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DGB 41 THeorien des Spracherwerbs Universität Athen, SoSe 2013 Winfried Lechner Handout #2 EIGENSCHAFTEN DES ERSTSPRACHERWERBS (UND WIE MAN DIESE IDENTIFIZIERT) Die Aussagen (1) und (2) beinhalten elementare Beobachtungen über die linguistische Realität: (1) Eine Sprache ist eine potentiell unendliche Mengen von sprachlichen Ausdrücken. (2) Sprecher einer Sprache können systematisch zwischen ungrammatischen und grammatischen Ausdrücken dieser Sprache unterscheiden. In der Linguistik will 1 man diese zwei Fakten durch eine explizite und präzise Theorie erklären. Eine Theorie ist eine Menge von Hypothesen (Annahmen), oder - einfacher gesagt - eine Menge von Behauptungen, die präzise beschreibt und erklärt, wie die Welt ist. Die erfolgreichste Theorie für (1) und (2) basiert auf der Annahme, dass Sprache das Produkt eines abstrakten 2 kognitiven Systems ist, das aus zwei Teilen besteht: (i) dem Lexikon, das im Laufe des Spracherwerbs gelernt wird und (ii) einer kleinen Anzahl von Prinzipien und Regeln, mit deren Hilfe eine potentiell unendliche Anzahl von Sätzen produziert werden kann. Dieses System, das sich ebenso während des L1-Erwerbs heranwächst, bezeichnet man auch als die (mentale) Universalgrammatik (UG). Zentrale Aufgabe der Linguistik ist die präzise Charakterisierung von UG. Neben (1) und (2) besitzt Sprache die folgenden Eigenschaften: (3) Beobachtungen über das Sprachsystem a. Alle Kinder erwerben im Laufe der kritischen Periode die Grammatik einer Sprache. b. Sprache wird, gemessen an der Komplexität, schnell erworben (vgl. Arithmetik). c. Das System ist robust, Fehler sind selten, systematisch und sind ‘reparierbar’. L d. Teile des Sprachsystems sind in Form der UG angeboren. Ohne UG können wir nicht verstehen, warum es syntaktische Strukturen gibt, die in keiner Sprache vorkommen (Poverty of Stimulus Argument). L e. Teile des L1-Erwerbs werden durch die sprachliche Umwelt gesteuert (Primäre Sprachliche Daten; PSD). Wenn dies nicht so wäre, könnten wir nicht verstehen, warum nicht alle Menschen die selbe Sprache sprechen. L f. Auch nicht sprachspezifische Prinzipien (Gedächtnis; die Fähigkeit abstrakt zu denken, zu zählen und zu planen; das logische Denkvermögen,...) spielen bei der Entwicklung von Sprache eine wichtige Rolle. g. Wahrscheinlich ist menschliche Sprachfähigkeit qualitativ anders aufgebaut ist, als die Kommunikationssysteme anderer Tierarten (Vogelgesang,...; Fitch 2010). h. Das sprachliche System wird im menschlichen Gehirn verarbeitet. Es gibt also eine enge Beziehung zwischen Sprache und physiologischen neuronalen Prozessen. 1 Manche sind der Ansicht, dass es nicht notwendig ist, die Welt zu erklären. Zumindest zwei Gründe sprechen dagegen. Ersten ist der Wunsch, die Welt zu verstehen, eine genetisch veranlagtes Merkmal des Menschen, das ihn von allen Tieren, auch seinen nächsten Verwandten (Schimpansen) unterscheidet. Nur der Mensch will Neues kennenlernen, auch wenn es nicht direkt zum direkten Überleben dient. Neugierde ist also eine, vielleicht die wichtigste Eigenschaft von Homo sapiens. Aus dieser Neugierde entsteht Kultur und Wissen. Dieses Wissen ist, zweitens, notwendig, um zu planen und die Umwelt so zu verändern, wie wir dies wünschen. 2 Das System ist abstrakt, da wir seine Funktion nicht direkt beobachten können, genauso wie wir die Arbeit eines Computers nicht sehen, riechen oder hören können - die Resultate sind jedoch konkret.

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DGB 41 THeorien des Spracherwerbs Universität Athen, SoSe 2013

Winfried Lechner Handout #2

EIGENSCHAFTEN DES ERSTSPRACHERWERBS (UND WIE MAN DIESE IDENTIFIZIERT)

Die Aussagen (1) und (2) beinhalten elementare Beobachtungen über die linguistische Realität:

(1) Eine Sprache ist eine potentiell unendliche Mengen von sprachlichen Ausdrücken.

