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DigBib.Org: Die digitale Bibliothek Georg Simmel Über die Grundfrage des Pessimismus in methodischer Hinsicht

Ueber Die Grundfrage Des Pessimismus in Methodischer Hinsicht

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    Georg Simmelber die Grundfrage desPessimismus in methodischerHinsicht

  • Quelle:http://www.digbib.org/Georg_Simmel_1858/Ueber_die_Grundfrage_des_Pessimismus_in_methodischer_HinsichtErstellt am 30.06.2004DigBib.Org ist ein ffentliches Projekt. Bitte helfen Sie die Qualitt der Texte zu verbessern: Falls SieFehler finden bitte bei DigBib.Org melden.

  • Die vorliegende Untersuchung gilt der Frage, in welcher Weise und nach welchem Mastab sichLust und Leid des Lebens gegeneinander abwgen lassen und welche Folgen sich daraus fr dieBerechtigung aller jener Behauptungen ergeben, da das Quantum der auf Erden vorhandenenUnlust das der Lust - oder umgekehrt - berwiege.

    I.

    Zunchst sei das Selbstverstndliche erwhnt, da das Bewutsein, das Quantum eines gewissenSchmerzes bersteige dasjenige einer gewissen Lust, niemals in der Empfindung selbst unmittelbarliegt, sondern ein verstandesmiges, wie auch immer verdichtetes und dunkles Urteilenvoraussetzt, das in den Empfindungen nur seine an sich verbundenen Elemente vorfindet; schondie Thatsache, da wir die Intensitt der einen Empfindung mit der Dauer einer andern kompensiren,zeigt hinreichend die Spontaneitt, den vermittelten Charakter eines derartigen Urteils. Und dieseSynthese ist noch anderer Art als etwa in dem Bewutsein, da der Grad einer Lust A den einerandern B bersteigt. Denn so wenig selbst hier der Inhalt der einen Empfindung blo als solcheretwas ber sein Verhltnis zur andern aussagte, so bedarf es doch auer den synthetischenFunktionen berhaupt keines auerhalb jener beiden Empfindungen gelegenen Momentes, um ihrquantitatives Verhltnis zu beurteilen; die eine wird zum Mae fr die andere, weil wir in derreproduktiven Synthesis wahrnehmen: im Quantum von A ist das Quantum von B enthalten undauerdem noch etwas; whrend etwa B uns noch im Bewutsein ist, erleben wir A und sehen, wie esgleichsam ber den Teilstrich der Skala hinaussteigt, den die Grenze von B gezeichnet hat, so dawir mit unmittelbarer Bestimmtheit urteilen knnen: der Lustwert von A ist grer als der von B; und soverhlt es sich selbstverstndlich auch mit den Unlustsummen untereinander.

