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Wissenschaftskolleg zu Berlin INSTITUTE FOR ADVANCED STUDY Köpfe und Ideen 2008

und · denheit über unbeschriebenen Notenblättern brüten und auf den noch nie gehörten musikalischen Einfall warten. Da scheint es doch ideal ins Bild zu passen, dass der Komponist

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Wissenschaftskolleg zu BerlinI N S T I T U T E F O R A D VA N C E D S T U D Y

Köpfe und Ideen2008

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Zum AuftaktLuca Giuliani

„Köpfe und Ideen“ erscheint in diesem Jahr zum dritten Mal:Das Format scheint sich zu bewähren. Wie in den beidenfrüheren Heften wird auch diesmal versucht, einen Quer-schnitt durch den Fellow-Jahrgang zu geben; so selektiv undbeliebig dieser auch sein mag - einen Eindruck wird er den-noch vermitteln können. Die meisten Berichte stammen vonexternen Beobachtern, aber auch Fellows kommen zu Wort:nicht nur im Interview, sondern auch in eigenen Texten.Schließlich kann es auch geschehen, dass ein Fellow zur exter-nen Beobachterin mutiert: so etwa Antjie Krog in ihren

geschriebenen und ungeschriebenen Briefen. Ihr Blick auf dasKolleg, den Grunewald und die Stadt ist kein ortloser undunvoreingenommener, sondern ein zutiefst verwurzelter, süd-afrikanischer Blick. Dessen Färbung bringt Faszinierendeszutage und könnte ansteckend wirken. Indem wir daran teil-haben, erhalten wir die Chance, uns selbst vielleicht ein kleinwenig fremd(er) zu werden: nicht das schlechteste, das bei derLektüre dieses Heftes passieren kann. Ich wünsche allen Lese-rinnen und Lesern, wo immer sie auch verwurzelt sein mögen,viel Vergnügen.

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Inhalt

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Goebbels’ Dinge

Der Komponist und Regisseur Heiner Goebbels ist ein Oszillograf Fellow 2007/2008

der Gegenwartskultur

von Claus Spahn

Ungleichheit: Ursachen und Folgen

Der amerikanische Politologe Ronald Rogowski ist auf der Suche Fellow 2007/2008

nach einer durchgängigen Erklärung sozialer Ungleichheit

von Ralf Grötker

Der Schamane

Stephen Greenblatt, der New Historicism und die Mobilität der Kultur Permanent Fellow

von Florian Welle

A Mobility Studies Manifesto

by Stephen Greenblatt Fellow 2003/2004

Was kommt nach dem Staat?

Die Schwerpunktgruppe „Verfassung jenseits des Nationalstaats“ Fellows 2007/2008

denkt über Demokratie in der entstaatlichten Welt nach

Interview: Ralf Grötker

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Fragen Sie Doktor Darwin

Die Schwerpunktgruppe „Evolution and Medicine“ möchte Fellows 2007/2008

die Zusammenarbeit von Biologen und Medizinern stärken

von Carl Gierstorfer

Er arbeitete für die Briten und fühlte mit den Indern

Die Literaturwissenschaftlerin Meenakshi Mukherjee schreibt eine Fellow 2007/2008

Biographie über den Universalgelehrten R. C. Dutt

von Tobias Haberl

Letter from Berlin:

Letters Written and Not Written Fellow 2007/2008

von Antjie Krog

Bildnachweise

Impressum

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Goebbels’ Dinge

Der Komponist und Regisseur Heiner Goebbels ist ein Oszillograf der Gegenwartskultur Fellow 2007/2008

von Claus Spahn

Gustav Mahler hat sich in die Einsamkeit der Naturzurückgezogen, um zu komponieren. Sommer für Som-mer schloss er sich in sein „Komponierhäusl“ am Atter-see ein, wo es „bei Todesstrafe“ verboten war, „ihnaufzusuchen oder zu stören“. Hans Werner Henzebetritt jeden Morgen nur „in frischer Wäsche“ seinArbeitszimmer mit dem Traumblick über die Oliven-haine südlich von Rom. Alles auf seinem Schreibtischmuss perfekt geordnet sein, damit er arbeiten kann.Seine Bleistifte spitzt er mit einem japanischen Motoran-spitzer. Und der cholerische Liedkomponist Hugo Wolfbaute sogar die Pendel in den Wanduhren aus, nahmlärmenden Kindern auf der Straße das Spielzeug wegund ließ die gurrenden Tauben vor dem Fenster seinesArbeitszimmers abschießen, weil er nur in völliger StilleMusik schreiben konnte. So stellen wir uns die Kompo-nisten bei ihrer Arbeit bis heute gerne vor: Als verschro-bene Eremiten, die in größtmöglicher Weltabgeschie-denheit über unbeschriebenen Notenblättern brüten undauf den noch nie gehörten musikalischen Einfall warten. Da scheint es doch ideal ins Bild zu passen, dass derKomponist Heiner Goebbels kürzlich beim Mittagessen

im Wissenschaftskolleg erklärt hat, er sei nun schon vierMonate hier und habe noch keine einzige Note zuPapier gebracht. Er müsse sogar gestehen, sich erst jetztNotenpapier für sein neues Kompositionsprojektgekauft zu haben und ein Bleistift fehle ihm nochimmer. Woraufhin ein befreundeter Juraprofessor ihmbeim nächsten Mittagessen ein exklusives, in Sydneyerworbenes Schreibgerät überreichte. Am fehlendenBleistift soll die Kunst nicht scheitern.Aber auf die Stifte kommt es bei Heiner Goebbels garnicht an. Vielleicht schreibt er mit seinem neuen austra-lischen Bleistift nur einen Satz des von ihm hochge-schätzten französischen Schriftstellers und Literatur-theoretikers Maurice Blanchot aufs Papier: „Schreibenheißt, das Band lösen, welches das Wort und mich ver-bindet.“ Oder er unterstreicht noch einmal die Blanchot-Textstelle, auf die er im Zusammenhang mit seinemStück „Schwarz auf Weiß“ gestoßen ist: „Die Meister-schaft des Schriftstellers liegt nicht in der Hand, dieschreibt, in dieser kranken Hand, die niemals den Blei-stift fallen lässt, die ihn nicht fallen lassen kann, weil siedas, was sie hält, nicht wirklich hält, denn es gehört den

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Schatten, und sie selbst ist ein Schatten. Die Meister-schaft ist immer Sache der anderen Hand, die nichtschreibt und die immer imstande ist, im gegebenenAugenblick einzugreifen, den Bleistift zu fassen und ihnwegzulegen. Die Meisterschaft besteht also in der Fähig-keit, mit dem Schreiben aufzuhören und das zu unter-brechen, was sich von selbst schreibt.“ Mit dem Schreiben aufhören? Unterbrechen, was sichvon selbst schreibt? Wer solches ernst nimmt, kommtnicht ans Berliner Wissenschaftskolleg, um alleine mitsich und seinen gespitzten Stiften auf musikalische Ein-fälle zu warten. Heiner Goebbels ist nicht der TypKünstler, der spielende Kinder verjagt, auch auf Taubenwird er wahrscheinlich nicht schießen. Er zieht sichnicht zurück von den Überraschungen, Querständenund Zufälligkeiten des Lebens, sondern lässt sie in seineMusik hinein. Goebbels ist kein Mann für das Kompo-nierhäuschen. Er war es nie.Dem alternativen Milieu von Frankfurt entstammt erund in den wilden Siebzigern, als Häuser besetzt undgegen Atomkraftwerke protestiert wurde, hat er dasSogenannte Linksradikale Blasorchester mitgegründet undals Theatermusiker sowohl für das Frankfurter Schauspielals auch das TAT, das legendäre die freie Szene beher-bergende Theater am Turm, gearbeitet. Er lieferte mitdem Saxofon/Keyboard-Duo Goebbels/Harth den anar-chisch adäquaten Sound zu den Aktionen der Frankfur-ter Spontiszene und war Mitglied des Improvisa-tions-Quartetts Cassiber. Die Grenzen zwischen soge-nannter U- und E-Musik haben ihn nie gekümmert,

gleichermaßen hat er sich für die avancierten Entwick-lungen in Jazz, Pop und Ernster Musik interessiert. DerSchauspieler André Wilms hat ihn einen „Zapper“genannt – in Anlehnung an die Fernsehsüchtigen, diemit ihrer Fernsteuerung zwischen den abenteuerlichstenKanälen lustvoll hin und her schalten. Und zum Elfen-beinturm der musikalischen Avantgarde, die etwa beiden Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik im Gei-ste der Nachkriegsheroen Pierre Boulez, Luigi Nonound Karlheinz Stockhausen zu Hause ist, hielt er (undhält bis heute) Distanz: „Die Crux der Neuen Musik ist“,sagt er, „dass immer irgend jemand in einer Ecke sitztund sich etwas ausdenkt.“Wie Maurice Blanchots Texte vom Verschwinden desAutors im Akt des Schreibens handeln, so kreist auchdas Schaffen von Heiner Goebbels um die Zurücknah-me des Künstler-Ichs. Der Frankfurter Komponist hegtSkepsis gegenüber der althergebrachten Vorstellungvom Originalgenie, das Neues immerzu aus sich selbsthervorbringt. Er propagiert den Abschied von „einemungebrochen erscheinenden Identitätsbegriff“ und sagt:„Ich will mich mit meinen Stücken nicht selbst aus-drücken, sondern Erfahrungen möglich machen!“Gegen das Ausgedachte komponiert er an, indem erMusiksamples, Geräusche und akustische Fundstückeunterschiedlichster Provenienz in seine Werke integriertund Musik, Text, Räume, Licht und Gesten multiper-spektivisch miteinander reagieren lässt. Er spielt mitVorgefundenem und lässt sich ein auf aus dem spieleri-schen Augenblick heraus Entwickeltes. Goebbels will

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Aufführung von „Stifters Dinge“ im Oktober 2007 im Haus der Berliner Festspiele

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Bühnenbild und Licht: Klaus Grünberg

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„keine Machtzentren inszenieren“. Sein Blick schweiftlieber über das vermeintlich Beiläufige und Ephemere.Aus szenisch-musikalischen Suchbewegungen mit offe-nem Ausgang lässt er die künstlerischen Kräfte wach-sen. An die eine, übergeordnete Künstlerbotschaft, diesich Musik, Text und Bild verfügbar macht, glaubt erschon lange nicht mehr. Er will, „dass die Dinge zu sichselbst kommen können“.Deshalb polemisiert er gegen die Theater- und Opernre-gisseure, die den Stücken mit Demiurgengebärde „ihre“Interpretation aufzwingen. Deshalb sind die Musiker,Schauspieler und Performancekünstler in seinenStücken immer viel mehr als nur Ausführende der Par-titur. Sie sind Teil des kompositorischen Vorgangs selbst.Ihre Talente, ihr Denken, ihr Künstlerselbstverständnisgehen unmittelbar in die Komponierarbeit ein.

Im Stück „Stifters Dinge“ wiederum spielt der altmodi-sche, romantische Dichter Adalbert Stifter eine wichtigeRolle. Stifter vertiefte sich auf seinen literarischen Streif-zügen – wie Goebbels in seiner musikalischen Arbeit –hingebungsvoll in die Erscheinungen am Rande desGeschehens und brachte sie in Detailbeschreibungenzum Sprechen. In Berlin ist dieses Stück zu Beginn vonHeiner Goebbels’ Aufenthalt am Wissenschaftskollegerstaufgeführt worden. Eine Musiktheaterkomposition,wie man sie noch nicht gehört und gesehen hat: OhneSänger, ohne Musiker, ohne den Menschen als Darstellerüberhaupt kommt sie aus! Sie zelebriert die Abwesen-heit alles Wesentlichen und umkreist auf magischeWeise eine leere Mitte. Die Kulisse beginnt darin mitsich selbst zu spielen und die Theatermaschinerie hatihren großen Auftritt. Prospektzüge fahren wie vonGeisterhand gesteuert auf und nieder. Der Bühnenbo-den füllt sich mit Wasser und schreibt mit seiner spie-gelnden Oberfläche oszillierende Lichtzeichen in denRaum. Ein Diaprojektor kramt in seinem Gedächtnis,erinnert sich an Jakob van Ruisdaels Gemälde „Sumpf“und an die „Jagd bei Nacht“ von Paolo Ucello. Lautspre-cher wispern Zitatschnipsel aus Interviewmitschnitten,ethnologischen Musikaufnahmen und rezitierten Stif-ter-Texten, während im Hintergrund ein geheimnisvol-les Felsmassiv rumort: Fünf quer und hochkantverkeilte Klaviere führen zirpende, ratternde, stotterndeSelbstgespräche. Ein merkwürdiger Theaterabend, derda in achtzig Minuten bedächtig vorüberzieht. Die Zeit-strukturen, die Bewegungsabläufe im Raum, die wun-

Die Choreografin MathildeMonnier probt mit BerlinerSchulkindern für das Stück„Surrogate Cities“

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dersamen Begegnungen und Überschneidungen vonText, Geste, Klang und Bild – das alles ist minutiösertüftelt. Und trotzdem fügt es sich zu einer scheinbarzufälligen, zauberischen Musiktheater-Séance. Auchhier gilt der Maurice-Blanchot-Satz: „Die Meister-schaft ist immer Sache der anderen Hand, die nichtschreibt.“Wie arbeitet ein Komponist, der sich von der traditionel-len Tonsetzerzunft auf so eigenständige Weise absetzt?Wer Heiner Goebbels einen Tag lang durch seinen All-tag am Wissenschaftskolleg begleitet, merkt schnell: Erlebt die Offenheit, die seine Kompositionen atmen, auchim richtigen Leben – beim Mittagessen mit den fach-fremden Fellows, im weitverzweigten E-Mail-Kommu-nikationsnetzwerk, in dem er sich ständig bewegt, oderbei den Proben zu seinem Orchesterwerk „SurrogateCities“, das die Berliner Philharmoniker gemeinsam mitBerliner Laientänzern in der Arena Treptow, einer Indu-striehalle von 1927, aufführen. Die Produktion ist einesder groß angelegten Education-Projekte der Philharmo-niker, die die Kluft zwischen der Hochkultur und denkunstfernen Milieus in der Hauptstadt überbrückenwollen und durch den Kinofilm „Rhythm is it“ Kultsta-tus erlangt haben. Der autoritäre Ton allerdings, mitdem der Choreograph Royston Maldoom im „Rhythm isit“-Film Jugendlichen aus Berliner ProblemviertelnSelbstbewusstsein einzuimpfen versuchte, steht quer zuden Vorstellungen von Kunstvermittlung, die HeinerGoebbels hat. Maldooms Drill im Einsatz für das Gute,Wahre, Schöne hält er für Pädagogik von vorgestern.

