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Geographische Rundschau | 2012 MARCUS NÜSSER D as wissenschaftliche Interesse an den höchsten Gebirgen der Erde, die das Ur- sprungsgebiet der großen Flüsse Indus, Ganges und Brahmaputra bilden, ist seit der Kolonialzeit ungebrochen. Doch trotz vielfältiger Forschungsaktivitäten sind bis heute gravierende Kenntnislücken in vielen Bereichen fest- zustellen, aus denen sich entsprechende Unsicherhei- ten bei Prognosen und Extrapolationen auf den gesam- ten Hochgebirgsraum ergeben. Nach einem Überblick zur Forschungsgeschichte stellt der Beitrag aktuelle Herausforderungen der Mensch-Umwelt-Forschung im südasiatischen Hochgebirgsraum dar. Himalaya-Forschung im historischen Rückblick Bis zur Mitte des 19. Jhs. wurden die Hochgebirge Süd- und Zentralasiens vornehmlich hinsichtlich ihrer räumlich differenzierten Zugänglichkeit von Handels- reisenden und Pilgern beschrieben und im Wesent- lichen als Barriere wahrgenommen. Das Interesse an wissenschaftlichen Erkenntnissen über die zusam- menfassend als Hochasien bezeichneten Gebirgssyste- me setzte erst im Zuge der kolonialen Durchdringung und Aneignung ein. Vor dem Hintergrund imperialer Interessen und strategischer Erwägungen im Rahmen des „Great Game“, das durch Rivalitäten der damaligen Großmächte Großbritannien und Russland um regio- nale Dominanz gekennzeichnet war (vgl. Kreutzmann 1997), wurden verstärkt Informationen über die Begeh- barkeit von Routen, Passübergängen und die Überque- rungsmöglichkeiten von Flüssen gesammelt. In dieser explorativen Forschungsphase standen vornehmlich linienhafte Routenbeschreibungen im Vordergrund. Daneben entstanden umfangreiche Ortsverzeichnisse (Gazetteers) mit Angaben zu Lager- und Versorgungs- möglichkeiten für die kolonialen Truppenverbände. Zu den frühesten Pionieren der Himalaya-For- schung gehören die Münchener Brüder Adolph, Her- mann und Robert Schlagintweit, die zwischen 1854 In der aktuellen Himalaya-Forschung nehmen Themen an der Mensch-Umwelt-Schnittstelle eine zentrale Rolle ein. Die Debatten um das Ausmaß der Landdegradation und um die Auswirkungen des globalen Klimawandels auf lokale Nutzungssysteme belegen dies nachdrücklich. Gleichzeitig zeigen verschiedene Fallstudien, dass im höchsten Gebirgsraum der Erde überregionale Austauschbeziehun- gen und historische Entwicklungen berücksichtigt werden müssen. Damit stellt die Himalaya-Region eine im wahrsten Sinne des Wortes herausragende Arena für integrative Analysen von Wirkungszusam- menhängen zwischen Umweltveränderungen und sozioökonomischen Entwicklungsprozessen dar. Umwelt und Entwicklung im Himalaya: Forschungsgeschichte und aktuelle Themen Foto 1: Die Rupal-Flanke des Nanga Parbat bildet die höchste Steilwand der Erde Foto 2: Südwand des Kangchenjunga Fotos: M. Nüsser lizenziert f¨ ur Marcus N¨ usser am 12.04.2015 lizenziert f¨ ur Marcus N¨ usser am 12.04.2015

Umwelt und Entwicklung im Himalaya: Forschungsgeschichte ... · Damit stellt die Himalaya-Region eine im wahrsten Sinne des Wortes herausragende Arena für integrative Analysen von

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Marcus Nüsser

Das wissenschaftliche Interesse an den höchsten Gebirgen der Erde, die das Ur-sprungsgebiet der großen Flüsse Indus, Ganges und Brahmaputra bilden, ist seit der Kolonialzeit ungebrochen. Doch

trotz vielfältiger Forschungsaktivitäten sind bis heute gravierende Kenntnislücken in vielen Bereichen fest-zustellen, aus denen sich entsprechende Unsicherhei-ten bei Prognosen und Extrapolationen auf den gesam-ten Hochgebirgsraum ergeben. Nach einem Überblick zur Forschungsgeschichte stellt der Beitrag aktuelle Herausforderungen der Mensch-Umwelt-Forschung im südasiatischen Hochgebirgsraum dar.