    Anders aber, wenn ich die Quanta einer Lust und einer Unlust mit einander vergleichen soll. Eshandle sich hier noch nicht um eine genauere Graduirung, sondern nur um die Bestimmung, dasie berhaupt gleich, resp. welches von ihnen das in seiner Art berwiegende sei. Von einerunmittelbaren gegenseitigen Messung von Lust und Leid liee sich etwa dann sprechen, wenn siesich so aufhben, da ein gleichgiltiger Zustand resultirte; allein das Sichaufheben zweierentgegengesetzter Empfindungen ist immer nur ein bildlicher Ausdruck, und nie paralysiren siesich wie entgegengesetzt gerichtete Krfte, die auf einen Punkt wirken; vielmehr werden selbst beivlliger Gleichzeitigkeit beide nebeneinander empfunden - recht deutlich ist dieses bei der Wollustdes Schmerzes und dem Schmerze der Wollust -, ohne da anders als in der nachfolgendenReflexion ein wirkliches Subtrahiren der einen von der andern stattfnde. Ich kann hier offenbarnicht wie bei zwei gleichartigen Empfindungen unmittelbar das Quantum der einen als in dem derandern enthalten erkennen. Selten wird ein Mensch, auch der unerfahrenste, im Zweifel sein,welche von zwei Freuden die grere ist - wenn er auf das bloe aktuelle Empfindungsquantumachtet und von allen mitspielenden nicht-eudmonistischen Momenten absieht; denken wir unsdagegen ein Wesen, das noch keine Erfahrung ber die Verteilung von Lust und Leid im Leben hat,so wird es vllig ungewi sein, ob es eine Freude bestimmten (als ihm bekannt vorausgesetzten)Grades opfern soll, um einem bestimmten Leiden zu entgehen, ob es dies und das Leidenfreiwillig auf sich nehmen soll, um dafr eine bestimmte Freude zu gewinnen, ob es andern einengewissen Schmerz zufgen darf, weil er die conditio sine qua non einer bestimmten Freude ist;kurz, wir knnen a priori und ohne aus der bloen Synthesis der bloen Lust- undSchmerzempfindung herauszugehen, unmglich wissen, welches Quantum Leid durch einbestimmtes Quantum Freude aufgewogen wird. Es knnten in dieser Abwgung nicht so groeSchwankungen, sowohl unter den Individuen wie im Laufe eines Einzellebens stattfinden, wennjede Lustempfindung das Bewutsein eines bestimmten Grades mit sich fhrte, der ohne weitressein Plus oder Minus einer gewissen Leidempfindung gegenber bestimmte.

    Vllig miverstndlich wre hier der Einwurf, da doch auch die Abschtzung der Freudenuntereinander und der Leiden untereinander den grten Schwankungen unterliegt. Denn nicht obein schon als solches bestimmtes Freudenquantum grer oder kleiner sei als ein andres, ist dieFrage fr den, der sie nebeneinander vorstellt; alle Differenz betrifft vielmehr die Frage, welchesObjekt als Ursache die grere oder die kleinere Freude erzeugt; nur darum wird gestritten, nurdarber wechselt der Geschmack und die Schtzung, ob der Vorgang m oder der Vorgang n diegrere Freude zur Folge hat. Liegen dagegen zwei Lustquanta rein als solche schon vor, so istceteris paribus mit ihnen unmittelbar gegeben, welches das grere sei. Hier aber sprechen wir vondem Abschtzen der relativen Werte der Empfindungen selbst, nicht von dem Empfindungswertgewisser Ursachen. Jene, erst im Lauf des Lebens und Erfahrens allmhlig weichende Unsicherheitdarber, wo der Nullpunkt zwischen einem Lustquantum und einem Schmerzquantum liege,

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  • beweist, da er sich nicht selbstverstndlich aus dem bloen Nebeneinanderhalten beiderEmpfindungen ergiebt, sondern sich erst auf Grund von Erfahrungen entwickelt. - Zu denwichtigsten Entdeckungen der neueren Erkenntnistheorie und Psychologie gehrt die Erkenntnis,da Vorstellungen, die sonst fr unmittelbar sinnliche, mit der Empfindung eo ipso gegebenegehalten wurden, komplizirte Resultate verstandesmiger Operationen, Urteile und Schlsse, sind;auch in der Axiologie mssen wir durchaus vor Augen behalten, da zwar Lust und Leid, aber nichtihr wechselseitiges Plus und Minus Empfindungssache ist, sondern ein Abmessen an einem durchErfahrung und Reflexion gewonnenen Mastabe bedeutet; nach diesem eben ist hier die Frage.

    II.