(2) Sprecher einer Sprache können systematisch zwischen ungrammatischen und grammatischenAusdrücken dieser Sprache unterscheiden.

In der Linguistik will1 man diese zwei Fakten durch eine explizite und präzise Theorie erklären.

Eine Theorie ist eine Menge von Hypothesen (Annahmen), oder - einfacher gesagt - eine Menge

von Behauptungen, die präzise beschreibt und erklärt, wie die Welt ist. Die erfolgreichste Theorie

für (1) und (2) basiert auf der Annahme, dass Sprache das Produkt eines abstrakten2 kognitiven

Systems ist, das aus zwei Teilen besteht: (i) dem Lexikon, das im Laufe des Spracherwerbs gelernt

wird und (ii) einer kleinen Anzahl von Prinzipien und Regeln, mit deren Hilfe eine potentiell

unendliche Anzahl von Sätzen produziert werden kann. Dieses System, das sich ebenso während

des L1-Erwerbs heranwächst, bezeichnet man auch als die (mentale) Universalgrammatik (UG).

Zentrale Aufgabe der Linguistik ist die präzise Charakterisierung von UG. Neben (1) und (2) besitzt

Sprache die folgenden Eigenschaften:

(3) Beobachtungen über das Sprachsystem

a. Alle Kinder erwerben im Laufe der kritischen Periode die Grammatik einer Sprache. b. Sprache wird, gemessen an der Komplexität, schnell erworben (vgl. Arithmetik).c. Das System ist robust, Fehler sind selten, systematisch und sind ‘reparierbar’.

L d. Teile des Sprachsystems sind in Form der UG angeboren. Ohne UG können wir nichtverstehen, warum es syntaktische Strukturen gibt, die in keiner Sprache vorkommen(Poverty of Stimulus Argument).

L e. Teile des L1-Erwerbs werden durch die sprachliche Umwelt gesteuert (PrimäreSprachliche Daten; PSD). Wenn dies nicht so wäre, könnten wir nicht verstehen, warumnicht alle Menschen die selbe Sprache sprechen.

L f. Auch nicht sprachspezifische Prinzipien (Gedächtnis; die Fähigkeit abstrakt zu denken,zu zählen und zu planen; das logische Denkvermögen,...) spielen bei der Entwicklungvon Sprache eine wichtige Rolle.

g. Wahrscheinlich ist menschliche Sprachfähigkeit qualitativ anders aufgebaut ist, alsdie Kommunikationssysteme anderer Tierarten (Vogelgesang,...; Fitch 2010).

h. Das sprachliche System wird im menschlichen Gehirn verarbeitet. Es gibt also eineenge Beziehung zwischen Sprache und physiologischen neuronalen Prozessen.

1Manche sind der Ansicht, dass es nicht notwendig ist, die Welt zu erklären. Zumindest zwei Gründesprechen dagegen. Ersten ist der Wunsch, die Welt zu verstehen, eine genetisch veranlagtes Merkmal desMenschen, das ihn von allen Tieren, auch seinen nächsten Verwandten (Schimpansen) unterscheidet. Nurder Mensch will Neues kennenlernen, auch wenn es nicht direkt zum direkten Überleben dient. Neugierdeist also eine, vielleicht die wichtigste Eigenschaft von Homo sapiens. Aus dieser Neugierde entstehtKultur und Wissen. Dieses Wissen ist, zweitens, notwendig, um zu planen und die Umwelt so zuverändern, wie wir dies wünschen.

2Das System ist abstrakt, da wir seine Funktion nicht direkt beobachten können, genauso wie wir dieArbeit eines Computers nicht sehen, riechen oder hören können - die Resultate sind jedoch konkret.

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Drei Designfaktoren: Drei der oben genannten Merkmale (durch L markiert) sind von besonderemInteresse, da sie in der Erklärung eine zentrale Position einnehmen. Konkret sollte eine gute Theorieso aufgebaut sein, dass man aus diesen drei Eigenschaften die anderen Fakten in (3) ableiten kann.Das bedeutet folgendes: Wenn man die ‘L’ Eigenschaften erklären kann, hat man automatischdie anderen Eigenschaften erklärt.

Chomsky (2005, 2007) nennt diese drei Merkmale die “drei Designfaktoren für Sprache”(three factors in language design). Sie werden in (4) nochmals in etwas anderer Form wiederholt.Wenn Sprache so wie andere biologische Systeme aufgebaut ist - und darin besteht wenig Zweifel -sollte es das Ziel der Linguistik sein, diese drei Faktoren näher zu bestimmen:

(4) Drei Designfaktoren für das Sprachsystem

a. Genetische Faktoren (Universalgrammatik; UG; Kompetenz, menschlicheSprachfähigkeit. Alle diese Begriffe bedeuten in etwa das selbe.)

b. Umweltfaktoren (Primäre Sprachliche Daten; PSD)c. Nicht sprachspezifische Prinzipien (Gedächtnis, Zählen, logisches Denkvermögen,...)

