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Geschichtsmethode und -theorie - Geschichtstheorie Themenübersicht P1 Bedeutung von Theorien in der Geschichtswissenschaft (M. Kuchenbrod; 7 Seiten); Kuchenbrod - WWW: http://people.freenet.de/matkuch1/tutinha.htm Kuchenbrod - email: [email protected] P2 Tabelle mit Übersicht über Geschichtstheorien (2 Seiten) P3 Geschichtsschreibung der letzten zwanzig Jahre (7 Seiten) P4 Das Wertfreiheitspostulat (M. Kuchenbrod; 3 Seiten) P5 Der Idealtypus von Weber (M. Kuchenbrod; Link) P6 Der Kapitalismus als Idealtyp (M. Kuchenbrod; Link) P7 Anthropologische Grundlagen der Geschichtswissenschaft (M. Kuchenbrod; 7 Seiten) P8 Rationalität bei Weber (M. Kuchenbrod; Link): http://people.freenet.de/matkuch1/tutgehl.htm P9 Die Annanles (M. Kuchenbrod; Link): http://people.freenet.de/matkuch1/tutannal.htm P 10 Der asketische Protestantismus bei Weber (M. Kuchenbrod; Link): http://people.freenet.de/matkuch1/tutweb.htm ----------------------------------------------------------------- ---------------------------------------------- Die Bedeutung von Theorien in der Geschichtswissenschaft) von Matthias Kuchenbrod ”Welch seltsamer Widerspruch besteht ferner zwischen den aufeinanderfolgenden Einstellungen so vieler Historiker! Wenn es gilt, sich zu vergewissern, ob ein menschliches Tun tatsächlich stattgefunden hat, dann können sie sich dieser Frage nicht gewissenhaft genug widmen. Wenn sie aber zu den Gründen übergehen, die hinter diesem Tun stehen, geben sie sich mit der erstbesten Vermutung zufrieden und begründen diese mit irgendeinem jener nichtssagenden psychologischen Gemeinplätze, die nicht mehr und nicht weniger zutreffen als ihr jeweiliges Gegenteil.”

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Geschichtsmethode und -theorie - Geschichtstheorie

Themenübersicht

P1 Bedeutung von Theorien in der Geschichtswissenschaft (M. Kuchenbrod; 7 Seiten);Kuchenbrod - WWW: http://people.freenet.de/matkuch1/tutinha.htmKuchenbrod - email: [email protected] P2 Tabelle mit Übersicht über Geschichtstheorien (2 Seiten)P3 Geschichtsschreibung der letzten zwanzig Jahre (7 Seiten)P4 Das Wertfreiheitspostulat (M. Kuchenbrod; 3 Seiten)P5 Der Idealtypus von Weber (M. Kuchenbrod; Link)P6 Der Kapitalismus als Idealtyp (M. Kuchenbrod; Link)P7 Anthropologische Grundlagen der Geschichtswissenschaft (M. Kuchenbrod; 7 Seiten)P8 Rationalität bei Weber (M. Kuchenbrod; Link):http://people.freenet.de/matkuch1/tutgehl.htmP9 Die Annanles (M. Kuchenbrod; Link):http://people.freenet.de/matkuch1/tutannal.htmP 10 Der asketische Protestantismus bei Weber (M. Kuchenbrod; Link):http://people.freenet.de/matkuch1/tutweb.htm

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Die Bedeutung von Theorien in der Geschichtswissenschaft)

von Matthias Kuchenbrod

”Welch seltsamer Widerspruch besteht ferner zwischen den aufeinanderfolgenden Einstellungen so vieler Historiker! Wenn es gilt, sich zu vergewissern, ob ein menschliches Tun tatsächlich stattgefunden hat, dann können sie sich dieser Frage nicht gewissenhaft genug widmen. Wenn sie aber zu den Gründen übergehen, die hinter diesem Tun stehen, geben sie sich mit der erstbesten Vermutung zufrieden und begründen diese mit irgendeinem jener nichtssagenden psychologischen Gemeinplätze, die nicht mehr und nicht weniger zutreffen als ihr jeweiliges Gegenteil.”MARC BLOCH, >Apologie der Geschichte<

”Der große Nutzen der Theorien besteht darin, daß sie alte Tatsachen zusammenfassen und zu neuen hinführen. Sie sind nur eine von Menschen geschaffene Sprache, eine Art begrifflicher Kurzschrift... in der wir unsere Berichte über die Natur niederschreiben.”

”Wahrheit... in unseren Gedanken und Überzeugungen bedeutet genau dasselbe, was Wahrheit in der Wissenschaft ist. Diese Bedeutung besteht einzig und allein darin, daß Gedanken, die ja selbst nur Teile der Erfahrung sind, genau in dem Umfang wahr sind, als sie uns behilflich sind, uns in zweckentsprechende Beziehungen zu anderen Teilen unsrer Erfahrung zu setzen, diese Erfahrungen zusammenzufassen und, anstatt der unendlichen Reihe der einzelnen Phänomene nachzugehen, es uns möglich machen, uns mit Hilfe begrifflicher Abkürzungen innerhalb unserer Erfahrungen zu bewegen.”WILLIAM JAMES, >Der Pragmatismus<

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”Man muß die Möglichkeiten sehen, um das Wirkliche zu erfassen.”KARL JASPERS, >Max Weber<

Der pragmatische Kern der Theoriebildung: Theorien als Problemlösungen

Eine Theorie ist ein sprachliches Gebilde, das einen begründeten Erklärungsanspruch für eine Gruppe von Tatsachen erhebt. Entgegen einer weitverbreiteten Vorstellung bilden Theorien weder die Wirklichkeit ab, noch erfassen sie das "Wesen" dieser Wirklichkeit. Vielmehr greifen sie im Sinne einer "Komplexitätsreduktion" einzelne Fakten aus der Wirklichkeit heraus und verknüpfen sie kausal miteinander, d.h. sie stellen sie in ein Ursache-Wirkung-Verhältnis. Nur so erfüllen Theorien ihren grundlegenden Zweck, nämlich die Aufstellung einer rationalen Ordnung der Wirklichkeit, durch welche die Wirklichkeit für die Praxis wie für unser Deutungsbemühen "handhabbar" wird. In dieser "instrumentellen" Perspektive wird deutlich, daß jede Theorie in einem ihr vorangehenden theorielosen Zustand wurzelt. Eine bestimmte Datengruppe erscheint uns hinsichtlich ihrer inneren Beziehungen vollkommen transparent, eine praktische Situation kann mit Hilfe der vorhandenen Technologien problemlos bewältigt werden. In diesem Zustand sind Theorien bestenfalls als unbewußte, nicht explizierte Denkroutinen gegenwärtig. Plötzlich aber ändert sich die Situation: neue Daten tauchen auf, die am Rande der bisher transparenten, rätsellosen Datengruppe ein "dunkles Feld" formieren, welches wir mit den bisherigen Routinen nicht durchdringen können. Oder wir haben durch die Beschäftigung mit anderen Datengruppen einen neuen Blickwinkel gewonnen, in dessem Licht neue Probleme innerhalb der alten Datenmasse aufscheinen. In derartigen, mit Zweifeln und Unsicherheiten beladenen Situationen greifen wir in experimenteller Absicht zu neuen Theorien, die - so hoffen wir - die aufgekommenen Unklarheiten beseitigen. Mit Hilfe dieser Theorien "rekonstruieren" wir die Datenmassen, indem wir sie neu anordnen, in neue generalisierende Denkmuster einfügen. Gelingt diese Rekonstruktion, so verschwinden die unklaren, dunklen Bereiche. Sie fügen sich in einen neuen Zustand der Routine ein, der von Zweifeln befreit ist und dessen Bedeutungen uns als transparent und klar erscheinen. Mißlingt die Rekonstruktion der Daten, so vertieft sich dennoch unsere Kenntnis der Daten. Neue Ansätze können gewählt werden, die aus den Fehlern der vorangehenden Denkoperation gelernt haben. Diese praktische, an konkreten Problemsituationen orientierte Rolle kommt Theorien in Alltagssituationen, wie auch in der Wissenschaft zu. Der einzige Unterschied zwischen Alltagshandeln und wissenschaftlicher Praxis besteht in der Tatsache, daß Wissenschaftler gezielt und methodisch die etablierte Routine durchbrechen, indem sie sie in Zweifel ziehen, während eine solche Haltung im Alltagsleben als unpraktikabel und "lebensfeindlich" erscheinen würde.

Formale Aspekte der Theoriebildung

Theorien setzen sich stets aus einem Explanandum (dem zu erklärenden Objekt) und dem Explanans (dem zur Erklärung herangezogenen, erfahrungsgestützten Regel- und Tatsachenwissen) zusammen. Theorien in diesem Sinne sind das Resultat jeder Wissenschaft. Gleichzeitig erfüllen aber hypothetisch aufgestellte Theorien auch eine instrumentelle, forschungsleitende Funktion, indem sie Probleme oder auch das heranzuziehende Material des Forschers eingrenzen.

Formelle Kriterien einer Theorie (Hempel/Oppenheim-Modell):

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•logische Geschlossenheit •das Explanans muß allgemeine Regeln bzw. Gesetze und singuläre Anfangsbedingungen enthalten •diese Regeln müssen erfahrungsgestützt sein

In historischen Erklärungen werden die durch die Theorie ausgewählten Fakten in ein teleologisches Konstrukt eingebaut, d.h. sie werden so angeordnet, als ob die historische Entwicklung auf das Explanandum zwingend zugelaufen wäre. Zu beachten ist hierbei jedoch, daß die konstruierte Teleologie nicht mit einer "wirklichen", vorgegebenen Teleologie verwechselt werden darf, die als solche bestenfalls der geschichtsphilosophischen Spekulation zugänglich ist. Die Teleologie, die der Historiker konstruiert, soll zwar auf der Basis der herangezogenen Tatsachen einen sinnvollen, objektiv möglichen Zusammenhang ergeben. Dem Historiker muß aber stets bewußt bleiben, daß neben den ausgewählten Tatsachen noch andere zum Zustandegekommensein des zu erklärenden Phänomens beigetragen haben und daß auch die ausgewählten Tatsachen noch in weiteren Wirkungszusammenhängen standen als denjenigen, die in seiner konstruierten Teleologie eine Rolle spielen.

Innerhalb der Quasi-Teleologie des Historikers werden die Tatsachen, im Sinne des H/O-Modells durch Erfahrungsregeln verknüpft. Hierbei ist es zweckmäßig mit Max Weber zwischen zwei Gruppen von Erklärungsregeln zu unterscheiden: adäquate Verursachungsregeln und Regeln zufälliger Verursachung. Die letzteren entziehen sich nicht etwa im Sinne eines "Wunders" dem wissenschaftlichen Kalkül, sondern ihr Eintreten in einem bestimmten Kontext ist einfach weniger wahrscheinlich und erweist sich somit als Abweichung vom zu erwartenden Ablauf der Ereignisse, der gemessen an unserer Erfahrung, als adäquat erschien.