Auch die tendenziell „totalitäre“ Aufführungssituationmit den Laiendarstellern auf einer hohen zentral ausge-richteten Bühne und der riesigen Zuschauermasse davorhat ihm nicht behagt. Zusammen mit der ChoreografinMathilde Monnier hat er für „Surrogate Cities“ eineandere Raumkonstellation geschaffen: Eine Bühne gibtes nicht. Das Orchester ist in der Mitte der Arena plat-ziert. Ringsherum vor den Zuschauertribünen agieren,gleichsam auf einer Ebene mit den Musikern, in dezen-tralen Gruppierungen die Darsteller. Dem nicht hierar-chisch strukturierten Raum entspricht auch dieChoreografie: Kein Massensychrontanz wird da einge-übt, sondern Inseln der Bewegungskreativität fügen sichzu einem vielfältigen Ganzen, das so pluralistisch ist wiedas dschungelhafte, widersprüchliche Großstadtleben,das Goebbels in seinem Stück thematisiert. „Ich bin sehrfroh“, sagt der Komponist, „dass den Mitwirkendenkeine Bewegungspartitur aufgezwungen wird. Siehaben sie selbst mitentworfen, nach ihren Möglichkei-ten, mit eigenen Gestaltungsideen. Man muss nur in ihreGesichter schauen, um zu spüren, dass sie hier sie selbstsein dürfen.“ Ein junger Tänzer aus der mitwirkendenKung-Fu-Kampfsportgruppe hat Goebbels eine CD mitselbstgemachtem Hiphop zugesteckt: „Die müssen wirjetzt gleich mal im Auto anhören“.Goebbels Antennen sind immer auf Empfang gestellt,damit ihm die Überraschungen, die das Leben für dieKunst bereithält, nicht entgehen. Als Beispiel dafürerzählt er von einer kleinen, unscheinbaren Szene, die ervor fünf Jahren erlebt hat, als die Berliner Philharmoni-

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ker zum ersten Mal sein „Surrogate Cities“ aufgeführthaben: „Es war ein kurzer, sehr entspannter Momentzwischen zwei Proben in der Berliner Philharmonie.Wahrscheinlich hat außer mir niemand bemerkt, waspassierte: Die Musiker hatten bis auf wenige die Bühneder Philharmonie verlassen, die Orchesterwarte räum-ten noch die Bleche bei den Schlagzeugern weg, SimonStockhausen, der davor, in der Probe meiner Komposi-tion den Keyboardpart übernommen hatte, arbeitetenoch etwas weiter an der Editierung der Samples undsetzte immer wieder mit lauten Geräuschpartien ein, alsAlfred Brendel aber schon die Bühne betrat und sich einbisschen für das dritte Klavierkonzert von Beethoveneinspielte. Brendel ließ sich in seinem melancholischenSpiel nicht von den mechanischen, rhythmischen Schlä-gen des Samplers irritieren. Und als dritter im Bunde -aber ebenso von alldem völlig unbeeindruckt - stellte einBühnenmeister mit lauter Stimme die fahrbaren Hub-Podien ein: ‚Plus 70, Plus 40, Vorsicht! Noch 5, 3 …Stop! Etwas zurück!’“ Natürlich, sagt Goebbels, seidiese seltene Balance aus Musik, Geräusch und Spracheunwiederbringlich verloren, man könne sie kaumkünstlich hervorbringen. Aber das Beispiel mache deut-lich, wo Wahrnehmungslinien verlaufen können, wenndie Disziplinen sich auf überraschende Weise berühren.Solche Momente liefern den Stoff, mit dem Goebbelsseine kompositorische Fantasie füttert. Ein Komponist, der für die Offenheit des Kunstwerksplädiert und ein feines Sensorium für anarchisch-kreativeProzesse entwickelt hat, muss wohl auch im richtigen

Leben ein bisschen chaotisch sein. Denkt man bei Hei-ner Goebbels – und irrt. Er ist einer der bestorganisier-testen Komponisten überhaupt, ein perfekter Logistikerseiner selbst, Herr über alle Termin- und Probenpläne,ein Meister im Organisieren, wie alle bestätigen, die jemit ihm zu tun gehabt haben. Seine Musikmanufakturführt Goebbels mit dem Überblick eines Managers – wasin seiner Zunft wahrlich keine Selbstverständlichkeit ist.Sieben laufende Produktionen eigener Werke mit überhundert weltweiten Aufführungen pro Jahr hat er imBlick, das heißt konkret, dass er zumindest zu den Pro-ben anreist, zuhört, hilft, berät und überwacht, dass amEnde alles so auf die Bühne kommt, wie er es sich vorge-stellt hat. Goebbels, der Pedant. Im Umgang mit derBühnentechnik und der Musikelektronik, die in seinenStücken eine wichtige Rolle spielen, würde vielerortsimmer noch zu unprofessionell gearbeitet, klagt er. Dahat sein Sinn fürs Spontane seine Grenzen. Goebbelspocht auf höchste Präzision in der Umsetzung der Parti-turvorgaben – und wenn es in „Surrogate Cities“ nur derbeiläufig freundliche Hinweis an den Perkussionistenist, nicht den weichen, sondern, wie es notiert ist, denharten Schlägel für die große Trommel zu verwenden,denn es klingt gleich ganz anders.Sein neuestes Stück, das während des Aufenthaltes amWissenschaftskolleg entstehen soll, ist ein Kompositions-auftrag für das Hilliard Ensemble, das weltberühmteVokalquartett, dessen legendärer Ruf vor allem aufhochsensiblen Interpretationen früher mehrstimmigerMusik gründet. Die Hilliards sind keine extrovertierten

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Arienschmetterer, sondern pflegen einen introspektivenVokalstil voll von Selbstzurücknahme. Von ihrer Art zusingen war Heiner Goebbels sofort fasziniert. Texte vonSamuel Beckett, T. S. Eliot und – einmal mehr – Mauri-ce Blanchot werden in seinem Stück für das Ensembleeine Rolle spielen, so viel weiß er schon. Aber darüberhinaus hat er sich noch nicht so genau festgelegt, obwohldie Uraufführung mit einer anschließend rund um denGlobus führenden Aufführungsserie fest gebucht ist.Goebbels setzt auf die Arbeit im Kollektiv, er steht inengem Kontakt zu den Hilliard-Musikern, die auch zuAufführungen seiner Stücke gereist sind. Demnächstwollen sie alle gemeinsam ein paar Tage in Klausurgehen. Dann wird der Komponist einen vorläufigen

Bühnenraum gestalten lassen, Kostüme, Texte und viel-leicht auch schon ein paar Noten mitbringen. Man wirdprobieren und improvisieren, Formen und Inhaltennähertreten, aber die Räume und den Geist offen halten.Irgendwann wird Heiner Goebbels sein Stück zu Papierbringen und dann alles sehr präzise festlegen. Dennsosehr er seine Kunst im Entstehungsprozess für allemöglichen Einflüsse offen lässt – wenn die Dinge einmalentschieden sind, wird er zum Pedanten. Genau wachter dann über die präzise Umsetzung von Musik, Thea-teraktion, Licht und Technik. Bis dahin allerdings lässt er sich mit seinem Hilliard-Stück noch ein bisschen Zeit. Und übt sich im Blanchot’-schen Weglegen des gespitzten Bleistifts.

Heiner Goebbels

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Ungleichheit: Ursachen und Folgen

Der amerikanische Politologe Ronald Rogowski ist auf der Suchenach einer durchgängigen Erklärung sozialer Ungleichheit Fellow 2007/2008

von Ralf Grötker

Ende der 1970er Jahre kam die Kehrtwende. Entgegender allgemeinen Erwartung, dass in einer entwickeltenIndustrienation die soziale Ungleichheit immer weiterabnehmen würde, begannen in den USA die Unterschie-de erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg wieder zuzu-nehmen. Diese Bewegung hält bis heute an. Über die Ursache der Kehrtwende ist viel diskutiertworden. Technologischer Wandel, demographische Ver-änderungen, Politik oder die Auswirkungen der Globa-lisierung wurden als Gründe ins Feld geführt, ohne dassman sich jedoch auf eine übergreifende Erklärung eini-gen konnte. „Es gibt keinen rauchenden Colt“: das warbislang der gängige Befund in der Forschung. Kein ein-deutiger Effekt konnte in dem Knäuel der Ursachenausgemacht werden. Nun hat doch jemand Lunte gero-chen. Was die Ökonomen jahrelang nicht auf die Beinezu stellen vermochten, scheinen jetzt die Historikergefunden zu haben: eine durchgängige Erklärung fürsoziale Ungleichheit. Ronald Rogowski, der sich selbst weder als Ökonomnoch als Historiker versteht, sondern als Politologe,befasst sich seit ungefähr zehn Jahren mit dem Thema

Ungleichheit. „Ich habe mich damals mit Handelspolitikbeschäftigt und wollte wissen, wie sich die Globalisie-rung auf die Verteilung der Einkommen auswirkt“,erinnert er sich. In den 1990er Jahren waren erstmalsdetaillierte Daten bezüglich des Ausmaßes der Un-gleichheit in verschiedenen Ländern veröffentlicht wor-den und ins allgemeine Bewusstsein gelangt. Ende der 90er Jahre erschien auch eine Untersuchung,die es unternahm, ausgehend von der volkswirtschaftli-chen Theorie Ungleichheit in der Epoche der erstenGlobalisierung im 19. Jahrhundert zu untersuchen:Kevin O’Rourke und Jeffrey Williamsons „Globalizati-on and History: The Evolution of a Nineteenth-CenturyAtlantic Economy“ (1999). Die Grundlagen, die dortund in folgenden Arbeiten neu geschaffen wurden, sindihrerseits Ausgangspunkt für Ronald Rogowskis Ver-such, eine neue Theorie der Ungleichheit zu entwerfen. Als er anfing, sich für das Thema zu interessieren,erzählt Rogowski, sei er davon ausgegangen, dass diePolitik und die politischen Institutionen eines Landeseine große Rolle für das Maß an Ungleichheit spielenmüssten. „Neuere Forschungen auf dem Gebiet zeigen

Ronald Rogowski

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uns aber, dass all das, woran wir wie selbstverständlichgeglaubt haben, einfach nicht stimmt.“Rogowski selbst hat ein Modell entwickelt, das zeigt,warum nicht die Politik die Ungleichheit bedingt, son-dern umgekehrt wachsende Ungleichheit eine Verände-rung der politischen Institutionen nach sich zieht. Diesmag erstaunlich klingen, gilt aber inzwischen als gesi-chert: In so gut wie allen Industrienationen ist es zueinem Anstieg der Ungleichheit gekommen, nicht nach-dem, sondern bevor konservative Regierungen an dieMacht gekommen waren und begonnen hatten, Umver-teilung zu reduzieren. Dies hat Duncan MacRae, Dokto-rand der University of California, Los Angeles, an der auchRogowski lehrt, herausgefunden. Rogowski hat mit ihm

zusammen einen Aufsatz verfasst, der in Kürze in einemSammelband erscheinen wird. In diesem Aufsatz wird etliches Belegmaterial für dieThese zusammengetragen, dass sich eher die Ungleich-heit auf die Politik auswirkt als umgekehrt die Politikauf die Ungleichheit. Im Galopp geht es durch dieGeschichte: vorbei am antiken Griechenland, dem römi-schen Weltreich, Feudalismus, Pest, Reformation, Abso-lutismus, Französischer Revolution und den beidenWeltkriegen des 20. Jahrhunderts. Überall findet sichdas gleiche Muster. Durch Krieg und Epidemien kommtes zu einer Aufwertung ungelernter Arbeit, damit zugrößerer Gleichheit der Einkommen und stärker aufGleichberechtigung basierenden Institutionen. Das

Steigende Ungleichheit in englischsprachigen Ländern (Anteil des oberen Zehntels)

Ist Kontinentaleuropa die Ausnahme?(Anteil des oberen Zehntels)

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Gegenteil tritt ein, wenn ungelernte Arbeit an Wert ver-liert. Dann erhalten, in der Folge, die oberen Einkom-mensgruppen auch politisch stärkeren Einfluss.Liegt all diesen Überlegungen noch ein im Detail rechtkompliziertes Modell der Dynamik politischer Kräfte-verhältnisse zugrunde, vertraut Rogowski mittlerweileauf einen simpleren und radikaleren Ansatz: Je höherdie Rendite auf Land oder Kapital im Vergleich zu denEinkommen der einfachen Arbeiter ausfällt, destogrößer die Ungleichheit einer Gesellschaft. Diese For-mel hat sich in der neueren Forschung zur economichistory bewährt. Rogowski glaubt, dass man auf ihrerBasis auch neue Erklärungen zur Ungleichheit in derGegenwart gewinnen kann.Der Grundgedanke ist einfach: Wenn die Rendite aufLand oder auf Kapital steigt, dann werden die Eigentü-mer, im Vergleich zu ungelernten Arbeitern, reicher.Insofern wird eine Gesellschaft gleicher, wenn umge-kehrt die Arbeitskraft im Verhältnis zur Rendite anWert gewinnt. „Beobachten kann man das zum Beispielim Fall von Irland im 19. Jahrhundert“, meint Rogowski.Durch Auswanderung und Hungersnot wurde diedamalige Bevölkerung auf ein Drittel reduziert. Danachsind die irischen Arbeiter, was die Löhne betrifft, mitihren britischen Kollegen gleichgezogen, ohne dass es inIrland nennenswerte Industrie gegeben hätte.Die einfache Formel des Lohn-Rendite-Verhältnisseserlaubt es, so etwas wie eine Physik der Ungleichheit zubeschreiben. Sinkt zum Beispiel in einer landwirtschaft-lich bestimmten Wirtschaft die Rendite auf Land in

Relation zu den Löhnen, hat das einen Anstieg derGleichheit zur Folge – egal, ob dies durch Abwanderun-gen oder Epidemien, durch neue Technologien in derLandwirtschaft oder die Annektierung neuer Gebietezustande kommt. Allein aus diesen Grundzügen desModells lässt sich eine nicht triviale Schlussfolgerungableiten: Ungleichheit ist ein Nullsummenspiel. Wennin einem Teil der Welt die Ungleichheit steigt, zum Bei-spiel, weil ein Zuzug an ungelernter Arbeit stattfindet,muss sie andernorts sinken – zumindest in der Theorie. In der Realität trifft das in dieser reinen Form nurbedingt zu. „Relativ betrachtet“, meint Rogowski, „istzwar die Gesamtheit der Entwicklungsländer gegenü-ber den Industrieländern gleicher geworden.“ Dennochhat in einem Land wie Mexiko, für sich betrachtet, dieUngleichheit über die Jahre hinweg zugenommen.„Natürlich könnte man sagen, dass Mexiko ohne dieenorme Auswanderung noch ungleicher gewordenwäre“, meint Rogowski. „Aber so etwas kann man kaumbelegen.“Die neue Theorie stellt aber noch andere bisherigeGewissheiten in Frage. Bislang waren viele Ökonomender Ansicht, dass Ungleichheit insbesondere für Ent-wicklungsländer eine notwendige Voraussetzung sei,um Anschluss an die Industrialisierung zu bekommen.Schließlich braucht es Kapital, um Fabriken zu bauen -und das kann nur von den Wohlhabenden kommen.Empirisch bewahrheitet hat sich dieser Ansatz, der vorallem auf Arbeiten des amerikanischen Wirtschaftswis-senschaftlers Simon Kuznets aus den 1950er Jahren

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zurückgeht und der immer noch Anhänger hat, jedochnicht, meint Rogowski. Weder habe sich im 20. und 21.Jahrhundert gezeigt, dass wachsende Ungleichheit, wieKuznets vermutete, lediglich ein Übergangsphänomensei, welches Länder auf dem Weg in die Industrialisie-rung aufwiesen. Noch könne man sagen, dass Un-gleichheit per se eine Voraussetzung für wirtschaftlicheErneuerung sei. „Für die Zeit der frühen Industrialisie-rung mag dieser Ansatz plausibel scheinen“, räumtRogowski ein. „Zu jener Zeit spielte das Sachvermögenein große Rolle. Aber heute hat das Humankapital einewichtigere Bedeutung – und das kann man nur in einergleicheren Gesellschaft aufbauen.“

Humankapital, das heißt Bildung, nimmt heute dieFunktion ein, die in vorindustriellen Zeiten Landbesitzinnehatte. An die Stelle der Pacht, die ein Grundstückabwirft, ist die Bildungsrendite getreten. Und wiedergilt: je höher die Bildungsrendite, also die Prämie, dieman auf dem Arbeitsmarkt für eine Ausbildung erzielenkann, im Vergleich zu den Bezügen der einfachenArbeiter, desto größer die Ungleichheit. Nun bekommt man insbesondere von Wirtschaftsfor-schern in den USA oft zu hören, dass wachsende Ungleich-heit nicht per se ein Nachteil für die Gesellschaft sei. ImGegenteil: wenn es die besser Ausgebildeten sind, diebesonders hohe Gehälter erzielen, dann sei Ungleichheitsogar nützlich, weil sie für den Einzelnen ein Anreiz sei, inseine Bildung zu investieren. Und ein höheres Bildungsni-veau wiederum käme der gesamten Wirtschaft zugute.

