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SUBSTANTIV: ZUR GESCHICHTE DER KATEGORIE UND IHRER PROBLEMATIK WINFRIED THIELMANN 1 Zur Geschichte der Kategorie Substantiv (Nomen) Wie alle Wortartenkategorien hat auch die des Substantivs eine lange und wechselvolle Tradition. Der Terminus „Substantiv“ geht zurück auf das lat. nomen substantivum der scholastischen Grammatikschrei- bung. In diesem Terminus finden sich zwei zentrale Kategorien der griechischen Philosophie vereint: nomen (gr. onoma) und substantia (gr. ousia). Im Kratylos-Dialog sieht Platon den logos, also das Sprachliche schlechthin, aus onoma und rhema bestehend an. Dies ist allerdings noch keine klare Unterscheidung in Wortarten, sondern eher etwas, das den syntaktischen Kategorien Subjekt (onoma) und Prädikat (rhema) entsprechen könnte (vgl. Mager 1841, 111; Robins 1966, 320). Onoma und rhema sind meros logou, Redeteile. Zwischen Wortarten und Satzteilen wird auf dieser Stufe noch nicht unterschie- den. Ousia (substantia) ist hingegen eine Kategorie, die sich nicht direkter Reflexion über Sprache verdankt. Sie geht aus einem Denken hervor, das zwischen Sprache und Wirklichkeit noch nicht differenziert und daher seine Einsichten am Leitfaden der Sprache

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SUBSTANTIV: ZUR GESCHICHTE DER KATEGORIE UND IHRER

PROBLEMATIK

WINFRIED THIELMANN

1 Zur Geschichte der Kategorie Substantiv (Nomen)

Wie alle Wortartenkategorien hat auch die des Substantivs eine lange

und wechselvolle Tradition. Der Terminus „Substantiv“ geht zurück

auf das lat. nomen substantivum der scholastischen Grammatikschrei-

bung. In diesem Terminus finden sich zwei zentrale Kategorien der

griechischen Philosophie vereint: nomen (gr. onoma) und substantia

(gr. ousia).

Im Kratylos-Dialog sieht Platon den logos, also das Sprachliche

schlechthin, aus onoma und rhema bestehend an. Dies ist allerdings

noch keine klare Unterscheidung in Wortarten, sondern eher etwas,

das den syntaktischen Kategorien Subjekt (onoma) und Prädikat

(rhema) entsprechen könnte (vgl. Mager 1841, 111; Robins 1966,

320). Onoma und rhema sind meros logou, Redeteile. Zwischen

Wortarten und Satzteilen wird auf dieser Stufe noch nicht unterschie-

den.

Ousia (substantia) ist hingegen eine Kategorie, die sich nicht

direkter Reflexion über Sprache verdankt. Sie geht aus einem Denken

hervor, das zwischen Sprache und Wirklichkeit noch nicht

differenziert und daher seine Einsichten am Leitfaden der Sprache

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gewinnt (vgl. Wieland 19712). So bestimmt Aristoteles in seiner

Physik zunächst das „Werden“ als Grundcharakteristikum von Natur.

Anschließend versucht er, anhand des Beispielsatzes „Ein

ungebildeter Mensch wird ein gebildeter Mensch“ den Prinzipien des

„Werdens“ auf die Spur zu kommen (1,7 189b30ff). Dabei entdeckt

er, dass es immer etwas gibt, das sich im Werden durchhält (wie in

diesem Beispiel „Mensch“) und an dem Bestimmtheiten wechseln

(ungebildet – gebildet). Das, was sich im Werden durchhält, das

Zugrundeliegende, nennt er hypokeimenon (subiectum) und stellt fest,

dass es sich bei diesem Zugrundeliegenden immer um ousiai, also

„Substanzen“, handelt. Die begrifflichen Voraussetzungen für die

Kategorie nomen substantivum lassen sich also folgendermaßen

darstellen:

nomen substantivum

onoma rhema (meros logou) ousia logos hypokeimenon

Die mittlere Stoa reserviert den Terminus onoma für Eigennamen und

unterscheidet hiervon die prosegoriai, die „Gattungsnamen“ (z.B.

