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83 Im Nachlass von Claire Goll, der seit November 1978 im Deut- schen Literaturarchiv Marbach aufbewahrt wird, findet sich eine russische Klapp-Ikone im handlichen Reiseformat (10,3 x 14,5 cm). Das bronzene Relief auf himmelblau emailliertem Grund zeigt in der Mitte die Heilige Mutter Gottes als «Freude aller Lei- denden», auf den Seitenflügeln sieht man Festtagsdarstellungen, rechts oben «Christi Höllenfahrt», das traditionelle Osterbild. Kein Geringerer als Rilke soll Claire Goll diese Ikone geschenkt haben, und zwar bereits bei ihrer ersten Begegnung am 17. No- vember 1918, inmitten der Münchner Revolutionswirren. So je- denfalls erzählte Claire Goll die Geschichte der ersten gemein- samen Nacht: «Erst als ich wieder fort war, bemerkte ich, dass ich nicht geträumt hatte, denn meine Hände hielten zwei Geschenke. In der Linken hatte ich einen aus Rußland stammenden kleinen Altar, den man falten konnte, in der Rechten ein Gedicht.» 1 Auf der Rückseite der Ikone erläutert sie: «Tryptique, cadeau de Rilke après la 1ère nuit (1918). Tolstoi le lui avait offert à Jansnaïa-Polia- na. (pour le Musée Schiller)» (Abb. 1 und 2) . Das scheint auf den ersten Blick nicht unplausibel. Rilkes Faible für Russland ist allgemein bekannt: Zusammen mit Lou Andreas- Salomé bereiste er als junger Schriftsteller das Land in den Jahren 1899 und 1900, er übersetzte aus dem Russischen und schrieb in dieser Sprache eigene Gedichte, er machte das deutsche Publi- kum mit russischer Kunst bekannt und erwog zeitweise sogar, nach Russland überzusiedeln, das bis an sein Lebensende für Archiv Ulrich von Bülow Ikone auf Reisen Tolstoi, Rilke, der Glaube und die Kunst 1 Claire Goll: Rilke und die Frauen, in: Rainer Maria Rilke / Claire Goll: «Ich sehne mich sehr nach Deinen blauen Briefen. Briefwechsel, Frankfurt/M. 2003, S. 89 – In ihren Memoiren beschrieb Claire Goll ausführlich ihre Begegnung mit Rilke, ohne die Ikone zu erwähnen (Claire Goll: Ich verzeihe keinem, Bern und München 1976, S. 82–89).

Ulrich von Bülow Ikone auf Reisen - Z-I-G · 2016. 8. 23. · Ikone auf Reisen Tolstoi, Rilke, der Glaube und die Kunst 1 Claire Goll: Rilke und die Frauen, in: Rainer Maria Rilke

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Page 1: Ulrich von Bülow Ikone auf Reisen - Z-I-G · 2016. 8. 23. · Ikone auf Reisen Tolstoi, Rilke, der Glaube und die Kunst 1 Claire Goll: Rilke und die Frauen, in: Rainer Maria Rilke

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Im Nachlass von Claire Goll, der seit November 1978 im Deut-

schen Literaturarchiv Marbach aufbewahrt wird, findet sich eine

russische Klapp-Ikone im handlichen Reiseformat (10,3 x 14,5

cm). Das bronzene Relief auf himmelblau emailliertem Grund

zeigt in der Mitte die Heilige Mutter Gottes als «Freude aller Lei-

denden», auf den Seitenflügeln sieht man Festtagsdarstellungen,

rechts oben «Christi Höllenfahrt», das traditionelle Osterbild.

Kein Geringerer als Rilke soll Claire Goll diese Ikone geschenkt

haben, und zwar bereits bei ihrer ersten Begegnung am 17. No-

vember 1918, inmitten der Münchner Revolutionswirren. So je-

denfalls erzählte Claire Goll die Geschichte der ersten gemein-

samen Nacht: «Erst als ich wieder fort war, bemerkte ich, dass ich

nicht geträumt hatte, denn meine Hände hielten zwei Geschenke.