Rogowski bestreitet das nicht. „Nur“, wirft er ein, „wasnützen mir die Anreize, wenn ich gar nicht die Mittelhabe, mich auszubilden?“ Wer eine Fabrik aufbauenwill, kann dafür einen Kredit erhalten, weil er den Sach-wert der Gebäude und Maschinen gegenüber dem Inve-stor als Sicherheit einbringen kann. Anders verhält essich mit der persönlichen Ausbildung. Hier ist das Risi-ko für Kreditgeber größtenteils ungedeckt: die Vermö-genden haben keinen Anreiz, in die Bildung derÄrmeren zu investieren. Aus diesem Grund sei es in sehrungleichen Gesellschaften schwer, Humankapital auf-zubauen. „Das führt zu einem Teufelskreis, in dem dieausgebildete Minderheit immer größeren Abstand vomRest der Bevölkerung gewinnt.“ Deshalb also sei staatli-che Bildungspolitik so wichtig. „Tatsächlich jedoch“,fährt er fort, „werden in den USA heute weniger Men-schen ausgebildet als vor dreißig oder vierzig Jahren.“ Erselbst ist in einfachen Verhältnissen als Sohn eines Far-mers in Nebraska im Mittleren Westen der USA aufge-wachsen: „Ich hätte ohne öffentliche Finanzierung keineChance gehabt.“ Es geht aber nicht nur um Chancengleichheit. Weil sichUngleichheit negativ auf das Bildungsniveau auswirkt,glaubt Rogowski, schade sie auch der wirtschaftlichenEntwicklung in Industrieländern. Dass dies der Fall ist,gilt zumindest als gesichert. In einer Mitte der 1990erJahre erschienenen Studie, die alle verfügbaren verglei-chenden Untersuchungen von Ungleichheit und Wirtschaftswachstum auf internationaler Ebene zusam-menfasste, konnte ein Zusammenhang zwischen stei-

Der Marktplatz Neapelswährend der Pest im Jahr1656 in einem Ölgemälde von Carlo Coppola (1672)

Katastrophen haben regel-mäßig eine Phase größerersozialer Gleichheit nachsich gezogen.

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gender Ungleichheit und stagnierendem Wirtschafts-wachstum in exakten Prozentpunkten nachgewiesenwerden. Bildungspolitik ist so ziemlich die einzige Angelegen-heit, hinsichtlich derer sich aus der neuen Theorie derUngleichheit Handlungsempfehlungen ableiten lassen.Ansonsten demonstriert der historische Ansatz vorallem die Machtlosigkeit der Politik. Das Auf und Ab inSachen Ungleichheit, für viele Epochen detailliertbelegt, scheint jenseits der Möglichkeiten gezielter Ein-flussnahme zu liegen. Je größer die Zeitspannen sind, diedie Statistiken abdecken, desto stärker zeichnet sich dieUnausweichlichkeit ab, mit der die Ungleichheit ihreneigenen konjunkturellen Bewegungen folgt. Aus all dem lässt sich auch schließen, dass Faktoren, dieals Ursache für die zunehmende Ungleichheit diskutiertwurden, neu gewichtet werden müssen. Technolo-gischer Wandel erscheint im Lichte von RogowskisTheorie nicht als Ursache zunehmender, sondern alsResultat abnehmender Ungleichheit: Je knapper undteurer nicht qualifizierte Arbeit ist, desto größer ist derAnreiz für Investoren, arbeitskraftsparende Erfindun-gen einzusetzen.Die sinkende Macht der Gewerkschaften ist eine weitereEntwicklung, die in vielen Studien als Ursache für denRückgang der Löhne vor allem im unteren Einkom-mensbereich angeführt wird. In Rogowskis Betrachtunghingegen stellt sich dies als bloße Begleit-erscheinung dar, die durch tiefer liegende Dynamikenverursacht wird. Dass die Politik in der Lage sei, die

Macht der Gewerkschaften zu schwächen, so wie dies inder jüngeren Vergangenheit nach Meinung des bekann-ten Ökonomen und New York Times-Kolumnisten PaulKrugman in den USA auf das Betreiben einer neolibera-len Verschwörung hin geschehen sei, hält Rogowski fürwenig plausibel. „Wie sollte man die Gewerk-schaften schwächen können? Früher wären sie viel zustark dafür gewesen. Das hatte keine politischen Grün-de, sondern war volkswirtschaftlich bedingt und hattemit Dingen zu tun wie Konjunktur, Technologie, undHandel.“ In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg hingegen sei esnicht weiter schwierig gewesen, die Löhne der einfachenArbeiter fast bis auf das Niveau der Facharbeiter anzu-heben. „Die Wirtschaft setzte dem nichts entgegen. Daswar in allen Ländern so – egal, ob die Gewerkschaftendort stark waren oder nicht.“ Mit der These, dass Ein-kommensungleichheit ihre Ursache in sinkenderGewerkschaftsmacht habe, ist dies nicht zu vereinbaren.

Dank Wissenschaftlern, die wie Rogowski als Pendlerzwischen den Disziplinen arbeiten, ist das Zusammen-spiel von economic history und den gegenwartsbezogenenUntersuchungen zur Entwicklung von Top-Einkommenin den letzten Jahren immer enger geworden. Was dieErforschung von Ungleichheit betrifft, ist somit dieMenge des verfügbaren Belegmaterials gestiegen, wieauch der Standard von Prüfkriterien, anhand dererHypothesen beurteilt werden können. So kann sich die Annahme, dass es in Sachen Ungleich-

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heit doch so etwas wie einen „rauchenden Colt“ gebenmüsse, auch auf neue Daten stützen. Bis vor kurzemmeinte man, dass die europäischen Länder von derKehrtwende, die die USA seit den 1970er Jahren erfah-ren hatten, verschont geblieben seien. In der aktuellenAusgabe eines verbreiteten Lehrbuches zum Thema„Soziale Ungleichheit in Deutsch-land“ ist beispielsweise zu lesen,dass die Einkommensverteilungder Bevölkerungsmehrheit „er-staunlich stabil“ geblieben sei.Und was die Verteilung der Ver-mögen betreffe, so sei diese nicht,wie immer wieder vermutet,ungleicher, sondern im Gegenteilgleicher geworden. An sich waren dies gute Nach-richten, welche die achtlos wie-derholte Rede von der sichimmer weiter öffnenden „sozia-len Schere“ Lügen strafen. Fürdie Wirtschaftsforschung aller-dings machte die Tatsache, dassEuropa sich so anders entwickel-te als die USA, die Sache nicht einfacher – weshalb mansich darauf verständigte, dass die Situation eben der-maßen kompliziert sei, dass man ihr mit keinem einheit-lichen Beschreibungsmuster beikommen könne. Dieses Problem ist nun aus der Welt geschafft. NeuesteZahlen zeigen, was ohnehin alle längst zu wissen mein-

ten: Auch in Deutschland und in anderen europäischenLändern hat die „Wende“ stattgefunden – allerdings miteiner Verzögerung von zwei Jahrzehnten und mehr.Auch unter den mittleren Einkommensgruppen, die dieMehrheit der arbeitenden Bevölkerung ausmachen, hatdie Ungleichheit zugenommen. Betrachtet man die

Daten der vergangenen Jahreallein, kann man zwar auch nochannehmen, dass es sich beimgegenwärtigen Trend um eineundramatische Übergangser-scheinung handelt. Fasst man län-gere Zeitreihen ins Auge, scheintdies jedoch kaum plausibel. Über das gesamte zwanzigsteJahrhundert hinweg lässt sich inallen Industrieländern der glei-che Verlauf beobachten. Vorallem die Einkommen der Rei-chen und Reichsten - und derenAnteil am gesamten Volksein-kommen - erklimmen in der Zeitvor dem ersten Weltkrieg Spit-zenwerte. Nach einer Phase der

Angleichung der Einkommen, die auf die beiden Welt-kriege folgt, beginnen die Topverdienste, quasi denSchwung der Talfahrt nutzend, stetig wieder anzustei-gen, um sich in den letzten Jahren den damaligen Ver-hältnissen anzunähern. Es sieht nicht so aus, als obirgend etwas imstande sei diese Bewegung zu stoppen.

Damien Hirst, „For the Love of God“ (2007)

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Der Schamane

Stephen Greenblatt, der New Historicism Permanent Fellow

und die Mobilität der Kultur Fellow 2003/2004

von Florian Welle

Chapter 1 Primal Scenes

Let us imagine that Shakespeare found himself from boyhood fasci-

nated by language, obsessed with the magic of words. There is over-

whelming evidence for this obsession from his earliest writings, so it

is a very safe assumption that it began early, perhaps from the first

moment his mother whispered a nursery rhyme in his ear:

Pillycock, pillycock, sate on a hill,

If he’s not gone – he sits there still.

(This particular nursery rhyme was rattling around his brain years

later, when he was writing King Lear. “Pillicock sat on Pillicock-hill,”

chants the madman Poor Tom [3.4.73].) He heard things in the

sounds of words that others did not hear; he made connections that

others did not make; and he was flooded with a pleasure all his own.

Vielleicht muss man bis in die Kindheit von StephenGreenblatt zurückgehen, um zu verstehen, warum deramerikanische Literaturwissenschaftler so arbeitet, wieer arbeitet, warum er so schreibt, wie er schreibt: asso-ziativ und sinnlich, spielerisch und gewitzt. Fragt manden Kenner der Englischen Renaissance, Shakes-pearespezialisten und Begründer des New Historicismnach seiner Kindheit, erfährt der Zuhörer Geschichten,die sich zu Schlüsselszenen verdichten, wie jene, die erzu Beginn seiner Shakespearebiografie „Will in theWorld. How Shakespeare Became Shakespeare“ (2004)auf so elegante Weise vor den Augen des Lesers ausbrei-tet. Suchte man einen Satz, der sie alle fasst, dann fieleeinem unweigerlich einer aus einer nicht minderbekannten Publikation ein. Nämlich jener, der sich in dem Einleitungsaufsatz zu den „Shakespearean

Beginn des 1. Kapitels inStephen Greenblatts Shakespearebiografie

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Stephen Greenblatt,Abendkolloquium am Wissenschaftskolleg, 23. Mai 2004

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Negotiations“ (1988) findet: „I began with the desire tospeak with the dead.“Greenblatt, 1943 in Cambridge, Massachusetts, geboren,wächst in einer Familie auf, die, obwohl nicht belesen,ein respektvolles Verhältnis zu Büchern pflegt. So kauftsein Vater 1927 die zwölfbändige „Jewish Encyclope-dia“, ein dickleibiges Werk, das sich der Sohn litauischerEinwanderer eigentlich gar nicht leisten kann. Es fülltfortan den einzigen Bücherschrank zur Hälfte aus. Alsextravagant bezeichnet Greenblatt die Anschaffungheute. Ihr einziger Zweck sei es offenbar gewesen, dasAndenken des geliebten Großvaters zu ehren. Dabeiwar dieser zu Lebzeiten ein Lumpensammler, in dessenLeben Bücher kaum eine Rolle gespielt hatten.Auch wenn relativ wenige Bücher im Haushalt der Greenblatts zu finden sind, dem jungen Stephen wirdvorgelebt, sie als etwas Kostbares zu erachten. DieseWertschätzung steigert sich für ihn – nicht durch denInhalt, der sich ihm im Falle der „Jewish Encyclopedia“noch gänzlich entzieht, sondern durch das, was er zwi-schen den Seiten findet: „Blumen, die mein Vater meinerMutter geschenkt hatte; Notizen, die meine TanteEsther schrieb, als sie im Sterben lag; mit seltsamenBuchstaben bekritzelte Briefe, von denen ich heute weiß,dass sie in Jiddisch geschrieben waren; Hochzeitseinla-dungen…“Stellen wir uns vor, wie Stephen diese geheimnisvollenTrouvaillen bestaunt, wie er ihr Material befühlt, sie zuentziffern versucht und mutig Verbindungen zwischenihnen herstellt. Nimmt man nun die Bücher hinzu, die

er liest, etwa eine Kinderausgabe der „Erzählungen ausden Tausendundeinen Nächten“; und bedenkt man wei-ter, was für „wunderbare Geschichtenerzähler“ seineEltern sind, dann scheint alles zusammen genommenwie ein unbeschwertes Vorspiel zur neo-historistischen„Arbeitsweise“ („practice“, „Towards a Poetics of Cul-ture“, 1987) des Erwachsenen – und so will Greenblattden New Historicism ja verstanden wissen; was aller-dings von seinen Kritikern nicht immer gesehen wird.In regelmäßigen Abständen werfen diese dem NewHistoricism das Fehlen einer konsistenten Theorie vor.Eine solche wollte und will der Amerikaner aber geradenicht liefern. So heißt es etwa in der Einleitung zu dembislang nur auf englisch erschienenen Buch mit demberedten Titel „Practicing New Historicism“ (gemein-sam mit Catherine Gallagher, 2000): „We had never for-mulated a set of theoretical propositions or articulated aprogram.“ Und spricht man Greenblatt persönlich aufdiesen immer wiederkehrenden Vorwurf an, dannbetont er, dass gerade die Offenheit und die Kontingenzdes New Historicism das Interessante an ihm sei und ihnlebendig gehalten habe.Mit der Dechiffrierungslust des Detektivs folgt der NewHistoricist den verblassten textuellen, visuellen undsymbolischen Spuren, die die Toten der Nachwelt hin-terlassen haben. Sie wieder sichtbar und damit für unserst wahrnehmbar zu machen, ist die Aufgabe, der sichGreenblatt seit seinem bahnbrechenden Werk „Renais-sance Self-Fashioning: From More to Shakespeare“(1980) und der Gründung der Zeitschrift „Representa-

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tions“ (1982) widmet. Zunächst in Berkeley, wo er von1969 bis 1997 lehrt, und seitdem als The Cogan UniversityProfessor of the Humanities in Harvard.Der vom New Criticism, der dominanten literaturwis-senschaftlichen Richtung in Amerika bis in die 1970erJahre, autonom gedachte literarische Text – „Judging apoem is like judging a pudding“ – wird von Greenblattseines geschichtsvergessenen Status’ entkleidet. Er ver-sucht, die literarischen Texte wieder mit der „sozialenEnergie“ aufzuladen, die ihnen zur Zeit ihrer Entste-hung zu eigen war. Anders formuliert: Greenblattuntersucht, welche nicht-literarischen Diskurse – etwaaus den Bereichen der Theologie, des Rechts und derNaturwissenschaft – und welche nicht-literarischenPraktiken – etwa Tänze, Zeremonien, Gesten – auf viel-fach verschlungenen Pfaden Eingang finden in ein poe-tisches Werk, und es somit mitkonstituieren. Wie diese„Verhandlungen“ zwischen literarischen und historisch-kulturellen Dokumenten genau vonstatten gehen, wel-che Institutionen an ihnen beteiligt sind, darauf richtetGreenblatt all sein Augenmerk. Denn nur eine sehrpenible Rekonstruktion dieser „Wechselgeschäfte“ ver-spricht die Frage zu lösen, die ihn von Anbeginnumtreibt. Nämlich „wie so viel Leben in die Textspurenhineingeraten war“ (The Circulation of Social Energy,1988). Greenblatt spricht von Literaturprofessoren daherauch als „Schamanen der Mittelklasse“, und seinWunsch als Lehrer ist es, den Studenten das Gefühl zuvermitteln, sie seien „haunted by the voices of the past“,verfolgt von den Stimmen der Vergangenheit.