Himalaya-Forschung im historischen RückblickBis zur Mitte des 19. Jhs. wurden die Hochgebirge Süd- und Zentralasiens vornehmlich hinsichtlich ihrer räumlich differenzierten Zugänglichkeit von Handels-reisenden und Pilgern beschrieben und im Wesent-

lichen als Barriere wahrgenommen. Das Interesse an wissenschaftlichen Erkenntnissen über die zusam-menfassend als Hochasien bezeichneten Gebirgssyste-me setzte erst im Zuge der kolonialen Durchdringung und Aneignung ein. Vor dem Hintergrund imperialer Interessen und strategischer Erwägungen im Rahmen des „Great Game“, das durch Rivalitäten der damaligen Großmächte Großbritannien und Russland um regio-nale Dominanz gekennzeichnet war (vgl. Kreutzmann 1997), wurden verstärkt Informationen über die Begeh-barkeit von Routen, Passübergängen und die Überque-rungsmöglichkeiten von Flüssen gesammelt. In dieser explorativen Forschungsphase standen vornehmlich linienhafte Routenbeschreibungen im Vordergrund. Daneben entstanden umfangreiche Ortsverzeichnisse (Gazetteers) mit Angaben zu Lager- und Versorgungs-möglichkeiten für die kolonialen Truppenverbände.

Zu den frühesten Pionieren der Himalaya-For-schung gehören die Münchener Brüder Adolph, Her-mann und Robert Schlagintweit, die zwischen 1854

In der aktuellen Himalaya-Forschung nehmen Themen an der Mensch-Umwelt-Schnittstelle eine zentrale Rolle ein. Die Debatten um das Ausmaß der Landdegradation und um die Auswirkungen des globalen Klimawandels auf lokale Nutzungssysteme belegen dies nachdrücklich. Gleichzeitig zeigen verschiedene Fallstudien, dass im höchsten Gebirgsraum der Erde überregionale Austauschbeziehun-gen und historische Entwicklungen berücksichtigt werden müssen. Damit stellt die Himalaya-Region eine im wahrsten Sinne des Wortes herausragende Arena für integrative Analysen von Wirkungszusam-menhängen zwischen Umweltveränderungen und sozioökonomischen Entwicklungsprozessen dar.

Umwelt und Entwicklung im Himalaya: Forschungsgeschichte und aktuelle Themen

Foto 1: Die Rupal-Flanke des Nanga Parbat bildet die höchste Steilwand der Erde Foto 2: Südwand des Kangchenjunga

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umwelt und entwicklung im Himalaya: Forschungsgeschichte und aktuelle Themen

und 1857 im Auftrag der British East India Company den Hochgebirgsgürtel des indischen Subkontinents bereisten. Sie führten umfangreiche orographische, hydrographische, glaziologische und botanische Erhe-bungen durch und ergänzten diese mit Aufzeichnun-gen zur Bevölkerung und zu Handelsbeziehungen (vgl. Schlagintweit 1865). Den explorativen Charakter dieser dreijährigen Reise unterstreicht das folgende Zitat: „ …so blieb es doch diesem, durch großartige geographi-sche Entdeckungen ausgezeichneten Jahrhundert vor-behalten, wissenschaftlich jenes Gebirge zu erschlie-ßen, welches sich mächtiger als alle anderen der Erde im Inneren Asiens erhebt und welches schon den alten Indern als der Himalaya bekannt war, als die „Woh-nung des Schnees“, wie die wörtliche Übersetzung die-ses Namens lautet …“ (Schlagintweit 1865, S. 361).

