euchstellen.«

Der Terraner nickte unglücklich.»Natürlich dürft ihr euch nicht gegen euer

eigenes Volk stellen; es darf gar nicht erstdazu kommen. Ich hatte so sehr darauf ge-hofft, daß ihr zumindest das Ultimatum einwenig hinauszögern könnt.«

»Es war schon ein großes Zugeständnis,daß sie euch zwei Tage gegeben hat«, sagteVej Ikorad. »Was Konflikte betrifft, ist Pre-sto Go keine geduldige Frau. Normalerweiseist sie niemals zu einem Kompromiß bereitwie sich auch jetzt wieder gezeigt hat. Wirsollten also nicht damit rechnen, daß sie dieFrist verstreichen läßt, ohne zu handeln.«

Myles Kantor lächelte traurig. »Wenn ihreuch sofort zurückziehen wollt, können wirdas verstehen. Nichts wäre schrecklicher alseine Spaltung bei euch.«

»Die besteht bereits«, gestand CaljonoYai ohne Umschweife. »Seit es die NeuenRealisten gibt; auch die Herrachischen Frei-atmer haben längst zu einer Spaltung beige-tragen. Aber es ist bisher noch nicht zu offe-nen Konflikten gekommen, da Herreach nor-malerweise kein Interesse daran haben, sichgegenseitig die Schädel einzuschlagen - ab-gesehen von vereinzelten Ausnahmen, wieauch Presto Go eine darstellt. Aber das hatnichts mit Kampfhandlungen zu tun.«

Sie verzog das Nas-Organ zu einer Gri-masse.

»Um deine Frage zu beantworten: Nein,wir werden uns jetzt noch nicht zurückzie-hen. Das würde so aussehen, als würden wirvor Presto Go klein beigeben. Wir müssenihr aber zeigen, daß ihre Ansicht falsch ist.Ich habe die Hoffnung immer noch nichtaufgegeben, daß Presto Go eines Tages zumUmschwenken bereit ist - wenn ich ihr eini-ge unwiderlegbare Beweise bringen kann.

Außerdem müssen wir euch helfen, die Ar-beiten voranzutreiben, damit wir uns alle vorAblauf der Frist zurückziehen können.«

*

Daß Presto Go ihre Drohung sehr ernstgemeint hatte, demonstrierte sie schon balddarauf.

Als erste Warnung ließ sie von ihren Jün-gern den Zwerg Pallomin und den vielge-staltigen Brodik erschaffen, die sie gegenden Schutzschirm um den Pilzdom schickte.Diese Energieglocke war kein starker Ab-wehrschirm, sondern lediglich ein schwa-ches Schutzfeld, das für das Wohlbefindender Herreach gedacht war.

Der Ansturm der beiden semimateriellenGestalten erschütterte die Strukturen desSchirms. Immerhin gelang es ihnen nochnicht, ihn zu durchdringen. Vielleicht legtePresto Go auch keinen Wert darauf.

Die Terraner mußten erschrocken erken-nen, daß die Herreach über ein nicht zu un-terschätzendes Potential verfügten. Natürlichbestand die Möglichkeit, das Schutzfeld zuverstärken, aber das hätte das Faß vermut-lich zum Überlaufen gebracht. Presto GosDemonstration war kurz und beeindruckend,gerade ausreichend, um den Ernst der Lagezu verdeutlichen.

Es war klar, daß den Terranern nur nochder Abzug blieb. Ihnen blieben lediglichzwei Tage, um die Arbeiten voranzutreibenund darauf zu hoffen, bis dahin dem Ge-heimnis auf die Spur zu kommen.

Es blieb Myles Kantor nichts anderes üb-rig, als Milas und Nadjas Drängen nachzu-geben.

11.Letzter Versuch

»Wir sind doch noch gar nicht bereit da-für«, sagte Nadja leise zu ihrer Schwester.

Die Zwillinge hatten sich in einen Ruhe-raum zurückgezogen, um sich für die bevor-stehende Untersuchung zu entspannen.

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»Red keinen Unsinn«, widersprach Milastreng.

Aber in ihrer Stimme lag ein leichtes Zit-tern, das Nadja zeigte, daß auch sie sich ih-rer Sache nicht ganz sicher war.

»Du bist selbst nicht überzeugt davon«,sagte sie direkt.

»Hmm … ich … doch!«»Du lügst!«»Nadja, wir haben schon ganz andere Sa-

chen durchgestanden!«»Ganz andere, du sagst es. Nichts war wie

dies hier«»Sollen wir's abblasen?«Eine rhetorische Frage. Natürlich würden

sie nicht kneifen. Sie würden niemals einersolchen Herausforderung weichen, nur weilsie ein schlechtes Gefühl hatten. Sie warenviel zu neugierig, ja fasziniert.

Die Vandemars konnten es nicht glauben,etwas zu begegnen, dem sie nicht gewach-sen waren. Sie mußten dem Geheimnis aufden Grund gehen, und wenn es das letztesein sollte.

Vielleicht war das auch ihre Bestimmung.Ihre Begabung mußte genutzt werden, sonstwäre sie verschwendet. So zumindest sahensie es.

»Gib's zu, Mila. Du hast ein schlechtesGefühl. So eins hatten wir noch nie,stimmt's? Es ist, als ob alles sich irgendwiedem Ende nähert. Es ist, als ob …«

»Wir tun, was wir tun müssen«, unter-brach sie Mila.

Natürlich konnte sie ihrer Schwesternichts vormachen. Sie waren eins, untrenn-bar miteinander verbunden. Keine konnteohne die andere überleben.

Und so hatten sie beide auch dasselbe Ge-fühl, das sie zwang, im stillen Abschied zunehmen …

*

Myles Kantor gegenüber gaben sich dieMutantinnen zuversichtlich und munter wiestets.

»Wir haben uns vollständig erholt, wirk-

lich! Außerdem haben wir keine andereWahl. Wir müssen handeln, Myles. Sieh dasdoch ein. Ohne Risiko geht nun einmalnichts. Aber wir sind alt und erfahren genug,solche Herausforderungen durchzustehen«,behauptete Mila gelassen. »Und wenn wirdir sagen, daß wir zu hundert Prozent bereitsind, dann entspricht das der Wahrheit.«

Der Wissenschaftler sagte nichts darauf,es gab auch nichts zu sagen. Die Zeit dräng-te, also mußte er den beiden Mutantinnenvertrauen, seine Gefühle vollkommen außenvor lassen. Vielleicht war er auch schondurch die ganzen Vorgänge übersensibili-siert.