Baum, Hund etc.). Diese Differenzierung hatte zunächst nicht lange

Bestand und sollte erst in der lateinischen Grammatikschreibung als

nomen proprium versus nomen appellativum wiederkehren. Abgese-

hen hiervon bleibt die Kategorie onoma in der griechischen (z.B. Dio-

nysius Thrax) bzw. nomen in der lateinischen (Varro, Donat, Priscian)

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Grammatikschreibung erhalten. Über die Scholastik wird sie bis in die

Neuzeit tradiert (vgl. Lehmann/Moravcsik 2000, 732) und findet so

auch auf die Vernakulärsprachen (Volkssprachen) Anwendung (vgl.

Kaltz 2000, 696). Aufgrund von Flexionsähnlichkeiten im Griechi-

schen und Lateinischen umfasste die Kategorie onoma (nomen) ur-

sprünglich sowohl Substantive als auch Adjektive, wie dies heute

noch z.B. im Lateinunterricht gelehrt wird.

Das in dem Terminus onoma (nomen) abgebundene analytische

Substrat ist das „Namensmodell“ (Ehlich 2002, 74): Unter den onoma-

Begriff fallen Ausdrücke, die sich wie (Eigen-)Namen verhalten.

Durch die spätere Bestimmung nomen substantivum kam noch eine

ontologische Konkretisierung hinzu. Die Auffassung, dass Substantive

Dinge („Substanzen“ im aristotelischen Sinne) benennen, wurde für

die abendländische Sprachbetrachtung und selbst die modernere

Sprachphilosophie richtungsweisend: „Etwas benennen, das ist etwas

Ähnliches, wie einem Ding ein Namenstäfelchen anheften“

(Wittgenstein 19855, § 15).

Die folgenden Zitate aus der deutschen Grammatikschreibung

belegen, in welchem Maße die – im wesentlichen antiken –

Bestimmungen auf das Deutsche Anwendung finden:

„Das Nomen ist ein Wort, welches unmittelbar die Bedeutung eines

Dinges hat, von welchem etwas gesagt werden kann. Teutsch heißt es

Nennwort.“ (Aichinger 1754, 61)

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„Das Dingwort (Substantiv), entsprechend der Kategorie Ding (Sein,

Substanz), dient der syntaktischen Kennzeichnung des Satzgegenstan-

des (Subjekts), der Ergänzung (des Objekts) von Vorgangswörtern

(Verben) usw. (...)“ (Otto 1928, 205)

„Nomina benennen Größen. Das ist leicht einsehbar bei Wörtern wie

Fluß, Schrank, Lehrer, weil man sich die so benannten Größen ohne

weiteres sinnlich vorstellen kann. Aber auch Nicht-Gegenständliches,

Vorgänge, Zustände Eigenschaften können als Größe aufgefaßt und

dann durch ein Nomen benannt werden: Zuzug, Angst, Blässe und

viele andere. Diese Fähigkeit, praktisch Beliebiges als Größe zu be-

nennen, zeichnet das Nomen vor allen anderen Wortarten aus.“ (Engel

19882, 500)

2 Das „Namensmodell“ und seine kritischen Erweiterungen

Die Selbstverständlichkeit der Zusammenhänge zwischen onoma

(nomen) und ousia (substantia) wird in der Scholastik zunehmend

aufgebrochen. Besonders für Abstrakta scheint das Namensmodell

nicht zu greifen, so dass sich die Frage stellt, ob ihnen überhaupt et-

was in der Wirklichkeit entspricht (Universalienstreit). Eine kritische

Erweiterung des Namensmodells ereignet sich in der Logik Ende des

19. Jahrhunderts. In seiner Schrift „Über Sinn und Bedeutung“

(1892a) unterscheidet Frege zwischen Sinn und Bedeutung von Eigen-

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namen:

„Die Bedeutung eines Eigennamens ist der Gegenstand selbst, den wir

damit bezeichnen; die Vorstellung, welche wir dabei haben, ist ganz

subjektiv; dazwischen liegt der Sinn, der zwar nicht mehr subjektiv

wie die Vorstellung, aber doch auch nicht der Gegenstand selbst ist.