Der Jurist Weber hat sein Konzept wissenschaftlicher Erklärung von Statistikern (Kries), vor allen Dingen aber aus den Erörterungen der zeitgenössischen Strafrechtler (G. Radbruch) übernommen, die ähnlich wie die Historiker vor dem Problem stehen, daß sie individuelle kausale Beziehungen zwischen Motiven, Handlungen und Handlungsresultaten (z.B. einem Mord) auffinden müssen, ohne daß sie die strafwürdige Tat beobachtet haben und ohne daß sie auf die Möglichkeiten der experimentellen Gesetzeswissenschaften zurückgreifen können, die bis zu einem gewissen Grad deduktiv auf einen nicht beobachteten Einzelfall eines empirisch abgesicherten Gesetzes verläßlich zurückschließen können. Die kausale Erklärung erfolgt daher auf der Grundlage von Wahrscheinlichkeitsabwägungen, die wir mit Hilfe unseres nomologischen, im Alltag oder in der Forschungspraxis erworbenen Vorwissens durchführen. Erfolgt in einem bestimmten Handlungskontext die Wirkung einer Handlung gemäß diesem Regelwissen mit hoher Wahrscheinlichkeit, so sprechen wir von adäquater Verursachung und beurteilen die unterstellte Beziehung zwischen Handlung und Ereignis, die wir ja nicht beobachtet haben, als objektiv möglich, denn die "objektive Möglichkeit ist die logische Norm für unsere Erwartungen" (G. Radbruch). Nur wenn sich das vorliegende Tatsachenmaterial den wahrscheinlicheren Erfahrungsregeln nicht beugt, greifen wir auf Regeln zurück, deren Anwendbarkeit im vorliegenden Fall unwahrscheinlicher, aber doch möglich ist. Die Wahl zwischen Regeln der adäquaten und der zufälligen Verursachung ist also im wesentlichen eine Frage der Denkökonomie.

Erfahren wir beispielsweise durch mehrere Zeugenaussagen, daß ein Täter seinem Opfer einen Dolch in den Rücken gestoßen hat, so ist in unseren Augen der Tod des Opfers eine adäquate und damit auch für den Täter absehbare Folge dieser Handlung, weshalb die Juristen auf das Vorliegen eines Mordes oder eines Todschlags schließen würden, nicht aber auf das Vorliegen von Fahrlässigkeit oder aber auf das gleichzeitige oder vorgängige Eintreten eines unverschuldeten Herzstillstands beim Opfer. Deckt die Polizei durch zusätzliche Recherchen noch die Motive des Täters auf, so wird nunmehr sein Handeln verstehbar und damit auch besser erklärbar. Die zu analysierende Situation gewinnt für uns an Transparenz, ohne daß sich an

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unserem ursprünglichen Kausalurteil etwas ändern würde. Der durch die Zeugenaussagen wie auch durch die Ermittlungen der Polizei rekonstruierte Kontext des singulären Datums, welches durch das Eintreten des Todes beim Opfer konstituiert wird, läßt uns also auf den Dolchstoß als die, gemäß unserem Regelwissen, wahrscheinlichste Ursache zurückschließen, und der Umstand, daß Menschen sehr häufig, also geradezu regelmäßig sterben, nachdem sie durch Messerstiche schwer verletzt wurden, läßt gleichzeitig den Schluß zu, daß der Täter den Stich mit einer Tötungsabsicht ausführte.

Führt dagegen das Versagen der Bremsen eines Pkw zum Tod eines Fußgängers, so spricht der Jurist von zufälliger Verursachung. Gemäß unserem Regelwissen würden wir nicht davon ausgehen, daß der Tod des Passanten das adäquate bzw. absehbare Resultat einer intendierten Handlungsfolge des Autofahrers war, da Pkws in der Regel vor menschlichen Individuen zum Stehen gebracht werden, ein Vorgang, den der Physiker als reibungsbedingten Energieverlust, der Laie aber schlicht als "Bremsen" bezeichnen wird. Wir erklären den Tod schließlich, soweit andere Anhaltspunkte, z.B. ein Mordmotiv beim Autofahrer fehlen, unter Zuhilfenahme von Regeln (z.B.: "Mechanischer Verschleiß der Bremsen kann zu deren Versagen führen."), deren Eintreten im gegebenen Handlungskontext als weniger wahrscheinlich, letztlich aber doch als objektiv möglich beurteilt werden muß. Der Handlungserfolg, also der Tod des Fußgängers, erscheint dem Gericht nicht als adäquater, mit hoher Wahrscheinlichkeit eintretender Endpunkt einer intendierten Handlungskette, die vom Akteur, dem Autofahrer, durch rationalen Zugriff auf unser Regelwissen zusammengefügt wurde, sondern vielmehr als eine höchst unwahrscheinliche, aber eben doch mögliche Koinzidenz von Tatsachen und Kausalregeln (Standpunkt des Fußgängers, Geschwindigkeit des Pkw, Straßensituation, Bremsenverschleiß etc.). Damit aber überhaupt das Vorliegen einer kausalen Beziehung behauptet werden kann, muß eben eine in der Situation anwendbare Kausalregel benannt werden, mag diese nun zufälliger oder adäquater Natur sein, also in Relation zum gegebenen Handlungskontext mehr oder weniger wahrscheinlich sein. Der Historiker kann, ebenso wie der Jurist, eine kausale Zurechnung eines bestimmten Erfolges zu einer singulären Handlung oder etwa zu einem generellen Handlungsmuster einer bestimmten Gruppe nur im Sinne solcher kalkulierter Wahrscheinlichkeitsrechnungen vornehmen. Seine kausale Theorie kann bestenfalls beanspruchen, den Ablauf der Dinge in einem objektiv möglichen Sinn zu deuten und die Gewichtung der einzelnen involvierten Faktoren als zufällig oder adäquat, und damit als den Akteuren in ihrer Wirkung unvorhersehbar oder vorhersehbar, verläßlich durchzuführen.

Die Bedeutung der Regeln zufälliger Verursachung liegt darin, den Historiker daran zu erinnern, daß sich seine Wissenschaft nicht im Aufstellen allgemeiner Gesetzmäßigkeiten erschöpfen darf. Der Historiker benutzt solche Gesetzmäßigkeiten oder Regeln zwar wie jeder andere Wissenschaftler zur Erklärung seines Objekts, doch liefern sie ihm lediglich eine Basis, einen "Anhalt", für sein Erklärungsbemühen, die er durch komplexere Auffassungen ausbauen muß, um dem kontingenten Charakter seines Objekts gerecht zu werden. Der geschichtliche Verlauf mit seiner Vielzahl von Faktoren beugt sich nicht einer "Fundamentalformel" (z.B. der Klassenkampf als angeblicher "Motor" der Geschichte) und somit auch nicht einfachen Erklärungsansätzen. Die Pläne der historischen Akteure scheitern an nicht einkalkulierten Bedingungen ihres Handelns, grundlegende Innovationen bleiben zunächst fruchtlos und entfalten ihre ökonomischen Auswirkungen erst durch das Hinzutreten eines neuen gesellschaftlichen Kontextes etc. Auch dort, wo sich der Geschichtsablauf den Regeln adäquater Verursachung im hohen Maße beugt, d.h. dort wo unsere durch Erfahrung gestützten Deutungsmuster weitgehend bestätigt werden, so daß der historische Prozeß geradezu als determinierte "naturgeschichtliche" Teleologie erscheint, die ohne unser Zutun entstanden ist, bleibt der Prozeß als ganzer dennoch ein kontingentes Phänomen, da zumindest seine

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Anfangsbedingungen (z.B. Entstehung neuer Verhaltensmuster etc.) nicht durch allgemeine Regeln bestimmt waren.

Wichtig: Das Regel- und Gesetzeswissen des Historikers ist anwendungsorientiert, d.h. Ziel seiner Bemühungen ist es nicht, diese Gesetze aufzustellen oder ihre Gültigkeit zu beweisen, sondern durch ihre komplexe Verknüpfung individuelle Fälle zu erklären.

Neben den angeführten formellen Kriterien müssen wissenschaftliche Theorien auch forschungspraktische Kriterien erfüllen:

• Sie müssen ein Relevanzkriterium enthalten, an Hand dessen bedeutsame und unbedeutsame Elemente des zu erklärenden Wirklichkeitsausschnittes unterschieden werden können. Keine Theorie wird jemals sämtliche Elemente eines Ursache-Wirkungs-Geflechts umfassen können, welches in seiner Gesamtheit die Gestalt des zu erklärenden Phänomens bestimmt. Die jeweilige, auf bestimmte Aspekte des Phänomens zugeschnittene Forschungsperspektive und die Wahl einer entsprechenden Theorie sind daher untrennbar miteinander verknüpft.

• Sie müssen sich in einzelne, empirisch überprüfbare Hypothesen auflösen lassen (Beleg z.B. durch Verstehen der Selbstzeugnisse der geschichtlichen Akteure, statistische Korrelationen zwischen zwei Elementen etc.).

Die Wahrheitsfrage: In den experimentellen Wissenschaften müssen Theorien über das Zustandekommen eines bestimmten Phänomens umkehrbar sein, d.h. sie müssen nicht nur die Vergangenheit erklären, sondern auch das zukünftig unter gleichen Bedingungen erfolgende Wiedereintreffen dieses Zustandes vorhersagen können. Konkret müssen Theorien den Ausgang von labormäßig betriebenen Experimenten prognostizieren können. Sind sie dazu nicht in der Lage, so gelten sie als falsifiziert (Popper).

Jedoch ist die historische Vergangenheit in ihrer, den Historiker gerade interessierenden Individualität nicht experimentell reproduzierbar. Historische Erklärungen beweisen ihren Wahrheitsanspruch daher letztlich durch ihren "Erfolg" (M. Weber). Zutreffende historische Theorien ordnen auf methodisch gesicherter Grundlage den ausgewählten Wirklichkeitsausschnitt in

sinnvoller und widerspruchsfreier Manier. heben jene Faktoren als entscheidend hervor, die sich in einem "Gedankenexperiment" als

nicht "wegdenkbar" erweisen, ohne daß die Geschehensabfolge, die zu erklärende Struktur etc. sich in einem für unser Erkenntnisinteresse relevanten Ausmaß ändern würden.

finden die Zustimmung der "scientific community" (Th.S. Kuhn) der Historiker.