    Denken wir uns ein allwissendes Wesen nach Art des Laplaceschen Universalgeistes, welchesdie gesamten Lustempfindungen und die gesamten Leidempfindungen der Welt berblickt unddurch passende mathematische Operationen feststellen kann, wieviel von dem einen und demandern im Durchschnitt auf jedes empfindende Individuum kommt. Ein solcher lediglichbeobachtender Geist wrde von seinem objektiv-realistischen Standpunkt aus nur von denjenigenIndividuen, deren thatschliches Empfindungsquantum ein Minus von Lust gegenber diesemDurchschnitt zeigt, behaupten, da ihre Lustbilanz negativ sei; wer den genauen Durchschnittaufweist, dessen Leben htte genau soviel Lust, wie seiner Unlust quivalent ist, etc. Da er keinenidealen Mastab besitzt, aus dem sich a priori ergbe, wieviel Lust da sein mte, um das Leidquantumauszugleichen, so ist fr ihn die Behauptung ganz sinnlos, da es mehr Leid als Lust auf Erden gbe.Da sich Lust und Leid nicht unmittelbar aneinander messen, da es ferner keinen dritten formalenMastab fr sie giebt - wie er fr Krpergren der verschiedensten Art der Meterstock ist -, so ist fr ihnkeine Schtzung der relativen Werte der Leid- und Lustquanta denkbar, als eine solche, die sich amVergleich des einzelnen eudmonistischen Schicksals mit dem Durchschnitt ergiebt. DiesenDurchschnitt selbst gro oder klein zu finden, htte fr ihn keine andre logische Berechtigung als dasUrteil, da der Durchschnitt der Menschen in krperlicher Beziehung gro oder klein ist; der einzelneMensch kann wohl gro oder klein sein, aber das heit eben, da er ber oder unter dem Durchschnittsteht; dieser selbst ist weder gro noch klein, weil er dasjenige ist, an dem berhaupt erst Gre oderKleinheit bestimmt werden kann. Die Erfahrungen, von denen wir am Schlusse von I. gesprochenhaben, sind fr diesen Geist also beschlossen in dem Wissen des wirklichen Verhltnisses zwischenLust und Leid im Ganzen der Welt; so da jede Lust genau soviel Schmerz aufwiegt, wie imDurchschnitt thatschlich auf sie kommt und nur diejenige Lust zu teuer bezahlt ist, fr die daserlittne Unlustquantum unter jenem realen Durchschnitt bleibt. Wir wollen nun untersuchen, ob derAxiolog, der ber das Verhltnis von Lust und Leid fr den Menschen berhaupt meditirt, mit Rechteinen andern Mastab annimmt, als ihn dieser Geist in absoluter Vollendung besitzt.

    III.

    Die ganze Frage nach dem Quantittsverhltnis von Lust und Leid, das erforderlich wre um siesich gegenseitig ausgleichen zu lassen, kann man betrachten unter dem Bilde des Kaufes einesbestimmten Wertgegenstandes gegen ein bestimmtes dafr zu bringendes Opfer; nicht als ob diesein bloes Gleichnis und deshalb ohne stringente Beziehung wre, sondern es drckt vielmehr dasallgemeine Verhltnis aus, von dem jene Abwgung ein Spezialfall ist und dessen Gesetze undBestimmungen deshalb auch fr diesen bindend sind. Wir fingiren den absolutenDurchschnittsmenschen (dem eudmonistischen Schicksal nach), dem die Gesamtfreudensummeseines Lebens zum Kauf angeboten wird fr die bestimmte Leidsumme, die er dafr zu bernehmenhat; der Pessimist sagt ihm nun: Wenn du dies Geschft machst, so kommst du nicht auf deineKosten; du mtest ein viel greres Lustquantum erhalten, damit die Bilanz stimmt; die Freuden, diedir angeboten werden, sind mit dem geforderten Preis an Leiden zu teuer bezahlt.