In der Linken hatte ich einen aus Rußland stammenden kleinen

Altar, den man falten konnte, in der Rechten ein Gedicht.»1 Auf

der Rückseite der Ikone erläutert sie: «Tryptique, cadeau de Rilke

après la 1ère nuit (1918). Tolstoi le lui avait offert à Jansnaïa-Polia-

na. (pour le Musée Schiller)» (Abb. 1 und 2). Das scheint auf den ersten Blick nicht unplausibel. Rilkes Faible

für Russland ist allgemein bekannt: Zusammen mit Lou Andreas-

Salomé bereiste er als junger Schriftsteller das Land in den Jahren

1899 und 1900, er übersetzte aus dem Russischen und schrieb

in dieser Sprache eigene Gedichte, er machte das deutsche Publi-

kum mit russischer Kunst bekannt und erwog zeitweise sogar,

nach Russland überzusiedeln, das bis an sein Lebensende für

Archiv

Ulr ich von Bülow

Ikone auf ReisenTolstoi, Rilke, der Glaube und die Kunst

1 Claire Goll: Rilke und die

Frauen, in: Rainer Maria

Rilke / Claire Goll: «Ich

sehne mich sehr nach Deinen

blauen Briefen. Briefwechsel,

Frankfurt/M. 2003, S. 89 – In

ihren Memoiren beschrieb

Claire Goll ausführlich ihre

Begegnung mit Rilke, ohne die

Ikone zu erwähnen (Claire

Goll: Ich verzeihe keinem,

Bern und München 1976,

S. 82–89).

Page 2: Ulrich von Bülow Ikone auf Reisen - Z-I-G · 2016. 8. 23. · Ikone auf Reisen Tolstoi, Rilke, der Glaube und die Kunst 1 Claire Goll: Rilke und die Frauen, in: Rainer Maria Rilke

Archiv

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ihn eine Art Traum-Heimat blieb. Zurzeit bereitet das Deutsche

Literatur archiv zum Thema Rilke und Russland eine große Ausstel-

lung vor, die 2017 in Marbach, Zürich, Bern und Moskau gezeigt

wird.

Folgt man Claire Goll, müsste Tolstoi Rilke die Ikone am 1. Juni

1900 (gregorianischer Zählung) geschenkt haben, denn an diesem

Tag besuchten Rilke und Lou Andreas-Salomé den damals bereits

weltberühmten Schriftsteller während ihrer zweiten Russland-

Reise auf seinem Landgut Jasnaja Poljana, etwa 220 Kilometer

südlich von Moskau. Allerdings weiß man spätestens aus den Ak-

ten der Paul Celan betreffenden «Goll-Affäre», wie unzuverlässig

das Zeugnis Claire Golls gelegentlich ist,2 zumal sie die Übergabe

in der zitierten Erinnerung selbst ins Traumhafte entrückte. Es be-

steht wenig Anlaß zu bezweifeln, dass Rilke ihr die Reise-Ikone

geschenkt hat, doch aus mehreren Gründen scheint es unwahr-

scheinlich, dass er sie ausgerechnet von Tolstoi bekommen haben

sollte.

Abb. 1

Das Geschenk von Rilke an

Claire Goll nach der ersten

Nacht – die Reise-Ikone,

Vorderseite.

Abb. 2

«Tolstoi le lui avait offert à

Jansnaïa-Poliana»

(Claire Goll) – die Reise-

Ikone, Rückseite.

Page 3: Ulrich von Bülow Ikone auf Reisen - Z-I-G · 2016. 8. 23. · Ikone auf Reisen Tolstoi, Rilke, der Glaube und die Kunst 1 Claire Goll: Rilke und die Frauen, in: Rainer Maria Rilke

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In den Berichten von Rilke und Lou Andreas-Salomé kommt

das Triptychon nicht vor, und Tolstoi erwähnte in seinem Tage-

buch den Besuch mit keinem Wort. Doch das muss nicht viel be-

sagen. Schwerer wiegen schon Unterschiede in den Einstellungen

der beiden Schriftsteller zu Ikonen, die auf grundsätzlichen Diffe-

renzen in den Auffassungen von Religion und Kunst beruhen.

Diese sind offenbar in den kurzen Gesprächen, die Rilke und Tol-

stoi 1899 und 1900 miteinander führten, deutlich zum Ausdruck

gekommen. Für ihr Verständnis ist es allerdings notwendig, ne-

ben den nicht immer widerspruchsfreien Erinnerungen weitere

Schriften beider Autoren einzubeziehen.