Bei dem zweiten Aspekt ist zu beachten, daß es freilich nicht darum geht, etwa einen Ablauf der Geschichte von 1941 bis heute für den Fall zu konstruieren, daß Hitler den Rußlandfeldzug und im Gefolge davon den Krieg gewonnen hätte. Entscheidend ist nur, zu zeigen, daß ein Ausbleiben eines bestimmten Faktors das Explanandum in einem für unser Interesse bedeutsamen Ausmaß verändert hätte. Ist dies der Fall, so ist der entsprechende Faktor als Element in unsere quasi-teleologische Kausalkette einzufügen. Scheint ferner das Eintreten und die Wirkung des zur Diskussion stehenden Faktors im jeweiligen Kontext, gemäß unserer Erfahrung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu folgen, so ist dieser Faktor als unserem nomologischen Wissen adäquat zu beurteilen. Stößt sich dagegen unser nomologisches Wissen an diesem Faktor, so muß er als zufällig behandelt werden.

Theorien in dem hier umrissenen Sinn verwenden alle Historiker, nicht nur die Wirtschafts- und Sozialhistoriker. Die Geschichtswissenschaft konnte nur deshalb lange Zeit als theorielose

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Wissenschaft angesehen werden, da die Erklärungsansätze der traditionellen, stark an politischen Ereignissen orientierten Historie letztlich auf "trivialen" Alltagserkenntnissen beruhten, mit deren Hilfe sie "unbewußt" die Wirklichkeit ordneten. "Trivial" sind diese Alltagsregeln nicht etwa in dem Sinne, daß auf sie verzichtet werden könnte. Sie sind lediglich deshalb als trivial zu erachten, da ihre Explikation in der wissenschaftlichen Darstellung beim Leser keinen Erkenntniszugewinn hervorrufen würde. Der traditionelle Historiker erzählte einfach, "was wirklich geschehen ist" (L.v.Ranke) und sein Leser ergänzte seine Darstellung intuitiv durch die herangezogenen Erklärungsregeln. Seit der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts führten jedoch unterschiedliche Ansätze vor allem aus Deutschland und Frankreich dazu, daß die paradigmatische Rolle der traditionellen Politikgeschichte für die Geschichtswissenschaft insgesamt "unterwandert" wurde. Vor allem Wirtschafts- und Sozialhistoriker bauen seit dieser Zeit ihre Darstellungen und Analysen zunehmend auf der Basis komplexer, explikationsbedürftiger Theorien auf, deren Elemente sie im übrigen nicht selten aus benachbarten Wissenschaften (Ökonomie, Soziologie, Ethnologie, Psychologie etc.) entleihen.

Abschließend seien noch kurz die drei Ebenen angeführt, die jede anspruchsvollere historische Theorie ausfüllen muß: • Ebene 1: die Intentionen und Motive des geschichtlichen Akteurs • Ebene 2: das Einfügen der Handlungen in strukturelle Zusammenhänge • Ebene 3: die Kulturbedeutung des jeweiligen historischen Wirklichkeitsausschnitts

Auf der ersten Ebene beschäftigen wir uns mit der kleinsten "Einheit" der menschlichen Geschichte, nämlich der individuellen Handlung. Durch Verstehensleistungen versuchen wir die Beweggründe (Motive) und Intentionen des historischen Akteurs zu ergründen. Wir stützen uns dabei - sofern vorhanden - auf Selbstzeugnisse des Akteurs oder wir unterstellen ihm auf der Grundlage unseres jeweiligen, im Alltag und in der wissenschaftlichen Forschung erworbenen Praxiswissens hypothetisch bestimmte Motive und beobachten, ob seine Handlungsweise sich dieser Hypothese logisch beugt.

Auf der zweiten Ebene untersuchen wir beispielsweise das Zusammenstoßen der Handlungen unterschiedlicher Akteure, die Auswirkungen (intendierte oder nichtintendierte) ihrer Handlungen, ihre Begrenzung durch gesellschaftliche Strukturen (z.B. Wirtschaftsordnungen) oder auch den Einfluß überpersönlicher Traditionen auf ihre Handlungsweise.

Auf der letzten, wenn man so will "geschichtsphilosophischen" Ebene schließlich beschäftigen wir uns mit der Bedeutung, die der gewählte historische Ausschnitt für unsere gegenwärtige Welt besitzt. Hier geht es etwa um das Aufzeigen von Ursprüngen bedeutsamer Phänomene der Gegenwart in der Vergangenheit oder um die "Aktualität" bestimmter Epochen der Vergangenheit, die sich vor ähnlichen praktischen Problemen gestellt sahen, wie die Gegenwart.

In der realen Forschungspraxis lassen sich freilich diese drei Ebenen nicht immer reinlich auseinanderhalten. So führt unser Wissen um objektive Zusammenhänge beispielsweise zu neuen Hypothesen über die Motive der historischen Akteure und die Frage der Kulturbedeutung eines Ausschnitts aus unserer Vergangenheit führt zur Auswahl bestimmter Elemente dieser Wirklichkeit und zur Ausblendung anderer Elemente, beeinflußt also die Behandlung der beiden anderen Ebenen durch den Historiker mit.

Ein Wort zum Problem des "Verstehens":

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Der Wissenschaftstheoretiker Dilthey versuchte die sogen. Geisteswissenschaften von den Naturwissenschaften dadurch abzuheben, daß er den Geisteswissenschaften eine spezifische Zugangsweise zu ihrem Objekt, dem menschlichen Denken und Handeln, zuschrieb, nämlich das "Verstehen", welches Dilthey als Möglichkeit des Nachvollzugs fremder seelischer Vorgänge definierte. Zu diesem komplexen Problem sei hier nur so viel gesagt: In der Geschichtswissenschaft spielen tatsächlich Verstehensleistungen eine große Rolle, aber dieses Verstehen arbeitet dem Erklären zu und steht somit lediglich in einer "dienenden" Position zu diesem wesentlichen Zweck der Geschichtswissenschaft. Der Historiker überträgt, indem er "versteht" hypothetisch Erfahrungen aus seinem eigenem Erleben auf die historischen Akteure und fragt danach, ob sich die konkrete Handlungsweise der Akteure mit dem ihnen unterstellten Motiv deckt. Oder er liest einen Quellentext, etwa ein religiöses Traktat, und schließt aus seinen persönlichen Eindrücken auf mögliche Handlungsmaximen, die die historischen Akteure aus diesem Text gezogen haben könnten. In beiden Fällen weist das Verstehen aber lediglich der Hypothesenbildung den Weg. Von einem wirklichen Zugang zum Innenleben der Akteure kann dagegen keine Rede sein.

Literatur:

DEWEY, John: Die Suche nach Gewißheit. Eine Untersuchung des Verhältnisses von Erkenntnis und Handeln. Frankfurt a.M. 1998

FREUND, Julien: Die Rolle der Phantasie in Webers Wissenschaftslehre. Bemerkungen zu seiner Theorie der objektiven Möglichkeit und der adäquaten Verursachung. In: Max Webers Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik. Hrsg. v. Gerhard Wagner u. Heinz Zipprian. Frankfurt a.M. 1994, S. 473ff

JAMES, William: Der Pragmatismus. Ein neuer Name für alte Denkmethoden. 2. Aufl. Hamburg 1994

LÜBBE, Hermann: Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie. Basel u. Stuttgart 1977

PATZIG, Günther: Erklären und Verstehen. In: Neue Rundschau 84 (1973). S. 392ff

SEIFFERT, Helmut / RADNITZKY, Gerard (Hrsg.): Handlexikon zur Wissenschaftstheorie. München 1992 ( vor allem die Artikel: >Erklärung<, >Falsifikation<, >Geisteswissenschaften<, >Hermeneutik<, >Pragmatismus<, >Sozialwissenschaften<, >Wissenschaftsgeschichte: Geisteswissenschaften<, >Wissenschaftsgeschichte: Sozialwissenschaften<)

WEBER, Max: Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik (1906). In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. 7. Aufl. Tübingen 1988, S. 215ff

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Link zur Tabelle: Geschichtstheorien - eine Übersicht von H. R. Schmidt nach: Georg G. Iggers: Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert, Göttingen 1993.

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Geschichtsschreibung der letzten zwanzig Jahre: Von der historischen Sozialwissenschaft zur linguistischen Wende

nach Georg G. Iggers: Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein kritischer Überblick im internationalen Zusammenhang, Göttingen 2. Auflage 1996, S. 51-96.

Ausgangspunkt: Die Rückkehr der Erzählkunst

Gedanken zu einer neuen alten Geschichtsschreibung von Lawrence Stone, 1979 in Past and Present: Stone verfechtet, dass noch keine "kohärente wissenschaftliche Erklärung vergangener Entwicklungen möglich sei." Grund hierfür: Vermehrtes Interesse an Aspekten des menschlichen Daseins, die "sich nicht leicht in abstrakte Modelle zwingen liessen."

- weg von unpersönlichen Strukturen/Prozessen hin zur Kultur von Gruppen, von Individuen als Determinanten des Wandels und Lebensweisen. -> erzählende Geschichtschreibung statt Strukturanalyse ? Rückkehr zum Historismus. = Paradigmawechsel.

Anbahner dieser Entwicklung: Annales, Historische Demographie, "in deren Mittelpunkt nicht mehr die Eliten, sondern die breiten Schichten der Bevölkerung stehen." (S. 52)

Aber: Die Kulturgeschichte des Alltags ist nicht nur dezidierte Ablehnung der neuen Sozialgeschichte (Quantifizierung), sondern Weiterführung einer frühen Form der Sozialgeschichte.

Sichtweise/Standpunkt: Geschichte von unten (Gefahr: für die von unten sprechen).

Ziel der neuen Kulturgeschichte: "ein Licht auf die Funktionsweise einer vergangenen Kultur oder Gesellschaft zu werfen." Hierzu: Umgestaltung sozialwissenschaftlicher Methoden und Begriffe = Erweiterung wissenschaftlicher Rationalität, um Komplexität zu fassen zu kriegen.

Unterlegt ist das Ganze von Kulturkritik, Wissenschaftsskepsis, ähnlich dem Kulturpessimismus eines Spengler, Wittgenstein. Fortschrittsgläubigkeit der New Economic History, des Marxismus wird fragwürdig. -> Weg von makrohistorischen/-sozialen Auffassungen hin zur Mikrohistoire.

Makrohistoire lässt fallen: Frauen, ethnische Minderheiten, soziale, kulturelle Randgruppen. Mikrohistoire greift auf und zeigt Interesse am Alltag "mit all seinen Emotionen und Ängsten", ähnlich Annales. (S. 53)

Zentral für die neue Kulturgeschichte: pessimistische Einschätzung der okzidentalen Geschichte. Vom Marxismus: Geschichtsschreibung hat emanzipatorische Funktion. Nach Foucault: Zwänge/Macht sind verkörpert in zwischenmenschlichen Beziehungen, nicht in institutionalisierten Strukturen.

Frage: neue, alternative Methoden?