(...) Ein Eigenname (Wort, Zeichen, Zeichenverbindung, Ausdruck)

drückt aus seinen Sinn, bedeutet oder bezeichnet seine Bedeutung.

Wir drücken mit einem Zeichen dessen Sinn aus und bezeichnen mit

ihm dessen Bedeutung.“ (ebd., 27f)

Der Eigenname, als Zeichen, „benennt“ also nicht einfach ein Ding,

einen Gegenstand; dies ist vielmehr nur ein Teil seiner Funktionalität.

Der Eigenname „bedeutet“ den Gegenstand; zugleich drückt er aber

auch einen – objektiven – „Sinn“ aus, ohne den Verständigung nicht

möglich wäre. Der objektive „Sinn“, als etwas Psychisches, un-

terscheidet sich von den – ebenfalls psychischen – Vorstellungen, die

subjektiv sind. Dementsprechend haben die Ausdrücke Morgenstern

und Abendstern dieselbe Bedeutung (nämlich die Venus), aber nicht

denselben Sinn. Diese Unterscheidungen Freges wurden zunächst für

die Sprachphilosophie vor allem Wittgensteins und später für die

logische Semantik bedeutsam (vgl. Carlson 1991, 385ff). In moderner

Sprechweise werden in der Regel die Termini Extension (für

„Bedeutung“) und Intension (für „Sinn“) verwendet. Die linguistische

Befassung mit Sprache steht nun zunehmend unter dem Einfluss der

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Semiotik. Die Ausdifferenzierungen des Zeichenkonzepts erfolgen –

ohne dass dies in der Regel explizit gemacht würde – jedoch häufig

anhand eines „prototypischen“ Benennungskonzeptes, wie es bereits

im Namensmodell angelegt ist.

Das wohl für die Linguistik am einflussreichsten gewordene

Zeichenkonzept von Saussure (1916) ist gegenüber den Analysen Fre-

ges eine Reduktion. Saussure sieht das Zeichen als aus zwei Kompo-

nenten bestehend an: „Das sprachliche Zeichen vereinigt in sich nicht

einen Namen und eine Sache, sondern eine Vorstellung und ein Laut-

bild.“ (19672, 77) Mit „Vorstellung“ dürfte Saussure etwas Ähnliches

meinen wie Frege mit „Sinn“; weder die Fregeschen subjektiven

„Vorstellungen“ noch der Gegenstandsbezug, also der Bezug auf ein

Element der Wirklichkeit, sind in diesem Zeichenkonzept enthalten.

Da auch das Lautbild selbst von Saussure als „das innere Bild der

lautlichen Erscheinung“ (ebd.) gedacht wird, ist das Zeichen bei Saus-

sure etwas vollständig Innerpsychisches: Lautbild und Vorstellung

sind qua Assoziation im Gehirn untrennbar verbunden.

Der Psychologe Karl Bühler geht in seiner – in ihrer Wirkung

zunächst stark behinderten (s. Ehlich 2004) – Sprachtheorie (1934) in

mancher Hinsicht weit über diesen engen Zeichenbegriff Saussures

hinaus, indem er das sprachliche Zeichen als in der Sprechsituation

eingesetztes Mittel zu Zwecken begreift (Organonmodell). Sprechen

ist damit Handeln: „Denn jedes konkrete Sprechen steht im Lebens-

verbande mit dem übrigen sinnvollen Verhalten eines Menschen; es

steht unter Handlungen und ist selbst eine Handlung“ (ebd, 52; Hvg. i.

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O.). Die sprachlichen Mittel gehören nach Bühler zwei Feldern, und

zwar dem Zeigfeld (z.B. ich, hier, da) und dem Symbolfeld (z.B.