Konkrete Aufgaben: Um diese drei Faktoren charakterisieren zu können, muss es möglich sein,konkrete Fragen zu formulieren. Erst mit spezifischen Fragen wird es möglichen, konkreteHypothesen zu formulieren, um dann (meistens mittels eines Experiments) festzustellen, welchedieser Hypothesen am besten mit den Beobachtungen übereinstimmt.

Viele dieser Fragen sind auch sehr eng mit der Frage nach der Art und Weise verbunden, wieKinder Sprache erwerben. Spracherwerbsforschung befasst sich dabei insbesondere mit dem Einflussvon UG (Faktor (4)a) und PSD ((4)b) auf das Heranwachsen des Sprachsystems. Einige Themen,die dabei eine zentrale Position einnehmen, sind in (5) aufgelistet. In der Linguistik konzentriertman sich dabei hauptsächlich auf (5)a - (5)f, während (5)g in der kognitiven (Evolutions)biologienachgegangen wird und (5)h und (5)i in der Neuro- und Patholinguistik behandelt werden.

(5) Zentrale Fragen in der Spracherwerbsforschung

a. Welche Unterschiede gibt es zwischen Kindersprache und Zielgrammatik?b. Zeitliche Entwicklung: Werden die Phänomene der Sprache in einer festgelegten

Reihenfolge erworben? c. Aufteilung der Arbeit: Was wird durch domänenspezifische (sprachspezifische), und

was wird durch allgemeine kognitive Eigenschaften erlernt?d. Entwicklung experimenteller Methoden: Wie können die linguistischen Fähigkeiten

von nicht erwachsenen Sprechern (Säuglinge, Kleinkinder) getestet werden? e. L1 vs. L2: In welchen Bereichen unterscheidet sich L1-Erwerb von L2-Erwerb? f. L2-Erwerb: Kontrolliertes vs. unkontrolliertes Lernen von L2. Welche Unterschiede

gibt es? Wie können Erkenntnisse im L2-Unterricht eingesetzt werden?g. Beziehung zwischen Sprache und Theory of Mind: Entwickeln sich (Aspekte des)

Denkens zusammen mit Sprache, oder werden sie durch Sprache unterstützt? h. Tierkommunikation: Sind Unterschiede zwischen menschlichem Sprachvermögen

und Tierskommunikation quantitativ oder qualitativ? Sind Tiersprachen ‘anders’? i. Sprachstörungen (Special Language Impairment; SLI, z.B. Williams Syndrom; Broca

Aphasie oder Störung des FOXP2 Gens): Diagnose und Therapie von SLI.

Abschnitt 1 bietet einen kurzen Überblick über allgemeine Eigenschaften von Erstspracherwerb((5)a). Teil 2 behandelt Aspekte der frühen Stadien von L1-Entwicklung, bis zum Alter von ca.12 Monaten. Die Erkenntnisse basieren zumeist auf psycholinguistischen Versuchen und stammenaus sogenannten kontrollierten Experimenten. Das Design, die Durchführung und Interpretationvon Experimenten folgt einer Methode, die allgemein in der psychologischen (soziologischenund medizinischen) Forschung zur Anwendung kommt. Eine etwas genauere Beschreibung dieser

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Methode erfolgt zu einem späteren Zeitpunkt. Anatomische Voraussetzungen für Sprache, sowieVeränderungen des Vokaltrakts werden schließlich ich Abschnitt 3 etwas näher spezifiziert werden.

1. ENTWICKLUNG DES SPRACHSYSTEMS

Kinder werden mit der Fähigkeit geboren, eine mentale Grammatik zu erwerben. Diese Fähigkeitwird in der Literatur auch der Spracherwerbsmechanismus (Language Acquisition Device; LAD;Chomsky 1965) genannt, bezeichnet aber im Grunde das selbe abstrakte System wie UG. (DerGrund, warum es zwei Begriffe gibt, ist historisch bedingt). Zu Beginn besitzen Kinder noch keineeinzelsprachliche Grammatik, sondern verfügen über alle Möglichkeiten, die UG zulässt. Bei derGeburt sprechen Kinder also, etwas vereinfacht gesagt, nicht Navajo, Griechisch, Albanisch,Deutsch oder Warlbiri, sondern jede mögliche Sprache. Das LAD ermöglicht es Kindern dann,aus den primären sprachlichen Daten (PSD) der Umwelt eine einzelsprachliche Grammatik zufiltern. Diesen Prozess, in dessen Verlauf Grammatiken eliminiert werden, die nicht mit den PSDder Umgebung kompatibel sind, nennt man selektives (vs. instruktives) Lernen (Marler 1997; s.a.Handout #1).