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Aber: Neue Kulturgeschichte ist nicht postmoderner Aufwasch (Barthes, De Man, White, Foucault, Derrida: Geschichte hat keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit), noch ist sie dichte Beschreibung, vielmehr: oszillierend zwischen Analyse und Hermeneutik. Ablehnung: Theorie.

Kritische Theorie und Gesellschaftsgeschichte: Historische Sozialwissenschaft in Deutschland

Unterschied zu Frankreich: Annales in Vormoderne, vorindustrielle Zeit, Deutschland: Industriezeitalter. Sonderweg: um die NS-Zeit historisch aufzuarbeiten, leitende These: Deutschland verpasste eine parallele Demokratisierung. Deutsche Historiographie drehte um Staat und Politik. Soz.geschichte in Dl erst in den 60er Jahren, in denen andernorts Soz. geschichte der Modernistätskritik zum Opfer fiel.

Erste soz.historische Arbeit: Fritz Fischer (1961), weg von Ereignissen und Entscheidungen hin zu strukturellem Rahmen.

Wehler: Geschichte ist bewusst kritisch, die Verhältnisse werden am "Massstab einer vernünftigen Gesellschaft gemessen" (ebenso: negative Dialektik Adorno, Horkheimer etc). (S. 56)

Wehler: Entwicklung in Deutschland bestimmt von struktureller sozialer Ungleichheit. Diese wird bestimmt durch die 3 sich wechselseitig durchdringende und bedingende Dimensionen: Herrschaft, Wirtschaft und Kultur. Drang zur Modernisierung: positiv. Tragisch in Dl: unvollkommene Modernisierung. Kapitalismus führt zu sozialen Klassen, kulturell zu einem Zweck-Mittel-Denken, personifiziert im bürokratischen Anstaltsstaat.

Zwei Erkenntnisinteressen bei Wehler, Kocka, Rürüp: (a) Geschichte ist Historische Sozialwissenschaft (Prozesse/Strukturen: Analyse) (b) Zusammenhang zwischen wissenschaftlicher Forschung und gesellschaftlicher Praxis.

”Das zentrale Thema ist die Erforschung und Darstellung von Prozessen und Strukturen gesellschaftlichen Wandels”. (S. 57)

-> Gesellschaftsgeschichte ist Sozialstrukturgeschichte.

Zu b) Wissenschaft wird verbunden mit politischen Werten: Der Industrialisierung entspricht "eine Entwicklung in Richtung auf eine Gesellschaft rechtlich freier und politisch verantwortlicher mündiger Staatsbürger." 58

Institutionell: Uni Bielefeld: Tummelfeld für Gesellschaftsgeschichte. Wie Annale: eigene Zeitschrift (Geschichte und Gesellschaft).

Abgrenzung Annales: nicht Forschung über stabile Strukturen (Kontinuität) sondern über rasche Prozesse des Wandels (Konflikt). Quantitative Methoden, aber mit grösserer Zurückhaltung als die New Social History/histoire sérielle.

Methode: Verbindung Hermeneutik und Analyse.

Kritik an Wehler: "In seiner Gesellschaftsgeschichte verschwinden die Menschen hinter den Strukturen, und Kultur wird ausschliesslich in ihren organisierten Formen wie Kirchen, Schulwesen, Universitäten und dem Vereinswesen behandelt." 59

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-> kein Alltag, keine Geschlechtergeschichte. Grund: Wehler macht Gesellschafts- und nicht Sozialgeschichte.

Aber: neue Tendenz, indem politische Perspektive auf Vergangenheit gewählt wurde und eine Verbindung von Theorie und Empirie im Vordergrund stand.

Grund: Historiker muss nicht nur erzählen/verstehen, sondern auch erklären!

Kocka: "Insgesamt ist nicht zu bezweifeln, dass vergangene Geschichte erst dann richtig begriffen ist, wenn der Zusammenhang von Strukturen und Prozessen einerseits, Erfahrungen und Handlungen andererseits verstanden und erklärt werden kann." 60

USA, Frankreich, Italien, England: Weg von Strukturen hin zu Lebenswelten (z.B. via Bewusstsein). Neu fanden neben sozialen auch kulturelle, religiöse, regionale, ethnische und geschlechterspezifische Faktoren Aufnahme in die Forschung. Kocka: Bürgertum wird eng verbunden mit Bürgerlichkeit! Ähnlich: Mitterauer in Österreich: hist. Demographie und oral-History!

Die marxistische Geschichtswissenschaft: vom Historischen Materialismus zur kritischen Anthropologie

Wichtiger Beitrag für Historiographie: Marxismus. Analogie zwischen Hist. Sozialwissenschaft und Marxismus: a) Logik der Forschung (für nat. als auch phil.): Wissenschaftlichkeit = Analyse = Erklärung

(siehe auch logischer Positivismus: Popper). Gegensatz zu Historismus (Ranke, Dilthey, Meinecke): Ablehnung der Trennung: Erklären - Verstehen (Hermeneutik).

b) Geschichte und Gesellschaft verfügen über innere Kohärenz: Gesellschaftsformation/Entwicklung (Marx: Stufenlehre, Weber: Rationalisierung, Wehler: Modernisierung).

c) Ablehnung einer wertfreien, neutralen Wissenschaft (anders als Positivismus, Weber).

Kritik an Marxismus: a) und Ablehung des log. Positivismus. Perversion im realexistierenden Sozialismus. Zu schematisch: Verbindung Theorie und Darstellung. U.a. entbehren die Klassenbegriffe empirischer Grundlage.

In Westeuropa: Gramsci, Lukacs, Korsch: weg von Ökonomie hin zu Kultur: siehe Verdinglichung (Entfremdungsbegriff bei Marx; steht bei der kritischen Theorie ebenfalls im Zentrum).

Aufsplittung in zwei Richtungen: a) strukturalistische und b) kulturalistische

a) an Althusser orientiert: Basis/Überbau, Stufenlehre verhaftet: Dobbs, Sweezy, Bois, Brenner, Wallerstein. -> Erfolg: Begriffliches Instrumentarium für Trikont: Dependencia.

b) Bewusstsein im Zentrum: Thompson, Rudé, Hobsbawm, Ginzburg, Levi, Poni. Abgrenzung zu Strukturalisten, Mentalitätsgeschichte (Annales), Hist. Anthropologie (Lévi-Strauss, Clifford Geertz). Im Zentrum: Herrschaft. Thompson: Entscheidende Faktoren sozialen Handelns sind Bewusstsein und Kultur. Einbezogen: Pol. Hintergrund. Konflikt: politischer Natur ist Basis der Forschung. Von grosser Bedeutung für diesen Zweig der Historiographie: Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse. Dabei wird Marx auf die Füsse gedreht, denn "Marx' Vorstellung,

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gesellschaftliches Sein bestimme gesellschaftliches Bewusstsein, ist problematisch, wenn wir nicht erkennen, dass Männer und Frauen vernunftbegabte Wesen sind und darüber nachdenken, was mit ihnen und der Welt geschieht." 69

Klasse ist nicht mehr Struktur und Kategorie, sondern Substrat aus Beziehungen unter Menschen.

Unterschied: Klassenerfahrung (Produktionsverhältnisse), Klassenbewusstsein: kulturelle Interpretation/Vermittlung der Erfahrung. Ablehnung: Modernisierungsansatz. Stattdessen "betrachtet Thompson das Leben jedes Einzelnen als historisch wertvoll und erhebt seinen Einspruch gegen die Auffassung, die die Geschichte im Lichte späterer Interessen interpretiert, und nicht so, wie sie sich wirklich ereignet hat." 71

Übergreifende Begriffe: Klasse/Volkskultur. "Unter Volkskultur versteht Thompson: plebejische Kultur, einen Begriff, den er aus dem ethnologischen Diskurs übernimmt, er aber bei ihm eine marxistische Bedeutung bekommt." 71

Analysiert Klasse von der Beziehung und nicht von den Strukturen her.

Volkskultur: Widerstand von unten: "Wichtig ist dabei der Gedanke, dass 'die Menschen ihre eigene Geschichte (machen)', dass Menschen nicht passive Objekte materieller Kräfte sind, sondern sich selber mitgestalten." 72

Alltagsgeschichte, Mikrohistoire und Historische Anthropologie. Die Infragestellung der Historischen Sozialwissenschaft

Kritik und Ablehnung der Sozialgeschichte: Historische Sozwissenschaft mit zu optimistischer Beurteilung des technischen und zivilisatorischen Fortschritts.

z.B. Kocka: Trotz Katastrophen, Brüchen und Kosten hat kritische Aufklärung emanzipatorische, herrschafts- und ideologiekritische Funktion. Dies wird abgelehnt.

Abgelehnt wird ein globaler Zugang zu Geschichte, die Modernisierung, Industrialisierung, Verstädterung, Nationalstaat, die die "menschlichen Kosten" vernachlässigt hätten. -> Geschichte der kleinen Leute. Im Zentrum: Erfahrung der kleinen Leute.

-> weg von zentristischen, unilinearen hist. Sichtweisen, von systematischer Logik hin zu kommunikativer, erfahrungsbezogener Logik der Lebenswelt.

Ziel: mikrohistorische Geschichte des Alltags. Aufgabe: politische Macht als Konstituens wird aufgegeben.

-> Folgen/Kosten der Modernisierung, des Fortschritts im Zentrum -> qualitative Aspekte werden untersucht. "An die Stelle einer mit abstrakten Theorien arbeitenden Wissenschaft, die den Gegenstand ihrer Untersuchung als Objekt behandelt, soll eine alternative Wissenschaft treten, die die qual. Aspekte von Erfahrungen rekonstruieren kann." 76

Statt Logik der Theorie, informelle Logik des Lebens

Aber: kein Hineinfühlen (Medick, Levi, Davis, Chartier)

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Muster/Vorlage für hist. Forschung: Dichte Beschreibung von C. Geertz. Ihm zufolge offenbart sich eine fremde Kultur in "symbolischen und ritualen Handlungen, die über die Unmittelbarkeit der einzelnen Absichten und Handlungen hinausgehen und einen Text bilden"= dichte Beschreibung 77

Kritik: Methode der dichten Beschreibung bleibt unklar. Und: jede Beschreibung ist bereits Auswahl (Finnegans Wake)

Warum keine Theorie: wollen eingeborene Theorie der historischen Subjekte freilegen. Grenzen sich ab von zentristischen Sichtweise der Polit- und Sozialgeschichte (ähnlich: 18. Jahrhundert). Via dichte Beschreibung spricht das Subjekt der Geschichte.

Zusammenhang mit Sozialgeschichte 1. Alltags- und Mikrogeschichte übernehmen wiss. und pol. Konzeptionen der Soz.Tradition:

Modernisierung. Kontinuität. Einheitstheorie. 2. Gesellschaft wird verstanden (wie Marxismus, Hist. Sozwiss.) als durch Konflikte

konstituiert. Neu: Bewusstsein, Identität von Gruppen, von Beziehungen. 3. Grundfaktoren der Geschichte sind: Herrschaft und soziale Ungleichheit. Teilweise noch

zentraler als bie Makrohistorikern. Statt dass der Staat/Markt im Zentrum steht, steht die tägliche Erfahrung der Menschen im Vordergrund. U.a. Widerstand.