    Die so ausgesprochene Behauptung, man msse die Freuden des Lebens mit mehr Schmerzenbezahlen als sie wert sind, ist also methodologisch ebenso zu behandeln wie die Klage, man seimit einem gekauften Gegenstand berteuert worden. Offenbar aber habe ich zu dieser nur danndas Recht, wenn ich denselben Gegenstand von einem andern Verkufer billiger bekommen kann;a priori und rein sachlich existirt nicht der geringste Zusammenhang zwischen dem gekauftenGegenstand und irgend einem Preise, sondern ganz allein die Konvention samt den auf sieeinwirkenden uern Bedingungen bestimmt einen Preis als den richtigen, als den, den die Sachewert ist; man kann deshalb - weder vom Standpunkt des Kaufmanns noch von dem desKonsumenten - von ihr sagen, sie sei mehr oder weniger wert, als durchschnittlich unter denbestimmten Umstnden fr sie bezahlt wird oder etwa aus der Analogie mit andern gleichfallskonventionell fixirten Warenpreisen zu erschlieen ist. Es ist also nie eine Sache schlechthin billigoder teuer, sondern nur durch den Vergleich mit dem Preise, fr den sie durchschnittlich zubekommen ist; weder ist ein Diamant fr 5000 Mark teuer, wenn er eben nirgends billiger zu habenist, noch ein Kommibrod fr 10 Pfennige billig, wenn es berall so geliefert wird; andre Preise als dieso real fixirten, resp. nach realen Analogieen zu fixirenden sich auszudenken und fr die richtigen

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  • zu halten, ist eitel Phantasterei. Demgem ist die Klage, da man die Freuden des Lebens mit zuvielen Schmerzen, also zu teuer, bezahlen msse, nur dann gerechtfertigt, wenn dieselben Freudenallgemein und im Durchschnitt billiger zu haben sind; dieser Durchschnitt selbst ist aber wederteuer noch billig, weil er vielmehr das ist, woran die Teuerkeit oder Billigkeit des einzelnen Falleserst gemessen wird. Wie wir also - um bei dem in II. angefhrten Beispiele zu bleiben - erst dannsagen drften, der Durchschnittsmensch sei klein, wenn wir etwa von grern Menschenwesen aufandern Planeten wten, so knnen wir mit objektivem und logischem Recht erst dann sagen, derMensch habe im Durchschnitt zu wenig Freuden im Verhltnis zu seinen Leiden, wenn dasselbeFreudenquantum irgendwo fr ein geringeres Leidensquantum zu haben wre. Aber ein solches darfnicht blos gedacht werden, sondern mu mgliche Erfahrung sein; andernfalls ist jene Behauptungeine bloe Erdichtung und zerstrt vllig den Begriff des Wertes als einer an objektivem Maastabfestzustellenden Gre. Der Satz: es gebe mehr Schmerzen in der Welt, als durch die in ihrvorhandnen Freuden aufgewogen wrde, gleicht mit einer leicht vorzunehmenden mutatiomutandorum dem: es gebe mehr Diamanten in der Welt, als je bezahlt werden knnten. Der Preisder Diamanten richtet sich ja eben nach der Quantitt, in der er existirt; und das Urteil, da es - imGanzen der Welt und unter Vernachlssigung der durch uern Zufall entstehenden Ausnahmen -immer so viel kaufendes Geld gibt wie es zu kaufende Ware gibt, ist ein analytischer, weil derPreis berhaupt nichts ist als der analytische Ausdruck fr das Verhltnis zwischen vorhandenemGeld und vorhandener Ware. Sowie der Schmerz in Abwgung gegen die Lust tritt, sowie nur eineinziges Mal zugegeben ist, da ein gewisser Grad, von ihm durch irgend einen Grad von Lustaufgewogen werden knne - so unterliegen beide den allgemeinen methodologischen Grundstzenund Bestimmungen ber das Verhltnis einander ausgleichender Werte.

    IV.