Aus biologischer Sicht ist die Existenz von UG/LAD sowie selektivem Lernen nichtverwunderlich. Viele Organismen sind genetisch ‘programmiert’, bestimmte Eigenschaften undFähigkeiten zu erwerben. Vögel lernen z.B. Gesänge teils aus Umwelteinflüssen (Imitation), teilsauf der Basis von angeborenen Faktoren (Marler 1997). Dadurch kann es in einer Vogelart zuVariation in den Gesängen kommen, die Variation ist jedoch immer systematisch und verläuftin genau definierten Grenzen.

Im Folgenden werden allgemeine Eigenschaften von UG/LAD vorgestellt, sowie die wichtigstenStadien im Spracherwerb. Dabei wird neben den physiologischen Veränderungen insbesondereauf die Entwicklung der Grammatik eingegangen werden.

1.1. ALLGEMEINE CHARAKTERISTIKA DES L1-ERWERBS

(6) listet einige der grundlegenden Eigenschaften des L1-Erwerbs auf, wobei wir uns in diesemKurs insbesondere auf die beiden mit L gekennzeichneten Themen konzentrieren werden.

(6) Eigenschaften des Erstspracherwerb

L a. Differenzen zwischen Erwachsenengrammatik und kindlicher Grammatik Grammatik der Kinder ist nicht ident mit der Erwachsenengrammatik. GewisseEigenschaften sind in früher Grammatik noch nicht ausgebildet oder noch nicht vollentwickelt. Beispiel: Übergeneralisierung (s. §1.1.1).

L b. Stadien i. L1 entwickelt sich in einer festgelegten Reihenfolge innerhalb einer Sprache. ii. Auch die Entwicklungsstufen in unterschiedlichen Sprachen verlaufen parallel.

c. Automatisch: L1 benötigt keine Anstrengung (im Gegensatz zum Erlernen von Schach,

Mathematik, etc...)

d. Ungeleitet: L1 verläuft ohne Instruktion durch Elterne. Humanspezifisch: nur der Mensch verfügt über ein LADf. IQ-unabhängig: Unabhängig von allgemeiner Intelligenz (IQ)g. Zeitlich begrenzt

i. Kritische Phase: neuronale Verbindungen entwickeln sich nur bis zu bestimmtemAlter (vgl. visuelles Lernen bei Katzen; Erlernen von Vogelgesang; Marler 1970).

ii. Prägung: frühkindliche Prägung (Hess 1972).

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1.2. BEISPIELE FÜR UNTERSCHIEDE ZIELGRAMMATIK VS. KINDLICHER GRAMMATIK

Ein klassisches Beispiel für Differenzen zwischen kindlicher Grammatik und Erwachsenen-grammatik ((6)a) stammt aus Übergeneralisierungen. ‘Übergeneralisierung’ bezeichnet dasPhänomen, dass eine Regel, die in einem Kontext auftritt, auf einen anderen Kontext übertragenwird. Im L1-Erwerb zeigt sich Übergeneralisierung u.a. daran, dass Kinder morphologische Regelnin einer größeren Anzahl von Kontexten anwenden, als erwachsene Sprecher. Hier einige Beispiele:

Anmerkung zu den Quellen: Die Daten und Beispiele stammen, wenn nicht anders vermerkt,aus Guasti (2002). Das Buch ist frei als Download auf Dropbox verfügbar.3

" Regel für Komparativbildung (klein – klein-er) wird auch auf Partikeln angewendet.