Themen der Alltagsgeschichte: Kindheit, Sexualität, Familie, Freizeit, Tod. Im Zentrum: Kultur.

Anstoss: Über den Prozess der Zivilisation (N. Elias)

Methode: Hermeneutik. Problem: "wie kommt hermeneutisches Verfahren, die analytische Beweisführung vermeiden, zu überprüfbaren Erkenntnissen?" (S. 83)

Problem des Verstehens: sich in Quelle versenken -> herm. Sprung setzt aber Gesamtzusammenhang her, der nur via Theorie vermittelt werden kann. -> Alltagsgeschichte nichts anderes als Neo-Historismus.

Quellennähe -> neuformulieren (Davis) -> Gefahr der Projektion!

Historische Anthropologie

Gegensatz zu: hypothesenprüfende Forschung, Methode: dichte Beschreibung (siehe oben). Trotzdem: Geertz geht von homogener Volkskultur aus.

Ganz grosses Problem: Rekonstruktion mentaler Prozesse (Psycho. etc)

Zentral: Alltags- und Mikrohistoire ist Ergänzung, nicht Ablehnung von Sozialgeschichte, ist mehr als Erzählung und Rhetorik.

Linguistic Turn. Das Ende der Geschichte als Wissenschaft

Postmoderne: gibt es postmoderne Geschichtsschreibung? Beispiele (siehe Smith)

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PM: jegliche Kohärenz ist suspekt. White/Barthes: kein Unterschied zwischen Literatur und Historiographie.

White: Historikern steht eine Anzahl rhet. Möglichkeiten zur Verfügung, die Form und Inhalt bedingen. Jegliche hist. Darstellung ist erfunden. Ähnlich Feyerabend: Wissenschaft ist poetische Tätigkeit, keine verbindliche Logik der Forschung. Anders: Kuhn: Wissenschaft ist eine Art, "wie man in einer Gemeinschaft Ähnlichgesinnter mit der Wirklichkeit umgeht." (S. 89)

Kritik: Wahrheitskriterium gibt es seit Kant in der Wissenschaft allgemein. Aber: formales Kriterium (u.a. Überprüfung).

Verbindung: Sprachtheorie (Analytik). Zentrale Rolle spielt Wirklichkeitsbezug von Aussagen. Strukturalismus (de Saussure, Lacan) stellt Referentialität (Beziehung Sprache Welt) der Sprache in Frage. Sprache ist demnach: geschlossenes autonomes System, das eine syntaktische Struktur besitzt. Was Menschen denken, ist sprachbedingt, nicht umgekehrt.

-> New Criticism und Barthes, Derrida (Dekonstruktion): "Der Text hat keine Beziehung (Referenz) zu einer Aussenwelt, sondern ist in sich geschlossen." 90

-> weil Bezug fehlt, entfällt Unterschied zwischen Literatur und Historiographie. Weiterer Schritt: Foucault: Mensch als aktiver Faktor und "damit auch die menschliche Intenionalität als sinnstiftendes Element verschwindet" 90

= Schopenhauer.

Ziel Derrida: Befreiung des Textes von den Intentionen des Autors. Sprache nur mehr unklare Bedeutungsvielfalt. "Für die Geschichtsschreibung bedeutet dies Derridas Ansicht nach eine Welt ohne Bedeutung, ohne menschliche Akteure, ohne Intentionen, ohne Zusammenhang." 90

Modelle hist. Erzählung: Joyce, Proust, Musil (Mann ohne Eigenschaften)

Forderung: Rhetorisierung der Geschichtswissenschaft.

Ideologischer Hintergrund des l.T: Objektivität war Pfeiler einer logozentrischen Weltauffassung: Grundlage der Machtstrukturen.

Neues Element in der Forschung: Analyse Diskurs! (Foucault)

Folgen des linguistic turn auf Historiographie: Brechen des Determinismus älterer Sozialwissenschaft (Marx, Annales). "Dabei wird die Kultur als der entscheidende Faktor in der Gestaltung der Formen menschlichen Zusammenlebens verstanden." 94

Fazit - Grosse Veränderungen der Diskussionen der letzten Jahre - Geschichtsbild im Wanken - Voraussetzungen der Wissenschaft in Frage gestellt - Staat/Wirtschaft als Rückgrat der Geschichte? - linearer Verlauf von Geschichte - Kohärenz Gesellschaft Geschichte

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Folge PM: Lebensbereiche, Menschen im Zentrum

Macht geht nicht nur von zentralen Institutionen aus, sondern in zwischenmenschlichen Beziehungen manifest (u.a. Geschlechtergeschichte)

Grundlage für: Alltags- Geschlechtergeschichte

Gegenstand der Diskussion: Komplexität des Wissensprozesses (Widersproche etc.)

Problem: Infragestellung von Wirklichkeit an sich (praktisch?).

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Das Wertfreiheitspostulat

von Matthias Kuchenbrod

”Wir urteilen viel zu viel, selbst in unserem Handeln. Es ist so einfach, >an den Pranger!< zu rufen. Wir verstehen niemals genug. Wer anders ist als wir - der Ausländer, der politische Gegner - gilt notwendig als böse... Die Geschichte selbst sollte darauf verzichten, sich wie ein richtender Erzengel zu gebärden, sie könnte uns dann sogar helfen, von diesem Fehler abzulassen. Sie bietet eine breitgestreute Erfahrung menschlicher Vielfalt, sie ist eine lange Begegnung von Menschen.”

Marc Bloch, >Apologie der Geschichte<

Nach der klassischen Formulierung des Wertproblems in der Wissenschaft, die Max Weber zu Beginn unseres Jahrhunderts aufgestellt hat, impliziert eine praktische Wertung das Postulat, daß eine bestimmte Situation oder Entwicklung als wünschenswert zu erachten ist, daß sie "sein soll", da sie in dieser Form als ethisch wertvoll erscheint. Der Wissenschaft stehen aber keine konsensfähigen Wahrheitskriterien zu Gebote, auf die sich derartige Postulate stützen könnten. Die Wissenschaft kann mit ihren erprobten und anerkannten Methoden lediglich die Existenz von Tatsachen nachweisen, diese dann begrifflich ordnen und sie kausal miteinander verknüpfen. Wertungen dagegen sind letztlich eine Sache individueller Dezision, die nicht in der Wissenschaft, sondern in der politischen Öffentlichkeit vertreten werden muß. Diese Sphäre besitzt ihre eigenen, minder effizienten Konsensmechanismen (argumentative bzw. rhetorische Überzeugung, Abstimmungen, Verfahrensnormen etc.).

Wichtig: Normen oder Werte unterscheiden sich von Fakten dadurch, daß sie den logischen Status einer aufgrund moralischer Prämissen geltenden Handlungsansweisung oder Ordnungsvorstellung beanspruchen.

Das Hineintragen von Werten in die Wissenschaft schadet dementsprechend beiden Sphären, der Praxis wie der Wissenschaft. Die Werte hindern die Wissenschaft daran, einen objektiven, jenseits von Interessen liegenden Standpunkt zu gewinnen und umgekehrt führt die wissenschaftliche "Absegnung" von Wertstandpunkten zu gefährlichen Illusionen über deren praktische Folgen.

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Freilich bedeutet dies nicht, daß die Wissenschaft den verschiedenen Werthaltungen steril gegenüberstehen muß. Sie kann mit ihren Mitteln: • die innere Schlüssigkeit von Wertsystemen untersuchen (logische Wertkritik). • die Frage der Durchführbarkeit wertgeleiteter Entscheidungen und ihre (intendierten oder

nicht intendierten) Folgen beurteilen (technische Wertkritik).• das historische Zustandegekommensein von Wertsystemen aufdecken und sie dadurch

verständlich machen (Wertverständnis).

In allen diesen Fällen werden die Normen als seiende Fakten, nicht als geltende bzw. Geltung beanspruchende Ordnungsvorstellungen behandelt. In der Hervorhebung dieser möglichen Analysemuster wird aber auch der praktische Sinn einer wertfreien Wissenschaft sichtbar: Sie kann unsere praktische Urteilskraft stärken und ihr auf der technischen Ebene den Weg bahnen.

Im übrigen betonte Weber stets, daß die Kulturwissenschaft als Institution allerdings insofern auf Werte angewiesen ist, als nur Kulturwerte uns ein interesseleitendes Auswahlkriterium an die Hand geben, mit dessen Hilfe wir "Scheinwerferkegel" (Popper) in die Vergangenheit werfen, um so einen Ausschnitt aus der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt zu gewinnen. Jedoch schwächt diese formale Bindung der Kulturwissenschaft an theoretische Wertbeziehungen (s.u.) nicht, wie häufig angenommen wird, Webers Wertfreiheitspostulat ab, wie ein Beispiel aus Webers eigener Forschungspraxis leicht zu zeigen vermag:

Die Tatsache, daß Weber bestimmte Formen der modernen, säkularisierten Lebensführung (das "okzidentale Berufsmenschentum") als wertvoll erachtete, lenkte seinen Blick auf mögliche religiöse Wurzeln dieses Phänomens. Der Nachweis einer möglichen Beziehung zwischen reformierter Religionslehre und modernem Berufsmenschentum sagt aber über die Wertigkeit beider nichts aus. Auch der vielzitierte Chinese, der in der Regel zu beiden Phänomenen keinerlei ethische Bindungen besitzt, kann die Gültigkeit dieser Theorie einsehen.

Es ist, folgt man Weber, freilich unmöglich, die Forderung nach einer wertfreien Haltung in der Wissenschaft logisch aus ihren Prinzipien abzuleiten. Verbindlich feststellen läßt sich nur der Unterschied zwischen Tatsachen- und Werturteilen. Die Frage, ob man sich der Werturteile enthalten soll ist dagegen ohne Rückgriff auf ethische Postulate nicht zu beantworten. Sie hängt letztlich vom Berufsethos des jeweiligen Forschers ab.

Literatur

ALBERT, Hans / TOPITSCH, Ernst (Hrsg.): Werturteilsstreit. Darmstadt 1979 LÖWITH, Karl: Max Weber und Karl Marx (1932). In: Ders.: Gesammelte Abhandlungen.

Zur Kritik der geschichtlichen Existenz. Stuttgart 1960 RADNITZKY, Gerard: Artikel >Wert<. In: Handlexikon zur Wissenschaftstheorie. Hrsg v.