Neben zahlreichen Kolonialoffizieren, von denen viele über ihre Forschungsreisen in einschlägigen Fachzeitschriften (v. a. im Geographical Journal und im Himalayan Journal) berichteten, waren auch Ein-heimische (sog. Pandits) in geheimer Mission für die Briten tätig. Der wohl bekannteste Pandit war der aus Kumaon im zentralen Himalaya stammende Nain Singh, der ausgedehnte Erkundungen im Auftrag der britischen Krone unternahm. Auf seiner ersten Reise begleitete er die Brüder Schlagintweit, von denen er eine Einweisung in Methoden der Geländeaufnahme erhielt. Zwischen 1865 und 1875 führte er auf mehr-jährigen Reisen weitere geographische Arbeiten und Höhenbestimmungen in Tibet und auf zahlreichen Pässen im Auftrag des britischen Great Trigonometric Survey durch. Dabei kartierte er einen Abschnitt des Tsangpo, die Handelsroute durch Nepal nach Tibet und ermittelte die genaue Lage und Meereshöhe von Lhasa (vgl. Walker 1885, Ward 1999). Für seine Dienste wurde er durch die Royal Geographical Society geehrt.

Die Beispiele der Brüder Schlagintweit und des Pandit Nain Singh zeigen, dass in dieser Phase neben

Foto 2: Südwand des Kangchenjunga Foto 3: Landnutzungs- und Siedlungsmuster bei Manang (3 580 m) im Annapurna-Gebiet

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orographische und klimatische Grundstrukturen Hochasiens

Der südasiatische Hochgebirgsraum umfasst den etwa 2 �00 km langen und durchschnittlich 200 km breiten Himalaya-Bogen zwischen der Indus-Schlucht im Nordwesten und dem Durchbruchstal des Brahmaputra (in Tibet als Tsangpo bezeichnet) im Südosten. Damit bilden die Gebirgsgrup-pen des Nanga Parbat (8 126 m) und des Namcha Barwa (7 7�6 m) markante Eckpfeiler des Hauptkamms. Der durch Quertäler in einzelne Massive geglie-derte Gebirgsbogen bildet die südliche Umrahmung des etwa 2.2 Mio. km² umfassenden tibetischen Hochplateaus. Die im Regenschatten der Haupt-kette gelegenen Gebirgszüge des Trans-Himalaya stellen einen unscharf abzugrenzenden Übergangsbereich dar, in dem die großen Längstäler des oberen Indus und des Tsangpo ihre Quellgebiete haben. Das Kaschmir-Tal bildet das größte intramontane Becken im Himalaya. Im Nordwesten mar-kiert der Indus die Grenze des Himalaya zur nahezu parallel verlaufenden Karakorum-Kette, an die sich in einer Scharnierposition nach Westen der Hindukusch anschließt. Im Osten der Himalaya-Hauptkette bilden die meri-dional verlaufenden Durchbruchsschluchten des Salween, Mekong und Yangtze den Übergang ins südosttibetische Bergland. Die Südabdachung des Himalaya wird durch eine Vorbergzone charakterisiert, die in die dicht besiedelten Schwemmebenen der Flüsse Indus, Ganges und Brahmaputra überleitet.

Entlang der Himalaya-Südabdachung dominiert ein ausgeprägtes mon-sunales Regime mit sommerlichen Niederschlagsmaxima. Dagegen wer-den die Niederschläge im Hindukusch, Karakorum und Nordwest-Hima-laya durch vorherrschende Winter- und Frühjahrsregen gekennzeichnet, die durch die im Gesamtverlauf des Jahres vorherrschenden Einflüsse der außertropischen Westwinddrift hervorgerufen und nur in einzelnen Fäl-len durch sommerliche Einbrüche monsunal-randtropischer Luftmassen aus Südosten überlagert werden. Damit bilden die Gebirgsräume im Nord-westen Hochasiens die Grenze zu den hochkontinentalen Trockenräumen Zentralasiens und Tibets. Während sich die Gebirgsabschnitte im Nord-westen (Hindukusch, Karakorum, Nordwest-Himalaya) aus einer trockenen Talstufe erheben, werden die Fußstufen und Täler im Südosten von tro-pischen Feuchtwäldern eingenommen (vgl. Mason 19��, Troll 1967, Miehe 200�, Miehe et al. 2001).