Tisch, essen, schön) zu und entfalten innerhalb dieser Felder ihre spe-

zifische Funktionalität. Was die Inhaltsseite des Zeichens betrifft,

kommt jedoch der russische Psychologe Lev Vygotskij, der sich etwa

zeitgleich mit Bühler mit kindlicher Begriffsbildung befasste, zu weit-

aus tiefgehenderen Einsichten (s. Redder 2004). Dies zeigt sich vor

allem in seiner – empirisch fundierten – Theorie des Begriffes: „Der

Begriff ist also unserer Meinung nach nicht ein Teil des Urteils, son-

dern ein kompliziertes System von Urteilen, das zu einer gewissen

Einheit geführt wurde“ (Vygotskij 1987, 414).

Hier kündigt sich etwas an, was innerhalb der modernen logi-

schen (vgl. den Überblick in Carlson 1991) und kognitiven Semantik

(z.B. Langacker 1987) kaum eine Rolle spielt und erst in Wierzbickas

„Natural Semantics“ eine gewisse Berücksichtigung findet: Die In-

haltsseite des Substantivs besteht in Wissenskomplexen, die ihrerseits

im gesellschaftlichen Handeln begründet sind. Bereits die elemen-

tarsten „Dingbegriffe“ erweisen sich unter diesem Gesichtspunkt als

hochkomplex (vgl. Wierzbicka 1985).

Die Schwierigkeiten beim Ansetzen „kognitiver Schemata“ ha-

ben wohl hierin ihre Ursache. So erkennt Langacker (1987, 186) zwar

richtig, dass „defining parent as ‘one who has a child’ runs into diffi-

culty because child (in the ‘offspring’ sense) would have to be defined

as ‘one who has a parent’.” Sein Lösungsvorschlag der Einführung

einer base (wohl: abstrakter Nenner), die in der „conception of two

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persons mating“ (ebd.) bestehen soll, ist insofern nicht zufriedenstel-

lend, als Kinder einander auch „in the ‘offspring’ sense“ als ihresglei-

chen erkennen, ohne notwendigerweise über eine Vorstellung von

„mating“ zu verfügen, während sich nicht nur in der literarischen

Wirklichkeit eines Leutnant Gustl der Begriff von „Kind“ gerade auf

die – unerwünschte – Konsequenz von „mating“ reduzieren kann.

Auch hier liegen im gesellschaftlichen Handeln basierte Wissenskom-

plexe vor.

Wissenschaftliche oder institutionelle Begriffe, die letztlich im-

mer auf elementarpraktische Konzeptionen rückführbar sein müssen

(vgl. Vygotskij 1964, 227ff), übersteigen diese Komplexität noch

einmal um ein erhebliches Maß (Thielmann 2004). Im Rahmen einer

solchen, das Wissen mit einbeziehenden Auffassung ist auch eine al-

ternative Bestimmung von Eigennamen möglich: „Ein Gegenstand

[ist] im gemeinsamen Wissen mit einer ‚Adresse’ gespeichert, die

über Eigennamen abrufbar ist: Karlchen, die Alpen“ (Hoffmann 1996,

207; Hoffmann 1999)

3 Morphologische und syntaktische Bestimmungen

Der lateinische Grammatiker Varro kann als der Begründer einer

morphologisch basierten Wortartenlehre gesehen werden. So lässt er

die Klasse der Nomina aus Ausdrücken bestehen, die nach Kasus, aber

nicht nach Tempus flektieren (s. Mager 1841, 118f; Kaltz 2000, 696).

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Bei der Anwendung der griechisch-lateinischen Kategorien auf das

Deutsche überwiegen jedoch meist semantisch-ontologische Kriterien

bei der Bestimmung der Hauptwortarten, wenn auch schon früh die

Schwierigkeiten der Abgrenzung erkannt werden:

„Das nomen ist, wie wir gehört haben, das subiectum: aber es kommt

auch im praedicato immer mit vor. Sieht man nur auf die äusserliche

Veränderung und Stellung der Wörter: so werden schlechte

Namensbeschreibungen daraus (...). Auf beides zugleich Acht haben,

gelinget auch selten. Z. B. die gemeine Beschreibung des verbi heißt:

Es bedeutet ein Thun oder Leiden. Eben dergleichen bedeutet auch die

Arbeit, das Zahnweh. (...) Da man hierinnen fünf muß gerade seyn

lassen: so wollen wirs wagen, was wir zu Wege bringen können“ (Ai-

chinger 1754, 60f).