Helmut Seiffert u. Gerard Radnitzky. München 1992 SCHLUCHTER, Wolfgang: Wertfreiheit und Verantwortungsethik. Zum Verhältnis von

Wissenschaft und Politik bei Max Weber. Tübingen 1971 SEGADY, Thomas W.: Sozialwissenschaftliche Objektivität und die Werthaftigkeit von

Wissen. In: Max Webers Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik. Hrsg. v. Gerhard Wagner und Heinz Zipprian. Frankfurt a.M. 1994

WEBER, Max: Der Sinn der >Wertfreiheit< der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften (1917). In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 1988

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DERS.: Wissenschaft als Beruf (1919). In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 1988

DERS.: Debattenreden auf der Tagung des Vereins für Sozialpolitik in Wien 1909 zu den Verhandlungen über die Produktivität der Volkswirtschaft. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik. Tübingen 1988, S. 416ff

WINKEL, Harald: Die deutsche Nationalökonomie im 19. Jahrhundert. Darmstadt 1977

--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------für P5 DIE FUNKTION DES IDEALTYPUS NACH MAX WEBER von Mathias Kuchenbrod: Link einfügen. Als Word Datei kaum möglich: es hat Bilder und mühsame Formatierungen.

-------------------------------------------------------------------------------------------------------------------für P6 WEBERS TYPOLOGIE DES KAPITALISMUS ALS BEISPIEL FÜR EINE IDEALTYPISCHE BEGRIFFSBILDUNG von Matthias Kuchenbrod: Link einfügen. Als Worddatei kaum möglich.-------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

DIE ANTHROPOLOGISCHEN GRUNDLAGEN DER GESCHICHTE von Matthias Kuchenbrod

"Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung..." JOHANN GOTTFRIED HERDER, >Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit< "Wir reden von der Kunst, als ob sie sich von der Natur unterscheide, doch die Kunst selbst ist dem Menschen natürlich. Er ist gewissermaßen sowohl der Künstler seiner eigenen Gestalt als seines Schicksals und ist bestimmt, von der frühesten Zeit seiner Existenz an zu erfinden und Entwürfe zu machen. Er wendet dieselben Talente für verschiedene Absichten an und spielt in sehr verschiedenen Szenen nahezu die gleiche Rolle. Stets möchte er seine Sache verbessern, und er trägt diese Absicht überall mit sich, wohin er auch geht, ob durch die Straßen der bevölkerten Stadt oder durch die Wildnis des Waldes. Obgleich er für jeden Zustand gleich gut befähigt erscheint, ist er doch gerade deshalb unfähig, in irgendeinem zu verharren. Zugleich hartnäckig und beständig, beklagt er sich über Neuerungen und ist doch niemals mit Neuerungen gesättigt. Er ist fortwährend mit Verbesserungen beschäftigt und klebt beständig an seinen Irrtümern. Wenn er in einer Höhle lebt, möchte er sie in eine Hütte verwandeln, und wenn er bereits gebaut hat, wird er in noch größerem Umfang bauen wollen. Aber er ist dabei nicht zu raschen und hastigen Übergängen geneigt. Er geht langsam, Schritt für Schritt vorwärts, und seine Kraft drängt wie die einer Sprungfeder im stillen gegen jeden Widerstand... Es scheint vielleicht gleich schwer zu sein, seinen Schritt aufzuhalten wie ihn zu beschleunigen... ob seine Bewegungen schnell oder langsam sind, die Szenen menschlicher Angelegenheiten wechseln unter dem Einfluß seiner Handhabung fortwährend. Sein Sinnbild ist ein fließender Strom, nicht ein stehendes Gewässer. Wir mögen wünschen, seine Verbesserungslust auf ihr rechtes Ziel zu lenken, wir mögen Beständigkeit in seinem Betragen verlangen, aber wir mißverständen die menschliche Natur, wenn wir ein Ende ihrer Arbeit oder einen Zustand der Ruhe herbeisehen." ADAM FERGUSON, >Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft<

Bereits seit einigen Jahren hält ein neuer Trend innerhalb des internationalen Wissenschaftsbetriebs an, der darauf hinausläuft, die Sozialanthropologie nicht länger als eine isolierte Spezialdisziplin zu betrachten, die sich lediglich mit "primitiven", schriftlosen Kulturen auseinandersetzt, sondern sie in den Rang einer Integrations- und Grundlagenwissenschaft der gesamten Humanwissenschaften zu erheben. Die Sozialanthropologie ist hierfür aus zwei Gründen prädestiniert:

Die Anthropologen arbeiteten immer schon interdisziplinär, indem sie Methoden aus den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, aus den Sprachwissenschaften, der Ökologie oder auch der individualisierenden Geschichtsschreibung miteinander verknüpften. Die Resultate, die die Anthropologie mit Hilfe dieser "entliehenen" Methoden erzielte, fallen

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auf deren "Ursprungsdisziplinen" zurück. Diese haben ein sachlich begründetes Interesse an der anthropologischen Forschung, in der ihnen die eigenen Arbeitsweisen in einem neuen Umfeld, sozusagen "experimentell", vorgeführt werden. Gleichzeitig können die Resultate der Anthropologen als "kompatible" Vergleichsmodelle für die eigene Forschung herangezogen werden.

Die Anthropologen haben sich in ihrer Arbeit immer schon durch prinzipielle Fragestellungen ("Wie ist Gesellschaft, Kultur, Technik, Evolution etc. möglich ?") leiten lassen, die sie auf der Grundlage von interkulturellen Vergleichen zu beantworten suchten. Insofern, als auch in den anderen Kulturwissenschaften derartige Fragestellungen an Bedeutung gewinnen, wächst die Relevanz der anthropologischen Forschung für diese Teildisziplinen.

Die Aussagekraft anthropologischer Forschungen für den Historiker soll im folgenden umrißhaft an dem grundsätzlichen Problem der menschlichen Handlungsfähigkeit - also sozusagen am "Rohstoff" der Geschichtsschreibung - aufgezeigt werden.

Vergleicht man das Anpassungsvermögen von Tieren und Menschen, so kommt man zu folgendem Gegensatz:

Tiere haben eine durch genetisch erzeugte Auslese geformte optimale Anpassung an eine bestimmte ökologische Nische vorzuweisen. Dieser Anpassung entspricht aber ein relativ beschränktes, artspezifisches Verhaltensrepertoire.

Menschen hingegen sind keiner ökologischen Situation besonders gut angepaßt. Dafür sind sie mit einem beinahe unerschöpflichen Verhaltensrepertoire ausgestatten, welches ihnen ermöglicht, nahezu jedes Ökosystem in nahezu jeder Klimazone der Erde zu bevölkern.

Die Anpassungsleistung der Menschen weist dabei zwei Eigenarten auf, die die genetisch gesteuerte Anpassungsleistung der Tiere so nicht kennt:

Menschen passen sich gezielt, unter Einsatz ihres gesamten geistigen und praktischen Vermögens, an wechselnde Problemlagen an.

Sie beschränken sich nicht auf die Anpassung ihres Verhaltens an durch die Umwelt vorgegebene Problemlagen, sondern wandeln - angeregt durch diese Problemlagen - ihre Umwelt in umfassender Weise ihren Zwecken entsprechend um.

Der Historiker kann diese Grundgegebenheiten der menschlichen Geschichte nur konstatieren und ihre konkreten Ausprägungen nachvollziehen. Um dagegen das Anpassungsvermögen des Menschen als solches zu erklären, muß er sich an den Ansatz einer Anthropologie wenden, wie sie Arnold Gehlen in den 40er Jahren unseres Jahrhunderts vorgelegt hat. Gehlen zielt dabei, anders als die rein klassifikatorischen Handlungstheorien anderer Soziologen, die lediglich mögliche Motivlagen individuellen Handelns typisierend aufzählen, auf eine prinzipielle Theorie der menschlichen Handlungsfähigkeit. Um diese Theorie zu erreichen, griff er auf z.T. ältere Ansätze der philosophischen Anthropologie zurück (J.G. Herder, A. Schopenhauer, M. Scheler, J. Dewey u.a.), die er systematisierte und entfaltete, indem er sie mit den Resultaten der neueren Ethologie und Biologie (V. v. Weizsäcker, J. v. Uexküll u.a.) konfrontierte. Sein Ansatz läßt sich treffend in dem bekannten Schlagwort vom "Mängelwesen Mensch" zusammenfassen. Der Mensch ist nach Gehlen, verglichen mit jeder Tierart, in dreierlei Hinsicht ein Mängelwesen:

organische Ausstattung: keine natürlichen Waffen (Klauen etc.), relativ schwach ausgeprägte Sinnesleistungen, kein schützendes Haarkleid etc.

Kinderaufzucht: lange Jugendperiode, in der die Kinder auf Schutz und Versorgung angewiesen sind

Instinktlosigkeit: das Verhalten wird nur noch rudimentär von Instinkten gesteuert Diese drei naturgegebenen Mängel werden vom Menschen in Überlebenschancen umgemünzt, insofern, als sie den Freiraum für eine kulturelle Formung des Verhaltens eröffnen. An die Stelle

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der ererbten, genetisch bestimmten Handlungsmuster des Tieres tritt die erlernte, auf eigener oder fremder Erfahrung beruhende kulturelle Praxis, die Gehlen als den "Inbegriff tätig veränderter urwüchsiger Bedingungen" definiert. Die Kulturleistung überbrückt dabei einerseits die biologisch definierte Mängelsituation des Menschen, sie baut aber andererseits auf dieser biologischen Ausgangslage auf und ist ohne sie nicht denkbar: "Die kulturelle Realität baut auf der normalen organischen Realität auf, wächst aber über sie hinaus, geradeso wie die organische Realität auf ihrem chemischen und physikalischen Untergrund aufbaut und sich über ihn erhebt." (M. HARRIS: Menschen, S. 67) Die kompensatorische Einübung in Kulturweisen, die sich im wesentlichen in der langen Aufzuchtphase abspielt (= Enkulturation), funktioniert durch das Zusammenspiel dreier Schlüsselbereiche der menschlichen Natur, die sich alle durch ein Ausmaß an Flexibilität und Formbarkeit auszeichnen, die den entsprechenden Elementen im Verhalten der Tiere abgeht: Plastizität der Bedürfnisse: Schon J. Dewey hatte auf die "Formbarkeit und Durchlässigkeit" der "Bedürfnisse und Neigungen" des Menschen hingewiesen (Erfahrung und Natur, S. 235). Der Mensch lernt in einem langwierigen Prozeß seine Bedürfnisse in eine praktikable Form umzugießen. Sie werden auf Dauer gestellt, d.h. nicht nur die aktuelle Bedürfnislage treibt den Menschen zum Handeln an, sondern auch die vorausschauende Wahrnehmung von Bedürfnissen, die in ihrer Intensität schwanken (z.B. Hunger). Sie werden in ihrer Erfüllung gehemmt, um eine intelligentere, nachhaltigere etc. Stillung zu ermöglichen. Sie werden "gegenstandsintim" (A. Gehlen), d.h. im Prozeß der Bedürfniserfüllung lernt der Mensch die Mittel seiner Befriedigung besser kennen und damit auch besser handhaben. Mit wachsender Erfahrung der Umwelt können auch gänzlich neue Bedürfnisse entstehen. Erwerbsmotorik: Die menschliche Motorik ist, anders als beim Tier, nicht angeboren, sondern entwickelt sich erst langsam im Säuglingsalter und in den folgenden Jahren. Der Mensch erschafft sich dabei ein nahezu grenzenlos neu kombinierbares Potential an Bewegungsmustern, das durch Routine festgestellt werden kann, und daher, ähnlich wie eine Instinkthandlung beim Tier, jederzeit zur Verfügung steht. Der "Taylorismus" - als praktisches System der analysierenden und rekonstruierenden Optimierung der Mikrostruktur von Handlungen verstanden - steckt der Menschheit gewissermaßen "im Blut". Unterstützt wird diese allgemeine Befähigung zur Modifizierung und Verbreiterung des eigenen "Handlungsarsenals" durch die spezifische Formung der menschlichen Hand, die eine große Vielzahl an Griffarten zuläßt, was im wesentlichen der Existenz des Daumens zu verdanken ist. In der Natur haben lediglich die Menschenaffen eine ähnliche Handanatomie, doch sind deren vordere Gliedmaßen nicht, wie beim Menschen, durch den aufrechten Gang dauerhaft von der Fortbewegungsfunktion dispensiert.