Bereits beim ersten Besuch, den der vierundzwanzigjährige Ril-

ke, Lou Andreas-Salomé und ihr Ehemann, der Orientalist Fried-

rich Carl Andreas, dem einundsiebzigjährigen Tolstoi am Beginn

ihrer ersten russischen Reise am 28. April 1899 in seinem Moskau-

er Herrenhaus abstatteten, zeigte sich, dass Tolstois Einstellung

zur orthodoxen Kirche und zur russischen Volksfrömmigkeit der

Ulrich von Bülow: Ikone auf Reisen

2 Barbara Wiedemann (Hg.):

Paul Celan. Die Goll-Affäre.

Dokumente zu einer

«Infamie», Frankfurt/M.

2000. – Auch Bernhard Zeller

spricht davon, dass Claire Goll

«selbsterlebte Geschichten mit

wuchernder Phantasie»

durchsetzte. (Bernhard Zeller:

Marbacher Memorabilien.

Vom Schiller-Nationalmuseum

zum Deutschen Literaturar-

chiv 1953–1973, Marbach

1995, S. 330).

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Archiv

Rilkes in wesentlichen Punkten entgegengesetzt war. Aus spä-

teren Erzählungen wird deutlich, wie wenig Tolstoi gerade in die-

sem Punkt ihren Vorstellungen entsprach. Mit Professor Andreas

erörterte er angeregt die Ansichten der islamischen Religionsge-

meinschaft der Babisten, die ihn wegen ihrer sozialen Reform-

ideen interessierten. Als Rilke und Lou Andreas-Salomé dann

aber begeistert davon sprachen, wie sehr sie sich auf die unmittel-

bar bevorstehenden Osterfeierlichkeiten im Moskauer Kreml

freuten, habe Tolstoi nicht nur sein Befremden geäußert, sondern

sie ernsthaft ermahnt, dem «abergläubischen Volkstreiben nicht

noch durch dessen Mitfeier zu huldigen».3 Selbstverständlich lie-

ßen sie sich nicht abhalten. Für Rilke wurde der Ostersonntag in

der Moskauer Mariä-Entschlafens-Kathedrale (Uspenski-Sobor),

der größten und ältesten Kirche im Kreml, ein Erlebnis, an das er

sich bis zu seinem Lebensende erinnerte.

Abb. 3

«Selten ist Sonne im

Sobór...» Rilkes Gedicht aus

dem Zyklus «Die Gebete»

(1899), in dem er sein

Ostererlebnis in der

Moskauer Mariä-Entschla-

fens-Kathedrale beschreibt.

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Ulrich von Bülow: Ikone auf Reisen

Nur wenige Wochen nach dem ersten Russland-Besuch schrieb

er in Schmargendorf bei Berlin den Gedicht-Zyklus Gebete (Abb. 3). Anders als in der überarbeiteten Fassung, die unter dem Titel Das Buch vom Mönchischen Leben als erster Teil des Stunden-Buchs be-

kannt wurde, legte er die Verse in einer Handschrift, die er Lou

Andreas-Salomé schenkte, einem russischen Mönch und Ikonen-

Maler in den Mund und imaginierte in einer Art prosaischer Rah-

menerzählung jeweils die Umstände ihrer Entstehung. So be-

schreibt das auf den 2. Oktober 1899 datierte Gedicht das Innere

der Moskauer Mariä-Entschlafens-Kathedrale:

Selten ist Sonne im Sobór.

Die Wände wachsen aus Gestalten,

und durch die Jungfrau’n und die Alten

drängt sich, wie Flügel im Entfalten,

das goldene, das Kaiser=Thor.

An seinem Säulenrand verlor

die Wand sich hinter den Ikonen,

und, die im stillen Silber wohnen,

die Steine, steigen wie ein Chor

und fallen wieder in die Kronen

und schweigen schöner als zuvor.

Und über sie, wie Nächte blau,

von Angesichte blass,

schwebt, die dich freuete, die Frau:

die Pförtnerin, der Morgenthau,

die dich umblüht wie eine Au

und ohne Unterlass.

Die Kuppel ist voll deines Sohns

und bindet rund den Bau:

Willst du nicht brauchen deines Throns,

den ich in Schauern schau…

(am 2. Oct.) da der Mönch sich seiner Gebete im Uspenski-

Sobór zu Moskau erinnerte.4

3 Lou Andreas-Salomé: Rainer

Maria Rilke, Leipzig 1928,

S. 19.

4 Vgl. Rainer Maria Rilke: Die

Gebete (1899), in: Ders.:

Sämtliche Werke, Bd. 3,

Frankfurt/M. 1987, S. 354 f.