Bei der Bestimmung der Hauptwortarten „fünf gerade sein lassen zu

müssen“, ist auch das Fazit des Junggrammatikers Hermann Paul:

„Der Versuch, ein streng logisch gegliedertes System aufzustellen, ist

überhaupt undurchführbar.“ (1880, 252). Versucht man z.B., die Sub-

stantive aufgrund ihrer Bedeutung zu isolieren, ergibt sich die Schwie-

rigkeit, „dass es doch auch substantivische Bezeichnungen der Eigen-

schaft und des Geschehens [gibt]“ (ebd.). Nimmt man hingegen eine

syntaktische Klassifikation vor, etwa, dass Substantive in der Rolle

des Subjekts, Objekts, Prädikativs etc. erscheinen, so wird man mit

der Tatsache konfrontiert, dass „auch andere Wörter als Subj[ekte]

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fungieren [können]“, wie z.B. in dem Satz „grün ist die Farbe der

Hoffnung“ (ebd.). Einer rein morphologisch begründeten Isolierung

z.B. der Klasse der Substantive steht entgegen, dass sich „(...) auch

hierbei die Nominalformen des Verbums und die substantivierten

Indeklinabilia widerstrebend [zeigen]“ (ebd.).

Im weiteren Verlauf der linguistischen Forschung im 20. Jh.

kommt es zu mehreren Versuchen, kriterienreine Wortklassensysteme

zu etablieren, so z.B. Sütterlin (1900) auf morphologischer, Hermann

(1928) und Bergenholtz/Schaeder (1977) auf syntaktischer Basis.

Gleichzeitig ist zu beobachten, dass die Hauptwortarten vor allem in

generativen Ansätzen als quasi naturgegeben vorausgesetzt werden:

„Die Wortartentheorie im Rahmen der X-Bar-Syntax versucht keine

differentielle Definition der Wortarten: Die Hauptwortarten gelten als

unanalysierbare Primitive (...)“ (Knobloch/Schaeder 2000, 681).

Redder (2005) bietet einen – auf einer Handlungstheorie der Sprache

basierenden – Ansatz, der nicht von Wortarten ausgeht, sondern diese

im Sinne von Ehlich (20022), Zifonun/Hoffmann/Strecker (1997) und

Hoffmann (2003) vielmehr aus den kleinsten Einheiten sprachlichen

Handelns, den Prozeduren, entstehen lässt. So werden z.B. Ausdrücke

wie Tisch oder schön im Rahmen einer erweiterten Bühlerschen Feld-

konzeption als symbolische Prozeduren begriffen, durch die der Spre-

cher den Hörer dazu veranlasst, ein „sprachlich verfasstes Wissen über

Wirklichkeit(selemente) zu aktualisieren“ (ebd., 49). Die Hauptwort-

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arten im Deutschen entstehen im Rahmen dieser Auffassung vor allem

durch ein Zusammenwirken symbolischer und operativer, d.h.

Versprachlichtes für den Hörer bearbeitender, Prozeduren. Diese Auf-

fassung ermöglicht u.a. eine elegante Beschreibung der sogenannten

Substantivierung, die schon Paul als typischen Problembereich der

Wortartenbestimmung ansah: Ein Stamm wie -arbeit- wird als purer

Symbolfeldausdruck gesehen, der keiner Hauptwortart angehört.

Durch Fusionierung mit der operativen Prozedur -en entsteht erst die

Form des verbalen Infinitivs und damit die Klasse der Verben (ebd.,

53). Wird nun der Infinitiv in einer „standardisierten Kombination“

(ebd., 54) mit einem Artikel verbunden (z.B. das Arbeiten), „ist“ er

nicht einfach ein Substantiv, sondern die substantivische Qualität

entsteht aus dem Zusammenwirken der prozeduralen Fusion arbeiten

und ihrer Kombination mit einem – operativ das Hörerwissen

bearbeitenden – Determinativum (s. hierzu auch Ehlich 2003).