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Kartierungen und Beobachtungen auch erste geodäti-sche Messungen durchgeführt wurden. Dabei waren alle Forschungsaktivitäten maßgeblich von kolonial-strategischen Motiven geleitet, die im Wesentlichen auf die Sicherung territorialer Ansprüche ausgerich-tet waren. Zu diesem Zweck wurde auch das Wegenetz ausgebaut.

Noch vor dem Ende der britischen Kolonialzeit in Indien 1947 setzte eine neue Phase der wissenschaft-lichen Erforschung im Himalaya ein, die durch groß angelegte Expeditionen gekennzeichnet war. Für diese Phase können die italienische Karakorum-Expedition zum Baltoro-Gletscher durch den Herzog der Abruz-

zen im Jahr 1909 und die britischen Expeditionen zum Mount Everest in den 1920er Jahren (vgl. Norton 1925) genannt werden. Bei diesen Unternehmungen wurden neben der primären Ausrichtung auf alpinistische Ziele auch geologische und glaziologische Forschungsfragen behandelt und topographische Karten erstellt. Als pro-minente Beispiele bergsteigerisch-wissenschaftlicher Gemeinschaftsunternehmungen gelten auch die deut-schen Expeditionen zum Kangchenjunga im Jahr 1931 (vgl. Bauer 1933 sowie Foto 2) und zum Nanga Parbat in den Jahren 1934 und 1937 (vgl. Finsterwalder 1938, Troll 1939). Dabei wurden ebenfalls großmaßstäbige topographische Karten erarbeitet, Gletscher- und Vege-tationsuntersuchungen durchgeführt und eine große Zahl an Fotos aufgenommen, die für Vergleichsstudien genutzt werden können (vgl. Nüsser 2000).

Arbeiten zur systematischen Regionalisierung der naturräumlichen Bedingungen im Gebirgsraum setz-ten in den 1950er Jahren ein. Exemplarisch können hier die Ansätze zur klimatischen und vegetationsgeogra-phischen Gliederung (vgl. Troll 1967), die Studien zur Schneegrenze (vgl. von Wissmann 1959) und die aus-schließlich auf umfangreichen Literaturauswertungen basierende Vegetationskarte des Himalaya im Maßstab 1 : 2 Mio. (vgl. Schweinfurth 1957) angeführt werden. Die genannten Arbeiten bieten einen Gesamtüberblick über die physisch-geographischen Strukturen der süd-asiatischen Gebirgszüge und liefern wichtige Grund-lagen für die vergleichende Hochgebirgsforschung. Da sich der horizontale und vertikale Landschafts-wandel im höchsten Gebirgsraum der Erde besonders eindrucksvoll vollzieht (vgl. Foto 1), bilden die klima-

Abb. 1: Becken von Leh (Ladakh, Indien) mit Bewässerungsflächen im Indus-Tal und teilweise vergletscherten Gebirgsketten.Datengrundlagen: Landsat TM5 (3.8.2011), Aster Global Digital Elevation Model (METI & NASA), Bildbearbeitung: S. Schmidt

Foto 4: Bewässerungslandwirtschaft in Ladakh mit Kang Yatze (6 401 m) im Hintergrund

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tischen Gradienten und die daraus resultierenden Ve-getationsgrenzen nach wie vor zentrale Themen der Hochgebirgsökologie. Neben den vorwiegend an phy-sisch-geographischen Fragen orientierten Arbeiten entwickelte sich in dieser Phase auch zunehmend eine kulturgeographische Hochgebirgsforschung, in der vor allem die Höhengrenzen des Anbaus und der Wei-dewirtschaft behandelt wurden (vgl. z. B. Uhlig 1976).

Aktuelle Mensch-Umwelt-Forschung im HimalayaStudien zu Mensch-Umwelt-Beziehungen im Hoch-gebirge zielen generell auf die Analyse und Bewer-tung von Zusammenhängen zwischen der horizontal und vertikal gegliederten Ressourcenausstattung, den räumlich differenzierten Landnutzungsmustern sowie den sozioökonomischen Entwicklungsprozes-sen ab. In vielen Fällen basiert die existenzsichern-de Landnutzung gebirgsbäuerlicher Gesellschaften auf einer Kombination von Feldbau und Tierhaltung unter Einbeziehung der Wälder und Hochweiden (vgl. Ehlers und Kreutzmann 2000 sowie Foto 3). Da die Ver-fügbarkeit der für die landwirtschaftliche Produktion essentiellen Ressourcen Wasser, Wald und Weide im Jahresverlauf variiert, bilden höhenangepasste Nut-zungs- und Mobilitätsmuster typische Strategien der Gebirgsbevölkerung (vgl. Uhlig 1995, Nüsser 1998).