Wenigstens hatte es Presto Go bei einerDemonstration belassen, und so herrschtewenigstens außerhalb des SchutzschirmsRuhe. Die 5000 Herreach hatten ihr Gebetbeendet, sich jedoch nicht getrennt. Sie war-teten auf das Zeichen ihrer obersten Künde-rin, um erneut in Gebetstrance zu versinken.

Die 200 Neuen Realisten waren innerhalbdes Schutzschirms verblieben und wartetenebenfalls auf ein Zeichen: von Caljono Yai,um im Notfall den beiden PSI-Begabten bei-zustehen.

Die übrigen Aktivitäten am Pilzdom wa-ren für die Dauer dieses Experiments voll-ständig eingestellt worden, um die Zwillingenicht abzulenken.

Diese hatten sich inzwischen auf den Lie-gen in der behelfsmäßigen Medo-Stationniedergelassen und sich an die medizini-schen Geräte anschließen lassen. Im Notfallkonnte sofort gehandelt werden.

Es bestand also eigentlich kein Grund zurSorge - eigentlich …

*

Die Außenhülle des Pilzdoms zu durch-dringen, stellte diesmal kein Problem fürMila mehr dar. Sie wußte genau, wie sie sichverhalten mußte, und führte Nadja behutsamin das Innere.

Die Schwestern wollten ihre Aufmerk-samkeit auf die Pilzkrone richten, denn sub-

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planetar gab es nichts zu entdecken. Abervielleicht in dem über dem Boden liegenden,sichtbaren Teil …

Doch schon beim ersten Versuch wurdensie zurückgeschleudert und fanden sich -mental - außen vor dem Pilzdom wieder.Den Weg von innen, von unten nach obenwie über ein Treppenhaus zu versuchen,funktionierte also nicht. Der Widerstand warso mächtig gewesen, daß sie es auf dieseWeise kein zweites Mal versuchen wollten.

Schweißgebadet, am ganzen Leib zitternd,zogen sie sich in ihre Körper zurück.

»Ist alles in Ordnung?« fragte Myles Kan-tor besorgt.

Caljono Yai beobachtete aufmerksam,sagte jedoch nichts.

»Ja, alles okay«, keuchte Mila. »Ist einsehr widerspenstiges Ding. Aber es gibt janoch andere Wege. Nur ein bißchen ver-schnaufen, dann versuchen wir's erneut.«

Die Instrumente zeigten nichts an, wasAnlaß zur Sorge bildete, die Biokurven wa-ren gleichmäßig, ebenso die Pulsfrequenzen.Das Zittern hatte rasch nachgelassen, undder Schweiß trocknete bereits. Sie machtenbeide einen stabilen, kräftigen Eindruck.

»Also, weiter«, sagte der Wissenschaftler.Die Hüllenstruktur im oberen Drittel zu

durchdringen, stellte sich als weitausschwieriger und kräfteraubender heraus, alsdie Vandemars es sich jemals vorgestellthätten. Nichts von den bisherigen Erfahrun-gen half; immer wieder wurden sie zurück-geschleudert, und schon nach wenigen Mi-nuten fühlten sie sich am Rande ihrer Kräfte.

Es gab kein Hineinkommen, jeder Wegschien versperrt. Die silbrige, vollkommenglatte Außenhülle des Doms schien auch inihrer Struktur absolut undurchdringlich zusein.

Irgendwo mußte es aber einen Ansatz-punkt geben, eine Verbindung, die gelockertund gelöst werden konnte.

Myles Kantor, der die flatternden Augen-lider und die konvulsivischen Zuckungender Schwestern mit immer größerer Sorgebetrachtete, versuchte sie zurückzuholen.

Aber sie reagierten nicht, höchstens schie-nen sie sich gegen eine äußere Beeinflus-sung zu wehren.

»Ich habe den Eindruck, als ob sie sich aneiner Stelle festgebissen hätten«, meinteCaljono Yai plötzlich. »Wenn wir sie vondort trennen, müßten sie womöglich vonvorn beginnen. Und dafür werden ihre Kräf-te sicherlich nicht mehr reichen. Wir könnenjetzt nicht mehr zurück, Terraner. DieserWeg führt nur noch in eine Richtung.«

Myles Kantor starrte die Herreach an,dann gab er wortlos nach: Sie verfügte imGegensatz zu ihm über PSIKräfte und konn-te die Situation bestimmt besser beurteilenals er.

»Ich hätte es also nicht zulassen sollen«,murmelte er dann.

»Du hattest keine Wahl«, entgegnete sie,doch es klang nicht tröstlich.

Überhaupt stand die Mahnerin dem Gan-zen völlig emotionslos gegenüber. Gefahrund Tod - das bedeutete den Herreachnichts.

Wenn es geschah, so sollte es eben sein.Trauer oder Furcht kannten sie nicht.

Der Tod war unausweichlich. Wenn ernicht natürlich eintrat, so war das ebenSchicksal.

Myles Kantor fragte sich, ob die Herreachihrem Nachwuchs gegenüber wohl genausogleichgültig reagierten. Bestimmt, so beant-wortete er sich die Frage gleich selbst. Sonstwürde sich bei den nachfolgenden Genera-tionen irgendwann einmal etwas verändern.

Aber Liebe oder Fürsorge existierte beiden Herreach nicht - nur so etwas wie Sym-pathie und möglicherweise körperlichesVerlangen zu den bestimmten Zeiten.

In diesem Moment der Unruhe und desUnvermögens, etwas unternehmen zu kön-nen, war sich Myles nicht sicher, ob er Cal-jono Yai beneiden sollte oder nicht.

*

Schwester, da ist etwas! Ich habe etwasgesehen, aber es war ganz schnell vorbei,

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wie ein flüchtiger Hauch!Kann es sein, daß diese Struktur sich

ständig verändert und neu verschmilzt?Vielleicht bekommen wir deshalb keinen An-haltspunkt, weil wir uns den Veränderungennicht so schnell anpassen können.

Aber das ist ein Anhaltspunkt, glaub mir!Wir müssen weitersuchen!

Wie willst du das anstellen?Einfach der Strömung nach …Das ist zu gefährlich, Mila! Wir könnten

uns verlieren, wir sind ohnehin schon soschwach … ich bin müde!

Hast du Angst?Nein … doch! Davor, mich zu verlieren.

Ich spüre schon wieder diesen furchtbarenSog, der immer stärker wird, je mehr wirzwei uns anstrengen. Eben darum müssenwir uns treiben lassen. Wir haben keineWahl. Andernfalls müssen wir sofort aufge-ben. Vertrau mir, Nadja! Ich weiß, was ichtue …

Nadja vertraute ihrer Schwester. Sie wuß-te, wenn sie erst einmal einen winzigen An-haltspunkt gefunden hatte, konnte sie sichdaran festklammern und voranarbeiten, bissie den nötigen Halt gefunden hatten undNadja in Aktion treten konnte.