Während die Isolierung der Substantive als Wortklasse im

Deutschen aufgrund syntaktischer und morphologischer Kriterien

wegen der sprachlichen Verfahren der Substantivierung und der

Wortbildung nicht unproblematisch ist, gibt es dennoch ein Merkmal,

aufgrund dessen sich zumindest „Substantive/Nomina im engeren

Sinne“ als Wortklasse bestimmen lassen: „Nomina sind Wörter, die

ein bestimmtes Genus haben.“ (Engel 1988, 500; hierzu auch

Köpcke/Zubin 1984, 2005, Leiss 1994 und Froschauer 2003).

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4 Substantiv: Deutsch – Latein – Englisch im Vergleich

Dass ein Ausdruck ein Substantiv ist, erkennt man im Deutschen am

Genus. Jeder genushaltige Stamm kann als freies Morphem realisiert

werden (z.B. Die Wand ist weiß). Im Lateinischen, einer artikellosen

synthetischen Sprache, bestehen Substantive hingegen zumindest aus

einem Stamm und einem weiteren grammatischen Morphem, das Nu-

merus und Kasus indiziert. Die Genuszuordnung erfolgt über Dekli-

nationsklassen. Substantive werden also als Wortformen (d.h. als Fu-

sionen symbolischer und operativer Prozeduren) realisiert (vin-um;

nav-em; fruct-u). Von den Adjektiven unterscheiden sich lateinische

Substantive durch ein geringeres Flexionspotential bzw. ihre Genus-

stabilität (nov-us aber nicht *vin-us). Diese Wortformen sind grund-

sätzlich satzgliedfähig. So ist increment-a in dem folgenden Beispiel

direktes Objekt zu acquirere:

(1)

lapid-em (...) nov-a deinceps velocitat-is acquir-ere

Stein-Mask.- neu-Neutr.- nacheinander Geschwindigkeit- aufnehmen

Akk.-Sing. Akk.-Pl. Fem.-Gen.-Sing.

increment-a animadvert-o1

Zuwachs-Neutr.- ich nehme wahr

1 „Dum igitur lapidem, ex sublimi a quiete descendentem, nova deinceps

velocitatis acquirere incrementa animadverto, (...)” – Wenn ich daher wahrnehme, dass ein Stein, der aus der Höhe von der Ruhelage herabfällt, sukzessive neue Geschwindigkeitszuwächse erfährt, (...) (Galilei 1637, 197f, Übers. W.T.)

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Akk.-Pl

ich nehme wahr, dass ein Stein sukzessive neue Geschwindigkeitszu-

wächse erfährt

Dass nova Attribut zu incrementa ist, geht hingegen lediglich aus der

Kongruenz hinsichtlich der grammatischen Kategorien Genus, Nume-

rus und Kasus hervor. Die Abfolge der Wortformen ist tendenziell frei

(d.h. für andere Zwecke, z.B. den der Informationsverteilung und -

gewichtung, nutzbar); zur Phrasenbildung, also zur Herausbildung von

Wortgruppentypen mit strukturellen Zentren, kommt es nicht.

Im modernen Deutsch ist hingegen die Kasusflexion des Sub-

stantivs auf den Genitiv Singular (Maskulina und Neutra) sowie den

Dativ Plural beschränkt. Substantive allein können daher im Gegen-

satz zum Lateinischen ihren syntaktischen Status meistens nicht an-

zeigen. Diese Aufgabe fällt anderen Ausdrücken (z.B. den Determi-

natoren) zu, mit denen das Substantiv Nominalphrasen bildet. Erst

diese Phrasen besitzen Satzgliedstatus und können weitgehend nach

sprachexternen Gesichtspunkten (z.B. Informationsverteilung und -

gewichtung) innerhalb der durch das Prädikat geschaffenen Felder-

struktur (s. z.B. Drach 1937, Rehbein 1992, Zifo-

nun/Hoffmann/Strecker1997) positioniert werden (vgl. Den Computer

habe ich schon bestellt.).