(7) Das ist oberer weiter oben (Viktor, 2;5)4

" Miller (1976): Regel für Partizip II wird auch auf Ausnahmen (starke Verben) angewendet:

(8) a. weggelauft weggelaufen (Simone, 2;0 - 2;5)b. geseht gesehenc. ausgetrinkt ausgetrunken

(9) Opa hat gesitzt und gelest

(10) Partizip II eines schwachen Verbs V: ge + Stamm von V + t (ge-spiel-t, ge-kauf-t)

" Übergeneralisierung bei unregelmäßigen Verben: Bei 1Sg von wissen, können, müssen, dürfen,mögen, sollen (sog. Präteritopräsens: Präsens hat Form eines Präteritums/Imperfekts) zusätzlicheFlexionsendung -e ((11)a). Bei haben zusätzlicher Stammkonsonant -b- in 1/2 Sg ((12)a)

(11) a. Ich kann-e/weiss-e das (Viktor, 5;0 - 6;10)b. Ich geh-e/lach-e

(12) a. Hab-st Du, er hab-t (Viktor, 5;0)b. Ich hab-e, er ha-t

" Pluralbildung: zusätzliche Endung ((13)a, (14)) oder zusätzlicher Ablaut ((13)b):

(13) a. Räder-sb. Hünd-e

(14) a. feet-s feet (Engl.)b. fish-es fish (Engl.)

" Stromswold (1990): Überregularisierungen von have, do, be wenn als Hauptverb gebrauchtaber nicht, wenn als Hilfsverb. Konsequenz: Überregularisierungen betrifft nicht nur die Form des Wortes, sondern ist hängt vom Kontext ab, ist also kontextsensitiv (aus Guasti 2002: 15):

(15) a. I doed it I did itb. I haved it I had it

(16) a. *Doed you comeb. *I haved eaten

3https://dl.dropboxusercontent.com/u/81889878/Guasti.%202002.%20Language%20Acquisition.%20The%20Growth%20of%20Grammar.pdf für gratis Download von Dropbox.

4Per Konvention wird das Alter des Kindes immer in folgendem Format angegeben: “Jahr; Monate”.

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Übergeneralisierungen können auch die Bedeutung betreffen (etwa wenn alle vierbeinigenTiere als wauwau bezeichnet werden). Semantische Eigenheiten von L1-Erwerb, sowie weitereUnterschiede zwischen kindlicher Grammatik und Erwachsenengrammatik in Phonologie,Morphologie und Syntax werden noch näher im weiteren Verlauf der Skriptums behandelt werden.

1.3. STADIEN IM L1-ERWERB

Die Effekte des L1-Erwerbs sind in allen Komponenten des grammatischen Systems (Phonetik,Phonologie, Morphologie, Syntax, Semantik, Pragmatik) sichtbar, betreffen aber auch einige nichtsprachspezifische Veränderungen des allgemeinen kognitiven Systems (Segmentierung undKategorisierung; s. u.). Wichtige Schritte in der Entwicklung von L1 umfassen die Punkte in (17).

(17) Veränderungen im Laufe des L1-Erwerbs

a. Fähigkeit, zwischen unterschiedlichen Sprachen zu diskriminieren (.unterscheiden)b. Segmentierung: Fähigkeit, Einheiten in einem Signal zu erkennen. Sprecher müssen

lernen, wo Laute, Morpheme und Wörter beginnen und enden.c. Kategorisierung in Phoneme. Sprecher lernen, welche sprachspezifischen phonemische

Kontraste zur Zielgrammatik gehören und welche nicht. d. Phonologie: Erwerb von phonotaktischen Prinzipien ([str] ist ein möglicher Onset im

Dt., nicht jedoch [rts]), phonologischen Prozessen, Akzentregeln, Prosodie, etc...e. Lexikon: Wörter werden erkannt. Assoziierung Form - Bedeutung (Zeichenbildung)f. Morphologie: Entwicklung von Flexionsmorphologie (spiel-st), Derivationsmorphologie

(Spiel, Spiel-er) und Komposition (Spiel+casino, Spiel+sucht)g. Syntax: Erwerb der rekursiven Regeln; Entwicklung der Prinzipien, die Bewegung,

Ellipsen, etc... ermöglichen.h. Semantik: Erwerb der Wortbedeutungen (z.B. Unterschied jeder vs. alle); Entwicklung

des rekursiven Systems, das Bedeutungen kompositional aufbaut.i. Pragmatik: Kontextwissen, Deixis, Präsuppositionen, Implikaturen,...j. Theory of Mind: Fähigkeit, mentale Repräsentationen anderer Individuen zu

interpretieren, entwickelt sich (ca. 4j).

Anmerkung zum zeitlichen Verlauf (in groben Zügen): Die Veränderungen in (17)a - (17)c laufenin der angegebenen Reihenfolge ab. Bereits Neugeborene sind in der Lage, die eigene Sprachevon Fremdsprachen zu unterscheiden - obwohl das Kind zu diesem Zeitpunkt natürlich wederüber ein Lexikon noch über eine Grammatik verfügt (§1.2). In einem nächsten Schritt entwickeltsich die Fähigkeit, sprachliche Signale zu segmentieren, also in diskrete Einheiten (Laute, Phoneme,Morpheme,...) zu zerlegen. In einer dritten Phase sind Kinder auf einmal in der Lage, kategorialeUnterschiede zwischen Einheiten zu treffen und abstrakte Kategorien (Phoneme, Morpheme,morphosyntaktische Kategorien wie Verb und Nomen) zu bilden.