Und dann gelang es Mila plötzlich, durchdie schier unüberwindliche Mauer durchzu-stoßen - nachdem auch Nadja das seltsameGebilde, das Mila gesucht hatte, entdeckte.Es war nur der flüchtige Eindruck einer geo-metrischen Figur, die aussah wie ein flachesWabensymbol.

Mila steuerte sofort darauf zu - und dannwaren sie hindurch.

Und stürzten ins Nichts …Was zuvor an ihrer geistigen Substanz ge-

zehrt hatte, drohte sie nun vollends zu ver-schlingen. Sie hatten das Gefühl, auf einerTodesspirale durch die Ewigkeit zu rasen,mit unglaublicher Geschwindigkeit, durchunendliche Zeiten und Räume hindurch.

Es war, als würden sie wie aus einer ande-ren Dimension immer wieder an verschiede-nen, Lichtmillionen Jahre voneinander ent-fernten Orten des Standarduniversums her-

auskommen, erneut eintauchen und über an-dere, übergeordnete Räume oder Dimensio-nen wieder zurückschnellen.

Die Zwillinge hatten keinerlei Einfluß aufdieses Geschehnis. Sie konnten weder dieGeschwindigkeit verlangsamen noch dieRichtung bestimmen, noch genau erkennen,was sie umgab. Sie rasten durch die Ewig-keit, tauchten ein, schnellten zurück, in end-losen Spiralen und Kreisen, hinund herge-schleudert wie in einem rotierenden Raummit glatten Wänden, in dem es keinen Haltgab. Nur daß dieser Raum über alles hinaus-reichte, was sie sich jemals erträumt hätten.

Die beiden begriffen im selben Moment,als sie das Wabensymbol durchstoßen hat-ten, daß sie verloren waren. Die Kräfte zehr-ten an ihnen, entrissen ihnen jeglichen Wi-derstand, saugten sie vollständig auf, schleu-derten sie umher wie Spielbälle in einemSturm.

Es gab nicht die geringste Chance, sich zuwehren. Sie konnten auch nicht mit der Strö-mung mittreiben und einen günstigen Mo-ment ausnutzen, um erneut die Strukturen zudurchstoßen. Dafür war die Geschwindigkeitviel zu hoch, mehr als unglaublich flüchtigeBruchteile von Millisekunden gab es nicht -keine Möglichkeit, sich darauf einzustellen,sich festzuhaken und dagegenzustemmen.

Als Gefangene des furchtbaren Stromskonnten sie nie mehr in die Realität zurück-kehren.

Nie wieder …Irgendwann begannen Mila und Nadja zu

schreien.Sie wurden augesaugt, ausgelaugt, bis

nicht mehr als eine Hülle von ihnen übrigb-lieb, und das war noch nicht genug. IhreKräfte versiegten, und sie starben, aber nichtganz. Sie verloren das Bewußtsein nur sokurz, daß sie es nicht merkten.

Sie konnten sich nicht in der Sehnsuchtnach dem Stillstand, nach der leeren Dun-kelheit ohne Schmerzen und Träume verlie-ren. Sie konnten nicht darauf hoffen, denVerstand zu verlieren, denn er war bereitsverloren.

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Es war der Tod, und doch nicht ganz.Noch ein Schritt weiter.Es war die Ewigkeit …

*

»Großer Gott, unternehmt etwas!« schrieMyles Kantor die Mediker an, die sich ratlosum die Liegen der Zwillinge scharten.

Die medizinischen Geräte erlitten fasteinen mechanischen Kollaps, als die Anzei-gen komplett verrückt spielten und dann ver-siegten.

Als erstes erloschen die Gehirnströme.Aus rasenden Zickzack-Kurven, die jedesMaß überschritten, wurde von einem Mo-ment zum anderen die absolute Null-Linie.

Dann setzten in rascher Folge nacheinan-der sämtliche Körperfunktionen aus, bis sichauch hier die Flatline bildete.

Reanimationen wurden eingeleitet. KeineReaktion.

»Sie sind tot«, schnarrte ein Medo-Robot.Er war eine Maschine, seine Aufgabe war

es, den Status quo festzustellen. Für ihn warder Kampf beendet.

»Seid ihr verrückt?« schrie der Wissen-schaftler außer sich. »Macht gefälligst wei-ter! Gebt nicht auf!«

»Die Anzeigen sind aber …«»Ich gebe einen Dreck auf die Anzeigen!

Holt sie zurück!«Die Mediker machten sich erneut an die

Reanimation; sie wußten, daß es keinen Er-folg mehr bringen konnte. Sie waren erfah-rene Ärzte, die dem Tod nicht das erste Malbegegneten. Sie kannten sein Gesicht undwußten, wann noch Hoffnung bestand undwann nicht.

Aber sie machten weiter, Myles Kantorzuliebe. Schaden konnte es nicht …

*

… nein, tot waren ihre Geister noch nicht.Nicht in dieser Ewigkeit, wohl aber in der

Dimension, in die sie gehörten. Das wußtenbeide, und sie waren froh über das starke

Band, das sie selbst in dieser Endlosschleifezusammenhielt.

Myles Kantor hatte offenbar recht gehabtmit seiner Befürchtung, daß sie diesen Ein-satz nicht überleben würden. Ironie war nur,daß sie ihren eigenen Tod bis in alle Zeitenhinaus miterleben durften, ohne Aussicht aufErlösung.

Im vertrauten Standarduniversum warenihre Körper sicherlich schon gestorben, derletzte Rest von Gehirnaktivitäten versiegt.Sie würden beerdigt werden und vielleicht ineinem winzigen Bruchteil einer Millisekun-de daran teilnehmen, bevor sie wieder in dieSchleife zurückgeschleudert wurden.

Sie konnten nie wieder an Expeditionenteilhaben, obwohl sie lebendig waren und ir-gendwo zwischen den Dimensionen herum-schwirrten.

Niemand konnte sie hier finden, niemandsie retten.

Das Schlimmste war dabei das Gefühl,versagt zu haben. Sie hatten einen Weg ge-funden - hinein, aber nicht mehr hinaus.

Ebenso, wie sie umhergeschleudert wur-den, drehten sich ihre Gefühle im Kreis undkamen immer an denselben Punkt zurück.

Vernünftig nachzudenken hatte keinenSinn, sie konnten ohnehin nichts unterneh-men.

*

Aber jemand anderer konnte etwas unter-nehmen. Daran hatten Mila und Nadja in ih-rer Hoffnungslosigkeit nicht gedacht.