Gerne verweist man auf Clifford Geertz’ Praxis derdichten Beschreibung, um den ebenso deskriptiven wieanalytischen Darstellungsstil von Greenblatts Büchernzu fassen – er führt den Leser von marginal erscheinen-den Details ins Zentrum so vollendeter Werke wie der-jenigen Shakespeares. Das ist nicht falsch. Vielver-sprechender jedoch ist es, der Fährte zu folgen, die Greenblatt selbst gelegt hat. In einem seiner vielen luzi-den Aufsätze würdigt er den Einfluss des deutschenRomanisten Erich Auerbach auf sein eigenes Schreiben.Vor allem dessen so überaus tiefgründige Handhabe derAnekdote inspirierte den Amerikaner: „The influence ismost striking in the adaptation of Auerbach’s charactris-tic opening gambit: the isolation of a resonant textualfragment that is revealed, under the pressure of analysis,to represent the work from which it is drawn and theparticular culture in which that work was produced andconsumed.” („Practising New Historicism”, 2000).Gegenwärtig beschäftigt sich Greenblatt intensiv mitkultureller Mobilität; eine Publikation zum Thema(„Cultural Mobility“, 2009) ist in Vorbereitung. Ihr istdas „Mobility Studies Manifesto“ entnommen, dasumseitig zu lesen ist. Es geht zurück auf die Schwer-punktgruppe „Cultural Mobility“, die er als PermanentFellow im akademischen Jahr 2003/04 am Wissen-schaftskolleg geleitet hat. Wer die Arbeiten Greenblattskennt, der sieht in der Auseinandersetzung mit demThema Bewegung und Beweglichkeit – „von Personen,Objekten, Bildern, Texten und Ideen“ – natürlich keineNeuausrichtung seiner Forschung, sondern eine folge-

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richtige Entwicklung. Schon seine Monographie „Mar-vellous Possessions“ (1991) zeigt das früh vorhandeneInteresse des akademischen Grenzgängers für dasThema der kulturellen Mobilität in seinen konkretenwie metaphorischen Manifestationen.Einst galt Stephen Greenblatt als das Enfant terrible deramerikanischen Literaturwissenschaft. Mittlerweile istzwar der New Historicism fester Bestandteil des dorti-gen universitären Lebens, doch Greenblatt selbst ist nochimmer für die eine oder andere Volte gut. Im Zuge sei-nes Interesses für kulturelle Mobilität erstellte erunlängst zusammen mit dem Dramatiker Charles Meeeine moderne Version von Shakespeares verlorenemSchauspiel „Cardenio“. „Das Stück“, führt Greenblattnäher aus, „schrieb Shakespeare in Kooperation mit sei-nem jüngeren Kollegen John Fletcher. Doch währendzwei andere ihrer gemeinsam verfassten Werke –„Henry VIII“ („All Is True“) und „The Two NobleKinsmen“ – erhalten geblieben sind, ging „Cardenio“aus unbekannten Gründen verloren. Es ist aber mehr-fach belegt, dass das Stück 1613 einige Male aufgeführtworden ist.“Auch die Neufassung erlebte schon einige Aufführun-gen. Allerdings nicht in Amerika – dort feiert das Stückerst in diesem Jahr am American Repertory Theatre in

Cambridge Premiere. Sondern in Japan, Indien, Kroati-en, Spanien. Greenblatt stellte, in diesem Fall ohne dasMitwirken von Charles Mee, den dortigen Theaterkom-panien die wenigen überlieferten Dokumente sowie ihremoderne Version zur freien Verfügung. Die vielenunterschiedlichen Bearbeitungen des Materials liefernGreenblatt, der sich alle Inszenierungen persönlichanschaut, nun eindrückliche Beispiele für die Mechanis-men sprachlicher und kultureller Aneignung. Was alsomöglicherweise mit getrockneten Blumen und vergilb-ten Zetteln in der „Jewish Encyclopedia“ begann, gipfeltin einem Forschungsprogramm zur Mobilität, das denengen universitären Rahmen weit hinter sich lässt: Prac-ticing New Historicism eben. Die wissenschaftlichenErträge beginnen erst am Horizont aufzuscheinen. Siewerden uns wieder ein Stückchen mehr erzählen überdie Poetik der Kultur.

Von Stephen Greenblatt sind jüngst auf deutsch seine Frank-furter Adorno-Vorlesungen unter dem Titel „Shakespeare: Freiheit, Schönheit und die Grenzen des Has-ses“ erschienen, (Suhrkamp, 2007).

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A Mobility Studies Manifestoby Stephen Greenblatt

Stephen Greenblatt, The Cogan University Professor of the

Humanities an der Universität Harvard und Non-ResidentPermanent Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin, hat imakademischen Jahr 2003/04 am Wissenschaftskolleg eineArbeitsgruppe zum Thema „Cultural Mobility“ geleitet. DieArbeiten dieser mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-lern aus Geschichte, Soziologie, Politik- und Literaturwissen-schaft interdisziplinär zusammengesetzten Forschergruppeerscheinen im Frühjahr 2009 bei Cambridge University

Press. In einem Manifest hat Stephen Greenblatt wesentli-che Ideen, die aus den „Mobility Studies“ dieser Arbeitsgrup-pe hervorgegangen sind, festgehalten:

First, mobility must be taken in a highly literal sense.Boarding a plane, venturing on a ship, climbing onto theback of a wagon, crowding into a coach, mounting onhorseback, or simply setting one foot in front of the otherand walking: these are indispensable keys to understan-ding the fate of cultures. The physical, infrastructural,and institutional conditions of movement – the availableroutes; the maps; the vehicles; the relative speed; the con-trols and costs; the limits on what can be transported; theauthorizations required; the inns, relay stations andtransfer points; the travel facilitators – are all serious

objects of analysis. Only when conditions directly relatedto literal movement are firmly grasped will it be possiblefully to understand the metaphorical movements: bet-ween center and periphery; faith and skepticism; orderand chaos; exteriority and interiority. Almost every oneof these metaphorical movements will be understood, onanalysis, to involve some kinds of physical movement aswell.

Second, mobility studies should shed light on hidden aswell as conspicuous movements of peoples, objects, ima-ges, texts, and ideas. Here again it would be well to beginwith the literal sense: moments in which cultural goodsare transferred out of sight, concealed inside cunninglydesigned shells of the familiar or disguised by subtleadjustments of color and form. From here it is possible tomove to more metaphorical notions of hiddenness:unconscious, unrecognized, or deliberately distortedmobility, often in response to regimes of censorship orrepression. We can also investigate the cultural mecha-nisms through which certain forms of movement –migration, labor-market border-crossing, smuggling,and the like – are marked as “serious,” while others, suchas tourism, theater festivals, and (until recently) studyabroad, are rendered virtually invisible.

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Third, mobility studies should identify and analyze the“contact zones” where cultural goods are exchanged.Different societies constitute these zones differently, andtheir varied structures call forth a range of responsesfrom wonder and delight to avidity and fear. Certainplaces are characteristically set apart from inter-culturalcontact; others are deliberately made open, with the rulessuspended that inhibit exchange elsewhere. A speciali-zed group of “mobilizers” - agents, go-betweens, transla-tors, or intermediaries - often emerges to facilitatecontact, and this group, along with the institutions thatthey serve, should form a key part of the analysis.Fourth, mobility studies should account in new ways forthe tension between individual agency and structuralconstraint. This tension cannot be resolved in anyabstract theoretical way, for in given historical circum-stances structures of power seek to mobilize some indivi-duals and immobilize others. And it is important to notethat moment in which individuals feel most completelyin control may, under careful scrutiny, prove to bemoments of the most intense structural determination,while moments in which the social structure applies thefiercest pressure on the individual may in fact be precise-ly those moments in which individuals are exercising themost stubborn will to autonomous movement. Mobilitystudies should be interested, among other things, in theway in which seemingly fixed migration paths are dis-rupted by the strategic acts of individual agents and byunexpected, unplanned, entirely contingent encountersbetween different cultures.

Fifth, mobility studies should analyze the sensation ofrootedness. The paradox here is only apparent: it isimpossible to understand mobility without also under-standing the glacial weight of what appears bounded andstatic. Mobility often is perceived as a threat – a force bywhich traditions, rituals, expressions, beliefs are decente-red, thinned out, decontextualized, lost. In response tothis perceived threat, many groups and individuals haveattempted to wall themselves off from the world or,alternatively, they have resorted to violence.Cultures are almost always apprehended not as mobile orglobal or even mixed, but as local. Even self-consciousexperiments in cosmopolitan cultural mobility […] turnout to produce results that are strikingly enmeshed in par-ticular times and places and local cultures. And the factthat those local cultures may in fact be recent formations,constructed out of elements that an earlier generationwould not have recognized, makes very little difference.Indeed one of the characteristic powers of a culture is itsability to hide the mobility that is its enabling condition.Certainly the pleasure, as well as the opacity, of culture hasto do with its localness: this way of doing something (coo-king, speaking, praying, making love, dancing, wearing aheadscarf or a necklace, etc.) and not that. A study of cul-tural mobility that ignores the allure (and, on occasion, theentrapment) of the firmly rooted simply misses the point.Theory and descriptive practice have to apprehend howquickly such a sense of the local is often established andalso how much resistance to change the local, even when itis of relatively recent and mixed origin, can mount.

Zur Schwerpunktgruppe„Cultural Mobility“ gehörten:

Stephen Greenblatt, CambridgeRossitza Guentcheva, SofiaPál Nyíri, BudapestHeike Paul, LeipzigInes Zupanov, Paris

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Filmszene aus Werner Herzogs „Fitzcarraldo“ (1981) mit Klaus Kinski in der Titelrolle © Werner Herzog

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AlvaNOE

Philosophie

Giovanni FRAZZETTO

Molekularbiologie

Heiner GOEBBELS

Komponist u. Regisseur

Miriam

HANSEN

Filmwissenschaft

Denis THOUARD

Philosophie

Salman BASHIER

Islamwissenschaft

Peter SCHÄFER

Judaistik

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RonaldROGOW

SKI

Politikwissenschaft

UrsulaPia

JAUCH

Philosophie

Antjie KROGAutorin

Ruth LEYS

Geschichte

Raphael ROSENBERG

Kunstgeschichte

Susanne MUTH

Archäologie

Alexander NAGEL

Kunstgeschichte

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PetraDOBNER

Politikwissenschaft

Phoenix Arizona

Mischling

Rüdiger CAMPE

Germanistik

Elizabeth JELIN

Soziologie

Fawwaz TRABOULSI

Geschichte

Horst BREDEKAMP

Kunstgeschichte

Gesine KRÜGER

Geschichte der Neuzeit

Leo KATZ

Rechtswissenschaft

BernardM

. LEVINSON

Alttestamentliche

Forschung

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M. M

ojtahed SCHABESTARI

Religionsphilosophie

Robert PERLMAN

Pädiatrie

HansK. BIESALSKI

Ernährungsmedizin

Candace VOGLER

Philosophie

Bogdan IANCU

Rechtswissenschaft

Thomas HAUSCHILD

Anthropologie

Moira

GATENS

Philosophie

Rainer WAHL

Rechtswissenschaft

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Dhruv RAINA

Wissenschaftsphilosophie

CatrionaM

ACCALLUMBiologie

Randolph NESSE

Psychiatrie

Gustav SEIBT

Geschichte

Meenakshi M

UKHERJEE

Literaturwissenschaft

PatriciaKITCHER

Philosophie

Alexander SOMEK

Rechtswissenschaft

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Samah SELIM

Literaturwissenschaft

Michael FRIED

Kunstgeschichte

Melanie TREDE

Ostasiatische

Kunstgeschichte

Martin LOUGHLIN

Rechtswissenschaft

DzevadKARAHASAN

Schriftsteller

Dieter GRIMM

Rechtswissenschaft

Fritz SCHARPF

Politikwissenschaft

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Was kommt nach dem Staat?

Die Schwerpunktgruppe „Verfassung jenseits des Nationalstaats“ denkt über Demokratie in der entstaatlichten Welt nach Fellows 2007/2008

Interview: Ralf Grötker

Netzwerke von privaten Akteuren und transnationaleOrganisationen gewinnen rund um den Globus an poli-tischer Gestaltungsmacht. Dieser Prozess, der seiteinem halben Jahrhundert zu beobachten ist, wird alsEntstaatlichung bezeichnet. Der Frankfurter Rechtsso-ziologe Gunther Teubner gehört zu den Befürwortern

eines „gesellschaftlichen Konstitutionalismus“. SeinerAnsicht nach muss das Konzept der Verfassung, aufwelches der demokratische Rechtsstaat gründet, neugedacht werden, wenn politische Herrschaft in einersich globalisierenden Welt nicht an Legitimität ein-büßen soll.

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Gunther Teubner

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Grötker: Wir erleben heute, dass eine Vielzahl von soge-nannten transnationalen Regimes eine immer größereBedeutung erlangen. Dazu gehören Organisationen zurRegelung von internationalen Wirtschaftsbeziehungenwie die WTO (World Trade Organization) und die Welt-bank; zahlreiche Unterorganisationen der UNO; die oftals „Weltregierung des Internet“ bezeichnete InternetCorporation for Assigned Names and Numbers ICANN undZusammenschlüsse von internationalen Unternehmenwie der „Global Compact“ zur Förderung einer ökolo-gisch und sozial verträglichen Globalisierung. Ebensodazu gehören zivilgesellschaftliche Organisationen wieMedicines for Malaria Venture. Ist das Auftreten dieserneuen Institutionen ein Anzeichen dafür, dass wir aufdem Weg zu einem Weltstaat sind?

Teubner: Wir beobachten in der Tat eine Verlagerungdes Politischen von der nationalen auf die transnationaleEbene. Aber das heißt nicht, dass der Nationalstaatdurch ein Phänomen abgelöst wird, das man als Welt-staat bezeichnen könnte. In dieser Annahme steckt eingroßer Irrtum: Staatlichkeit kann sich nicht einfach imglobalen Maßstab reproduzieren. Drei Unterschiede ste-chen hervor. Zunächst gründen die neuen Policy Regi-mes nicht auf einer territorialen Basis, sondern ziehenihre Grenzen nach funktionalen Kriterien. Hier findetalso neben der Globalisierung eine Fragmentierung desPolitisch-Rechtlichen statt. Neu ist auch, zweitens, eineverstärkte Privatisierung des Politischen dadurch, dassmit internationalen Non-Governmental Organizations

(NGOs) und multinationalen Unternehmen privateAkteure die Bühne der internationalen Politik betretenund gesellschaftliche Gestaltungsmacht beanspruchen.Mit all dem geht, drittens, die Auflösung von Hierar-chien einher, wie sie für staatliches Handeln im Bereichdes Nationalstaates prägend waren.

Grötker: Warum sollte man all das, auch wenn mandabei den Begriff etwas weiter fassen muss, nicht den-noch als eine Art Weltstaat bezeichnen?

Teubner: Worauf es hier ankommt, ist, dass sich imtransnationalen Raum die Frage nach der Begründungvon politischer Herrschaft neu stellt. Zumindest seit derAufklärung haben wir diese Frage bislang mit Hilfe desVerfassungsdenkens beantwortet. Eine Verfassung, wiewir sie vom nationalstaatlichen Rahmen her kennen, hatimmer die doppelte Funktion der Begründung und derBegrenzung von Herrschaftsstrukturen.

Grötker: In der Theorie ging es dabei zum einen um dieIdee, dass legitime Herrschaft nur aus dem Konsens derHerrschaftsunterworfenen hervorgehen kann, zumanderen darum, dass die Herrschaftsunterworfenenunveräußerliche Rechte haben, deren Sicherung wieder-um der legitime Zweck politischer Herrschaft ist. Sozumindest hat es ihr Kollege Dieter Grimm einmalzusammengefasst.

Teubner: Ja genau. Und hier liegt das Problem. Auch

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eine World Trade Organization hat ihren Gründungsakt,ihre Regeln und Kompetenzen. Aber sie wird nicht vonWählern oder von einem Parlament kontrolliert. Wich-tiger noch ist die Frage der Begrenzung der Macht vonOrganisationen wie der WTO durch eine Verfassung.Wir stehen hier vor der Herausforderung, im transna-tionalen Raum Entsprechungen für Gewaltenteilung,Grundrechte und die gerichtliche Kontrolle von Ent-scheidungen zu finden.

Grötker: Wie stehen die Chancen, dass all dies gelingt?