Trotz der Tatsache, dass die agro-pastoralen Nut-zungsmuster an die physischen Umweltbedingungen angepasst sind, lassen sich die Existenzsicherungsstra-tegien der lokalen Bevölkerung nicht auf den Aspekt der Adaption an die natürliche Ressourcenbasis redu-zieren. Die Formen und Intensitäten der agrarischen Ressourcennutzung bilden nicht nur die räumliche und saisonale Verfügbarkeit der biologischen Res-sourcen ab, sondern spiegeln zudem die sozioökono-mischen Entwicklungen und nutzungsrechtlichen Bedingungen wider. Landnutzungssysteme sind daher immer auch als Ergebnis historischer Entwicklungen zu interpretieren, unter denen die Besiedlung, die Ressourcenzugangsrechte und die infrastrukturelle Erschließung hervorzuheben sind. Regionale Fallbei-spiele aus der Khumbu-Region (vgl. Byers 2005), dem Annapurna-Gebiet (vgl. Aase und Veetas 2007), dem Kumaon-Himalaya (vgl. Bergmann et al. 2011), dem Hunza-Karakorum (vgl. Kreutzmann 2011) und der Nanga Parbat-Region (vgl. Nüsser 1998) dokumentie-ren die lokal- und kulturspezifische Differenziertheit dieser Mensch-Umwelt-Systeme. Untersuchungen zur Bewässerungslandwirtschaft und zur Weidenutzung bilden daher klassische und bis heute aktuelle For-schungsschwerpunkte der Geographie (vgl. Dame und Mankelow 2010, Kreutzmann 2012).

Eine zentrale Herausforderung der Mensch-Umwelt-Forschung bleibt die Integration naturräumlicher und sozioökonomischer Faktoren. Am Beispiel der Region Ladakh im nordindischen Trans-Himalaya lässt sich die Entwicklung der Bewässerungslandwirtschaft im Kontext eines sozio-hydrologischen Wirkungsgefüges interpretieren (vgl. Abb. 1 sowie Foto 4). Dabei spielen

neben der Verfügbarkeit von Schmelzwasserabflüs-sen als primärer Produktionsgrundlage auch externe Entwicklungsinterventionen und Veränderungen in den lokalen Existenzsicherungsstrategien, vor allem in Form außerlandwirtschaftlicher Erwerbsmöglichkei-ten, eine entscheidende Rolle (vgl. Nüsser et al. 2012).

In aktuellen Studien zur Entwicklungsforschung im Hochgebirge werden Fragen zur Existenzsiche-rung von Bergbauern und Tierhaltern vermehrt auf der Haushaltsebene und aus akteursorientierter Sicht behandelt. Gleichzeitig werden verstärkt Konzepte und methodische Zugänge aus anderen Disziplinen aufgegriffen. Beispiele bieten Forschungsarbeiten zur Ernährungssicherung (vgl. Dame und Nüsser 2011 sowie den Beitrag Dame in diesem Heft), zur Gesund-heitsversorgung und zur Bildungssituation (vgl. den Beitrag Benz und Schmidt in diesem Heft). Neben den auf lokaler Ebene analysierbaren Wirkungsgefügen werden zunehmend die Einflüsse aus den umgebenden Tiefländern in die Analyse einbezogen, die sich durch die Verkehrserschließung massiv verstärkt haben. Um die Reichweite und Wirksamkeit externer Einflüsse im Kontext sich verändernder politischer und sozio-ökonomischer Rahmenbedingungen angemessen zu beurteilen, ist die Berücksichtigung verschiedener Maßstabsebenen und Zeitschnitte erforderlich. Dabei

Foto 5a/b: Podestgletscher mit See am Nanga Parbat (a: 1993, b: 2010)

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zahlreichen im Zuge der Gletscherschmelze entstehen-den Seen (vgl. Foto 5a/b) zweifellos ein regional bedeut-sames Gefahrenpotential für die Gebirgsbevölkerung (vgl. Beitrag Iturrizaga).