Deshalb waren sie über alle Maßen er-staunt, als sich vor ihnen plötzlich etwas bil-dete. Etwas, das in dieser rasenden Schleifestabil blieb und sich sogar noch manifestier-te.

Eine Illusion, aber so lebensecht, daß Mi-la und Nadja glaubten, einen riesigen, wahr-haftig vier Meter großen Herreach in Fleischund Blut vor sich zu sehen. Er wirkte sehrwürdig, gekleidet in ein weißschimmerndesGewand.

»Ekrir …«

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War auch das eine Illusion, ihren Geisternvorgegaukelt, die doch allmählich demWahnsinn anheimfielen?

Nein, sie hatten es beide deutlich vernom-men. Der Greis wiederholte seine Aussage.

»Ich bin Ekrir, und ich bin gekommen,euch zu retten«, hallte die Stimme durch dieEwigkeit.

Er hielt ihnen seine vierfingrigen Händeentgegen, und Mila und Nadja ergriffen -ohne zu zögern - je eine Hand.

Ihr rasender Fall stoppte abrupt, und dieSicht wurde klar.

Endlich konnten sie die Strukturen umsich herum erkennen - wenngleich auchnicht mehr.

Der weise Ekrir hielt sie fest bei den Hän-den, während er sie zielsicher aus dem aber-witzigen Labyrinth der Dimensionen führte.

12.Und noch einmal …

»Ein Wunder!« rief Myles Kantor.»Die Geräte sind kaputt!« behauptete ein

Mediker.»Es ist alles in Ordnung«, lautete die la-

konische Antwort des Medo-Robots.Fast gleichzeitig schlugen Mila und Nadja

die Augen wieder auf.Es waren nur einige wenige Minuten ver-

gangen, aber sie waren Kantor wie eine hal-be Ewigkeit erschienen.

»Wie fühlt ihr euch?« fragte er unendlicherleichtert.

»Wie durch den Fleischwolf gezwirbelt«,seufzte Nadja.

Gleich darauf schliefen beide ein.Am nächsten Tag kamen die beiden Gäa-

Geborenen erholt und munter zu sich; derlange Schlaf und der Zellaktivator verhalfenzu einer raschen Regeneration.

Caljono Yai war ebenfalls anwesend undbestätigte die Vermutung der Schwestern,daß der weise Ekrir keineswegs eine reineIllusion, sondern ein in der Gebetstrance er-schaffenes semimaterielles Wesen war.

Alle 200 Neuen Realisten hatten dazu bei-

getragen: Caljono Yai hatte schnell und rich-tig gehandelt, um die beiden Frauen in dieWirklichkeit zurückzuholen.

Es war gar nicht so einfach, alle Erlebnis-se in der richtigen Reihenfolge in Worte zukleiden.

Aber sie waren nun von einem überzeugt:»Der Pilzdom ist eine Art Transmitter zu

fernen, unbekannten Sternenräumen«, be-richtete Mila. »Wie eine … Brücke in dieUnendlichkeit! So kam es mir jedenfalls vor,als wir auf dem Rückweg waren; ich glaubteeine Brücke zu sehen, mit Brettern und Boh-len … Wir stürzten in unendlich viele unbe-kannte Fernen und wurden wieder zurückge-schleudert, um von neuem transmittiert zuwerden. Dadurch, daß nur unsere Bewußt-seine hineingelangten und vermutlich auchnicht über den richtigen Zugangskode ver-fügten, kam es zu dieser Endlosschleife. DerTransmitter reagierte auf uns, aber auffalsche Weise, und wir waren darin gefan-gen.«

»Wir konnten Strukturen erkennen, alswir zurückgeführt wurden«, ergänzte Nadja.»Die Transmitter-Theorie wird auch durchunsere früheren Ergebnisse, nämlich daß dieInnenmaße viel größer sind als die Außen-maße, unterstützt. Und der weise Ekrir hatuns nicht nur das Leben gerettet, sondernauch einiges gezeigt. Deshalb konnten wiruns einigermaßen Klarheit verschaffen.«

»Das würde zudem erklären, wie Kumme-rog nach Trokan verschlagen worden ist«,sinnierte Myles Kantor.

»Ja, und es erklärt darüber hinaus, wes-halb unsere Freunde nicht mehr im Pilzdomsind«, sagte Mila. »Wir haben keine Spurvon ihnen entdecken können. Sie sind mitSicherheit nicht mehr dort anwesend.«

»Was wollt ihr damit sagen?« ließ sich indiese halbe Euphorie hinein Caljono YaisStimme auf einmal vernehmen.

Die Menschen hatten die junge Mahneringanz vergessen.

Zu behaupten, -daß keiner mehr im Pilz-dom anwesend wäre, mußte sie erst einmalverdauen.

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Andererseits aber zu hören, daß GottKummerog über eine Brücke in die Unend-lichkeit auf die Welt gekommen sei, wäre ei-ne gute Erklärung für die Urgeschichte. Erkonnte diese Brücke aus unbekanntemGrund nicht wieder betreten und erschufdeshalb die Herreach, damit sie ihm wiederauf den Weg helfen konnten.

Das bedeutete, daß der Gott nicht mehr imPilzdom anwesend war - und daß er wie jenedrei Fremden nach der Öffnung des Tempelsdie Brücke in die Unendlichkeit wieder be-treten hatte.

Er war nicht auf der fernen Welt Camelotgestorben, jetzt hatte Caljono Yai endlichden Beweis. Mochte er auch derzeit auf derWelt nicht mehr anwesend sein, so spieltedas keine Rolle.

Die Wege eines Gottes waren unergründ-lich. In den Geistern und Gebeten der Herre-ach würde er stets anwesend sein.

Vielleicht fand sich im Pilzdom sogar einWeg, den Kontakt mit Kummerog wieder-herzustellen. Ja, ganz bestimmt sogar!

Die beiden PSI-Begabten hatten deutlichgemacht, daß es diese Brücke gab, daß manaber den richtigen Schlüssel dafür brauchte,um sie betreten zu können.

»Wir sollten es noch einmal versuchen«,sagte sie plötzlich laut und wunderte sichüber den Klang ihrer eigenen Stimme.

Die Terraner sahen sie an; wahrscheinlichverwundert, wie sie sich zusammenreimte.

»Ja, wirklich«, bekräftigte die Mahnerin.»Ich werde mit Vej Ikorad sprechen. DieGeheimnisse sind noch nicht gelöst. Und ichhatte recht. Nun muß ich Kummerog nurnoch finden, um Presto Go den letzten Be-weis bieten zu können.«

*

»Es beunruhigt mich, daß Caljono Yaiimmer noch so hartnäckig an ihrem Glaubenfesthält«, sagte Nadja zu ihrer Schwester, alssie allein waren.