Teubner: Manche sind der Meinung, dass das demokra-tische Verfassungsdenken so stark mit dem National-staat verwoben ist, dass eine Übertragung auf anderePhänomene nicht möglich ist. Dieser Auffassung sindbeispielsweise meine Kollegen Petra Dobner und DieterGrimm. Ich selbst glaube, dass eine Übertragung sehrwohl möglich, ja notwendig ist. Allerdings nur unter derBedingung, dass man den nationalstaatlichen Konstitu-tionalismus unter globalen Bedingungen spezifiziert.

Grötker: Worin gründen diese verschiedenen Einschät-zungen hinsichtlich der Möglichkeit eines transnationa-len Verfassungsdenkens?

Teubner: Da ist zunächst die Frage der Grundrechte,auf deren Schutz hin ja die nationalstaatliche Verfassungbezogen ist. Klassisch gedacht sind Grundrechte Rechtedes Bürgers gegenüber dem Staat. Meiner Ansicht nach

ist dies ein Punkt, wo wir, wenn es um Grundrechtsver-letzungen durch transnationale private Akteure geht,umdenken müssen. Historisch sind die Grundrechte in den Zeiten der Fran-zösischen Revolution aus Kämpfen gegen die expandie-rende Macht des politischen Systems hervorgegangen.Nun ist dieses Phänomen der Expansion eines gesell-schaftlichen Mediums nicht auf die Politik beschränkt.Auch in anderen Sozialbereichen kann man erleben, wiedie Eigenlogik von Institutionen dazu neigt, sich immerweiter auszubreiten. Stichworte sind die Ökonomisie-rung, die Juridifizierung, die Verwissenschaftlichungder Gesellschaft. Und hier setzen Grundrechte in ihrerHorizontalwirkung an: als Selbstbegrenzungen, die denExpansionstendenzen einer spezifischen Form vonRationalität von außen her auferlegt werden. Nehmen Sie die Freiheit der Wissenschaft. Über die klas-sischen Grundrechte ist diese gegenüber dem Staat vorEingriffen geschützt. Wenn es aber um die Frage geht,wie sich die Integrität der Wissenschaft gegenüber öko-nomischen Einflüssen schützen kann – denken Sie an dieFinanzierung der medizinischen Forschung durch diePharmaindustrie – hilft ein staatlich geschützter Autono-miebereich, den man einklagen kann, überhaupt nichts.

Grötker: Sondern?

Teubner: Freiheit der Wissenschaft gegenüber ökono-mischen Zumutungen könnte man gewährleisten,indem man garantiert, dass die Finanzierungsquellen

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der Forschung pluralisiert werden, um so eine Wettbe-werbssituation zu schaffen, in der neue Unabhängigkeitgegenüber den Sponsoren entstehen kann.

Grötker: Wenn Sie sich von einer klassischen Grund-rechtskonzeption lösen: Wer definiert dann in IhremModell, welche Rechte und welche HandlungsbereicheSchutz genießen sollten?

Teubner: Da gibt es nichts, was von vornherein feststeht.Das geht nur in den Diskursen selbst, über Reflexions-prozesse innerhalb der Systeme und zwischen den Syste-men. Etwa im Recht: ‚Wo sind die Grenzen derVerrechtlichung der Welt?’ Oder in der Politik: ‚Biswohin soll die Welt politisiert werden?’

Grötker: Wo gibt es dann noch eine kritische Perspektive,wenn das alles den „Diskursen“ überlassen wird?

Teubner: In einer Gesellschaft ohne Spitze und ohneZentrum gibt es keine unangefochtene Autorität – nichtden Staat und auch nicht die Wissenschaft. Man kannaber sagen: Dort, wo gesellschaftliche Konflikte aufbre-chen, dort ist auch die Quelle einer kritischen Normati-vität, die die Grenzen der Expansion von Sozialsystemenin autonome Handlungsbereiche bestimmt.

Grötker: Im ursprünglichen Verfassungsgedanken ent-halten ist auch das Element der demokratischen Legiti-mation von politischer Macht. Wie steht es damit?

Teubner: Meine Gegenfrage wäre: Reicht es denn aus,wenn nur der politische Bereich demokratisch organi-siert ist? Ich denke, man darf die Frage der Demokratie- oder besser: der Responsivität gesellschaftlicher Institu-tionen - nicht ausschließlich auf die politisch institu-tionalisierten Verfahren der parlamentarischen Demo-kratie beschränken. Schon im nationalen Raum, abererst recht im transnationalen Raum gilt: Die politischeVerfassung ist gerade nicht die Verfassung des gesell-schaftlichen Ganzen, sondern lediglich die Verfassungdes politischen Prozesses, die nicht beanspruchen kann,anderen Teilverfassungen übergeordnet zu sein. Auf deranderen Seite werden gerade im transnationalen Bereichöffentliche Funktionen auf gesellschaftliche Institutio-nen verlagert, denen man die Frage ihrer demokrati-schen Legitimation stellen muss.

Grötker: Das ist ja genau die Kritik, die gegenübereinem Konzept des sogenannten gesellschaftlichen Kon-stitutionalismus, wie Sie es vertreten, geltend gemachtwird: Wenn man die Grenzen des Nationalstaates über-schreitet, wird es schwierig, noch an Verfahren derdemokratischen Legitimierung festzuhalten.

Teubner: Ein Ansatz wäre hier, im Bereich des transna-tionalen Handelns die demokratischen Legitimations-stränge zum politischen System im engeren Sinnewieder herzustellen. Wenn man so etwas beim Wortnimmt, müsste man die transnationalen Entscheidungs-prozesse an Organisationen wie die EU rückbinden, die

1848 beschloss die Frank-furter Nationalversamm-lung die Grundrechte desDeutschen Volkes.Lithografie, Adolf Schroeter (1849)

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ja selbst unter einem Demokratiedefizit leidet! MeineAlternative dazu wäre die Idee der demokratischenOrganisation gesellschaftlicher Institutionen - ein Prin-zip also, das man bereits im nationalen Rahmen von derMitbestimmung in Unternehmen her kennt. Hierbesteht ein bisher noch unausgeschöpftes Potenzial,gesellschaftliche Institutionen stärker unter Verantwor-tung zu stellen. Im Rechtsprozess zum Beispiel. Ich willnicht dafür plädieren, Richter zu wählen. Das würde dasSystem nur für Korruption anfällig machen. Ich kannmir aber vorstellen, dass man den normalen Zweipartei-enprozess - Kläger gegen Beklagten - in eine quasiöffentliche diskursive Veranstaltung umwandelt, woverschiedene Interessen zu Wort kommen und derGerichtsprozess zu einem Forum öffentlicher Debatteund Entscheidung wird.

Grötker: Ein Beispiel?

Teubner: Verbandsklage, Gruppenklage, Anhörungbetroffener Interessen, stärkere Einschaltung von Wis-senschaft nicht nur bei Tatsachenfragen, sondern bei Fra-gen der Normsetzung wären Schritte in diese Richtung.Aber auch die Umstellung von Individualkonflikten aufinstitutionelle Konflikte. Ein Beispiel ist die Klage„Hazel Tau vs. Glaxo und Boehringer“. Auf Initiativevon Aids-Aktivisten sollten hier nationale Gerichte inSüdafrika entscheiden, ob die Pharmaunternehmen fundamentale Menschenrechte verletzten, weil sie ihre Preise für Anti-Aidsmedikamente so hoch setzten,

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dass sie für viele der Betroffenen unerschwinglich waren.Das zumindest war der Vorwurf. Der IndividualkonfliktAidspatient gegen Pharmaunternehmen wurde hier aufden institutionellen Konflikt zwischen Wettbewerbsfrei-heit und Gesundheitsschutz umgestellt.

Grötker: Wie sollte das auch anders funktionieren?

Teubner: Meiner Meinung nach sollte es hier eigentlichnicht darum gehen, einzelne Pharmafirmen mit Preis-kontrollen zu belegen, sondern ganz allgemein umwiderstreitende Logiken des Gesundheitssystems unddes Wirtschaftssystems. Man sollte deshalb lieber übereine Neuausrichtung der transnationalen Patentrechts-entwicklung reden - über Dinge wie verfahrensrechtlich

vereinfachte und kostengünstige Möglichkeiten, dasRecht auf Zwangslizensierungen einzuräumen. Die Bedingungen dafür zu schaffen, solche gesellschafts-politischen Fragen in einem Gerichtsprozess nicht nurzur Sprache zu bringen, sondern die Interessenartikula-tion der vielen Beteiligten zu ermöglichen – das wäre inmeinen Augen ein Schritt in Richtung Gesellschaftsde-mokratisierung. Auf der Ebene des Bundesverfassungs-gerichtes, wo politisch weitreichende Entscheidungenetwa im Bereich der Medienpolitik oder in Bezug aufdas Abtreibungsrecht gefällt wurden, finden solche Aus-weitungen des bloßen Zweiparteienprozesses schon statt.Viele Juristen tun so etwas gern als nicht legitimiertes„Richterrecht“ ab. Ich würde genau das aufwerten, aberzugleich auf prozedurale Änderungen drängen.

Grötker: Die Rechtsprechung, die Sie als Beispielgewählt haben, ist eine Institution, die immer noch eineklare Verortung im hierarchischen Gefüge von Macht-strukturen hat, die auf den Nationalstaat bezogen sind.Wie steht es um die demokratische Legitimation vonOrganisationen, die nicht über diese Anbindung ver-fügen?

Teubner: Ich verstehe Ihre Frage so, dass sie die Binnen-demokratisierung von Organisationen für nicht ausrei-chend erachten, ihre gesamtgesellschaftliche Legitimitätherzustellen. Das ist richtig. Wenn man aber von derfunktionalen Differenzierung her denkt, darf man diegesellschaftlichen Teilbereiche nicht nach dem Konzept

„Lullaby Spring“, one offour cabinets of pills, Damien Hirst (2002)

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von Gruppierungen oder Organisationen verstehen, dieein Partialinteresse vertreten, so wie eine Gewerkschaft,ein Arbeitgeberverband oder ein Verein. Selbst wenndiese demokratisch organisiert sind, sprechen sie nur fürsich selbst, nicht für die ganze Gesellschaft. Der Witz ander funktionalen Differenzierung hingegen ist, dassjeder einzelne Funktionsbereich auf die Gesamtgesell-schaft bezogen ist. Nur so kann das Konzept der Legiti-mation einer funktional differenzierten Gesellschaftaufgehen: wenn sich die Teilfunktionen mit Blick aufdie Gesamtgesellschaft legitimieren.

Grötker: Schön und gut. Letzten Endes geht es bei Fra-gen der Legitimation von staatlicher oder gesellschaftli-cher Macht aber doch auch immer darum, wer dieseMachtansprüche im Zweifelsfall durchsetzt. Und das istdoch immer noch der Staat. Oder sehen Sie auch diesesMonopol wanken?

Teubner: Das stimmt: Die Gewalt bleibt kaserniert imNationalstaat. Aber bedeutet das wirklich, dass letztend-lich doch alles wieder von der Politik der Nationalstaa-ten abhängt? Das wird ja immer als Argumentvorgebracht. Es ist richtig: Recht ohne Abstützungdurch Gewalt verliert seine Funktionsfähigkeit. Ichwürde aber eher sagen: Gewalt ist nur eine Funktions-voraussetzung dafür, dass Recht funktionieren kann – sowie wir, wenn wir denken, auch atmen müssen. Aber dieGewalt ist nicht bereits im Begriff der Norm enthalten.Und wenn ein gesellschaftlicher Handlungsbereich eine

Norm setzt und diese von staatlichen Gerichten durch-gesetzt wird, dann wird diese Norm nicht zu einem Pro-dukt des Staates, sondern bleibt Normsetzung einesgesellschaftlichen Bereichs und damit legitimierungsbe-dürftig.

Grötker: Gibt man mit diesem ganzen Konzept einesgesellschaftlichen Konstitutionalismus nicht zu viel des-sen preis, wofür der ‚alte’ nationalstaatliche Verfassungs-gedanke mit seinen vergleichsweise klar definiertenRechtsvorstellungen einstand?

Teubner: Das staatsbezogene Verfassungsmodell funk-tioniert nur so lange, wie der Staat mit der Gesellschaftidentifiziert oder als Organisationsform der Gesellschaftdefiniert wird. Aber diese scharfe Anbindung von Staatund Verfassung stimmte für die Epochen vor der Auf-klärung nicht und passt auch nicht zum Zeitalter derGlobalisierung. Ich glaube daher nicht, dass wir eineWahl haben.

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Der Schwerpunktgruppe „Verfassung jenseits des Nationalstaats“gehören folgende Fellows an:

Petra Dobner, BerlinDieter Grimm, BerlinMartin Loughlin, LondonFritz Scharpf, KölnAlexander Somek, IowaGunther Teubner, Frankfurt/MainRainer Wahl, Freiburg

v.l.n.r.: Gunther Teubner, Alexander Somek, Petra Dobner, Gunther Teubner,Fritz Scharpf, Petra Dobner, Gunther Teubner, Martin Loughlin

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Fragen Sie Doktor Darwin

Die Schwerpunktgruppe „Evolution and Medicine“ möchtedie Zusammenarbeit von Biologen und Medizinern stärken Fellows 2007/2008

von Carl Gierstorfer

Jährt sich nächstes Jahr Charles Darwins Geburtstagzum 200. und seine Veröffentlichung über die Entste-hung der Arten zum 150. Mal, dann wird die Evoluti-onstheorie in aller Munde sein. Verhaltensforscher undGenetiker, selbst Psychologen und Wirtschaftswissen-schaftler werden betonen, wie sehr das Verständnis desewigen Kreislaufs von Variation und Auslese ihre For-schung beeinflusst hat. Nur eine Disziplin wird davonwenig wissen wollen: die Medizin. Denn sie hat ihreeigenen Ideen vom menschlichen Körper und seinenKrankheiten. Warum die Evolutionstheorie als Erklä-rungsmodell nie Eingang in die Medizin gefunden hat,verblüfft manche Mediziner und viele Biologen.

Eine Konferenz, organisiert von Fellows der Schwer-punktgruppe „Evolution and Medicine“ am Wissen-schaftskolleg zu Berlin, sollte dieser Frage auf denGrund gehen. Und Wege finden, wie sich Medizin undEvolutionsbiologie gegenseitig befruchten können.Wahrscheinlich braucht es dafür einen Visionär undOrganisator wie Randolph Nesse, Professor für Psychia-trie und Psychologie an der University of Michigan undConvener dieser Gruppe. Nesse hat die Krankheiten sei-ner Patienten, von Gemütsschwankungen bis zu klini-scher Depression, immer auch unter evolutionärenGesichtspunkten gesehen. Warum fühlen wir uns heutehimmelhoch jauchzend und morgen zu Tode betrübt?

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Randolph Nesse

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Vielleicht, so Nesses Vermutung, hat selbst die Depressi-on eine evolutionäre Signifikanz, ist als Anpassung zuverstehen. Denn sie zwingt uns neue Wege auf, wennpräsente Lebensentwürfe in der Sackgasse enden.

Doch Nesses Vision reicht weit über die Psychiatrie hin-aus. Er will, dass die Evolutionstheorie endlich auch anmedizinischen Fakultäten gelehrt wird; dass DarwinsIdeen in den Lehrbüchern eine gebührende Stellung fin-den. Der Psychiater glaubt, dass die unter Medizinernvorherrschende Meinung, der Körper sei als eine nacheinem Bauplan entworfene Maschine zu verstehen, fun-damental falsch ist. Vielmehr sollte man den Körper alsdas Produkt seiner evolutionären Vergangenheit verste-hen; ein Organismus, in dem Anpassungen an verschie-denste Herausforderungen zu einer Einheit werden. Mitder Folge, dass jedes Lebewesen keineswegs perfekt,sondern ein Bündel an Kompromissen ist. „Die natürli-che Auslese hat unsere Körper geformt, um den Fort-pflanzungserfolg zu maximieren, nicht unsereGesundheit“, so Nesse. „Diese Sicht wirft völlig neueFragen in der Forschung auf und bietet gleichzeitigeinen Überbau, der die medizinische Ausbildungkohärenter machen würde.“

Wo der Arzt nur die Krankheit sieht, wittert der Biolo-ge die Folgen einer Anpassung. Diese Kluft wird deut-lich am unterschiedlichen Verständnis des größtenKillers in der westlichen Welt: Herz-Kreislauf-Krank-heiten. Über 200 000 Menschen starben in Deutschland

im Jahr 2006 daran, ein Viertel aller krankheitsbeding-ten Todesfälle. Die Ursachen, darüber ist man sicheinig, sind im „modernen Lebensstil“ zu finden: Nah-rung im Überfluss in Verbindung mit wenig körperli-cher Bewegung. Aber gibt es vielleicht eine noch tieferliegende Erklärung, die ein völlig neues Licht auf dieepidemischen Ausmaße von Herz-Kreislauf-Krank-heiten, Diabetes und Übergewicht in der westlichenWelt, aber auch in Schwellenländern wirft?