    Die folgende Mglichkeit inde scheint sich noch darzubieten, um die Negativitt der Lustbilanz imGanzen und Durchschnitt des Erdenlebens aufrecht zu erhalten. Man knnte den Lustwert desLebens ungengend finden gegenber einem bestimmten Ideal, das das Leben erst lebenswertmachte, wie man die vorhandne Sittlichkeit unzureichend findet gegenber dem ethischen Ideal,das die Welt berhaupt erst zu einer wirklich wertvollen machen wrde; so wenig der ideale Ethikeran dem Durchschnitt der menschlichen Handlungen den positiven oder negativen Wert einerHandlung ermit, so wenig brauche es der Axiolog. Allein mit diesem Gleichnis begibt man sich derMglichkeit, berhaupt je irgend einen Grad von Schmerz durch irgend einen Grad von Lustausgleichen zu lassen. Denn vom Standpunkt des Ideals aus kann eine Unsittlichkeit nieausgeglichen werden, das ethische Ideal kennt nicht jenen Bauhorizont, den Hartmann fr dieeudmonistische Axiologie annimmt, ber den ein solches Herausschreiten mglich ist, da dasZurckbleiben unter ihm dadurch ausgeglichen wird. Wollten wir dies in das ethische Gleichniseinfhren, wollten wir so das Vorkommen von etwas, was schlechthin nicht sein sollte, durch etwas,was schlechthin sein soll, ausgleichen lassen, so wrden wir damit zu jener sittlich rohenVorstellung greifen, als gbe es berverdienstliche Handlungen, deren ber das zu verlangende Maahinausreichende Sittlichkeit anderweitige Unsittlichkeit kompensiren knne. Jede reinere Sittenlehrewei, da noch mit dem hchsten, was der Mensch thut, er nicht ber seine einfache Pflicht undSchuldigkeit hinausgeht und da auch das Ideal des Handelns nichts andres bezeichnet als das,was wir wirklich sollen und knnen. Es gibt keinen Grad der Sittlichkeit, der eine unter der idealenAnforderung gebliebene Handlung wieder gutmachen knne, weil es keine gibt, welche ber dieseAnforderung etwa um denselben Grad hinausragte, um den jene hinter ihm zurckstand. Am Idealgemessen, ist demnach jeder Kompromi unmglich. Und doch findet empirisch so etwas statt; wirhaben die Vorstellung, als knne jemand durch eine ungewhnlich edle That eine vorhergegangeneunsittliche auslschen. Hier ist also offenbar nicht mehr das Ideal der Mastab, sondern dieempirische Beobachtung, das durchschnittliche sittliche Wesen des Menschen; dieses ist dann alsNullpunkt gesetzt, ber den hinaus zu gehen allerdings es ausgleichen mag, da man ein anderesMal um ebensoviel Grade unter ihm geblieben. Wir kommen also selbst von der Vergleichung mitdem Ethischen aus auf unsre Behauptung: wenn es berhaupt eine Ausgleichung zwischen Lust-und Unlustquanten geben soll, so bezeichnet ganz allein das thatschliche Durchschnittsverhltnisbeider den Nullpunkt, von dem aus der positive oder negative Wert des einzelnenMenschenlebens gemessen werden kann.

    Diese Wahrheit kommt auch in der ab und zu gehrten Vorstellung zum Durchbruch, da dieserund jener eine Freude zu billig erkauft habe. Es ist nicht anzunehmen, da dies immer nur vomNeide diktirt sei, um so weniger, als man bei eignem besonders leichtem und mhelosem Gelingenund Gewinnen oft selbst die Vorstellung hat, man htte es eigentlich garnicht verdient, die Mhe undLast sei in diesem Fall zu gering gegenber dem reichen Gewinn an Freude. Hier wird offenbar einMastab fr das Sichentsprechen der Lust- und Leidquanta als der richtige anerkannt, der aus derBeobachtung ihres thatschlichen Verhltnisses, des durchschnittlich gezahlten Schmerzenspreisesfr die bestimmte Lust geschpft ist.

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  • V.