Wahrnehmungsmuster: Tiere besitzen häufig ein stark auf ihre ökologische Nische eingeschränktes Wahrnehmungsvermögen. So kann etwa die blutsaugende Zecke, eine niedere, in abgelegenen Winkeln der Wälder hausende Lebensform, lediglich die für sie relevanten Temperaturschwankungen ihrer Umgebung wahrnehmen, die ihr die Nähe von Säugetieren - ihrer potentiellen Nahrungsquelle - ankündigen. Der Mensch lernt dagegen erst im zunehmenden Umgang mit seinem Körper und seiner Umwelt aus der auf ihn einstürmenden "offenen Weltfülle" (A. Gehlen) Wichtiges und Unwichtiges zu unterscheiden: "Aber bestimmt umgrenzte, unabhängige Sinneseindrücke sind durchaus keine ursprünglichen Elemente; sie sind die Erzeugnisse eines hochentwickelten Zergliederungsvermögens, das schon im Besitz bedeutender fachmännisch-wissenschaftlicher Hilfsmittel sein muß. In irgendeinem Bereich ein letztes Element der Sinneswahrnehmung herausgreifen zu können, beweist einen hohen Grad vorheriger Schulung, und das heißt: wohl ausgebildete Verhaltensformen." (J. Dewey: Psychologische Grundfragen, S. 43) Dabei bleibt sein Wahrnehmungsmuster aber variabel, so daß er es der jeweils vorliegenden Situation anpassen kann. Dank seines Gedächtnisses bleibt ihm stets bewußt, daß der von ihm aktuell wahrgenommene

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Ausschnitt der Welt begrenzt ist und durch neue Situationen, neue Erfahrungen und neue Perspektiven erweitert werden kann. Seine Wahrnehmung kennt somit nicht nur die Kategorie der Gegenwart, sondern auch die der Vergangenheit, der Zukunft und der Möglichkeit, das "Thier hingegen bestimmt der gegenwärtige Eindruck" (A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Bd. I. Werke in fünf Bänden. Bd. I. Hrsg. v. L. Lütkehaus. Zürich 1991, S. 73; zur Vorwegnahme der anthropologischen Gesamtkonzeption Gehlens durch Schopenhauer s. ebenda S. 212ff). Die Erforschung der Umwelt, verstanden als experimentelles Ausprobieren neuer Perspektiven, ist somit nicht erst eine Erfindung der neuzeitlichen Physik.

Als Fazit dieser Überlegungen kann die folgende Passage aus Gehlens Hauptwerk dienen: "In allen Handlungen des Menschen geschieht ein Doppeltes: er bewältigt tätig die Wirklichkeit um ihn herum, indem er sie ins Lebensdienliche verändert, weil es eben natürliche, von selbst angepaßte Existenzbedingungen außer ihm nicht gibt oder weil die natürlichen unangepaßten Lebensbedingungen ihm unerträglich sind. Und, von der anderen Seite gesehen, holt er damit aus sich eine sehr komplizierte Hierarchie von Leistungen heraus, >stellt< in sich selbst eine Aufbauordnung des Könnens >fest<, die in ihm bloß der Möglichkeit nach liegt, und die er durchaus eigentätig, auch gegen innere Belastungen handelnd, aus sich herauszuzüchten hat. D.h. der Inbegriff menschlicher Fähigkeiten, von den elementarsten bis zu den höchsten, wird von ihm in Auseinandersetzung mit der Welt erst eigentätig entwickelt, und zwar in der Richtung eines Führungs- und Unterordnungssystems von Leistungen, in denen die wirkliche Lebensfähigkeit erst nach langer Zeit erreicht wird." (A. Gehlen: Der Mensch, S. 37)

Ihre konkrete Ausgestaltung erfährt die wandelbare Natur des Menschen jeweils in drei Angelpunkten der menschlichen Kultur:

begriffliche Sprache: Sprache ist nicht lediglich ein Ausdruck eines vorsprachlich existierenden "Geistes", sondern Voraussetzung der menschlichen Intelligenz. Sie erst ermöglicht intelligente Kooperation zwischen Individuen, den Austausch und damit die Verallgemeinerung bzw. Forttradierung individueller Erfahrungen, das abstrakte Denken und damit auch die intellektuelle Bearbeitung von nicht gegenwärtigen Objekten (auf die Zukunft ausgerichtete Planung und analysierende Auswertung des vergangenen Geschehens). Die menschliche Sprache besitzt somit, anders als jedes andere Kommunikationssystem, welches Lebewesen im Laufe der Evolution entwickelt haben, "semantische Universalität" (J. Greenberg). Sie ist eine "Zwischenwelt aktiv gesetzter Symbolik" (A. Gehlen), die sich distanzierend zwischen uns und die Dinge schiebt, und gerade deswegen deren intensivere, intelligentere Bearbeitung ermöglicht: "Nur wenn ... Zeichen oder Symbole von Tätigkeiten und ihren Resultaten vorhanden sind, kann der Fluß (der Handlung; Anmerk. d.V.) wie von außen betrachtet, zwecks Prüfung und Begutachtung aufgehalten und dann reguliert werden... Wenn ... Phasen des Prozesses (der Handlung; Anmerk. d. V.) durch Zeichen dargestellt werden, ist ein neues Medium dazwischengetreten. Wenn Symbole miteinander verbunden werden, werden die wichtigen Beziehungen eines Ereignisverlaufs aufgezeichnet und als Bedeutungen bewahrt. Erinnerung und Voraussicht sind möglich; das neue Medium erleichtert Berechnung, Planung und eine neue Art des Handelns, die in das Geschehen eingreift, um seinen Verlauf im Interesse des Vorausgesehenen und Erwünschten zu lenken" (J. Dewey: Die Öffentlichkeit und ihre Probleme, S. 131f). Darüberhinaus gibt die Sprache ein Grundmodell für den eigentümlich dialogischen Charakter des menschlichen Verhaltens ab. Der Mensch tritt nicht, wie es die idealistische Lehre des 18. u. 19. Jh.s wollte, als fertiges "Subjekt", ausgestattet mit ethischen und utilitaristischen Zwecken und "natürlichen" Antrieben, der Welt gegenüber, sondern seine Zwecke, seine "Ideen", sein Handlungsvermögen, letztlich sein gesamter Habitus, entstehen erst in einer fragenden, experimentellen Auseinandersetzung mit seiner Umwelt: "Da es dem Menschen an jener organischen Leitung fehlte, die anderen Lebewesen durch ihre Struktur gegeben ist, mußte er erst herausfinden, in welcher Situation er sich befand, und er konnte es nur dadurch herausfinden, daß er die Umwelt studierte, die die Mittel, die Hindernisse und die

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Resultate seines Verhaltens konstituierte." (J. Dewey: Die Suche nach Gewißheit, S. 42). Schon im Urmenschen, der einen Stein aufnimmt, ihn in den Händen abwiegt, abtastet, dreht und wendet, um dann zu entscheiden, ob er besser als Hammer, als Wurfgeschoß oder, nach entsprechender Bearbeitung, als Faustkeil benutzt werden kann, offenbart sich diese "Sprachmäßigkeit" (A. Gehlen) des menschlichen Handelns. Dieses ist "in sich selbst schöpferisch und sachaufschließend" (A. Gehlen) und gewinnt der Natur durch jenen beispielhaft dargelegten praktischen, durch eine Kette von Wahrnehmungsleistungen und motorischen Aktivitäten vermittelten Dialog mit den Dingen ihre verwertbaren Möglichkeiten ab. Ohne dem stetigen Zusammenspiel zwischen wahrnehmender Hinwendung zur konkreten Sachlage, die die "Antwortbewegungen der Dinge" (A. Gehlen) erfaßt, und distanzierenden, auf dem sprachlich-intellektuellen Vermögen des Menschen aufbauenden Perspektivewechseln wäre dieser Dialog nicht möglich. Hätte der Urmensch im obigen Dialog nicht einen, dank seiner Sprache im Gedächtnis abgespeicherten Begriff von "oben" und "unten", oder anders gesagt: hätte er nicht die abstrakte Erfahrung zur Verfügung, daß alle Dinge zwei Seiten haben, so würde er den aufgehobenen Stein nicht umdrehen, so daß ihm eine wichtige Verwendungsmöglichkeit des Steines verstellt bliebe. Handeln und Sprache des Menschen bilden also letztlich eine Einheit, die es möglich macht, daß in jeder konkreten Handlung "das Entfernte und Vergangene" mit "enthalten" ist (J. Dewey: Erfahrung und Natur, S. 267). Werkzeuge: Der Mensch kann in einem bei Tieren unbekannten Maße Elemente der Umwelt in den Dienst seiner organischen Reproduktion stellen, indem er sie zweckmäßig umformt. Durch die Schaffung von Werkzeugen und Technologien hat der Mensch, das "toolmaking animal", von Beginn seiner Existenz an seine mangelhafte organische Ausstattung kompensiert. Die Aneignung der Natur ist für ihn im hohen Maße vermittelt durch dazwischengeschaltete "künstliche" Organe, die letztlich Produkte seiner Intelligenz darstellen. Diese Gedankenkette Gehlens, die die biologische Mangelkonstitution des Menschen, seine Intelligenz und seine durch Werkzeuggebrauch "vermittelte" Naturaneignung umfaßt, hat bereits Karl Marx, der sich - wie übrigens die meisten Philosophen - gelegentlich als klüger als sein System erwies, in einem Fragment aus den 1850er Jahren vorweggenommen. Er definierte Werkzeuge und Maschinen als "natürliches Material, verwandelt in Organe des menschlichen Willens über die Natur oder seiner Betätigung in der Natur. Sie sind von der menschlichen Hand geschaffene Organe des menschlichen Hirns; vergegenständlichte Wissenskraft" (Marx / Engels- Werke: Bd. 42. Berlin 1983, S. 602). Herstellung und Verwendungsweise der Werkzeuge sind dabei eingerahmt von kulturellen Konventionen, die den Handlungsroutinen des Menschen einen entlastenden "Außenhalt" geben. Sie sind "steinerne Begriffe" (A. Gehlen), die bei dem eingeweihten Individuum eine bestimmte erworbene Handlungsroutine, einen "primär versagten Automatismus des Verhaltens" (A. Gehlen), auslösen, ähnlich wie ein Schlüsselreiz beim Tier eine Instinkthandlung nach sich zieht. Institutionen: Institutionen bieten, ähnlich wie Werkzeuge einen stabilisierenden Außenhalt für das Handeln der "instinktlosen" Menschen. "Diese Stabilisierung besteht darin, daß die Menschen sich je zu ganz bestimmten, vereinseitigten, perspektivischen Inhalten der Außenwelt, ihrer eigenen menschlichen Natur und ihrer Denkbarkeiten entscheiden, und daß sie diese Entscheidungen eben durch ihre Institutionen hindurch festhalten" (A. Gehlen: Urmensch und Spätkultur, S. 89). Institutionen schreiben Regeln bzw. Organisationsmuster für beliebige Zwecke fest, die die Kooperation der Individuen erleichtern. Sie müssen bestimmte Sachregelungen im Bedarfsfall nicht jedesmal neu erfinden, wodurch sie entlastet werden, um sich neuen, unvorhergesehenen Problemlagen stellen zu können. Auch sind es i.a. die Institutionen einer Gesellschaft, die die Vermittlung und Forttradierung des bereits angehäuften kulturellen Wissens organisieren und durchführen. Die Institutionen der einzelnen sozialen Gruppen gewinnen, über ihren funktionalen Sinn für die Reproduktion dieser Gruppen hinaus, in der Regel einen Eigenwert, von dem das Sinnbedürfnis der Individuen zehrt. Durch diesen Eigenwert der Institutionen wird die Motivstruktur der menschlichen Individuen erst ausgeformt