Page 6: Ulrich von Bülow Ikone auf Reisen - Z-I-G · 2016. 8. 23. · Ikone auf Reisen Tolstoi, Rilke, der Glaube und die Kunst 1 Claire Goll: Rilke und die Frauen, in: Rainer Maria Rilke

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Archiv

Das Interieur der Kirche wird hier ästhetisch vergegenwärtigt,

die Bedeutung der heiligen Bilder im Kontext orthodoxer Dog-

matik bleibt außer Betracht. Fünf Jahre später erinnerte Rilke

Lou Andreas-Salomé brieflich noch einmal an sein Oster-Erlebnis:

«Mir war ein einziges Mal Ostern; das war damals in jener langen,

ungewöhnlichen, ungemeinen, erregten Nacht, da alles Volk

sich drängte, und als der [die Kreml-Glocke

«Iwan der Große»] mich schlug in der Dunkelheit, Schlag für

Schlag. Das war mein Ostern, und ich glaube es reicht für

ein ganzes Leben aus; die Botschaft ist mir in jener moskauer

Nacht seltsam groß gegeben worden, ist mir ins Blut gegeben

worden und ins Herz, ich weiß jetzt ! [Chri-

stus ist auferstanden]»5 (Abb.4) Das Verhalten der Gläubigen

wird wiederum nur äußerlich charakterisiert, ihrem kirchlich

festgelegten Sinn brachte Rilke wenig Interesse entgegen. Wo-

möglich war die Erfahrung des Fremden und Unverständlichen

eine Bedingung für sein privates Erlebnis jenseits aller Konventi-

onen.

Wusste Rilke, dass auch für Tolstoi ein Osterfest zu einer ent-

scheidenden Lebenswende geführt hatte? In der Schrift Meine Beichte, die bis 1899 bereits in vier verschiedenen deutschen Über-

setzungen erschienen war, beschrieb er sein traumatisches Erleb-

nis eines Oster-Abendmahls im Jahr 1878: «Doch als ich an die

Tür zum Allerheiligsten trat und der Geistliche mich wiederholen

ließ, daß ich daran glaube, daß das, was ich schlucken würde, in

Wahrheit Leib und Blut sei, da verspürte ich einen Stich im Her-

zen; das ist nicht nur ein Mißklang, das ist die grausame Forde-

rung eines Menschen, der offensichtlich noch nie gewußt hat,

was Glaube ist.»6 Seitdem, so bekannte Tolstoi, habe er nie wieder

an einer Abendmahlsfeier teilgenommen.

Sein Begriff von Religion entstammte – anders als der von Rilke

oder auch Lou Andreas-Salomé – der westeuropäischen Aufklä-

rung. Besonders beeinflussten ihn Rousseaus Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars und Kants Schriften, vor allem die Betrachtung der Religion innerhalb der Grenzen der Vernunft. Seit seiner Beichte ver-suchte er in zahlreichen theologischen Traktaten, die unter Schrift-

stellerkollegen oft als abwegig galten, aber beispielsweise von

Ludwig Wittgenstein außerordentlich geschätzt wurden, die Not-

5 Rainer Maria Rilke an Lou

Andreas-Salomé, Brief vom

31.3.1904, in: Rainer Maria

Rilke / Lou Andreas-Salomé.

Briefwechsel, Frankfurt/M.

1989, S. 142 f.

6 Lew Tolstoi, in: Beichte.

Einleitung zu einem

unveröffentlichten Werk, in:

Ders.: Philosophische und

sozialkritische Schriften

(Gesammelte Werke, Bd 15),

Berlin 1974, S. 141.

7 Vgl. Martin George, Jens

Herlth, Christian Münch,

Ulrich Schmid (Hg.): Tolstoj

als theologischer Denker und

Kirchenkritiker, Göttingen

2014.

8 Lew Tolstoi: Untersuchung der

dogmatischen Theologie, in:

Martin George, Jens Herlth,

Christian Münch, Ulrich

Schmid (Hg.): Tolstoj als

theologischer Denker und

Kirchenkritiker, Göttingen

2014, S. 99.