Landdegradation im HimalayaDie Kontroverse um die Gletscherveränderungen weist erstaunliche Parallelen zur Debatte um die De-gradation natürlicher Ressourcen im südasiatischen Hochgebirge auf, die unter dem Stichwort Himalayan Dilemma (vgl. Ives und Messerli 1989, Ives 2004) pro-minent wurde. Die Diskussion um Ausmaß und Ver-ursachung der Landdegradation wurde vornehm-lich in den 1980er und 1990er Jahren geführt (vgl. Kreutzmann 1993, Zurick und Karan 1999). In ihrem Buch kritisieren Ives und Messerli (1989) den Ver-such, Prozesse im Hochgebirgsraum und in den dicht besiedelten Gebirgsvorländern des Subkontinents in einen stark vereinfachenden Kausalzusammenhang zu stellen. Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist eine Wirkungskette aus Bevölkerungswachstum, Res-sourcenübernutzung, Erosion, Kulturflächenverlust sowie erhöhten und vermehrten Spitzenabflüssen. Im Wesentlichen bezieht sich die Kritik von Ives und Messerli (1989) auf die unzureichende räumliche und zeitliche Differenzierung von Landschaftsdegradation, die zu starke Generalisierung von Ursache-Wirkungs-beziehungen sowie die unzulässige Vernachlässigung sozioökonomischer Aspekte. Auch in diesem zweiten Beispiel verschleiern Unsicherheitsfaktoren, fragwür-dige Datengrundlagen, unzulässige Analogieschlüsse und unangemessene Vereinfachungen die Komplexi-tät der Probleme. Daher sind auch weiterhin regio-nale Fallstudien nötig, in denen Ressourcennutzung und Landschaftsdynamik integrativ betrachtet und Degradationsprozesse in einem politisch-ökologischen Kontext interpretiert werden.

Fazit: Probleme und Perspektiven integrativer Himalaya-ForschungAufgrund der Ausdehnung und Diversität der Hima-laya-Region wird ersichtlich, dass lokale Fallstudien nur bedingt auf größere Räume übertragen werden können. Die Heterogenität der naturräumlich-ökolo-gischen sowie der sozioökonomischen und kulturellen Bedingungen innerhalb des höchsten Gebirgsraums der Erde erschwert Extrapolationen und erklärt die damit zusammenhängenden Unsicherheiten (vgl. Thompson und Warburton 1985). Bei den Diskussionen um die Gletscherveränderungen und um das Ausmaß der Landdegradation werden diese Unsicherheiten deutlich.

An vielen lokalen Fallbeispielen zeigt sich dagegen, dass die Entwicklungsprobleme im südasiatischen Hochgebirgsraum in einen größeren räumlichen Kontext eingebunden sind. Für die Intensität der Austauschprozesse und für die Reichweite externer Interventionen kann die Erschließung als ein bestim-mender Faktor identifiziert werden. Darüber hinaus

müssen auch die dynamischen Prozesse in den urba-nen Zentren der intramontanen Becken einbezogen werden (vgl. Beitrag Gutschow und Kreutzmann in diesem Heft).