Vor 15 Jahren machten britische Epidemiologen einesonderbare Entdeckung: Sie studierten Geburts- undKrankheitsregister in mehreren englischen Grafschaf-ten. Dabei fanden sie heraus, dass es einen Zusammen-hang gibt zwischen dem Gewicht eines Neugeborenenund der Wahrscheinlichkeit, später im Leben unterHerz-Kreislauf-Beschwerden, Diabetes oder Überge-wicht zu leiden. Je geringer das Gewicht bei der Geburt,umso größer die Chance, einem dieser Leiden zu erlie-gen. Wie konnte das sein?Die theoretische Erklärung lieferten Evolutionsbiolo-gen. Sir Patrick Bateson, Biologe an der University ofCambridge, hat einen Großteil seiner Forschung demPhänomen der sogenannten „phänotypischen Plasti-zität“ gewidmet. Dabei kann der Embryo Informatio-nen über die Umwelt gewinnen, in welcher sich dieMutter bewegt. Wasserflöhe der Gattung Daphnia zumBeispiel kommen mit einem Kopfpanzer zur Welt,wenn sich die Mutter mit vielen Fressfeinden herum-schlagen musste. War dies nicht der Fall, so entwickeln

Die Fellows der Schwerpunktgruppe

„Evolution and Medicine“ sind:

Hans K. Biesalski, HohenheimCatriona MacCallum, CambridgeRandolph Nesse, MichiganRobert Perlman, ChicagoMark Thomas, LondonCarl Bergstrom, SeattleDietrich Niethammer, Tübingen

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die Embryonen keinen solchen Kopfpanzer. „DerEmbryo gewinnt also Informationen über seine künftigeUmwelt und passt sich an“, so Bateson. Vieles deutet darauf hin, dass das Gewicht eines Neuge-borenen von ähnlichen Faktoren beeinflusst wird. InLändern der Dritten Welt ist das Geburtsgewicht gene-rell niedriger als in der westlichen Welt. Der Fötus kannkein Leben im Überfluss erwarten und minimiert dahervon Anfang an seine Ansprüche. Ändern sich jedoch dieBedingungen nach der Geburt, ist diese Strategie fatal.

Der Organismus kommt mit dem Überfluss an Nah-rung nicht mehr zurecht. Die Folge sind Übergewicht,Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Besonders dramatisch ist dies in Schwellenländern, wiezum Beispiel Indien. Während der Embryo im Mutter-leib noch die Information einer kargen Umwelt erhält,endet der Erwachsene im Überfluss – ein Überfluss anFett und Proteinen, der einzigartig ist in der evolu-tionären Vergangenheit des Homo sapiens. Gewöhnt an

Moskitoschwarm

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den Mangel, sind unsere Körper wahre Meister darin,dieses Überangebot zu horten. Und äußerst ungerngeben sie auch nur ein Gramm davon wieder ab. Die Lehren, welche vor allem die präventive Medizinaus solchen Erkenntnissen ziehen kann, sind natürlichenorm. Doch wie Professor Detlef Ganten, Vorstands-vorsitzender der Charité-Universitätsmedizin in Berlinsagt, ist ein „besseres evolutionäres Verständnis für diefrühen Lebensbedingungen des Menschen, z.B. dieErnährung der Jäger und Sammler eine rationale biolo-gische Basis für präventive Maßnahmen. EvolutionäreMedizin ist also ein biologischer Ausgangspunkt und einintellektuelles Dach für moderne präventive und indivi-dualisierte Medizin.“Aber nicht nur in der präventiven Medizin ist ein Ver-ständnis der Dynamiken in der Natur wesentlich. Ange-sichts des größten Feindes der Menschheit – derInfektionskrankheiten - glauben nicht wenige Medizi-ner, dass wir drauf und dran sind, diesen Kampf zu ver-lieren.Im August letzten Jahres verließ ein Zug den Bahnhofvon Point-Noire in der Republik Kongo mit einerLadung an Bord, die die vielleicht effektivste Antwortim Kampf gegen Malaria ist. Auf alten Gleisen aus derKolonialzeit schnaufte die Lok über Savanne, Regen-wald und steile Hügel, hin zu den entlegensten Dörfern,wo es keine Ärzte mehr gibt, keinen Strom und keineHospitäler. Die Fracht waren weder neue Medikamentenoch Insektizide; es waren 500 000 Moskitonetze, genugfür jede schwangere Frau und jedes Kind in diesem

Das Hygiene- und Quarantäneverhalten von Ameisenkolo-nien wird an der Universität Regensburg untersucht. Hier eine gesunde und eine pilzbefallene Gartenameise.

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Land. Im Kampf gegen die Malaria ist dies im Momentdie beste Waffe der Epidemiologen; denn alle Versuche,dem Erreger mit Medikamenten oder Insektiziden Herrzu werden, sind bislang fehlgeschlagen. Dabei hatte die amerikanische Gesundheitsbehörde inden 1950er Jahren noch feierlich verkündet, dass derKrieg gegen Infektionskrankheiten gewonnen sei. Einhalbes Jahrhundert später sagt Andrew Read, Professoram Center for Infectious Disease Dynamics an der Pennsyl-vania State University und Fellow 2006/2007 am Wissen-schaftskolleg: „Infektionskrankheiten sind das großeProblem des 21. Jahrhunderts. Und wir unternehmenviel zu wenig, um diesem Problem zu begegnen. Ichfinde das bedenklich.“Der energetische Neuseeländer ist verblüfft, wie leicht-fertig wir Erregern wie Bakterien, Viren oder Sporen-tierchen (wie dem Malariaerreger) begegnen, denn siesind die Hexenküche der Evolution. Eine äußerst kurzeGenerationszeit und Milliarden Individuen in einemWirt bedeuten, dass das Entstehen von resistenten Stäm-men irgendwann zu einer stochastischen Notwendigkeitwird. „Es gibt mittlerweile Moskitos, die gegen jedesbekannte Insektizid resistent sind“, sagt Read. Und auchgegen das im Moment hoch gelobte Artemisin, imMoment unsere letzte Antwort auf Malaria, gebe es imLabor bereits resistente Stämme. Im Kampf gegen bakterielle Infektionen setzt die Medi-zin trotzdem immer noch auf den gezielten Einsatzhoch dosierter Antibiotika. Read hingegen konnte imLabor zeigen, dass es klüger ist, nicht alle Erreger in

einer Zelle abzutöten. Denn dabei steigt die Gefahr, dassresistente Stämme entstehen. Vielmehr ist es besser, dieDosierung zu mindern. Dabei entsteht unter den Erre-gern selbst ein Kampf ums Überleben – sie schwächensich, zum Nutzen für den Wirt.Sylvia Cremer, ebenfalls 2006 / 2007 Fellow am Kolleg,weiß, vor welche enormen Herausforderungen Parasi-ten vor allem soziale Tiere stellen. Ameisen leben, wieMenschen, in Kolonien von bis zu fünf Millionen Indivi-duen. Die Chance, dass sich dabei Erreger ausbreiten, istenorm. Trotzdem existiert ein komplexes Sozialsystemunter diesen Insekten seit mindestens 35 Millionen Jah-ren. Neben einem kollektiven Immunsystem minimie-ren Ameisen den Kontakt untereinander, beseitigenAbfall und tote Tiere, stecken infizierte Artgenossen inlebenslange Quarantäne. Alles, um Infektionen inSchach zu halten. Man schätzt, dass bis zu 15 Prozentder Gesamtenergie auf solche Tätigkeiten verwendetwird. Diese Beobachtung unterstreicht wiederum die Tatsa-che, dass wahrscheinlich die größten Erfolge in derMedizin auf Hygiene- und Impfkampagnen zurückge-hen. Viele Krankheiten, derer wir nicht Herr werden,sind oftmals eine Konsequenz unserer Entstehungsge-schichte. Wir sind ein Teil der Natur und unterliegenihren alles durchdringenden Gesetzmäßigkeiten. Oderwie Andrew Read sagt: „Evolutionstheorie ist keineFaktensammlung. Es ist eine Art zu denken.“ DieseÜberzeugung, so der Wunsch des Symposiums, solltenun endlich auch unter Medizinern Verbreitung finden.

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Er arbeitete für die Briten und fühlte mit den Indern

Die Literaturwissenschaftlerin Meenakshi Mukherjee schreibteine Biografie über den indischen Universalgelehrten R. C. Dutt Fellow 2007/2008

von Tobias Haberl

In ganz Indien hatte Meenakshi Mukherjee nach diesemeinen Artikel gesucht, erschienen im Bengal Magazine, inder Septemberausgabe des Jahres 1871, aber kein Insti-tut, keine Bibliothek, kein Archiv hatte ihr weiterhelfenkönnen. Die Zeitschrift war verschollen, nicht einmaleine Kopie des Textes war aufzutreiben, und fast sah esso aus, als müsste die Literaturwissenschaftlerin ihreRecherchen ohne ihn fortsetzen – bis sie ans Wissen-schaftskolleg nach Berlin kam, auf Empfehlung des Biologen und Permanent Fellows Raghavendra Gadag-kar, der sie nach einer Vortragsreihe an seinem IndianInstitute of Science, einer Art Mini-Wissenschaftskollegin Bangalore, vorgeschlagen hatte. „Keine Ahnung, wie

die das hinbekommen haben,“ erzählt sie, „aber zweiTage, nachdem ich mein Interesse für diesen Artikelbekundet hatte, lag er in meinem Email-Ordner. Ichmusste ihn nur noch ausdrucken.“ Seit ein paar Monaten ist die Philologin und Speziali-stin für indische, englische und amerikanische Litera-tur nun schon am Kolleg, aber an der Effizienz undGründlichkeit der Bibliothek kann sie sich nochimmer erfreuen. „In Indien wird so eine Rechercheschnell zum physischen Akt“, sagt sie, „da ist vielesnoch nicht digitalisiert, da muss man schon mal Dut-zende von Büchern kilometerweit durch die Gegendschleppen.“

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R. C. Dutt in einem undatierten Kupferlichtdruck

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Ihre Recherchen hat sie inzwischen abgeschlossen, dasrestliche Jahr am Kolleg nutzt sie, um zu schreiben: eineBiografie über den indischen Staatsbeamten, Schriftstel-ler, Politiker und Universalgelehrten Romesh ChandraDutt (1848-1908), besser bekannt als R. C. Dutt. Eserscheine vielleicht etwas ungewöhnlich, als Inderin inBerlin über einen Inder zu arbeiten, doch fehl am Platzfühle sie sich deswegen überhaupt nicht. Im Gegenteil,auf der einen Seite könne sie hier in Ruhe lesen undschreiben - viel konzentrierter als das zu Hause möglichwäre - auf der anderen Seite werde ihr Denken durchden Kontakt zu den anderen Fellows in alle möglichenRichtungen ausgedehnt. „Ich mache mir hier Gedankenüber Dinge,“ erklärt sie, „über die habe ich noch niezuvor in meinem Leben nachgedacht.“Warum aber arbeitet sie als Literaturwissenschaftlerinund -kritikerin ausgerechnet über Dutt? Warum übereinen Mann, den man außerhalb Indiens kaum kennt,dessen Namen viele noch nicht einmal gehört haben, derviel geschrieben hat: Romane, Essays, diskursive Prosa,dessen Werke aber nicht in den Kanon der Weltliteratureingegangen sind? „Das Interessante an diesem Mann“, erklärt MeenakshiMukherjee, „ist ja gerade, dass er kein Genie war, keinMann wie Goethe oder Nietzsche, die gedanklich ihrerZeit weit voraus waren.“ Dutt sei intelligent gewesen,aber nicht originell, fleißig, aber nicht genial, pragma-tisch, aber nicht visionär: „Er hatte zwar eine Vision, abersie sprengte keine Grenzen, sie ging nicht weit genug.Zeit seines Lebens bemühte sich Dutt, die Bedingungen

der Kolonialherrschaft Englands über Indien zu refor-mieren; dass Indien aber eines Tages unabhängig seinkönnte, dass die Inder das Joch der Fremdherrschaftgänzlich abwerfen könnten, daran hat er nicht gedacht,daran hat er nicht geglaubt.“ R. C. Dutt war also nichtradikal, er war moderat. Und moderate Menschen schaf-fen oft Großes, den Lauf der Dinge ändern sie nicht.Jahrzehntelang hatte Meenakshi Mukherjee an verschie-denen Universitäten in Indien, den USA, Australien undKroatien gelehrt und geforscht. Der indische Roman,die indische Sprache, die Literatur der kolonialen undpostkolonialen Epoche waren ihre Themen. Nach ihrerPensionierung aber möchte sie etwas Neues machen,etwas Anderes, jetzt möchte sie ihre erste Biografieschreiben. „Der historische Roman als Vehikel für die Idee desnation building, überhaupt die schwierige Rolle des Intel-lektuellen während der Kolonialzeit, da kenne ich michschon aus, darüber habe ich oft geschrieben“, sagtMeenakshi Mukherjee, „neu ist nun für mich als Kriti-kerin und Philologin die große Entfernung vom Primär-text. Dass ich für diese Biografie zunächst vielegeschichtliche, soziale oder ökonomische Zusammen-hänge, zum Beispiel Landreformen, Hungersnöte undUmweltkatastrophen recherchieren musste, das findeich spannend.“Die literarische Form der Biografie ist neu für Meenak-shi Mukherjee, das Thema „R. C. Dutt“ ist es nicht.Schon als Kind hat sie seine Übersetzungen alter indi-scher Schriften in gekürzten und vereinfachten Fassun-

Meenakshi Mukherjee

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gen gelesen und auch in ihren Jahren als Philologin undLiteraturkritikerin hat sie sich mit ihm und seinemWerk beschäftigt, vor allem mit seinen Romanen. DieBiografie über R. C. Dutt ist eine logische Weiterent-wicklung ihrer philologischen Arbeit, nicht nur, weilMeenakshi Mukherjee selbst - genau wie Dutt - mehr-fach als Übersetzerin hervorgetreten ist (vom Bengali-schen ins Englische und von Hindi ins Bengalische) undüber translation theory gearbeitet hat, sondern vor allemauch, weil sie sich intensiv mit dem Zusammenhang vonnation, novel and history in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts beschäftigt hat. Genauer: wie hat dieBeschreibung einer imaginierten, konstruierten Vergan-genheit im Roman des 19. Jahrhunderts die indischeGesellschaft geprägt und verändert, wie konnten dieseRomane überhaupt erst ein Nationalgefühl, die Ideeeiner eigenen, einheitlichen und unabhängigen Nationentfachen. Frühere Veröffentlichungen von Mukherjeetragen Titel wie „The Twice Born Fiction: Themes andTechniques in Indian Novels in English“ oder „Realismand Reality: Novel and Society in India“. R. C. Dutt war ein Universalgelehrter, ein Multitalent,und fragt man Inder, was sie noch wissen über diesenMann, wird jeder anders antworten: Die einen kennenihn als Romanschriftsteller, andere als Gelehrten,Dozenten und Übersetzer, wieder andere als Sozial- undWirtschaftswissenschaftler, als Autor der zweibändigen„Economic History of India“, die nächsten als Essay-isten, Politiker und Staatsbeamten im Dienst des Briti-schen Empire. Nicht untypisch für den viktorianischen