9 Lew Tolstoi: Antwort auf den

Beschluss des Synods, in:

Martin George, Jens Herlth,

Christian Münch, Ulrich

Schmid (Hg.): Tolstoj als

theologischer Denker und

Kirchenkritiker, Göttingen

2014, S. 244.

10 Ebd., S. 246.

Page 7: Ulrich von Bülow Ikone auf Reisen - Z-I-G · 2016. 8. 23. · Ikone auf Reisen Tolstoi, Rilke, der Glaube und die Kunst 1 Claire Goll: Rilke und die Frauen, in: Rainer Maria Rilke

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Ulrich von Bülow: Ikone auf Reisen

wendigkeit Gottes auf ethikotheologischem, moralischem Weg zu

beweisen. 7 Sein Gottesglaube war im Kern ein Glaube der Ver-

nunft an die unbedingte Geltung moralischer Gebote. Daraus er-

klärt sich, dass er alle besonderen kirchlichen Gebräuche und In-

stitutionen, die nicht als unmittelbare Ausdrucksformen jener

universellen Forderung nach Nächstenliebe zu verstehen sind, als

Aberglauben ablehnte. Dabei schloss er Ikonen ausdrücklich ein.

Zum abstoßenden «Popenglauben» zählte er jede «Form von Kate-

chismen, Marienbildern und anderem Unfug».8 In der «Anbetung

von Ikonen» sah er «primitive Zaubertricks»,9 mit Ikonen würden

«Zaubereien betrieben und Gott und seine Lehre vor den Men-

schen verborgen.10 Sein rigoroses Urteil schränkte er nur unwe-

Abb. 4

«Mir war ein einziges Mal

Ostern...» Rilke an Lou

Andreas-Salomé, Brief vom

31.3.1904, S. 1.

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Archiv

sentlich ein, wenn er schrieb: «Der Aberglaube und teilweise Be-

trug irgendeiner im Volk kursierenden wundertätigen Ikone der

heiligen Gottesmutter ist nicht gut, allerdings gibt es in diesem

Aberglauben und Betrug noch eine gewisse Poesie.»11 Das Ästhe-

tische wurde dem Ethischen konsequent untergeordnet, und es

wundert nicht, dass man in Jasnaja Poljana nur im Zimmer seiner

Frau Sofia Andrejewna Ikonen findet.12

Rilke dagegen, der in diesem Punkt weitgehend mit Lou Andre-

as-Salomé übereinstimmte und wie sie von Nietzsche beeinflusst

war, betrachtete Ikonen und die Religion überhaupt als ästhe-

tische Phänomene, als Zeugnisse einer ursprünglichen, besonders

im russischen Volk verwurzelten Kreativität. Ähnlich wie andere

Künstler der Moderne begeisterte er sich für die Authentizität und

Fremdheit «primitiver» Ausdrucksformen. Man darf vermuten,

dass er in der Ikonenmalerei jenen im Westen bereits verschüt-

teten «dionysischen» Lebensmächten zu begegnen meinte, die zu

ihrer Bändigung strenger «apollinischer» Formvorschriften be-

durften. Zwischen seinen beiden Russland-Reisen schrieb Rilke

im März 1900 in seinen Marginalien zu Friedrich Nietzsches «Die Ge-burt der Tragödie», die einen eigenen Abschnitt In Bezug auf Russische Dinge enthalten: «Das Volk, dessen dionysische Regungen am hef-

tigsten sind, muß, um nur bestehen zu können, die strengste Ge-

staltung an sich und seinen Werken vollziehen.»13

Die ethisch-erzieherische Dimension, die Tolstois asketischem

Religionsverständnis zugrunde lag, war Rilke, der die Aporien der

Aufklärung intensiv erfahren hatte, weitgehend unverständlich,

sie galt ihm als antimodern und unzeitgemäß. Während Tolstoi in

Gott einen erhabenen, vom Menschen unabhängigen moralischen

Gesetzgeber verehrte, war Rilkes Gott eher die Apotheose eines

ursprünglichen schöpferischen Prinzips. Während Tolstoi den lei-

denschaftlich gesuchten «Sinn des Lebens» im Gebot der Nächs-

tenliebe fand, glaubte Rilke an ein Dichter-Ethos, in dessen Mit-

telpunkt das «Rühmen» des Lebens und der menschlichen

Kreativität stand.