Gletscherveränderungen im HimalayaDie zunehmende Bedeutung der Hochland-Tiefland-Beziehungen zeigt sich auch in der Debatte um das Ausmaß und die Konsequenzen der Gletscherverände-rungen im Himalaya. Schon der aus dem Sanskrit stam-mende und wie erwähnt als „Wohnung des Schnees“ zu übersetzende Name ‚Himalaya‘ deutet auf die überregionale hydrologische Bedeutung des Gebirges als „Wasserturm“ für die angrenzenden Ebenen Süd-asiens hin (vgl. Beitrag Erlewein in diesem Heft). Mit der Diskussion um die Geschwindigkeit des Gletscher-rückgangs und dem daraus langfristig resultieren-den Problem einer reduzierten Wasserverfügbarkeit rückt der naturräumliche Zusammenhang zwischen dem Hochgebirge und den Tiefländern des Subkonti-nents in den Blickpunkt der wissenschaftlichen Dis-kussion (vgl. Archer et al. 2010, Immerzeel et al. 2010). Angestoßen wurde die Debatte durch ein im Bericht des Weltklimarats IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) enthaltenes Kapitel zu Asien. Dort ist die Aussage enthalten, dass die Gletscher im Himalaya schneller abschmelzen, als in anderen Gebirgen und dass die dortigen Eismassen unter Annahme aktuel-ler Rückzugsraten bis zum Jahr 2035 größtenteils ver-schwunden sein werden (Cruz et al. 2007, S. 493).

Diese offensichtlich falsche Prognose besitzt erheb-liche Brisanz, da dadurch die Wasserversorgung für Millionen Menschen in Südasien unmittelbar gefähr-det wäre. Mit etwa zweijähriger Verzögerung wurde die Aussage als Fehler identifiziert, der auf mangelhaft belegten Schätzungen und einer unkritischen Über-nahme nicht ausreichend fundierter Quellen beruhte. Daraufhin musste der Weltklimarat im Januar 2010 einräumen, dass die angegebene Größenordnung des Gletscherrückgangs im Himalaya nicht haltbar sei. Zu-gleich machte der IPCC jedoch deutlich, dass ungeach-tet der beanstandeten Details alle in den Endbericht eingegangenen Schlussfolgerungen weiterhin robust seien. Die in den Medien und in der Öffentlichkeit geführte Diskussion hat dabei den Umstand in den Hintergrund treten lassen, dass viele Himalaya-Glet-scher zweifelsfrei negative Massenbilanzen aufweisen. Neben einer zunehmenden Politisierung des Klima-wandels lässt sich an der Kontroverse das Problem der Extrapolation lokaler Studien auf den gesamten Gebirgsraum erkennen. Im betreffenden Kapitel des Berichts werden lediglich acht Gletscher als Referenz herangezogen, die zudem alle im indischen Himalaya liegen. Die dort festgestellten Rückzugsraten können aber nicht als repräsentative Basis für die Gletscher-entwicklung im gesamten Gebirgsbogen gewertet werden. Generell bleibt festzuhalten, dass die belast-bare Datengrundlage für Gletscherveränderungen im Himalaya bis heute unzureichend ist (vgl. den Beitrag S. Schmidt in diesem Heft). Nichtsdestotrotz bilden die

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umwelt und entwicklung im Himalaya: Forschungsgeschichte und aktuelle Themen

erweist sich die Berücksichtigung der historischen Dimension bei der Analyse von Landnutzungssyste-men als unverzichtbar. Durch Einbindung historischer Datenbestände können Zeitreihen erstellt werden, mit denen Veränderungen und Kontinuitäten in den Mensch-Umwelt-Beziehungen analysierbar werden. Dies setzt die Weiterentwicklung interdisziplinärer Ansätze und integrativer Methoden voraus. |||

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autor

Professor Dr. MARCUS NÜSSER, geb. 196�[email protected] Geographie, Südasien-Institut,Universität Heidelberg, Im Neuenheimer Feld 330,69120 HeidelbergArbeitsgebiet/Forschungsschwerpunkte:Hochgebirge, Mensch-Umwelt-Beziehungen, Entwicklungsforschung, Südasien, Subsaharisches Afrika

Summary

environment and Development in the Himalayan region: research History and Perspectives

by Marcus Nüsser

Human-environmental research in the Himalaya and surrounding high mountain regions is char-acterized by integrated analyses of environmen-tal change and socioeconomic development processes, usually on a local or regional scale. However, ongoing academic and policy debates have tended to neglect the diversity within the South Asian mountain belt, as witnessed in the discussions of the impacts of global climate change on the Himalayan glaciers and the extent of land degradation. A better understanding of these multi-scalar interactions is possible through a greater attention to the historical dimension and external interventions. In spite of numerous research activities, uncertainties on a Himalayan scale are still prominent, making extrapolations and modeling of future scenarios problematic.

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