    Viel hufiger ist freilich das Gegenteil, die Klage, man habe die Freude zu teuer erkauft, und dieseentspriet, wie wir nach allgemeinen psychologischen Gesetzen und mit groer Wahrscheinlichkeitannehmen drfen, viel seltener einer objektiven Abschtzung als der in's Unendliche gehendenGlckssehnsucht des Menschen, welche berhaupt durch kein ausdenkbares Verhltnis zwischenLust- und Leidquanten zu befriedigen wre. Dante sagte einmal, der Mensch pflege wie einbetrgerischer Kaufmann seine Tugenden mit der kleinen und seine Fehler mit der groen Elle zumessen; ohne weiteres lt sich dies auf die subjektive Taxirung der Leiden und Freuden desLebens bertragen, weil wir natrlich immer mehr Freuden haben mchten, als wir wirklich haben unddiesen Wunsch zu einer sachlichen Gerechtigkeitsforderung objektiviren, der gem wir im Ganzenviel mehr Freuden und viel weniger Leiden haben mten, um die richtige Proportion zwischenbeiden, zu erreichen. Um noch einmal auf die typische Analogie in III. zurckzukommen: so wnschtgewi jeder Kaufende, er mchte mehr Waare fr sein Geld bekommen, als er wirklich bekommt;allein ob er ein objektives Recht dazu hat, das hngt ausschlielich von den realen Verhltnissen desMarktes ab. Der Pessimismus darf nicht behaupten, da wir im Verhltnis zur Lust zu vielSchmerzen htten; weil, wenn wir noch viel weniger htten, es noch immer zu viel wren. JeneForderung steht logisch auf gleicher Stufe mit der Bemerkung eines Schwurgerichtsprsidenten beiErffnung der Session: Es lgen wieder viel mehr Meineide vor, als man wnschen knnte - woraufer interpellirt wurde, wie viele er denn eigentlich fr wnschenswert hielte? Eine richtige Proportionzwischen beiden, eine bei der der absolute Eudmonismus sich befriedigen knnte, ist ebenso eincontradictio in adjecto wie eine richtige Proportion zwischen Recht und Unrecht, Sittlichkeit undUnsittlichkeit.

    Und hierin macht es keinen Unterschied, da, wie unsre Natur einmal beschaffen ist, das Leidvielfach zum Segen wird, und Bedingung des Glcks ist; man wnscht eben eine andre Einrichtungunsrer Natur, in der es dieser Bedingung nicht bedrfe. Soviel Nutzen wir auch aus dem Leidenziehen: die Warnung vor anrckenden Zerstrern, die Erhhung des Denkens und Vertiefung desFhlens - es wre berflssig, wenn die Welt so eingerichtet wre, da die Vorteile des Leides von selbsterreicht wrden - eine Mglichkeit, die a priori durchaus nicht undenkbar und in der Vorstellunghimmlischer Seligkeit auch realisirt ist. - Denn es ist nichts als ein barockes Paradoxon, da derHimmel langweilig sein mte; wenn man berhaupt die Idee eines solchen nur durch Wundermglichen Zustandes fat, so kann man auch ohne weitre Schwierigkeit zugeben, da auch dasLeiden der Langenweile mit allen andern Erdenleiden zugleich aufgehoben sei, sei es durchSuspendirung des Weber'schen Gesetzes, sei es durch eine in's Unendliche gehende Steigerungder lusterregenden Momente.

    VI.

    Wenn die Forderung einer andern als der wirklichen Proportion zwischen dem Gesamtleid undder Gesamtlust keine objektive Berechtigung besitzt, wenn der Vorzug des Nichtseins vor demSein also nicht auf den zu hohen Schmerzenspreis der Freuden gegrndet werden kann, so bleibtdem Pessimisten doch noch ein logisch mglicher Standpunkt: nmlich der von Schopenhauereingenommene, nach dem nicht das quantitative Verhltnis von Lust und Leid, sondern dasVorkommen des Leides berhaupt dem Nichtsein den Vorzug vor dem Sein verschaffte, weil keinenoch so groe Wonne einen noch so kleinen Schmerz aufwge. Dies ist nun freilich Sachepersnlichen Gefhls oder metaphysischen Glaubens; allein methodisch widerlegbar scheint es mirnicht - so wenig wie seine direkte Umkehrung im optimistischen Sinne. -