Rilkes zweiter und letzter Besuch bei Tolstoi am 1. Juni 1900 in

Jasnaja Poljana, dieses Mal allein mit Lou Andreas-Salomé, offen-

barte einen weiteren grundsätzlichen Dissens. Nun ging es um

das Verständnis von Kunst. Tolstoi hatte den ersten Besuch der

90

11 Lew Tolstoi: Brief an einen

Studenten über das Recht,

1909, in: Martin George, Jens

Herlth, Christian Münch,

Ulrich Schmid (Hg.): Tolstoj

als theologischer Denker und

Kirchenkritiker, Göttingen

2014, S. 455.

12 Vgl. die Abbildungen in:

Nicolai Puzin: The Leo

Tolstoy House-Museum in

Yasnaya Polyana, Yasnaya

Polyana 2010, S. 71, S. 73.

13 Rainer Maria Rilke:

Marginalien zu Friedrich

Nietzsches ‹Die Geburt der

Tragödie›, in: Ders.: Werke,

Kommentierte Ausgabe, Bd. 4,

Frankfurt/M. 1996, S. 169 f.

Page 9: Ulrich von Bülow Ikone auf Reisen - Z-I-G · 2016. 8. 23. · Ikone auf Reisen Tolstoi, Rilke, der Glaube und die Kunst 1 Claire Goll: Rilke und die Frauen, in: Rainer Maria Rilke

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Deutschen offenbar vergessen und fragte den jungen Mann, wo-

mit er sich beschäftige. Als Rilke angab, Gedichte zu schreiben,

sei – so erinnert sich Lou Andreas-Solomé – eine «temperament-

volle Entwürdigung jeglicher Lyrik auf ihn niedergeprasselt».14

Eine Begründung findet sich in Tolstois damals gerade erschie-

nener Schrift Was ist Kunst?, die Rilke und Lou Andreas-Salomé

vor ihrem Besuch mit entschiedener Missbilligung zur Kenntnis

genommen hatten. Tolstoi wandte sich darin mit einer erbar-

mungslosen Folgerichtigkeit, die sich der Marxist Lukács zum

Vorbild genommen haben könnte, gegen alle Formen westlicher,

in seinen Augen dekadenter Kunst. In denunzierender Absicht zi-

tierte er seitenlang Gedichte des Ästhetizismus und des Fin de Siè-

cle, unter anderen von Baudelaire und Verlaine, also von Autoren,

die Rilke besonders teuer waren. Er polemisierte ausdrücklich ge-

gen Nietzsche15 und warf der gesamten Kunst seit der Renais-

sance vor, lediglich dem exklusiven Vergnügen einiger Reicher zu

dienen, sie sei nicht nur nutzlos, sondern geradezu schädlich, in-

sofern sie unmoralisches, egoistisches Verhalten darstelle und be-

fördere. Gute Kunst war für Tolstoi, der in seinem Denken Ethik

und Religion kaum trennte, in erster Linie christliche Kunst. Ihr

Kennzeichen sei es, «Gefühle» zu vermitteln, die «ausnahmslos

allen Menschen verständlich sind und sie somit vereinen».16 Dabei

müsse sie nicht unbedingt im engeren Sinn christliche Themen

behandeln, moralisch wertvoll sei auch jene «weltliche Kunst», die

zur Solidarität erziehe, indem sie die «einfachsten irdischen Ge-

fühle vermittelt, wie sie den Menschen der ganzen Welt verständ-

lich sind».17

Rilke dagegen war davon überzeugt, dass Kunst nicht an mora-

lische Werte gebunden sei. Entsprechend ambivalent blieb sein

Verhältnis zu Tolstoi. Einerseits war er für ihn der «erste Mensch

im neuen Lande und der rührendste Mensch, der ‹ewige Russe›».18

Noch in seinen späten Schweizer Jahren bezeichnete er ihn rück-

blickend neben Rodin als eine seiner wichtigsten Vorbild- und Va-

terfiguren.19 Doch die Autorität Tolstois verstand Rilke nicht zu-

letzt als Herausforderung, gegen ihn einen eigenen Standpunkt zu

entwickeln.

Seine Kritik formulierte er in zwei Schlusskapiteln seiner Auf-zeichnungen des Malte Laurids Brigge, die allerdings in die Druckfas-

Ulrich von Bülow: Ikone auf Reisen

14 Lou Andreas-Salomé:

Lebensrückblick,

Frankfurt/M. 1974, S. 177.