Intellektuellen wollte er auf vielen Gebieten - in derLiteratur, der Politik, der Ökonomie, aber auch in derLehre und im Journalismus - tätig sein und vor allem:Einfluss ausüben. Bereits mit zwanzig Jahren war R. C. Dutt zusammenmit zwei Freunden und ohne Erlaubnis der Eltern nachEngland aufgebrochen, um an den schwierigen Aus-wahlverfahren für den Staatsdienst teilzunehmen. Erbestand sie und bekleidete bis zu seinem 50. Lebensjahrzahlreiche einflussreiche Posten in verschiedenen Pro-vinzen Indiens, bereiste das Land als ranghoher Verwal-ter – kein Inder vor ihm war innerhalb des komplexenBeamtenapparats der britischen Besatzungsverwaltungzu so viel Macht gelangt. Und hier setzt Meenakshi Mukherjee an, mit neuer Per-spektive, mit geschärftem Fokus, mit dem Anspruch,Dutts Denken und Schreiben vor dem sozialen, philoso-phischen und ökonomischen Hintergrund der kolonia-len Epoche zu sehen: Es gibt bereits einige Biografienüber Dutt, aber die sind veraltet und konzentrieren sichauf seine Rolle als Politiker und Beamter, auf sein öffent-liches Leben. Viele bewundern Dutt für seine Karriereund Vielseitigkeit, Meenakshi Mukherjee möchte einenSchritt weiter-, aber auch einen zurückgehen: „Ich willmit einem Abstand von 100 Jahren noch einmal kritischauf dieses Leben und diesen Menschen blicken. DieserMann ist faszinierend, steckt aber voller Paradoxien. Diesind es, die mich interessieren.“ Während seiner Zeit in England bewunderte Dutt diefunktionierende Demokratie, in Indien empfand er die

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Briten als Unterdrücker und Ausbeuter; er steckte voll-er moderner Ideen, glaubte an die Gleichheit der Men-schen und Geschlechter, ermöglichte seinen vierTöchtern eine exzellente Ausbildung, verherrlichteaber gleichzeitig in seinen Romanen das streng hierar-chisierte Kastenwesen sowie die alt-indischen weibli-chen Selbstopferungsriten; er war vom Westenbeeinflusst, kannte die Schriften von Jean-JacquesRousseau und John Stuart Mill, kämpfte unermüdlichgegen das ungerechte Steuersystem, gegen Hungersnöte

und die Ausbeutung der indischen Bauern, und befandsich doch Zeit seines Lebens in dem Dilemma, sich alsAngestellter des Britischen Empire loyal gegenüber derMacht verhalten zu müssen, die seine Landsleute unter-drückte und ausbeutete. Und noch ein Widerspruchfällt auf: Dutt schrieb seine Romane in bengalischerSprache, korrespondierte mit seiner Familie und Freun-den aber auf Englisch, auch änderte er Textstellen beider Übersetzung seiner Romane ins Englische. Warum? Weiterhin verwundert die Tatsache, dass Dutt immer

R. C. Dutt und Mitgliederder Dezentralisierungs-kommission in einem undatierten Kupferlichtdruck.

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Als Königin Viktoria 1877 zur Kaiserin von Indien ernannt wurde, kümmerte sich R.C. Dutt gerade um tausende von Wirbel-sturmopfer an der Küste. Er wurde jedoch abberufen, um der symbolischen Zeremonie beizuwohnen.

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wieder die Kolonialherrschaft attackierte, diese ihm aberkeine nennenswerten Schwierigkeiten machte. Ignorier-te ihn das Empire bewusst? Ließ man ihn gewähren,weil eine Verhaftung oder ein Schreibverbot mehr Auf-sehen erregt hätten als seine Bücher und Artikel? ImJahre 1899 sollte Dutt sogar Präsident des Indian Natio-nal Congress werden, ausgerechnet er, der auf derGehaltsliste der britischen Unterdrücker stand. Obwohl ihm von Seiten der britischen Machthaber nieSteine in den Weg gelegt wurden, ging Dutt mit 49 Jah-ren in den frühzeitigen Ruhestand. „Er selbst hat sich zudiesem Schritt nicht geäußert, aber ich nehme an, dass ermehr schreiben und sich noch stärker für die Belangeder indischen Bevölkerung einsetzen wollte als ihm dasvorher aufgrund seines Postens möglich gewesen war.“In der Tat schloss sich R. C. Dutt in den letzten Lebens-jahren der nationalen Bewegung an, wenn auch ingemäßigter Form. Gleichzeitig mit der für Indien neuenliterarischen Form des Romans, auch des historischenRomans, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts,der so genannten „Bengalischen Renaissance“, besondersprominent wurde, nahm nämlich auch die Idee von dereigenen Nation Gestalt an. Ein neuartiges Nationalge-fühl entwickelte sich unter den Indern, ein Stolz auf dieeigenen Ursprünge und die eigene Geschichte. Nachund nach versuchte eine neue Generation - ironischer-weise vor allem diejenigen, denen eine westliche Bil-dung zuteil geworden war - sich ihre Vergangenheitnach der Inbesitznahme durch britische Historiker wie-der anzueignen. Dutt war einer von ihnen.

Die Schwierigkeit bei der Aufarbeitung von DuttsLeben sieht Meenakshi Mukherjee vor allem in derRecherche: „In Europa gibt es die Tradition, Briefe undTagebücher aufzuheben“, sagt sie, „in Indien war undist man da wesentlich unordentlicher. In einem Archivkonnte ich aber eine Woche lang Notizbücher mit Zei-tungsausschnitten und Randkommentaren einsehen;ich habe exzerpiert wie eine Wahnsinnige, bei sengen-der Hitze, ohne Klimaanlage von morgens bis abends,phasenweise habe ich mich gefühlt wie ein Detektiv.“Die ersten Kapitel hat sie schon geschrieben, „immerwenn ich eines fertig habe, bin ich unglaublich stolz“,erzählt sie, „dieser Mann verdient gerade wegen seinerGespaltenheit mehr Aufmerksamkeit als er bisherbekommen hat.“ Meenakshi Mukherjee will zeigen, dass Geschichts-schreibung, aber auch Geschichten schreiben untrennbarmit Ideologie- und Machtfragen verknüpft sind. En pas-sant will sie dieses reiche Leben einordnen in die kolo-niale Frage, in die Geschehnisse einer Epoche derWeltgeschichte, in der zwei vollkommen unterschiedli-che Völker nicht nur aufeinander prallten, sondern sichauch wechselseitig beeinflussten und prägten. Dutt istein Symbol dieser Zeit, in seiner Zerrissenheit zwischenzwei Welten, Mentalitäten, Ideologien und Kulturen.

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Monday 8/9 October 2007It was past midnight. I was standing in the flat. Suitcases,hand luggage spilling books, all parked in the passage. Itook off my son’s coat and my husband’s scarf and switch-ed off the lights to sit down a while to cool my arms andmy buzzing head, to release my swollen feet, having lefthome twenty hours ago. I sat like that, motionless, for along time, feeling how the frenzy of marking exampapers, last minute emails, frantic cell phone conver-sations, must-do lists, precarious money matters, sortingout burglar alarm and insurance payments were slowlydraining away from me.

I must have fallen asleep.

Because when I woke up, it was into delirious autumnlight. Getting up, I stepped into the present tense. Es istZeit. The windows of the flat are thrust, like a glass treehouse, into ochre, vermillion, mauve and dark coppertrees. Water shimmers somewhere behind it all.

I stare into autumn - as one should stare into an autumnlike this. Red and golden shawls have been thrown over

the garden furniture on the little patio below. I open adoor: the cold bites. Inside it is warm. Sheltered. Un-reachable. Safe. Anonymous. Words I have not used for along time. The windows are double glazed, the frontdoor can be locked twice, two stone soldiers with spearsguard my window, heaters radiate right through the flat,there’s food in the fridge, a carpet under my feet. So fierce is the colour glowing through the glass kitchendoor that I switch on the kettle, standing in a heart of fire.As the first smell of coffee rises from the filter, I initiallythink that my throat wants to laugh with light and hap-piness, but what comes pouring out, unexpectedly, areharsh choking sounds of relief.

Later on Tuesday 2007We sit in the Großer Kolloquiumsraum introducing our-selves and our projects and one cannot help thinking that,to sit here today, every single one of us, at one stage in ourlives, had made a particular choice about sacrifice – amoment in which we chose a route that required extraor-dinary investment and mental involvement, without real-ly knowing the outcome of it all. Working for long hourswith happy self-discipline seldom results in being wanted

Letter from Berlin

Letters Written and Not Written Fellow 2007/2008

by Antjie Krog

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in a place where one is supported, cared for, maintained,fed and at the same time set free to do what one does best.

Thursday 11 October 2007Raphael Rosenberg and I arrived at the same time andare now taken through the library. Having grown upwith librarians whose main urge was to protect booksagainst students and lecturers, I am amazed that the peo-ple from the Wiko library are actually pleading to assistyou. Where my computer research at home usually endsup in requests for passwords and credit card numbers, theWiko-vehicle I have here bursts like a motorboat throughevery stern barrier and I find myself skiing dizzyinglypast famous names as old protections splinter in the air.The best, the absolute best is that books that were impos-sible to find in South Africa were on my desk within 24hours!

The word spinning through my head is “trust”. I havenever been so much trusted in my life and am battling toget rid of my South African habit of thinking like a cri-minal in order to pre-empt them. The library is available24 hours per day. I can go in and take any book I wantafter simply signing the little card and putting it in a box.Do they realize how much one can steal? Is the wordstealing not a Wiko word? Can one steal oneself intobeing a first-rate academic through Wiko books? One’sfamily or friends, or strangers for that matter, can secret-ly live here in the library for many months, steal fruit anddrinks from the dining room, read the newspapers. (In

fact one can bring two million squatters from Africa andsay: go for it here! and there will still be lots of everythingleft in Berlin.)

Thursday 18 October 2007I will never tire of Hasensprung. Early one morning,crossing it, two huge swans majestically swam towardsme, their feathers touched into an ice blue-white by thewintry light, their necks arching as if they understoodthat it was exactly there at the curve where their eternalbeauty was embedded. As if standing on holy ground, Iwanted to take off my shoes.

Tuesday 23 October 2007 It’s my birthday. The flowers sent by my publisher andthe bottle of wine in my hands alert those at reception andthey break out into Happy Birthday. Not many peoplehave had Heiner Goebbels and Bernard Levinson singingto them for their birthday. I guess it’s a sign of an unusualcoming year!

Friday 26 October 2007“I want to understand German Wurst and Germanpork,” my brother says, visiting me after the South Afri-can rugby triumph in Paris. We go to KaDeWe. He syste-matically works through the Wursts and hams and writesdown those he likes. When the women behind the coun-ter, concerned at this over-focused attention, try to gethim interested in Kartoffeln oder Rotkohl, he emphaticallyshakes his head and says: Fleisch!

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Sunday 28 October 2007This morning my alarm clock has lost an hour: so muchfor buying cheap German electronic alarm clocks, Ithink. We dress quickly and rush to get to the Sundaymorning chamber music concert of Daniel Barenboim.‚Unter den Linden Straße’ is closed and covered in sand.Old coaches and people dressed in clothes of the 19thcentury parade down the street. A film of “Effi Briest” isbeing shot here and we cannot get through. We panic,because we have already paid for the concert! With adesensitized determination that would have done myapartheid forbears proud, my brother breaks throughthe barriers of police and film people and forces his wayinto the Staatsoper. To our surprise there are hardly anypeople in the foyer, although we were assured that theconcert was sold out. The rubbish of the previous night’s

concert is still lying around. Good God, I think to myself,the Germans are falling apart right in front of my eyes.At the final entry a man stops us. “You are too early, itstarts at eleven o’clock,” he says calmly. “Yes,” I say sar-castically but with rising voice, “it is now ten minutesTO eleven, when do YOU think would be the appro-priate time to enter?” He grins: “We are in wintertime.”

Dear MotherI am sitting here daily thinking about how wonderfulthis is. The biggest privilege is that one can stop reorga-nizing one’s priorities. At home I would think I need toread this book, and finish marking that thesis, do myemails and then go to the university. Then a child comesor somebody begs at the door and you think okay, I willfirst go and buy groceries, then do the emails, then go to

Herthasee, Berlin-Grunewald

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the university… and here it is all solved. I get up early.No newspaper, no radio, no television, no spouse to dis-cuss anything with (in fact I often talk to absolutelynobody from Friday lunch until Monday lunch!). I startworking, no cell phone, I open only the sparse Wikoemail, nobody knows my number, inside the flat it iswarm, I see the individual seeds twirling down from thetrees, I can follow up on references, I can check informa-tion as I am writing, I have time to rewrite, I can exploreother options, other viewpoints. Half past twelve I getfood that I did not think a second about, during mywalks or at night I get ideas on how to explore furthersomething I am working on. In the evenings I read aca-demic work for two hours, German for an hour and thenan hour of Buddenbrooks before I go to bed. Over week-ends I read poetry and Die Zeit. The best of all is that, forthe first time since I was a student, I have time to day-dream. Do you remember that book on creativity thatsaid that daydreaming was crucial in order to discoverthe new? The creative brain had to have enough freetime and space to test out connections between unlikelyentities and concepts. The brain ought to be allowed toreach out at random and link the impossible.

I brought absolutely nothing from home, except a fewclothes and poetry. I want my life here to be completelydifferent from the life I left at home. This is, of course,only possible because John is looking after this left-behind life. I haven’t been this isolated and alone since myteenage years and it’s wonderful. I also can’t remember

In Kapstadt leben hunderte von Kindern auf der Straße

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when last I felt so safe and protected and WANTED as awhite person. I know we live a highly privileged life inSouth Africa, but I actually haven’t realized how harshour lives in reality have become in that breathtakingcountry of ours. It is not because I can walk alonethrough Hasensprung at one o’clock in the morningwithout the slightest notion of fear, but that I am protec-ted from people who are poor, hungry and cold. I amprotected in my flat from the poor. I see them only on aposter at the station. In Cape Town they are on my door-step three to four times daily; here, they are a theory.Your daughter

P.S. When I went to buy groceries this morning, I wasstunned. Yes, I am fifty-five and I was stunned. On theshelf I saw: RHUBARB Yoghurt!!! 500 ml of Dr. Oet-kers Onken Joghurt mit Rhabarber-Vanille-Geschmack –Gutes aus Milch!!! Good God, what next?

6 November 2007I am filled with longing today, but find I cannot write:dear Mother, if only you had been with me at last night’sconcert. Or even: dear Mother, if only you could be myGerman teacher again and read to us in that dusty class-room with enormous clouds gathering far out over theplains: „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn” andyour mouth strange, so utterly strange forming thewords: „Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn,” thestrong aspirated h-sound in your throat: „Die Myrte stillund hoch der Lorbeer steht?”

I cannot say to you that it was when you read: „Es schwin-delt mir, es brennt / mein Eingeweide. Nur wer die Sehnsuchtkennt / weiß, was ich leide”, that something else, some-thing unbestimmt entered your voice, something thatmade my body, as young as I was, turn ice-cold, a soundthat I never heard from you ever again, but am spendinga life time finding for you.

Thursday 15 November 2007I find the lunches stressful and the Thursday dinnerssimply a nightmare. Where to sit? What can youremember? I feel personally responsible when a tablebreaks up early. I feel third world as I battle to eat spa-ghetti. It feels as if everybody had read the same books,seen the same movies, studied at the same universitiesand been taught by the same people. We try to puttogether a third world table but our collective virtuous-ness often bores us. In contrast to that, the colloquiums

„Stolpersteine“des KünstlersGunter Demnigvor der Villa Jaffé,Wallotstraße 10

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are absolutely wonderful. I listen in wonder as someoneopens up one vault of knowledge after the other, thefocus, the mastery of language, the way knowledge canbe performed. Why are we not always taught by peoplewho love their subject? The view though, is alwaysWestern, and I feel like a hen pecking through the wirenetting to find a tiny entry point.