Aufgrund der Rektionsbeziehungen zwischen Substantiv und

Determinator sowie der Flexion adjektivischer oder partizipialer At-

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tribute besteht auch innerhalb komplexer Nominalphrasen ein starker

struktureller Zusammenhalt, weswegen Weinrich (1993) von Nomi-

nalklammer spricht:

(2)

[[[[dasNeutr./Sing. [[gegen [heftigenMask./Sing./Akk.

WiderstandMask./Sing.]NP [derGen. Opposition]NP (Gen.-

Attr.)]PP(Adv.) verabschiedete]Part.Attr. GesetzNeutr./Sing.]]]]NP

Durch den Determinator das wird eine Hörer/Leser-Erwartung auf

einen mit ihm hinsichtlich Genus, Numerus und Kasus kongruieren-

den nominalen Kopf ausgelöst. Dass direkt nach dem Determinator

die Präposition gegen auftritt, bedeutet für die hörerseitige Voraus-

konstruktion, dass zunächst eine als Präpositionalphrase realisierte

adverbiale Bestimmung oder Ergänzung zu einem attributiven Partizip

zu verarbeiten ist.

Die Nominalphrasenstruktur im Deutschen wird mithin

wesentlich dadurch bestimmt, dass ein genushaltiger Symbolfeldaus-

druck, also ein Substantiv, das strukturelle Zentrum bildet. Weitere an

der Nominalphrasenbildung beteiligte Wortarten und -formen des

Symbolfeldes (z.B. Adjektive und Partizipien) sind durch ihre Flexi-

onscharakteristika gekennzeichnet und hinsichtlich ihres syntaktischen

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Status ausgewiesen (z.B. als Attribut). Für den Hörer/Leser ist also

bei der Verarbeitung einer deutschen Nominalphrase klar, wie die be-

teiligten Symbolfeldausdrücke im ontologischen Sinne benennen und

in welcher syntaktischen Beziehung sie zueinander stehen.

Im Englischen, einer weitgehend isolierenden Sprache, liegen

die Verhältnisse völlig anders. Da die Kasusmorphologie auf die Pro-

nominalkasus beschränkt ist, wird der syntaktische Status von Satz-

gliedern durch ihre Abfolge (S-P-O) indiziert (Hawkins 1986, 37ff).

Im Gegensatz zum Deutschen gibt es kaum grammatische (operative)

Indikatoren dafür, wie ein Symbolfeldausdruck (im ontologischen

Sinne) benennt. Hauptwortarten gibt es also nicht in demselben Sinne

wie im Deutschen. Vogel schreibt hierzu:

“(...) many lexemes are now ‘underspecified’ for ‘word classes’;

moreover, the specification takes place on the syntactic level by

phrase markers, e.g. articles.” (Vogel 2000, 274)

Die puren Symbolfeldausdrücke (Redder 2005) erfahren ihre ontologi-

sche Vereindeutigung daher über die Phrasenstrukturen, die vom Hö-

rer/Leser wiederum auf Basis seines Wissens über Abfolgeregularitä-

ten von Satzgliedern sowie semantische Kompatibilität zu kombinie-

ren sind:

3a) The beautiful act selfishly.

3b) The beautiful act of random kindness occurred when an eld-

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erly gentleman pulled up (...). (Internet-Beleg)

4a) He’s the boss.

4b) Don’t boss me around!

In 3a) ist der pure Symbolfeldausdruck beautiful Kopf der No-

minalphrase in Subjektposition, da nach ihm – am Adverb erkennbar –

ein Prädikat auftritt: act selfishly. Der ontologische Status der durch

beautiful und act symbolisierten Gehalte (abstrakter Gegenstand –

Eigenschaft - Handlung) ist für den Hörer/Leser aus seinem (implizi-

ten) Wissen über Satzgliedabfolgen zu rekonstruieren. In 3b) ergibt

sich für den Hörer/Leser der attributive Status von beautiful retro-

spektive daraus, dass act aufgrund des folgenden Präpositionalattri-

buts Kopf der Nominalphrase sein muss und daher nicht Prädikat sein

kann. Dass boss in 4a) Kopf einer Nominalphrase ist, wird daraus er-

sichtlich, dass nach dem enklitischen is ein Determinator auftritt, wo-

durch ein durch eine Nominalphrase realisiertes Prädikativ angekün-

digt wird. In 4b) ist boss hingegen Teil des Prädikats, da die Verbform

don’t vorhergeht.