Die Zwillinge bereiteten sich auf einen er-neuten und endgültig letzten Vorstoß vor.

Die Frist lief bald ab, und sie wollten dieverbliebene Zeit um jeden Preis nutzen. Siewaren nun schon so weit gekommen, damußte es noch ein Stück weiter gehen.

Vielleicht fanden sie sogar einen Weg,Presto Go von der Durchsetzung ihres Ulti-matums abzubringen.

»Nun, ich finde es so besser, als wenn sieihren Glauben verloren hätte«, meinte Mila.»Stell dir vor, wie es dann in ihr ausgesehenhätte. Ihr Weltbild wäre zusammengebro-chen. Sie hätte wahrscheinlich den Sinn allerDinge verloren. Laß ihr diesen Glauben! Siemuß eines Tages von selbst erkennen, daßKummerog wirklich tot ist und sie ihn niemehr wiederfinden kann. So wie wir Perryund die anderen nicht aufgegeben haben,gibt auch sie ihren Glauben und ihren Gottnicht auf. Wir haben keine Beweise, daß un-sere Freunde noch leben, aber wir suchenweiter. So ist es auch bei Yai. Sie verlangtschlüssige Beweise, die sie selbst sehen undverstehen kann. Das ist gut so.«

»Ja, schon. Aber sie tut mir leid. Irgend-wie habe ich das Gefühl, als ob wir ihre Gut-mütigkeit schamlos ausnutzten.«

»Sie hilft uns freiwillig, und die anderen200 Herreach auch. Fang jetzt nicht mit mo-ralischen Bedenken an! Schließlich wollendie Herreach auch wissen, was mit diesemPilzdom los ist. Und mit ihrer Hilfe sowiemit Ekrir werden wir noch einiges mehr her-ausfinden, du wirst sehen.«

Nadja seufzte. »Also dann, auf ein neues…«

*

Sie waren nur beinahe in diesem unkon-trollierbaren Strudel aus Hyperströmungenumgekommen - was bedeutete, daß sie esauf jeden Fall noch einmal versuchen woll-ten.

Myles Kantor versuchte diesmal gar nichterst, es ihnen auszureden. Noch dazu, da erCaljono Yai und die Neuen Realisten ebensogegen sich hatte. Er vertraute darauf, daß derweise Sucher Ekrir den Zwillingen auch

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diesmal Beistand leisten konnte.Sie waren nicht so weit gekommen, um

nun aus Angst aufzugeben. Nur so konnteein Weg zu den verschollenen Freunden ge-funden werden.

Mila und Nadja Vandemar fühlten sichkräftig genug, einen erneuten Vorstoß zuwagen. Sie waren auch gut vorbereitet aufdas; was sie erwarten würde - insofern dürf-te es keine bösen Überraschungen geben.

Die beiden konzentrierten sich langsam,während draußen Caljono Yai und 200 NeueRealisten in Gebetstrance versanken. Sobaldder weise Sucher Ekrir erschienen war,machten sich die Schwestern auf den Weg.

Es zeigte sich, daß es mit der Begleitungund Unterstützung dieses semimateriellenWesens tatsächlich sehr viel besser ging. Siekonnten mühelos durch die Außenhülle hin-eingelangen und die Strukturen wenigstensteilweise entwirren.

Die katastrophale Sogwirkung blieb aus,so daß sie sich genügend Zeit nehmen konn-ten.

Die Vandemars und der Weise bewegtensich durch den ganzen Pilzdom, aber auchjetzt blieb der größte Teil hinter verwirren-den Mustern und Strukturen verborgen.Selbst die Hohlräume im unteren Bereichkonnten nicht genau vermessen werden.

Die Sucher konzentrierten sich nun mehrauf den oberen »Transmitter«-Bereich, derseine Schrecken weitgehend verloren hatte,aber auch nichts Spektakuläres mehr bot.

Bis sie zufällig auf den Ausgang eines Di-mensionstunnels stießen, der sich inmittendieses verwirrenden Labyrinths öffnete. Mi-la hielt daran fest, bevor er ihnen wieder ent-glitt, unterstützt von Ekrir und Nadja.

Nachdem sie einigermaßen festen Halthatten, tastete die Strukturseherin sich vor-sichtig weiter. Sie würde es natürlich nichtwagen, mit Nadja hindurchzugehen - dennwahrscheinlich konnte ihnen dann nicht ein-mal mehr Ekrir helfen.

Aber sie wollte einen Blick auf das»Dahinter« werfen und versuchte die Struk-tur zu durchschauen. Nadja unterstützte sie

vorsichtig dabei, als ob sie die dunklen Vor-hänge vor einem Fenster langsam öffnenund beiseite schieben wollte.

Und so war es dann auch fast. Plötzlichschien sich ein schwarzer Vorhang vor ihnenzu öffnen und den Blick auf eine helle Weltfreizugeben.

Die Schwestern erblickten - weiterhin wiedurch ein Fenster - den Ausschnitt einer hü-geligen, braunen Landschaft. Dieses Braunwar nicht mit der Farbe der Unfruchtbarkeitnach irdischem Maßstab vergleichbar.

Ganz im Gegenteil: Die Welt wirkte hellund blühend, sie lud geradezu zu einem Be-such ein. Es reizte, über die Hügel zu strei-fen, sich fremde Gerüche um die Nase strei-chen zu lassen und eine sanfte Brise auf derHaut zu spüren.

In der Ferne am Horizont war ver-schwommen die skurrile Skyline einer Me-tropole zu erkennen - die sogar nach galakti-schem Standard futuristisch wirkte.

Es war ein überaus friedliches, Ruhe aus-strömendes Bild, das dazu einlud, daran teil-zuhaben und alle Probleme zu vergessen.

. Plötzlich zeigte sich ein fremdes Wesen,das sich langsam durch den Fensteraus-schnitt bewegte.

Es war über zwei Meter groß, silberhäu-tig, von humanoider Form, nur extrem dürr.Sein Rumpf duchmaß höchstens 30 Zenti-meter.

Mehr konnten die Mutantinnen nicht er-kennen, denn das Wesen hatte den schmalenAusschnitt durchquert und verschwand aufder anderen Seite.

Kurz darauf wurde die Sicht verschwöm-men und der Einfluß von Ekrir schwächer.Die Schwestern spürten sogleich eine einset-zende Sogwirkung und zogen sich augen-blicklich von dem Dimensionstunnel zurück.

Sie versuchten, Ekrir auf eine andere Stel-le des Doms zu konzentrieren, doch dasZeitmaß war überschritten. Nicht nur dieMutantinnen verspürten die beginnendeSchwäche; auch das Abbild des weisen Su-chers wurde durchsichtiger und schwankteein wenig unsicher.

