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tJBER EINE HETEROCHROMATIN-MUTATION AUS EINER WILDPOPULATION VON CHIRONOMUS NUDITARSIS I. ZUR FUNKTION DES VEIL~NDERTEN GENOM-ABSCHNITTES J. FISCHER* & H. TICHY Zoologisches Institut der Universit~t, Sahlistrasse 8, CH-3012, Bern, Sehweiz, und Max-Planck-Institut ffir Biologie, Tfibingen, B.R.D. Eingegangen und angenommen am 20. Februar 1980 A mutant bearing on heterochromatin, recovered from a wild population of Chironomus nuditarsis L Functional aspects of the altered genome segment From a wild population of Chironomus nuditarsis a mutant has been isolated, in which the fourth, or G, chromosome at its distal end lacks the conspicuous Balbiani ring and instead presents a large compact chromatin mass. This mass, referred to as 'G-knob' (GK), is genetically inactive as judged by uridine in- corporation. It is present also in the giant chromo- somes of the rectum and of the Malpighian tubules, as well as in the salivary gland chromosomes of nudi- tarsis x plumosus hybrids. Es wird fiber eine in einer Wildpopulation von Chirono- mus nuditarsis aufgetretene Heterochromatin-Muta- tion 'G-Knopf' (GK) berichtet. Ein Genom-Abschnitt, der in den Speicheldrfisen-Chromosomen normaler- weise einen Balbianiring bildet, liegt bei der Mutante als grosse, kompakte Chromatinmasse vor. In dieser Form ist der Genom-Abschnitt genetisch inaktiv. Der GK bildet sich auch in den polytiinen Chromosomen des Rectums und der Malpighi-Gefiisse aus, ebenso in den Speicheldrfisen des nuditarsis-plumosus-Art- bastards. Einleitung 1970 entdeckten wir in der Chironomus nuditarsis. Population des Wohlensees bei Bern eine merk- *Korrespondenzan den ersten Autor erbeten. wiirdige Mutation, die seither in tier Wildpopulation nicht mehr aufgetreten ist, die jedoch in einer Zucht- linie erhalten werden konnte. Es handelt sich um ein chromosomales Merkmal, das sich auf den Ph/inotyp nicht auswirkt. In Speicheldrfisen-Pr/iparaten yon Chironomus nuditarsis is am distalen Ende des (telo- zentrischen) G-Chromosoms ein Balbianiring zu er- kennen, der normalerweise homozygot ausgebildet ist; die homologen Chromosomen sind in diesem Fall meistens bis ans Ende gepaart. Bei den Tr/igern der Mutation dagegen ist am Ende des G-Chromosoms re- gelm/issig eine Paarungsliicke festzustellen. Das eine der somit einzeln erkennbaren Homologen zeigt den Balbianiring, das andere dagegen eine im optischen Schnitt meistens elliptische, kompakte Chromatin- Masse. Da das G-Chromosom dadurch einen End- knopf erh/ilt, wurde die Mutation mit 'G-Knopf' (GK) bezeichnet (Abb. 1). Der GK, bei dem es sich also um einen aberranten Balbianiring zu handeln scheint, is bisher nut hetero- zygot und nur bei M/innchen aufgetreten. Bei diesen handelt es sich um 'M2-M/innchen' (vgl. Rosin & Fischer, 1972); zwischen dem m/innlichkeitsbestim- menden Faktor M2 und dem GK wurde bei fiber 700 geprfiften F~llen keine Rekombination festgestellt. Der GK konnte deshalb bisher nicht homozygot dar- gestellt werden; die Frage, ob Homozygote fiberhaupt lebensf~hig w~ren, bleibt also noch often. Es stellt sich nun die Frage, inwiefern der Genom- Abschnitt, der im Normalfall in den Balbianiring ein- bezogen ist, bei der GK-Mutation abgeiindert wurde. Die Funktion des Balbianirings ist zwar noch nicht bekannt. Man kann jedoch zuniichst die Frage priifen, ob die kompakte DNS-Masse des GK (vgl. Pulver & Genetica 54,41-43 (1980). 0016-6707/80/0541-0041 $ 0.60 © Dr. W. Junk B.V. Publishers,The Hague.Printed in The Netherlands. 41

Über eine heterochromatin-mutation aus einer wildpopulation von chironomus nuditarsis I. Zur funktion des veränderten genom-abschnittes

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tJBER EINE HETEROCHROMATIN-MUTATION AUS EINER WILDPOPULATION VON CHIRONOMUS NUDITARSIS I. ZUR FUNKTION DES VEIL~NDERTEN GENOM-ABSCHNITTES

J. FISCHER* & H. TICHY

Zoologisches Institut der Universit~t, Sahlistrasse 8, CH-3012, Bern, Sehweiz, und Max-Planck-Institut ffir Biologie, Tfibingen, B.R.D.