Bei (17)a - (17)c ist es aus unabhängigen Gründen unvorstellbar, Variation in der zeitlichenAbfolge zu finden. Wie könnte z.B. der Erwerb der Phoneme (((17)c) früher stattfinden als dieEntscheidung, welche Sprache gesprochen wird ((17)a)? Und wie könnten Einheiten in Kategorienzusammengefasst werden ((17)c), ohne das diese Einheiten als solche erkannt werden ((17)b)?

Auch bei den weiteren Entwicklungen in (17)d – (17)j lassen sich Tendenzen beobachten,die auf eine interne Reihenfolge hinweisen. Pragmatische Fähigkeiten entwickeln sich z.B. nachphonologischen. Dennoch gibt es in diesen Bereichen auch große zeitliche Variationen undEntwicklungen in Morphologie, Syntax und Semantik verlaufen meist gleichzeitig. Die folgendenAbschnitte stellen die ersten Stationen im Spracherwerb vor, die von der Zeit vor der Geburt(sogenannte pränatale Phase) bis zum Erwerb der ersten Wörter reichen (10-12 Monate).

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2. PRÄNATALE & POSTNATALE PHASE

Spracherwerb beginnt bereits vor der Geburt, sobald beim Fötus (έµβρυο) die physiologischenVoraussetzungen für die Verarbeitung von akustischen Signalen (Gehör, neuronaler Bereich imGehirn) erfüllt sind. Dies geschieht zu Beginn des letzten Drittels der Schwangerschaft. Hier einigeder wichtigsten Ergebnisse der Forschung der letzten 30 Jahre.

Mehler et al (1988, 1995) fanden, dass Neugeborene im Alter von 4d (Tagen) in der Lagesind, zwischen ihrer Umgebungssprache, also ihrer künftigen Muttersprache (Französisch), zuunterscheiden und Fremdsprachen, zu denen sie noch keinen Zugang hatten (Italienisch, Japanisch;s.a. Kisilevsky et al., 2009). Die Diskriminierung zwischen Sprachpaaren geschieht ausserdemäußerst schnell, innerhalb von 1.2 Sekunden (ca. 6 Silben; Bosch und Sebastian-Galles 1997).Diese Beobachtungen zeigen, dass Kinder irrelevante Information, die nicht mit Sprache zu tunhat, im akustischen Signal ignorieren. Weiters besitzen Kinder in diesem Alter noch kein Lexikon,sie verfügen daher auch über keine Bedeutungen. Daraus folgt, dass ausschließlich phonologischerInformation für diese erstaunliche Fähigkeit von Neugeborenen verantwortlich sein kann.

Mampel et al (2009) zeigten, dass Neugeborene je nach sprachlichem Umfeld unterschiedlichschreien (Deutsch vs. Französisch). Dieses Verhalten muss bereits pränatal erlernt worden sein,weist also darauf hin, dass bereits vor der Geburt sprachliche Information verarbeitet wird.

Mahmoudzadeh et al (2013) wiesen nach, dass bereits (i) Föten (έµβρυο) in der 28-34 Schwangerschaftswoche Sprecherwechsel erkennen; (ii) zwischen Silben und nicht-Silbenunterscheiden; sowie (iii) den Unterschiede zwischen Phonemen (/ba/ vs. /ga/) erkennen. Ausserdemist die Region im Gehirn, in der sprachliche Information ((ii) und (iii)) verarbeitet wird, nicht dieselbe, in der nicht sprachliche Veränderungen ((i)) registriert werden. (Methode: Messung vonneuronaler Aktivierung mittels functional near-Infrared spectroscopy fNIRS).

2.1. PROSODIE

(18) Frage: Wie unterscheiden Föten zwischen unterschiedlichen Sprachen?

(19) a. Hypothese I: Kinder reagieren auf unterschiedliche Energie im Signal. b. Vorhersage: Es sollte keinen Unterschied machen, ob die Sprachsignale vorwärts oder

rückwärts gespielt werden, da die Energie bei Umkehrung die gleiche bleibt.c. Experiment: Neugeborene (4d) können nicht zwischen Sprachen (Russisch, Französisch)

unterscheiden wenn das Signal rückwärts gespielt wird (Mehler et. al 1988). d. Interpretation: Hypothese I ist nicht korrekt.