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Es blieb ihnen nichts anderes übrig, alssich auf den Rückweg zu machen.

Völlig erschöpft kamen sie wieder in der»realen« Welt an. Auch Caljono Yai und die200 Neuen Realisten fühlten sich am Randihrer Kräfte. Sie benötigten erst einige Au-genblicke völlige Ruhe, bevor sie sich wie-der rühren konnten.

*

Nachdem sich alle Beteiligten erholt hat-ten, erstatteten Caljono Yai und die Vande-mars den Wissenschaftlern Bericht.

Auch die junge Mahnerin war nun über-zeugt, daß es sich bei dem Pilzdom um ein»Tor zu anderen Welten«, also eine ArtTransmitter handelte.

Die Herreach zeigte sich völlig fasziniertvon dem Blick durch den Dimensionstunnelauf jene andere, fremde Welt; umso mehr,da sogar die Galaktiker zugeben mußten, et-was Vergleichbares noch nicht entdeckt zuhaben.

Die Galaktiker hatten keinerlei Ahnung,wie weit diese Welt entfernt sein oder inwelcher Galaxis sie sich befinden mochte.Auch ein Wesen dieses Aussehens - silber-häutig, spindeldürr, humanoid und offenbaretwas größer als Herreach - war ihnen nochnie begegnet.

»Es könnte Kummerog sein«, sagte Caljo-no Yai.

Niemand wunderte sich über diesen Aus-spruch.

Ihr Wunsch, den Gott zu finden, war sogroß, daß sie sich mit zäher Verzweiflung anjeden Strohhalm klammerte. Sie ging nichteinmal davon aus, daß der Gott den Herre-ach ähnlich sein müsse.

Aber dieses silbrig schimmernde Wesenhatte würdig ausgesehen. Es gab zumindestkeinen Gegenbeweis, daß es nicht Kumme-rog sein konnte.

Außer der hartnäckigen Behauptung derTerraner, daß Kummerog bei der Flucht vonCamelot zu Tode gekommen sei. Diese wur-de aber an dieser Stelle nicht wiederholt.

Wozu auch: Yais Standpunkt stand solan-ge unverrückbar fest, bis sie sich selbst da-von überzeugt hatte, daß nicht irgendeinFremdling, sondern Kummerog umgekom-men war. Warum also sollte sie nicht hof-fen? Dies trieb sie wenigstens weiter, denDom zu erforschen und die Terraner zu un-terstützen.

Und schließlich hing jeder irgendeiner Il-lusion nach. Weshalb sollte man CaljonoYai verärgern, nur weil sie an ihrem Glau-ben hing?

»Es gibt also eine Verbindung zu anderenGalaxien unseres Universums, von denenwir noch nicht einmal zu träumen wagten«,sinnierte Myles Kantor.

In seine Augen trat das gewisse Leuchten,das seinen langjährigen Mitarbeitern, Freun-den und Kollegen nur zu bekannt war.

»Ja, und irgendwo dort werden sich viel-leicht Perry Rhodan, Reginald Bull undAlaska Saedelaere befinden«, brachte JerryArgent ihn auf den Boden der Tatsachen zu-rück.

»Vielleicht sollten wir …«, begann Nadja,doch sie wurde unterbrochen.

Für weitere Gespräche reichte die Zeitnicht mehr.

Kurz vor Ablauf der Frist entschloß sichPresto Go, eine neue Aktion einzuleiten.

13.6. März 1289 NGZ

Mila und Nadja Vandemar hatten in kurz-er Zeit recht viel herausgefunden, aber einenerneuten Vorstoß konnten sie nicht mehr un-ternehmen - gerade, als es wirklich interes-sant wurde.

Mit der Unterstützung der 200 NeuenRealisten wäre ihnen bestimmt noch einmalein »Rundgang« durch den Pilzdom gelun-gen. Vielleicht hätten sie sogar den Steuer-mechanismus gefunden.

Aber die oberste Künderin hatte nicht vor,auch nur einen Augenblick der Frist unge-nutzt verstreichen zu lassen.

Die 5000 Herreach, die den Pilzdom bela-

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gerten, schlossen sich erneut zu einer Ge-betsrunde zusammen und verfielen singendin Trance.

Presto Go führte sie selbst an. Sie erschufmit ihren Anhängern nicht nur den ZwergPallomin und den vielgestaltigen Brodik,sondern geradezu ein ganzes Heer halbstoff-licher Gestalten, die sie gegen den Schutz-schirm vorschickte.

Das Geschrei der Wesen war ohrenbetäu-bend. Unter ihrem Ansturm hielt der schwa-che Schutzschirm nicht lange stand. Erflackerte bald und brach schließlich zusam-men.

Die 200 Realisten waren bereit und ver-suchten, Presto Gos Heer aufzuhalten, abergegen das übermächtige geistige Potentialvon 5000 Artgenossen hatten sie keineChance.

Zudem mußten sie sich erst wieder an dieveränderten Umstände gewöhnen: das direk-te Sonnenlicht und die Wärmestrahlung.

Presto Go verausgabte ihre Jünger abernicht zu sehr. Nachdem der Schutzschirmzusammengebrochen war, zog sie die An-hänger sofort zurück.

Sie wollte nun wohl zuerst abwarten, obdie Terraner ihrem Ultimatum Folge leiste-ten, bevor sie einen neuen Angriff startete.

»Wir müssen aufhören!« sagte Vej Iko-rad.

»Gerade jetzt!« bedauerte Caljono Yai.»So weit sind wir inzwischen schon gekom-men, daß wir in den nächsten Tagen sicher-lich noch weitere Geheimnisse hätten lösenkönnen - oder den Pilzdom zugänglich ma-chen! Ich werde versuchen, noch einmal mitPresto Go zu reden …«

Obwohl sie fast einen Schwur getan hatte,mit der fanatischen obersten Künderin nichtmehr zu sprechen. Aber sie war so mit neuerZuversicht erfüllt, daß sie glaubte, eineWende einleiten zu können.

»Das hat augenblicklich keinen Sinn«,lehnte Vej Ikorad ab.

Jerry Argent stimmte zu.»Wir müssen zuerst unseren Willen zei-

gen. Wir werden den Platz hier räumen. Au-

ßerdem dürfen wir mit unserer Sturheit kei-nen Konflikt unter euch Herreach heraufbe-schwören. Ihr werdet euch daher ebenfallszurückziehen - zu euren eigenen Leuten. Esmuß Ruhe einkehren, dann können wir wei-tersehen.«

Argents Aufforderung wurde nicht mitBegeisterung aufgenommen, aber wederTerraner noch Herreach hatten eine andereWahl. Langsam machten sie sich an den Ab-bau der behelfsmäßigen Siedlung.