    Es hat eine gewisse Berechtigung, den Begriff des Aufwiegens von Freude und Leidgegeneinander berhaupt aus der philosophischen Axiologie zu streichen. Nehmen wir ihn aberhinein, machen wir den Wert des Lebens abhngig von dem Verhltnis zwischen seinem Lust- undseinem Leidquantum, so kann diese Abwgung immer nur das einzelne Leben treffen und derNullpunkt der Skala wird durch den Durchschnitt der menschlichen Existenzen bezeichnet. Andersgelegene Nullpunkte sind Sache des Wunsches, aber nicht objektiver Berechtigung; da Lust undSchmerz sich nie unmittelbar an einander messen, sondern erst ein empirischer Mastab fr siekreirt werden mu, so kann offenbar das Verhltnis ihrer Totalsummen weder als gro noch als kleinbezeichnet werden, weil es das Absolute ist, das das in ihm enthaltene Relative bestimmt, abernicht selbst den unter diesem geltenden Relationen unterliegt. Es bleibt also nur der Standpunktdes in II. gezeichneten Geistes, der das Ideal theoretischer und praktischer axiologischerBestimmung bildet. - Es versteht sich von selbst, da fr ihn die optimistischen Behauptungen berdas Gesamtverhltnis von Lust und Leid ebenso sinnlos sind wie die pessimistischen.

    VII.

    Da in der psychologischen Abwgung von Lust und Schmerz diese Norm weder zum Bewutseinkommt noch auch in vielen Fllen sich als unbewut wirkende nachweisen lt, dies kann gerade vom

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  • Pessimismus nicht als Einwurf gegen sie geltend gemacht werden. Denn die Frage ist hier nur diephilosophisch axiologische: welches die Beurteilung der Empfindungswerte sein mte, um einerichtige zu sein; der Pessimismus selbst mu ja die Mglichkeit voraussetzen, da das Urteil dermeisten Menschen ber die eudmonistischen Werte ihres Lebens ein falsches sei. Die menschlicheGlckssehnsucht kann diese Flschung nach zwei entgegengesetzten Seiten hin veranlassen:einmal kann sie die optimistische Illusion erregen, der Gegenstand dieser Sehnsucht sei schonmehr oder weniger erreicht; dann kann sie aber auch umgekehrt eine Unterschtzung des schonErreichten zuwege bringen; diese beiden psychologischen Klippen bedrohen gleichmig die Fahrtdesjenigen, der nach einem praktischen Ideale steuert.

    Im brigen drfen wir wohl mit Recht annehmen, da die Urteile ber gegenseitiges Aufwiegen vonLust und Schmerz, ebenso wie diese Empfindungen selbst, Resultate angehufter und vererbterGeschlechtserfahrung und der Anpassung an die physisch-psychischen Lebensbedingungen sind,wodurch sich die verhltnismige Schnelligkeit, mit der sich die Fhigkeit zu solchen Urteilen ausbildetund die verhltnismige Geringfgigkeit der persnlichen Erfahrung erklrt, die dazu gehrt - obgleichdoch auch besonders bei der Jugend und bei unerfahrenen Menschen die starkenSchwankungen, Ungleichheiten und offenbaren Falschheiten des eudmonologischen Mastabes zubeobachten sind. Da dieser Mastab etwa bei dstern, freudearmen Indianern ein anderer sein wird,als bei den Bewohnern heiterer und mehr Freuden bietender Zonen liegt auf der Hand und besttigtes, da es doch die Beobachtung des thatschlichen empirischen Verhltnisses von Lust und Leid -und nicht ihre vorgeblich absolute, an sich selbst festzustellende Gre - sein mu, von der dieBeurteilung ihrer relativen Werte ausgeht.

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