Friday 30 November 2007Strange how soon one becomes aware of how everythinghere reeks of unlodged guilt. How, from behind thenaked moss-tinted branches and the very earth fromwhich they stretch, different layers of grief emanatefrom this city.

From the sofa in my flat I overlook the Herthasee. Onthe opposite side are two tall slender aspen tree trunks,bent at a point that makes them look like two frail legs,or a tuning fork guiding the silent agony of the piece ofMendelssohn land they are growing in. There where myeyes rest every day, encompasses a history of Aryaniza-tion, arrests, re-appropriation, bombing, rebuilding, re-naming. A few yards from there is the unadorned stonecommemorating the assassination of Walther Rathenau.Here? On this ordinary corner where the rain falls sosoftly? They describe him as the first victim of National-sozialismus. „Ich habe und kenne kein anderes Blut als deutsches,” he wrote. „Vertreibt man mich von meinemdeutschen Boden, so bleibe ich deutsch, und es ändert sichnichts.”

In Berlin alone seven thousand Jews committed suicide;and forty percent of all Jews lived in Grunewald. Thismeans that in these big silent houses on their big woodedplots around 2800 people could have committed suicide.

Stepping over the two tiny copper plaques when I enterthe Villa Jaffé for German class, I try not to think aboutit. It feels as if somewhere behind the peaceful surfaces ofplants and trunks and wooden doors, big unknownthings are slowly turning their sad heads to listen to myfootsteps, the abnormality of me saying: trinken trankgetrunken. The normality of a white South African say-ing: Sie trinken es mittags.

When Dörthe Zivier finished her shopping at the cornerstore she came across the long queue of Jewish peoplewalking in streaming rain through the city towards Gru-newald station. „Ein ganz langer Zug war das. Die Leute

Mahnmal Gleis 17am Bahnhof Grunewald

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auf der Straße, die das gesehen haben, haben sich eigentlichgeschämt.”

The absolute desolation and complete Verlorenheit ofGleis 17 at the Grunewald station will never leave mymind: „… was birgst du so bang dein Gesicht?” So cold. Sowindy. And the rows and rows of never-ending numbersthat neither flowers, nor snow, nor rust can change.

Coming from a country where the Stolpersteine wouldhave immediately been stolen, why do I find it unsettlingto think of similar projects in South Africa? Perhaps,because every single thing in our country reminds us,portrays the great injustice. One need not pull it out ofthe past through plaques and memorials, it is walkingaround, mortally wounded, around us – everything ispervaded and the guilt and shame belong to a colour.That colour, and the poor, are the reminder.

Dear MotherJohn has arrived. He brought into the flat our stressed-out lives from South Africa. I shifted to my “official” sideof the bed, made space in the cupboard, learned to adjustthe shower and use the coffee machine and asked for atelevision. Part of me wants to be on holiday with him, ashe systematically works through the architecture of Mitte district. Every evening he comes home with photos on a small digital camera and talks me throughthem.Coming down Hasensprung on Saturday, there it was:

real big soft flakes of snow. I put down my bags and juststood there feeling it on my face, my heart wanting toburst. I learned that snow had a smell, and that at night,it glows into the flat as if a big cold moon is hanging out-side.When I passed the Hasensprung on Sunday, everythingwas scraped clean. I was aghast. Somebody actually hascleaned Hasensprung on a Saturday-fucking-afternoon!Can that be? On Monday morning, something crunchedunder my shoes. Gravel! I was nearly moved to tears: tothink that somebody cares enough that someone may slipthere? It’s beyond my understanding – coming from aplace where we kill each other for 2 Euros.

I also saw:- a woman in Bismarckallee in a mink coat and slipperssweeping up the snow;- a delivery truck on Erdener Straße: „Hier wirkt derMeister noch selbst.”- about seven old women on the bus, each in a track suit,tackies and a mink coat, going to the gym; - a hair salon called Lohengrin; - a trade union called Verdi!

What can I say? Your stumme daughter

P.S. Every tree in Berlin is numbered. The Christmaslights on Unter den Linden run parallel with the branches.

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Monday 24/Tuesday 25 December 2007I walk arm in arm with John and my son, Philip, downLassenstraße. Coated and gloved, we are far away fromthe long, warm South African summer evenings withwatermelon, salads, the sounds of swimming and icecubes in long drinks. In the Grunewaldkirche we hearthe well-known carols – sung in God’s language, as mymother used to say. A few minutes before midnight, theminister gives time for silent prayer. The lights are switch-ed off and the doors opened. We hold hands as we sitthere, us three, from so far away, mentally and physical-ly, and yet, looking at us nobody would guess. This breaks my heart. At twelve o’clock the church bell startstolling and with it those of the whole city – encapsulatedwe are by an enormous pulse.

Dear MotherWe had an exquisite Christmas dinner at the Schlossho-tel in Brahmsstraße. A wild carousel of tastes and welaughed a lot, feeling free, and lovely and somehow past-less. I imagined Rilke coming down the famous woodenlion steps of this beautiful Pannwitz house while Johnand Philip were picturing Paul McCartney and the Rol-ling Stones. Afterwards we listened to the Missa Creolain Kreuzberg. This sounds like ordinary sentences, butoh boy, how far away this all is. There are so many lightsand so much heat in KaDeWe that they keep their doorsopen in the snow and it’s like passing an oven. I go toHackescher Markt every Saturday to eat a crèpe with

Antjie Krog

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Nutella and drink a glass of pomegranate juice. Can youbelieve it: pomegranate juice.

I also, finally, let my grey hair grow out. To be grey inSouth Africa means to be redundant and mugg-able. Tobe grey in Berlin means to be a survivor.Your greying daughter.

31 December 2007/1 January 2008The Fellows who are not away for Christmas are havinga party on the third floor of the Weiße Villa. All of usactually strangers to one another in many ways, but brought together by an entity that believes in the powerof knowledge. We hope to forget it tonight. We alsoknow that we should rather be at the Brandenburg Gatewhere a million people are expected, but apart frombeing unwilling to leave the enclave, one also wants toexperience Wissenschaftskolleg in all its seasons. Alrea-dy from six o’clock crackers begin to sound. Everywherein the quiet streets of Grunewald are groups of youngpeople with kidbags full of fireworks. And unlike SouthAfrica where the focus is on the display of light, here thefocus is on noise. Even the packaging suggests: Die Origi-nal Harzer Knaller made by Pyrotechnik Silberhütte.When ignited, one should sofort wegwerfen und sich raschentfernen. Many of these crackers slither like noisy snakesalong the streets. From eleven o’clock it is as if a blitz-krieg is taking place, with every single yard around theKolleg shattering.

Rockets are taking off from the Pflegehaus. Even the old-age home is shamelessly shooting away thousands ofeuros and the reigning sound is a deep destructive duffff!John looks at me: “There’s a deep problem here, you rea-lize that of course?” Just before twelve we all go onto thebalcony of the Weiße Villa to wait for the New Year in thecold and open air. We clink and chink and prosit andgesundheit and cheer. But while we are standing there, inhigh spirits, around the corner, fully lit, not a soul inside,comes the M19 Grunewald bus. Exactly on time: fourminutes past twelve. I am overwhelmed! Such dependa-bility! Such safety! I lift my fist into the air: viva Grune-wald bus, viva! In my life I will never forget thatmoment the bus came, swinging on its axles, around thecorner.

As we slowly walk home by one o’clock, nearing the busstop at the Rathenau corner, something strange happensto me. I suddenly feel nauseous. Of course, it’s all thewine and food, I think as I sit down on the pavementstep. But as I look down the deserted street it’s as iftableaux of dead bodies suddenly unfold in front of me:hundreds of thousands of pale muddied dead bodiesfrom the Franco-Prussian War tumble in Koenigsallee,millions from the Napoleonic Wars, 20 million from theFirst World War, 72 million from the Second WorldWar in heaps as far as the eye can stretch. I cannot walk,I think, walking here is like walking on bodies obdurate-ly seeping through this continent; breathing here is brea-thing the air from trees grown green from their dust. It

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felt like something out of “Heart of Darkness”. It felt asif I had become Joseph Conrad’s Kurtz. From within myhalf-baked African-ness (where “only” twenty millionwere killed during the twentieth century) I wanted tocry in a whisper at some image, at some vision, carryingthat Grunewald bus: “The horror! The horror!”

John has no time for what he calls my “nonsense” anddrags me home.

It is absolutely still when I awake. Very still and still dark;the room filled with a strange blueness. Through theglass door I see it is snowing. As if blessed we lie underthe thick feather duvets with their sturdy white linen,looking at the soundless large flakes: “But as I lie in dark-ness / None can touch you as I did then.” “You hide yourlips in jasmine snow, / and on my lips a snow is felt.”

We go for a walk in Grunewald “Not a twig, not a pineneedle stirred in the whole glittering brightness. Eve-rything was silent. Neither of us said a word. ... It wasstrange when a branch, a twig or a piece of ice fell nearus; one didn’t see it, or where it came from, one barelysaw its lightening fall to the earth, … If somethingamongst the trees gained only an ounce of weight, itcould fall, the tips of the pine cones fall like wedged sli-vers to the ground.”

If you hadn’t suddenly started to cry when you held mein your frail arms before I left, Mother, I would have

asked you now: when you moved into the old-age home,you gave all your paintings away, except the self-portraitof that German painter. You once told me he had hidnear the river on your farm during the Second WorldWar, waiting for German victory. It would have been histask, after Germany freed the Afrikaners from Britishrule, to make important-looking paintings of the newAfrikaner leaders. Every second day, you were sent onyour horse to take him food and paint. He gave you thisself-portrait, with one eye blue and one green, and asmall painting of the river that now hangs in my house.The letters in Gothic script in your bottom drawer, didhe write them? The poems? Is this how your extensiveGerman library, collected over many years in that smallgodforsaken town, started? How do you bring togetherin your mind this beloved Nazi waiting in the veldt andthe Jewish record dealer phoning: something new hascome. And then you would go to his shop and he wouldplay for you your first Schubert lieder, Schumann, Wag-ner, pointing out what to listen for. Sometimes he cried,you said. What did he make of this seventeen-year-oldAfrikaner girl who was his only client listening and buy-ing German lieder? This we do not talk about, nor aboutthe language in which the longings of both these men,one in hope, one in despair, were lodged thousands ofkilometres away from Germany.

Dear MotherWhat I didn’t know is that there is a phase two in snow.Today is minus three. They say that a „mächtiges Hoch-

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druckgebiet über dem Norden Russlands” now brings to„Mitteleuropa kalt-trockenes Wetter mit Schneeflocken.”God, everything sounds colder in Deutsch. We learnhow the lake gets shards of ice, then a dim covering, thenshining and thick and at last a white blanket withvarious tracks leading to the little island. We also see thedifference between snow and ice, and iced snow, and icemud and how to walk on them as if there is an ice kegelin your pants. We eat Blutwurst and Leberwurst,Currywurst und Bratwurst, Wurst in soup, Wurst on bread,we discover Rotkohl, we eat Gans mit Kastanien, Kartof-feln mit Trüffeln, by eleven o’clock in the mornings wealready downed our first Glühwein. It is cold. Bloodyfreezing cold. Where John refused to wear a beanie (Icannot think up into a beanie, he said) he is now wearingone but complains that it is made for young men whoselittle ears are still tight to their heads and not for theelongated ears of old men. Mink. I find myself lookingintently at mink, as if only animal can pull me throughthe arrival of phase three, buying a 100% woollen vestand long johns instead. We went to Dresden but in my whole life I had neverbeen so cold. In snow phase four, the wind cuts through

The author's mother Dot Serfontein, a writer as well

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spaceblanket, and wool as if it’s gauze. Blowing one’s frozen nose while wearing gloves is pure guesswork andmercy about what should be wiped and what should beblown where. So we burst into the Gemäldegalerie AlteMeister, our noses watering, our glasses fogged up, ourfaces frozen into Parkinsons-like expressions. „The Pro-curess” by Vermeer elates me so much that I try to write„shit” on the frost on a car parked outside, but cut myfinger instead! Back home the street is like an ice rink,we hang onto each other. Oh, but the joy of entering thiscosy uncluttered flat! We hang our coats and scarves,take off our shoes, listen to Kulturradio rbb and makeTchibo coffee. Life is perfect.

Your happy daughter

Passages quoted from Rainer Maria Rilke, Walther Rathe-nau, Boris Pasternak, Adalbert Stifter, und Johann Wolfgangvon Goethe. Dörthe Zivier lived in Berlin Grunewald duringWWII; quotes from her diary can be found in Petra Fritsche,„Die Villenkolonie Grunewald und ihre Bewohner”, 2001. Antjie Krog

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1 Juliane Heise / Reiner Will3 Sabine Immken8 Klaus Grünberg9 Klaus Grünberg

10 Andreas Knapp, Ostkreuz Agentur der Fotografen12 Maurice Weiss, Ostkreuz Agentur der Fotografen13 Maurice Weiss, Ostkreuz Agentur der Fotografen15 Maurice Weiss, Ostkreuz Agentur der Fotografen16 In: A. B. Atkinson; Th. Piketty, Top Incomes Over the Twentieth Century,

Oxford University Press 200719 Museo Nazionale di San Martino, Napoli/Roger-Viollet, Paris /

The Bridgeman Art Library21 picture-alliance / dpa23 Olivier Menanteau25 Catherine Gallagher, Stephen J. Greenblatt, Practising New Historicism,

University of Chicago Press 200029 Werner Herzog30 – 35 Maurice Weiss, Ostkreuz Agentur der Fotografen (ausser U. P. Jauch und L. Katz)37 Maurice Weiss, Ostkreuz Agentur der Fotografen38 Maurice Weiss, Ostkreuz Agentur der Fotografen

Bildnachweise

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41 picture-alliance / akg-images42 picture-alliance / dpa45 Maurice Weiss, Ostkreuz Agentur der Fotografen47 Maurice Weiss, Ostkreuz Agentur der Fotografen49 picture-alliance / Lehtikuva50 Birgit Lautenschläger & Simon Tragust, Universität Regensburg53 Kupferlichtdruck aus: J. N. Gupta, Life and Work of Romesh

Chunder Dutt C.I.E., London / New York 191154 Maurice Weiss, Ostkreuz Agentur der Fotografen57 Kupferlichtdruck aus: J. N. Gupta, Life and Work of Romesh

Chunder Dutt C.I.E., London / New York 191158 picture-alliance / akg-images62 Wissenschaftskolleg63 www.kapstadt.org64 Wissenschaftskolleg / www.stolpersteine.com65 Axel Mauruszat66 Wissenschaftskolleg67 Maurice Weiss, Ostkreuz Agentur der Fotografen70 Antjie Krog71 Maurice Weiss, Ostkreuz Agentur der Fotografen75 Wissenschaftskolleg

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Herausgeber Der Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin

Professor Dr. Luca Giuliani

Redaktion Katharina Wiedemann, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit

Wissenschaftskolleg zu Berlin

Autoren Carl Gierstorfer freier Wissenschaftsjournalist für TV und Printmedien

Dr. Ralf Grötker arbeitet als freier Journalist, Veröffentlichungen u.a. in Brand Eins,

Frankfurter Rundschau, Die Zeit, Telepolis

Tobias Haberl Studium der Germanistik und Anglistik in Deutschland und Großbri-

tannien, arbeitet seit 2005 für das Süddeutsche Zeitung Magazin

Claus Spahn Feuilletonredakteur der Wochenzeitung Die Zeit

und verantwortlich für das Fach Musik

Dr. Florian Welle Literaturwissenschaftler, Kulturjournalist und Hörspiel-

lektor, arbeitet u.a. für die Süddeutsche Zeitung

Bildredaktion Katharina Wiedemann

Graphik und Layout Juliane Heise / Reiner Will

Druck Druckerei Heenemann Berlin, April 2008

Impressum

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