*

Myles Kantor hatte nicht wenig Mühe,Mila und Nadja Vandemar zur Rückkehr aufdie ENZA zu bewegen.

Die Zwillinge waren bei weitem nicht be-reit, nun aufgeben zu müssen, nur weil eineFanatikerin dies wünschte. Widerstrebendgaben sie nach, aber erst, als auch Vej Iko-rad sie darum bat.

Caljono Yai begleitete sie allein zu ihremSchiff, um noch ein letztes Mal mit ihnen zusprechen und die Beweggründe für IkoradsBitte genau darzulegen.

»Nach den letzten Ereignissen bin ich ein-fach zuversichtlich, Presto Go doch umstim-men und ihr die Zusage entlocken zu kön-nen, daß wir die Untersuchungen zu einemspäteren Zeitpunkt erneut aufnehmen kön-nen. Es hat aber keinen Sinn, wenn ihr hierherumsitzt und wartet. Ich denke auch, eineErholungspause täte euch gut.«

»Wir haben doch ständig Erholungspau-sen«, wehrte Mila lächelnd ab.

»Nun ….da ist eben noch das Problem,daß ihr unserer obersten Künderin mit eurenFähigkeiten ein Span im Nas-Organ seid.Sie möchte nichts mit eurem Talent zu tunhaben. Sie fühlt sich diesen PSI-Kräften un-terlegen und weiß nicht, wie sie dem begeg-nen kann.«

»Fürchtet sie es?«»Das weiß ich nicht. Nein, ich glaube

nicht. Presto Go fürchtet so leicht nichts.Zumindest nicht in dem Sinne, was ihr dar-unter versteht.«

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Caljono Yais Nas-Organ plusterte sichauf.

»Es ist sehr schwer, euch zu verstehen.Viele Worte können wir übersetzen, aberdennoch haben sie nicht unbedingt dieselbeBedeutung. Ihr seid äußerst seltsame Wesen,wenn ich das mal so sagen darf.«

»Das könnten wir zurückgeben«, meinteMila freundlich.

»Herreach sind nichts Besonderes«, ver-setzte Caljono Yai. »Ich glaube nicht, daßsie jemals eine wichtige Rolle in der voneuch so vielzitierten Weltgeschichte spielenwerden. Wir wollen auch nichts damit zu tunhaben. Bitte verzeiht, wenn ich so direkt bin,aber so etwas wie Freunde werden wir wohlniemals werden. Wir wollen nichts von eu-rer Lebensart übernehmen, sondern weiter-hin nur unser Leben auf dieser Welt hierführen, mag sie nun auch Trokan heißen.«

»Das verstehen wir voll und ganz«, versi-cherte Nadja. »Wir werden euren Wunschselbstverständlich respektieren - aber dasgeht leider erst, wenn wir unsere Untersu-chungen abgeschlossen haben. Unsere Gala-xis wird von etwas Unbekanntem heimge-sucht, und dem müssen wir begegnen. Dasist auch für euch von großem Interesse.«

»Das weiß ich. Deshalb könnt ihr weiter-hin meiner und Vej Ikorads Unterstützungsicher sein. Nachdem ihr euch vom Pilzdomzurückgezogen habt, werden die Neuen Rea-listen und ich nach Moond zurückkehrenund erneut versuchen, mit Presto Go Ver-handlungen aufzunehmen. Sie kann sich ein-fach nicht gegen alles stellen. Außerdemkann sie nicht ständig 5000 Jünger Kumme-rogs in Bereitschaft halten, wenn sie ander-weitig sehr viel notwendiger gebraucht wer-den.«

Caljono Yai deutete auf ihre verspiegelteBrille.

»Das Leben, das wir bisher geführt haben,ist uns nun für immer verwehrt. Eine neueZeit ist angebrochen, der wir uns anpassenmüssen. Wir werden zu Taggeschöpfen, ob-wohl die Sonnenstrahlen uns schrecklicheSchmerzen bereiten. Aber die Kälte der

Nacht ist uns ebenso unangenehm, und dieDunkelheit erst recht. Die meisten Herreachsind sicherlich noch durcheinander und ver-wirrt, was nun weiter geschehen soll. Wiewird sich unser Glaube weiterentwickeln?Werden wir uns jemals an den Wechsel vonHell und Dunkel gewöhnen - und inwieweitwird uns das verändern? Ihr habt uns dasÜberleben gesichert, aber ihr könnt nicht al-les für uns tun. Unsere Schlafstörungen, dieviele von uns gereizt und unsicher machen,müssen wir von allein in den Griff bekom-men. Auch unsere Zeugungsperioden sindvollkommen durcheinandergekommen.«

Die junge Mahnerin in der violetten Kuttedeutete erneut auf sich.

»Mein Zyklus und der aller anderen Her-reach-Frauen hätte längst beginnen sollen.Ich weiß nicht, ob es den Männern genausoergeht, aber zumindest verändert sich ihrGeruch nicht. Ich habe bisher einfach nichtdarauf geachtet, es ist mir nur einmal aufge-fallen, und dann habe ich darüber nachge-dacht. Vielleicht wird es nie wieder einenZyklus geben.«

Die Schwestern schwiegen betroffen. Die-se Worte zum Abschied zu hören, erleichter-te den Abflug nicht gerade.

Die Mahnerin hatte diese erschütterndeMitteilung jedoch so gelassen und emotions-los ausgesprochen, wie sie sich den meistenDingen gegenüber verhielt.

»Ich gehe nicht davon aus«, fuhr CaljonoYai fort. »Ich denke, es ist alles nur durch-einandergekommen und muß sich langsameinpegeln. Vielleicht ist es gar nicht soschlecht, daß es in dieser schweren Zeit kei-ne Geburten geben wird. Ich kann mir nichtvorstellen, daß wir alle zeugungsunfähig ge-worden sein sollen, nur weil es auf einmalTag und Nacht gibt. Nicht ein gesamtesVolk! Das wäre dann wirklich das Ende derHerreach, und eure Hilfe hätte unser Sterbennur hinausgezögert. Aber so ist die Naturnicht, so kann sie nicht sein. Auf diesertrockenen, karstigen Welt hat sich Lebenentwickelt, obwohl man es nicht für möglichhalten sollte - nun wird es bestimmt auch

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einen Weg zur Anpassung und Weiterent-wicklung geben.«

Die Mahnerin machte eine Pause, weil sieoffensichtlich zögerte.