Eingegangen und angenommen am 20. Februar 1980

A mutant bearing on heterochromatin, recovered from a wild population o f Chironomus nuditarsis L Functional aspects o f the altered genome segment

From a wild population of Chironomus nuditarsis a mutant has been isolated, in which the fourth, or G, chromosome at its distal end lacks the conspicuous Balbiani ring and instead presents a large compact chromatin mass. This mass, referred to as 'G-knob' (GK), is genetically inactive as judged by uridine in- corporation. It is present also in the giant chromo- somes of the rectum and of the Malpighian tubules, as well as in the salivary gland chromosomes of nudi- tarsis x plumosus hybrids.

Es wird fiber eine in einer Wildpopulation von Chirono- mus nuditarsis aufgetretene Heterochromatin-Muta- tion 'G-Knopf' (GK) berichtet. Ein Genom-Abschnitt, der in den Speicheldrfisen-Chromosomen normaler- weise einen Balbianiring bildet, liegt bei der Mutante als grosse, kompakte Chromatinmasse vor. In dieser Form ist der Genom-Abschnitt genetisch inaktiv. Der GK bildet sich auch in den polytiinen Chromosomen des Rectums und der Malpighi-Gefiisse aus, ebenso in den Speicheldrfisen des nuditarsis-plumosus-Art- bastards.

Einleitung

1970 entdeckten wir in der Chironomus nuditarsis. Population des Wohlensees bei Bern eine merk-

*Korrespondenz an den ersten Autor erbeten.

wiirdige Mutation, die seither in tier Wildpopulation nicht mehr aufgetreten ist, die jedoch in einer Zucht- linie erhalten werden konnte. Es handelt sich um ein chromosomales Merkmal, das sich auf den Ph/inotyp nicht auswirkt. In Speicheldrfisen-Pr/iparaten yon Chironomus nuditarsis is am distalen Ende des (telo- zentrischen) G-Chromosoms ein Balbianiring zu er- kennen, der normalerweise homozygot ausgebildet ist; die homologen Chromosomen sind in diesem Fall meistens bis ans Ende gepaart. Bei den Tr/igern der Mutation dagegen ist am Ende des G-Chromosoms re- gelm/issig eine Paarungsliicke festzustellen. Das eine der somit einzeln erkennbaren Homologen zeigt den Balbianiring, das andere dagegen eine im optischen Schnitt meistens elliptische, kompakte Chromatin- Masse. Da das G-Chromosom dadurch einen End- knopf erh/ilt, wurde die Mutation mit 'G-Knopf' (GK) bezeichnet (Abb. 1).

Der GK, bei dem es sich also um einen aberranten Balbianiring zu handeln scheint, is bisher nut hetero- zygot und nur bei M/innchen aufgetreten. Bei diesen handelt es sich um 'M2-M/innchen' (vgl. Rosin & Fischer, 1972); zwischen dem m/innlichkeitsbestim- menden Faktor M2 und dem GK wurde bei fiber 700 geprfiften F~llen keine Rekombination festgestellt. Der GK konnte deshalb bisher nicht homozygot dar- gestellt werden; die Frage, ob Homozygote fiberhaupt lebensf~hig w~ren, bleibt also noch often.

Es stellt sich nun die Frage, inwiefern der Genom- Abschnitt, der im Normalfall in den Balbianiring ein- bezogen ist, bei der GK-Mutation abgeiindert wurde. Die Funktion des Balbianirings ist zwar noch nicht bekannt. Man kann jedoch zuniichst die Frage priifen, ob die kompakte DNS-Masse des GK (vgl. Pulver &

Genetica 54,41-43 (1980). 0016-6707/80/0541-0041 $ 0.60 © Dr. W. Junk B.V. Publishers, The Hague. Printed in The Netherlands.