(20) a. Hypothese II: Kinder erkennen segmentale Eigenschaften, z.B. die Tatsache, dass eineSprache komplexe Silbenonsets ([str]) erlaubt, die andere jedoch nicht.

b. Vorhersage: Wenn segmentale Information im Signal eliminiert wird, sollten Kindernicht länger in der Lage sein Sprachen zu unterscheiden.

c. Experimente: Mehler et al (1988) löschten Information über 400Hz mit einemsogenannten Low Pass Filter. Dadurch waren Segmente ([d] vs. [g]) nicht mehrunterscheidbar. Dennoch konnten Neugeborene (4d) zwischen Sprachen unterscheiden.

d. Interpretation: Hypothese II ist nicht korrekt.

(21) a. Hypothese III: Kinder erkennen unterschiedliche Prosodie (.’Satzmelodie’).b. Vorhersage: Wenn prosodische Information gelöscht wird, sollten Kinder nicht länger

in der Lage sein, Sprachen zu unterscheiden. c. Experiment: Prosodie wurde durch Künstlicher Umstellung der Wörter (copy-paste

Verfahren) gestört. Kinder konnten nicht mehr zwischen Sprachen unterscheiden.d. Interpretation: Kinder erkennen Spracheunterschiede anhand von Prosodie.

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(22) Frage: Welche Eigenschaft der Prosodie ist relevant? Wortakzent, Intonation, Satzakzentoder Rhythmus?

Um Frage (22) zu beantworten, ist es notwendig, einen neuen Begriff einzuführen.

Isochronie: Isochronie beschreibt die rhythmische Organisation von Einheiten in gleicheZeitintervalle (Pike 1945). Die relevante Einheit kann die Silbe sein, die Halbsilbe (Mora) oderder Abstand zwischen zwei Akzenten, also der Fuß. Sprachen fallen in eine von drei Klassen,je nach ihren Isochronieeigenschaften. (Diese Klassifizierung ist nicht eindeutig, dieUnterscheidungen sind teils graduell.)

(23) a. Akzentzählende oder fußzählende Sprachen (z.B. Englisch, Deutsch)i. besitzen viele unterschiedliche Silbentypen (Englisch: 16)ii. Alle Abstände zwischen Akzenten (prosodischer Fuß) sind ungefähr gleich lang

b. Silbenzählende Sprachen (Griechisch, Französisch, Ital., Finnisch, Kantonchinesisch)i. besitzen wenige unterschiedliche Silbentypen (Griechisch: 8)ii. Alle Silben sind ungefähr gleich lang

c. Morenzählende Sprachen (Japanisch, Altgriechisch)i. besitzen sehr wenige unterschiedliche Silbentypen (Japanisch: CV und CVN) ii. Abstände zwischen Moren (Halbsilben) sind gleich lang.

Anmerkung: Moren sind phonologische Einheiten, ähnlich der Silbe, aber kleiner. Nicht alleSprachen besitzen Moren. Wichtigstes Merkmal: ein langer Vokal in einer Sprache mit Morenist nicht nur länger, sondern genau doppelt so lang wie ein kurzer Vokal. (James D. McCawley,1968: “[a mora is] something of which a long syllable consists of two and a short syllable consistsof one.” Wikipedia Eintrag “Mora (linguistics)”). Moren sind des weiteren oft auch kontrastiv.Variation in Vokallänge führt z.B. in japanischen Minimalpaaren zu Bedeutungsunterschieden:

(24) Moren (Japanisch)a. [o¥isan] ojisan ‘Onkel’

[µ o] ¥ [µ i] s [µ a][µ n] Y 4 Morenb. [o¥iisan] ojiisan ‘Grossvater’

[µ o] ¥ [µ i] [µ i] s [µ a][µ n] Y 5 Moren

(25) zeigt die Unterschiede in den drei Sprachtypen schematisch. Eine physikalische Zeiteinheitwird jeweils in drei unterschiedlichen phonologische Zeiteinheiten übersetzt (Fuß, Silbe, Mora).Aus den Beispielen in (26) wird ersichtlich, dass die Silbenstruktur von fuß- zu morenzählendenSprachen einfacher wird (aus Nespor et al 2011).