»Ich möchte euch bitten, hierüber Still-schweigen zu bewahren«, sagte sie dann.»Eure Freunde, die Wissenschaftler, würdensonst nichts Besseres zu tun haben, als unssofort an irgendwelche Maschinen anzu-schließen und herumzuforschen. Wir wollendas aber nicht, sondern unser Schicksalselbst bestimmen.«

»Hast du mit den anderen darüber gespro-chen?«

»Ja. Sie sind meiner Ansicht. Nicht nurdie Neuen Realisten, auch die Jünger Kum-merogs. Es kommt, wie es kommen muß.Wenn es das Schicksal der Herreach ist, ein-fach auszusterben, dann werden sie das tun,egal, was eure Technik für uns bewirkenkann.«

»Hätten wir euch also nicht von Anfangan unterstützen sollen?« fragte Nadja lang-sam.

»Diese Frage kann ich nicht beantworten,da alle diese Geschehnisse unmittelbar in-einander übergegangen sind«, entgegneteCaljono Yai. »Man kann die Ereignissenicht mehr voneinander trennen. Vielleichtwäre ohne euren Anstoß die Prophezeiungnie erfüllt worden, dann wäre auch dies allesnie geschehen. Vielleicht hatte auch alles sokommen sollen. Kummerog selbst hat euchdazu bestimmt, uns in der Stunde der Not,wenn wir selbst nicht fähig sind zu handeln,beizustehen. Aber nun sind wir wieder in derLage, für uns zu entscheiden, was eure Auf-gabe damit beendet. Wenn wir mit euch wei-terhin zusammenarbeiten, so geschieht dasganz allein auf unseren eigenen Wunsch.«

Die Mahnerin verzog kurz ihr Nas-Organ»Ich erzähle euch das, weil ihr beide etwasBesonderes unter euren eigenen Leuten seidmit eurem PSI-Talent, das dem unseren aufgewisse Weise ähnlich ist. Damit stehen wiruns etwas näher. Ihr sollt nun nicht unmittel-bar etwas unternehmen, aber ich hoffe aufeuer Wort, wenn es eines Tages notwendig

sein sollte, uns mit den Terranern auseinan-derzusetzen. Trokan ist nur eine so kleine,unbedeutende Welt.«

Caljono Yai war stehengeblieben, als sieden Shift erreicht hatten, der die beidenSchwestern zur ENZA zurückbringen sollte.

Hinter ihnen waren die Abbauarbeiten imGange. Irgendwo schwirrte Myles Kantorherum und stritt mit Jeromy Argent über denneuen Standort.

Die Zwillinge hatten Gelegenheit, einenletzten Blick auf die äußeren Ruinen derStadt Moond zu werfen; ein ähnliches Bildbot sicherlich jede der kleineren Städte aufTrokan.

Dazwischen lebten weiterhin die Herre-ach: Die einen bauten auf, die anderen zogenneue Ackerfurchen, wieder andere gingenihrem Handwerk nach. Sie nahmen alle die-se Veränderungen gleichmütig hin, seien esnun die Schlafstörungen oder die erschüt-ternde Nachricht, vielleicht niemals wiederKinder bekommen zu können.

Ganz am Anfang hatte Myles Kantor ge-sagt, daß er die Herreach in gewisser Weisebeneidete. Damit hatte er durchaus recht ge-habt. Es gab eine Menge, woraus die Terra-ner lernen konnten.

Und auch die beiden Gäa-Geborenen hat-ten in diesen wenigen Tagen viel gelernt.-Sie hatten Caljono Yai vor allem als intelli-gente, aufgeschlossene Ansprechpartnerinschätzengelernt, die ihnen vorbehaltlos Ver-trauen entgegenbrachte, ohne dafür eine Ge-genleistung zu erwarten.

Manches war viel einfacher und klarer,nicht so verwickelt und hinter einer äußerenFassade versteckt wie in vielen anderen Tei-len des Galaktikums.

Die Herreach sagten, was sie dachten. Siebenötigten keine Diplomatie oder verschnör-kelte Redewendungen, besaßen nicht einmaleinen komplizierten Ehrenkodex, der das so-ziale Zusammenleben über alle Maßen hin-aus erschwerte und von dem natürlichenWesen und Charakter nicht mehr viel übrigließ.

Wüßten die Herreach über die Politik des

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Galaktikums, hätten sie wahrscheinlich ge-lacht - wenn sie Humor besessen hätten.

Ein in jeder Hinsicht faszinierendes Volk.»Wir wären gern noch geblieben«, sagte

Mila.»Ich weiß«, entgegnete Caljono Yai, und

ihr Nas-Organ zog sich nach unten. Es be-deutete Freude oder auch ein freundlichesLächeln. »Auch ich habe in diesen Tagensehr viel von euch gelernt und die Zusam-menarbeit genossen. Noch vor wenigen Zeit-perioden … Verzeihung, Monaten, wäredies nicht möglich gewesen. Aber ich habemich verändert, ich habe gelernt, daß manaufgeschlossen sein muß, um sich weiterzu-entwickeln. Vielleicht sehen wir uns wieder,wenn wir Presto Go endlich umstimmenkonnten. Ich gebe jedenfalls nicht auf, ob-wohl ich ihr bei unserer letzten Unterredungeiniges entgegengeschleudert habe. DochHerreach kümmern sich weder um die Ver-gangenheit noch sind sie nachtragend. Uns

interessiert nur das, was ist.«»Darum werdet ihr euch auch anpassen

können«, sagte Nadja. »Es wird wiedereinen Zyklus für euch geben, dessen bin ichsicher. Vielleicht schon bald.«

»Auf Wiedersehen, Caljono Yai«, schloßMila. »Es hat uns sehr gefreut, dich kennen-zulernen. Bewahr dir deinen Glauben, auchwenn er nicht unfehlbar ist.«

»Das werde ich tun«, versprach die jungeMahnerin und strich bedächtig über die Fal-ten ihres violetten Gewandes. »Ganz be-stimmt werde ich das tun.«

Die Herreach sah dem Shift nicht hinter-her, als er vom Boden abhob und langsamdavonflog. Sie drehte sich sofort um undmachte sich auf den Weg zu Vej Ikorad, umdie weitere Vorgehensweise mit ihm zu be-ratschlagen.

E N D E

Mila und Nadja Vandemar ist es gelungen, zumindest ein wenig über die verschollenen Un-sterblichen herauszufinden. Wo sich Perry Rhodan, Reginald Bull und Alaska Saedelaere auf-halten, ist den Menschen in der Milchstraße jedoch nach wie vor nicht bekannt.

Im PERRY RHODAN-Roman der nächsten Woche wechselt die Handlungsebene. RobertFeldhoff schildert im ersten Teil seines Doppelbandes die weiteren Abenteuer Perry Rhodansund Reginald Bulls in der fremden Galaxis Plantagoo. Sein Roman trägt den Titel:

DER FLUG DER TRONTTER

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