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und diversifiziert, so daß sie den mannigfaltigen Ansprüchen der komplexen Beziehungen zwischen Gesellschaft und Umwelt gerecht wird. Auch genetisch gesehen genießt die "Selbstzweckautorität" (A. Gehlen) der Institutionen Priorität vor ihrem funktionalen Sinn. Sie entstehen - zumindest ursprünglich - in der Regel aus kulturell-religiösen Riten und behaupten sich dann in einer Art Ausleseprozeß, indem sie lebenswichtige Funktionen der jeweiligen sozialen Gruppe, sozusagen als ungewollten Nebeneffekt, wirksam mitregulieren. Aber auch in bewußt aus "utilitaristischen" Zwecken geschaffenen Institutionen entwickeln sich vermittels ihres Eigenwerts derartige Nebeneffekte. So können etwa eine Partei oder ein Berufsverband, die ursprünglich nur zum Zwecke der Interessenvertretung in der Öffentlichkeit begründet wurden, ein spezifisches "Ethos" entwickeln, das das Verhalten der Mitglieder untereinander und nach Außen steuert und somit zum integrativen Bestandteil der Gruppe wird, die ohne dieses Ethos in eine konturlose Masse zerfallen würde. Derartige Nebeneffekte der einmal erfolgreich etablierten Institutionen führen dazu, daß sie "rückwärts stabilisiert" werden (A. Gehlen). Diese Kernelemente des menschlichen Verhaltens, die Gehlen herausgearbeitet hat, eröffnen zugleich die entscheidenden Forschungsperspektiven für den Kulturwissenschaftler. Gesellschaften erschließen sich über ihren institutionellen Aufbau und die Art und den Umfang ihres Werkzeuggebrauchs. Beide Sphären sind als Anpassungsleistungen an konkrete Umweltprobleme aufzufassen, wobei die Umwelt als ein im steigenden Maße durch menschliches Handeln mitdefiniertes und -geformtes Objekt - als eine "Werkstätte des Seins" (W. James) - begriffen werden muß. Die Sprache schließlich eröffnet sich durch Gehlens Blick als eine "praktische" Angelegenheit, als ein regelrechtes "Verhaltenssystem" (C. W. Morris), durch das Menschen ihr eigenes und fremdes Verhalten steuern, regulieren und aufeinander abstimmen. Sie ist Ausdruck eines praktischen Verhältnisses zu den Dingen und zu den Menschen, so daß historische Praxis aus sprachlichen Relikten rekonstruiert werden kann. Das Prinzip der kulturellen Auslese: Die konkrete Mannigfaltigkeit geschichtlicher Formen wird letztlich von den angeführten Elementen der menschlichen Natur umfaßt. Entscheidend für die Entwicklungsfähigkeit des Menschen ist dabei das Zusammenspiel von entlastender Routine und freier Neuschöpfung von Handlungsmustern und Problemlösungen ("Rekonstruktion"), ein Gedanke, den Gehlen von den amerikanischen Pragmatisten (vor allem John Dewey) übernommen hat. Dank der modifizierbaren Natur des Menschen ist es ihm möglich, einen instinktersetzenden Habitus aus Gewohnheiten aufzubauen, der der Intelligenz den Freiraum läßt, auf neue Lebenslagen schöpferisch zu reagieren. Durch das Zusammenspiel von Gewohnheit und Innovation wird jener Mechanismus in Gang gesetzt, den Marvin Harris als "kulturelle Auslese" der genetischen Auslese gegenüberstellt. Die kulturelle, nicht etwa genetisch zu verstehende Innovationsfähigkeit des Menschen antwortet auf Problemlagen, die durch die menschlichen Bedürfnisse, den technisch-institutionellen Handlungsrahmen der Individuen und durch die ökologisch-ökonomische Ressourcenmenge definiert werden. Ist die Antwort der Menschen der jeweiligen Situation angemessen, geht sie als institutionalisierte Gewohnheit in den Habitus der Kultur ein. Ist sie dagegen unangemessen, verschwindet sie wieder: "Die menschlichen Kulturen sind organisierte Systeme sozial erworbenen Verhaltens und Denkens, die den Erfordernissen und Möglichkeiten der menschlichen Natur nachkommen bzw. Rechnung tragen. Die kulturelle Auslese steht im Dienst der menschlichen Natur. Sie funktioniert in der Form, daß sie Verhaltensweisen und Vorstellungen konserviert und durchsetzt, die den biologischen und psychologischen Bedürfnissen und Möglichkeiten der Menschen in einer bestimmten Gruppe oder Untergruppe am besten gerecht werden. Das soziale Leben erzeugt einen ständigen Strom von Spielarten in den Denk- und Verhaltensformen, und diese Spielarten unterliegen einer ständigen Überprüfung, inwieweit sie dem Wohlergehen förderlich sind oder schaden. Dieser Prüf- oder Testvorgang kann von bewußten Kosten/Nutzen-Überlegungen bei den Prüfenden begleitet sein oder auch nicht. Das Wichtige ist, daß sich manche Spielarten im Vergleich mit anderen als vorteilhafter erweisen und innerhalb der Gruppe (bzw. Untergruppe) oder durch die Generationen hindurch konserviert werden und sich verbreiten, während andere, die sich als weniger vorteilhaft herausstellen, nicht konserviert werden und sich nicht ausbreiten." (M. HARRIS: Menschen, S. 124).

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Die Fruchtbarkeit dieser Perspektive für die historische Forschung liegt auf der Hand. Sie kann durch eine Vielzahl "kompatibler" theoretischer Versatzstücke ausgefüllt werden, deren Zusammenwirken sie synthetisierend zu organisieren vermag.

LiteraturGEHLEN, Arnold: Probleme einer soziologischen Handlungslehre. In: Soziologie und Leben. Die soziologische Dimension der Fachwissenschaften. Hrsg. v. Carl Brinkmann. Tübingen 1952, S. 28ff DERS.: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. 13. Aufl. Wiesbaden 1986 DERS.: Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen. 5. Aufl. Wiesbaden 1986 DERS.: Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen. Reinbek bei Hamburg 1993 (als Einführung geeignet: S. 44ff) Über A. Gehlen: HONNETH, Axel / JOAS, Hans: Soziales Handeln und menschliche Natur. Anthropologische Grundlagen der Sozialwissenschaften. Frankfurt a.M. / New York 1980 (bes. S. 52ff) KLAGES, Helmut: Art. >Gehlen<. In: Staatslexikon. 7.Aufl. Bd. 2. Hrsg. v. der Görres-Gesellschaft. Freiburg u.a. 1986, Sp. 794ff (dort weiterführende Sekundärlit.) Als Ergänzung: BAUMGARTEN, Eduard: Die geistigen Grundlagen des amerikanischen Gemeinwesens. Bd. II: Der Pragmatismus: R.W. Emerson, W. James, J. Dewey. Frankfurt a.M. 1938 (S. 203ff, bes. S. 260-268) DEWEY, John: Psychologische Grundfragen der Erziehung. Der Mensch und sein Verhalten. Erfahrung und Erziehung. Hrsg. v. W. Correll. München / Basel 1974 DERS.: Erfahrung und Natur. Frankfurt a.M. 1995 DERS.: Die Öffentlichkeit und ihre Probleme. Hrsg. v. H.-P. Krüger. Bodenheim 1996 DERS.: Die Suche nach Gewißheit. Frankfurt a.M. 1998 HARRIS, Marvin: Cultural Materialism: The Struggle for a Science of Culture. New York 1980 (bes. S. 46-76) DERS.: Kulturanthropologie. Ein Lehrbuch. Frankfurt a.M. / New York 1989 DERS.: Menschen. Wie wir wurden, was wir sind. 2. Aufl. München 1997 JOAS, Hans: Die Kreativität des Handelns. Frankfurt a.M. 1996 STORCH, Volker / WELSCH, Ulrich: Evolution. Tatsachen und Probleme der Abstammungslehre. 6. Aufl. München 1989 (bes. S. 255ff)

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für:- P8 Rationalität bei Weber (M. Kuchenbrod) entspricht T8 (Geschichtsmethode und-

theorie) in altem Tutoriumsordner- P9 Die Annanles (M. Kuchenbrod) entsprciht T9 (Geschichtsmehtode und -theorie)- P 10 Der asketische Protestantismus bei Weber (M. Kuchenbrod) entspricht T10

Geschichtsmehtode und -theorie:

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