15 Lew Tolstoi: Was ist Kunst?,

in: Ders.: Ästhetische

Schriften (Gesammelte Werke,

Bd. 14), Berlin 1984,

S. 102, 197.

16 Ebd., S. 183.

17 Ebd.

18 Rainer Maria Rilke an Hugo

Salus, Brief vom 19. Mai 1899,

in: Ders.: Gesammelte Briefe

1892–1904, Leipzig 1939,

S. 66.

19 Joachim W. Storck: Rainer

Maria Rilke in Jasnaja Poljana,

Marbacher Magazin 92,

Marbach 2000, S. 75.

Page 10: Ulrich von Bülow Ikone auf Reisen - Z-I-G · 2016. 8. 23. · Ikone auf Reisen Tolstoi, Rilke, der Glaube und die Kunst 1 Claire Goll: Rilke und die Frauen, in: Rainer Maria Rilke

Archiv

sung, die in Tolstois Todesjahr 1910 erschien, nicht aufgenommen

wurden. Darin warf er dem russischen Autor vor, in seinem Spät-

werk zu einem «verabredeten Gott» geflohen zu sein, nämlich zu

dem Gott jener Mehrheit der Menschen, die selbst keinen Gott

«machen können und doch einen brauchen».20 Zwar trifft die Re-

de vom «verabredeten Gott» in diesem Zusammenhang kaum zu,

wenn man bedenkt, dass Tolstoi 1901 von der orthodoxen Kirche

exkommuniziert wurde. Für Rilkes eigene ästhetische Theologie

ist die Passage jedoch durchaus aufschlussreich. Aus ihr lässt sich

nämlich schließen, dass er Künstler für eine Art Gottsucher hielt,

die – anders als Tolstoi – Gott nicht mehr als objektive Größe an-

erkennen konnten und ihn daher unter den gegebenen modernen

Umständen in Fiktionen immer wieder neu zu erschaffen hätten.

Dieses Projekt, so unterstellte Rilke, habe auch Tolstoi in seinen

früheren Werken verfolgt. «Dann aber», fuhr er mit bewusst

92

Abb. 5

«Verkörperung eines

Verhängnisses» – Rilke über

Tolstoi in einem Brief an

Hermann Pongs, 21.10.1924.

Page 11: Ulrich von Bülow Ikone auf Reisen - Z-I-G · 2016. 8. 23. · Ikone auf Reisen Tolstoi, Rilke, der Glaube und die Kunst 1 Claire Goll: Rilke und die Frauen, in: Rainer Maria Rilke

christlichen Formulierungen fort, «kam der Versucher vor ihn und

stellte ihm vor, dass er ein Geringes täte.» 21 Aus Eitelkeit, Ruhm-

sucht und Stolz sei Tolstoi der Verlockung erlegen, anstelle von

Erzählungen ethisch-religiöse Lehren zu entwerfen. Indem er «die

Liebe aus seiner Arbeit riss, um sie schier aufzuzeigen und allen

damit Gewalt anzutun», habe er seine künstlerische Berufung ver-

raten. Doch letztlich sei es ihm nicht gelungen, seine «innerste

Aufgabe», die «Forderung seines Werkes», die Rilke bezeichnen-

derweise auch «seinen heimlichen Gott» nannte, ganz zu unter-

drücken. Rilke interpretierte Tolstois übermäßige Todesfurcht als

Ausdruck seines uneingestandenen Wissens, sein Leben falsch ge-

lebt zu haben.

Damit wendete er Gedanken von Tolstoi gegen ihren Urheber.