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trocknet, dann der Rtickstand in 1 /21 CR-Medium nach Robert aufgenommen (Robert 1971). Konzen- tration des Inkubationsmediums also wiederum 1 /aCi//21. Fixierung: Alkohol-Eisessig 3 : 1. Film: Ko- dak AR t0. Expositionszeit: 4 bis 6 Tage. Ent- wickler: Kodak D-19.

Resultat

Aus Abbildung 2 geht hervor, dass der Balbianiring viel Uridin eingebaut hat. Im Gegensatz dazu liegt die Einbaurate des GK, wenn iiberhaupt, nur unwesent- lich fiber jener der am schw/ichsten markierten Chro- mosomenbereiche. Die kompakte Chromatin-Masse des GK ist also genetisch kaum oder fiberhaupt nicht aktiv.

Abb. 1-3. G-Chromosom mit GK von Chironomus nuditar- sis (GK = G-Knopf, BR = Balbianixing, NU = Nucleolus): (t) Speicheldriisenpr~iparat, Orceinf~/rbung. Aufnahme S. Rosin; - (2) Speicheldriise, Autoradiographie. Pr~/parat J. Hei- decker; - (3) Malpighigef/isse einer Puppe. Abb. 4. Ausbil- dung des GK im nuditarsis-plumosus-Artbastard (Speichel- driise). BRP = subterminal gelegener BR des plumosus-Chro- mosoms.

Fischer, 1980) iiberhaupt genetisch aktiv ist, und man kann die festgesteUte Aktivit~it mit jener des Balbiani- rings vergleichen.

Autoradiographie

Es wurden Larven des 4. Stadiums untersucht. Die Speicheldriisen wurden unverletzt freiprapariert und sofort in das Inkubationsmedium iibertragen, wo sic w~hrend 15 bis 20 Minuten verblieben. Tracer: Uri- dine-5-H 3 , TRK 178, The Radiochemical Center, Amersham. Spezifische Aktivit~t: 25 Ci/m mol. Me- dium: Die beiden Drfisen einer Larve wurden in 1/A l_6sung inkubiert. HersteUung der L6sung: 1/21 Uri- din-L6sung (Aktivit/it 1 /2Ci) wurde bei 35°C einge-

Diskussion

Die programmierte Inaktivierung yon Genen, Gen- komplexen, Chromosomen oder ganzen Genomen ist

ein bekanntes Ph~inomen. Wenn jedoch eine Mutation zur Inaktiviemng eines Genomabschnittes fiihrt, dtirf- te dies im allgemeinen im heterozygoten Zustand nachteilig und im homozygoten Zustand letal sein. Die (heterozygoten) GK-M~innchen sind jedoch be- ztiglich Vitalitat und Fertilit/it offenbar normal; die Weiterzucht der GK-Linie hat jedenfalls bisher keine Schwierigkeiten bereitet (Zuchtrnethode: Fischer 1969). Beziiglich der Funktion des fraglichen Ge- nom-Absehnittes sind deshalb zwei M6glichkeiten ge- geben: (1) Bei den GK-Individuen f/ilk nur ungeffhr die H~lfte des Genproduktes an, aber dieser Mange1 wirkt rich kaum nachteilig aus (relativ unwichtiges Genprodukt); (2) Es entsteht kaum ein Mangel, weft der Balbianiring fiber eine betr~ichtliche Leistungs- reserve verfflgt; Riickkoppelungs-Mechanismen, die normalerweise die Leistung drosseln, k6nnten bei den GK-Individuen eine wesentliche Produktionssteige- rung des nur heterozygot ausgebildeten Balbianirings bewirken. Welche der beiden M6glichkeiten zutrifft, kan vorderhand nicht entschieden werden.

Der GK dfirfte viel mehr DNS enthalten als der fragliche Genom-Abschnitt im Normalzustand. Ob man diese Erscheinung als Fall yon Gen-Amplifika- tion bezeichnen kann, h~ingt davon ab, ob mit diesem Begriff lediglich eirte vergrbsserte DNS-Menge gemeint

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ist, oder ob der Begriff zudem eine gesteigerte Tram- kriptions-Aktivit~t beinhalten soil. Bei den zumeist

genannten Beispielen yon Amplifikation, insbe- sondere im Falle der Nucleolus-Organisatoren, fallen Extra-Replikation und gesteigerte Leistung zusammen (z.B. Nagl, 1972). Das Gleiche scheint auch ftir die bei den Sciariden beschriebenen 'DNS-puffs' zuzutref- fen (Crouse, 1968; Crouse & Keyl, 1968). Im Ge- gensatz dazu ist beim GK die Erh6hung der DNS- Menge mit einem Leistungs-Ausfall verbunden. Der fragliche Genom-Abschnitt liegt also offenbar in hete- rochromatischem Zustand vor.