Zusammenfassend: Im Lateinischen bestehen Substantive aus

genusstabilen satzgliedfähigen Wortformen, die Numerus und Kasus

besitzen. Diese Wortformen sind im Satz frei, also z.B. auf Zwecke

der Informationsverteilung hin, positionierbar. Die Wortformen sind

prozedural komplex im Sinne von Redder (2005): Sie sind

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prozedurale Fusionen aus mindestens einer symbolischen und einer

operativen Prozedur (amic-us).

Im Deutschen sind Substantive im einfachen Fall genushaltige

Stämme, die (von Stoff- und Eigennamen abgesehen) mit Determina-

toren und quasi-determinativen Ausdrücken satzgliedfähige Phrasen

bilden. Aufgrund der Kasusmarkierung am Determinator sind diese

Nominalphrasen in der durch den Verbalkomplex eröffneten Felder-

struktur relativ frei positionierbar. Substantivische Qualität erhalten

Stämme wie Topf durch das operative Moment des Genus; sie sind

also nicht als pure Symbolfeldausdrücke aufzufassen.

Im praktisch kasuslosen Englischen ist die Satzgliedabfolge fest.

Pure Symbolfeldausdrücke erhalten substantivische Qualität (d.h. on-

tologische Vereindeutigung des durch sie benannten Gehaltes) über

Phrasenstrukturen, die ihrerseits vom Hörer/Leser anhand impliziten

Wissens über die Satzgliedabfolge und semantische Kompatibilität der

beteiligten Symbolfeldausdrücke zu rekonstruieren sind.

5 Fazit

Wie die Geschichte der Kategorie Nomen/Substantiv zeigt, besitzt das

– auf die Antike zurückgehende – “Namensmodell” eine in seinen

Grundzügen ungebrochene Tradition, die von einem gewissen ontolo-

gischen Apriorismus geprägt ist, der dazu tendiert, die Kategorie des

Wissens zu ignorieren. Rein morphologische und syntaktische Versu-

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che einer Abgrenzung erweisen sich ebenfalls schwierig. Die Pro-

bleme lassen sich, wie die generative Grammatik zeigt, auch weges-

kamotieren, indem man die nie verstandene Wortart Substantive auf

Basis dessen, was man hinsichtlich ihrer zu wissen vermeint, zum

Universale erhebt.

Der Vergleich der Verhältnisse in drei typologisch verschiede-

nen Sprachen hat ergeben, dass die Wortklasse Substantiv nicht als

Universale angesetzt werden kann, da es etwas Grundverschiedenes

ist, ob, wie im Englischen, eine quasi-substantivische Qualität purer

Symbolfeldausdrücke mit Mitteln der Serialisierung hergestellt wird,

oder, wie z.B. im Deutschen, bestimmte Symbolfeldausdrücke durch

das operative Moment des Genus hinsichtlich ihrer Nennqualität als

Substantive ausgewiesen sind.

Insgesamt, so lässt sich resümieren, benennen – morphologische

– Substantive ‚mehr’, als sich mit dem „Namensmodell”, auch in sei-

nen kritischen Erweiterungen, fassen lässt. Die Bestimmung der Aus-

drucksklasse über eine Charakterisierung der durch sie benannten Ge-

halte ist ebenfalls kaum möglich. Weitgehend abgesehen wird, da das

Problem der Abgrenzung im Vordergrund steht, von der Frage der

Bedeutung der Wortklasse für die Sprecher. Die Grammatikschrei-

bung tradiert mit dem antiken Konzept des Nomens/Substantivs einen

Fundamentalkonsens, zu dem sie, so scheint es, auch nach den kri-

tischsten Ausflügen wieder zurückkehrt, da sich Sprache kraft seiner

dennoch irgendwie beschreiben lässt, auch wenn „man hierinnen fünf

muß gerade seyn lassen”.

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