Denn es war Tolstoi, der in seinen Werken mehrfach eindrücklich

geschildert hatte, wie sich angesichts des Todes die Frage nach

dem richtigen Leben mit besonderer Dringlichkeit stellt und in-

wiefern die Angst vor dem Tod als Hinweis auf ein falsch ge-

führtes Leben verstanden werden kann. Es ist kein Zufall, dass

Martin Heidegger, der diesen Gedanken begrifflich formalisierte,

sich auf Tolstois Erzählung Der Tod des Iwan Iljitsch berief.22 Anders

als Rilke sah Tolstoi den Sinn des Lebens aber nicht im ästhe-

tischen Schaffen selbst, sondern in der Verwirklichung – oder Dar-

stellung – ethischer Werte. Erzählerisch wie theoretisch versuchte

er mehr als einmal zu zeigen, inwiefern tätige Nächstenliebe auch

das Problem des Todes für den Einzelnen mindern oder gar zum

Verschwinden bringen kann. Sein Argument lautete, dass für den-

jenigen, der ganz für den Mitmenschen da sei, das eigene Leben

und damit auch der Tod seine übermäßige Wichtigkeit von selbst

verliere.23

Ethisch-religiöse Reflexionen dieser Art hielt Rilke offenbar für

irrelevant, wenn nicht für schädlich, wo es um das Schaffen von

Kunstwerken geht. Gegen Ende seines Lebens kritisiert er in

einem Brief an den Literaturwissenschaftler Hermann Pongs nicht

nur Tolstois «moralische und religiöse Naivitäten», sondern nennt

ihn ausdrücklich die «Verkörperung eines Verhängnisses, eines

Mißverstehens», insofern er an der «ständigen Unterdrückung des-

sen arbeitete, was ihm im göttlichsten Sinne auferlegt worden

war» (Abb. 5).24

93

Ulrich von Bülow: Ikone auf Reisen

20 Rainer Maria Rilke: Die

Aufzeichnungen des Malte

Laurids Brigge. [Ursprüng-

licher Schluss der Aufzeich-

nungen: Tolstoi], in: Ders.:

Werke, Kommentierte

Ausgabe, Bd. 3, Frankfurt/M.

1996, S. 654.

21 Ebd.

22 Martin Heidegger: Sein und

Zeit, Tübingen 1993, S. 254.

23 Vgl. z. B. Lew Tolstoi: Das

Leben, München 1992,

S. 133 f.

24 Vgl. Rainer Maria Rilke an

Hermann Pongs, Brief vom

21.10.1924, in: Ders.:

Gesammelte Briefe 1921–1926,

Leipzig 1939, S. 324.

Page 12: Ulrich von Bülow Ikone auf Reisen - Z-I-G · 2016. 8. 23. · Ikone auf Reisen Tolstoi, Rilke, der Glaube und die Kunst 1 Claire Goll: Rilke und die Frauen, in: Rainer Maria Rilke

94

Es spricht für die Genauigkeit der Auseinandersetzung, dass ex-

akt dies Tolstoi auch Rilke hätte vorwerfen können. Denn von

seinem Standpunkt aus war es Rilke, der unterdrückte, was ihm

«im göttlichsten Sinne auferlegt worden war», nämlich sein Ta-

lent und seine Kunst als Mittel zur ethischen (Selbst-) Erziehung

zu nutzen. Die leitenden Werte der Schriftsteller waren umso we-

niger miteinander vereinbar, als beide für sie die Würde des Abso-

luten und Göttlichen beanspruchten.

Archiv

Abb. 6

Auf der Suche nach

Russlands Seele:

Rainer Maria Rilke 1897.

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Die Differenzen in Sachen Religion und Kunst, die 1899 und

1900 die Begegnungen zwischen Rilke und Tolstoi prägten, lassen

sich auf entgegengesetzte Ansichten über das Verhältnis zwischen

Ethik und Ästhetik zurückführen und in eine ideengeschichtliche

Kontroverse einordnen, die von Platon bis zur Gegenwart reicht.

Während Tolstoi in ethischen Kategorien dachte, waren für Rilke

die ästhetischen Kriterien entscheidend. Daraus erklärt sich ihre

fundamental gegensätzliche Bewertung der Ikonen. Rilke sah in

Ulrich von Bülow: Ikone auf Reisen

Abb. 7

Auf der Suche nach

einer vernünftigen Religion:

Lew N. Tolstoi um 1909.

Page 14: Ulrich von Bülow Ikone auf Reisen - Z-I-G · 2016. 8. 23. · Ikone auf Reisen Tolstoi, Rilke, der Glaube und die Kunst 1 Claire Goll: Rilke und die Frauen, in: Rainer Maria Rilke

ihnen reine Ausdrucksformen einer unverbildeten, vormodernen

Kreativität. Tolstoi dagegen fragte nach ihrem pragmatischen Sinn

und lehnte sie als betrügerische Mittel der orthodoxen Kirche ab.

Vor diesem Hintergrund lässt sich schwer vorstellen, dass Tolstoi

Rilke ausgerechnet eine Reise-Ikone mit auf den Weg gab.

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Bildnachweis: Abb.1–7:

DLA Marbach.