Polyt~ne Chromosomen sind bei Chironomus nicht auf die Speicheldriisen beschr~nkt, sondern kommen auch in den Malpighi-Gef/issen und im Rec- tum vor. Da die letztgenannten Organe, im Gegensatz zu den Speicheldriisen, die Metamorphose iJber- dauem, k6nnen Riesenchromosomen hier auch an Puppen und Imagines studiert werden. Es ist nun be- merkenswert, dass es auch in diesen Organen zur Aus- bildung des GK kommt (Abb. 3). Es scheint sich beim GK also nicht um einen Fall yon gest6rter Gen- Expression zu handeln, bei dem die StiSrung lediglich in einem bestimmten Gewebe im Zuge der Zell-Differ- enzierung auftreten wiirde, sondern um eine Ver/inde- rung der prim~iren Gen-Struktur, die bei allen Zell- teilungen weitergegeben wird und demzufolge in allen Geweben vorhanden sein diirfte. Fiir diese Vermu- tung spricht zudem der Befund, dass sich der GK auch im nuditarsis-plumosus-Artbastard ausbildet (Abb. 4). Das plumosus-G-Chromosom zeigt tibrigens keinen terminalen, sondem einen subterminalen Bal- bianiring. Ob dieser in funktioneller Hinsicht dem endst~adigen nuditarsis-Balbianiring entspricht, ist noch nicht bekannt.

Bei der Interpretation des Ph~omens GK muss schliesslich aueh noch die M6glichkeit im Auge behal- ten werden, dass der Genom-Abschnitt, der normaler- weise den BR bildet, durch ein Transtokations- Ereignis entfernt und durch einen heterochroma. tischen Bereich ersetzt worden sein kbnnte. Der BR konnte aUerdings an keiner anderen Stelle des Ge- noms wiedergefunden werden. Man miisste also ent- weder eine nicht-reziproke Translokation annehmen, oder aber postulieren, class der fragliche Genom- Abschnitt unter ein anderes KontroU-System geraten w/ire, das die Ausbildung des BR unterdrtickt. ~,hn- liches (aber mit umgekehrtem Vorzeichen)miisste man ffir den GK annehmen: Da dieses Gebilde bisher

nicht bekannt war, miisste man postulieren, dass der translozierte Abschnitt, der normalerweise nicht repli-

ziert (und damit der Beobachtung entzogen ist), in

der neuen Umgebung einem anderen Kontrollsystem unterstellt worden w/ire und nun intensiv repliziert.

Wir miSchten Frau Sabina Liechti fiJr ihre Mitarbeit herzlich danken. Die Arbeit entstand mit UnterstiJt- zung des Schweizerischen Nationalfonds zur F6rde- rung der wissenschaftlichen Forschung, Gesuch Nr. 3.027.76.

Literatur

Crouse, H.V. (1968). The r61e of ecdysone in DNA-puff for- mation and DNA synthesis in the polytene chromosomes of Sciara coprophila. Proc. natn. Acad. ScL U.S.A. 61: 971-978.

Crouse, H.V. & H.G. Keyl (1968). Extra replications in the 'DNA-puffs' of Sciara coprophila. Chrornosoma 25: 357-364.

Fischer, J. (1969). Zur Fortpflanzungsbiologie yon Chirono- mus nuditarsis. Rev. suisse Zool. 76: 23-55.

Nagl, W. (1972). Chromosomen. Wilhelm Goldmann Verlag, Miinchen.

Pulver, U. & J. Fischer (1980). lJber eine Heterochromatin- Mutation aus einer Wildpopulation von Chironomus nudi- tarsis. II. Zum Replikationsverhalten des ver~nderten Ge- nom-Abschnittes. Genetica 54: 87-90.

Robert, M. (1971). Einfluss yon lonenst/irke und pH auf die differentieile Dekondensation der Nukleoproteide isolier- ter Speieheldriisen-Zellkerne und -Chromosomen yon Chi- ronomus thummi. Chromosoma 36: 1-13.

Rosin, S. & J. Fischer (1972). Polymorphismus des Realisa- tors fiir m~innliches Geschlecht bei Chironomus. Rev. suis. se Zool. 79: 119-141.

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