(25) t --!------!------!---> Zeiteinheiten

a. 5 5 5 (Akzentzählend)b. [σ ] [σ ] [σ ] (Silbenzählend)c. [µ ] [µ ] [µ ] (Morenzählend)

(26) a. The next local elections will take place during the winterCVCVCCCCVVCVCVCVCCCVCCCVCCVVCCVVCCVCVCCV

b. Le prossime elezioni locali avranno luogo in inverno (Italienisch)CVCCVCCVCVVCVCCVCVCVCVCVVCCVCCVCCVCVVCVCCVCCV

c. Tsugi no chiho senkyo wa haruni okonawareru daro (Japanisch) CVCVCVCVCVCVCCVVCVCVCVCVVCVCVCVCVCVCV

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#2: Eigenschaften von L1 8

Diese dreiteilige Klassifizierung bietet nun eine Antwort auf die Frage, welche Aspekte der ProsodieFöten und Kleinkinder verwenden, ums Sprachen zu unterscheiden.

(27) a. Hypothese: Kinder erkennen unterschiedliche Muster im Rhythmus einer Sprache,also unterschiedliche Sprachtypen (Mehler et. al 1996).

b. Vorhersage: Kinder können nicht zwischen Sprachen in der selben Klasse unterscheiden. c. Experiment: Es zeigte sich, dass Neugeborene nicht in der Lage sind, zwischen

Holländisch und Englisch (beide akzentzählend) zu diskriminieren.d. Interpretation: Kinder gruppieren Sprachen in Isochronie-Typen und erkennen

Unterschiede zwischen - aber nicht innerhalb - den Klassen.

Ab dem 5. Monat erkennen Kleinkinder auch Unterschiede innerhalb einer Sprachklasse, und könnenz.B. zwischen Holländisch und Englisch diskriminieren. Zusammenfassend gilt also:

(28) Resultat: Kinder erkennen unterschiedliche Sprachen aufgrund der Unterschiede in ihrerrhythmischen Repräsentation (Isochronie).

Die nächste Frage, die sich in diesem Kontext stellt lautet folgendermaßen: Wie erkennenKinder Phoneme, und wie erlernen Sie das Phoneminventar einer Zielsprache? Wie sich im nächstenAbschnitt zeigen wird, hängt diese Fähigkeit, Laute in abstrakte Klassen einzuteilen, eng mit eineranderen Fähigkeit zusammen - der Fähigkeit, Grenzen zwischen Signalen zu erkennen.

2.2. SEGMENTIERUNG

Diskrete und kontinuierliche Daten: Man unterscheidet zwischen kontinuierlichen und diskretenDaten. Diskrete Daten werden gezählt, kontinuierliche werden gemessen. Daten sind also diskret,wenn sie nur bestimmte Werte (ganze Zahlen, Elemente von ù) annehmen können. Die Anzahlvon Geburten ist z.B. konkret, es können in einem Krankenhaus an einem bestimmten Tag 0, 1,2, 3 oder mehr Kinder geboren werden, nicht jedoch 2.71 Kinder. Ähnliches gilt für die Anzahlvon Büchern in einer Bibliothek, die Anzahl von Sandkörnern auf einem Strand, oder die Anzahlder Phoneme in einer Sprache.

Daten, die im Prinzip jeden Wert annehmen können, sind kontinuierlich. Die Höhe einerBlume kann 12cm betragen oder 12,01cm oder 12,001cm, und so fort. Weitere Beispiele fürkontinuierliche Daten sind das Gewicht eines Autos, die Zeit, die man braucht, um ein Haus zubauen, die Temperatur in einem See oder der Luftdruck in einem Raum.

Sprachliche Systeme (Phonologie, Morphologie, Syntax und Semantik) arbeiten mit diskretenEinheiten, die deutlich von einander unterscheidbaren und zeitlich voneinander getrennten sind.

Jede Sprache besitzt eine genau definierbare,relativ kleine Menge5 von Phonemen (Phone-minventar), und phonologische Prozessebeschreiben regelmäßige, systematischeVeränderungen in diesem Inventar (Regel fürpalatale /velare Frikative, Auslautverhär-tung,...). Das akustische Signal ist jedochkontinuierlich. Schallwellen sind Veränderun-gen im Luftdruck, und der Luftdruck ist - wieoben vermerkt - nicht diskret. Die akustischeFig 1: Spektrogramm von “I owe you”

5Die Sprache mit dem kleinsten bekannten Inventar (Rotokas, Papua Neu Guinea) besitzt 11 Phoneme.Größtes bekanntes Phoneminventar: ca. 140 Phoneme.

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Information, die dem Kind zur Verfügung steht, besteht aus einem linearen, kontinuierlichen Stromvon Schallwellen, die sich teilweise überlappen. In dem akustischen Signal in Fig. 16 sieht manz.B. keine klaren, akustischen Hinweise darauf, wann ein Laut beginnt oder wann er endet. Dennochhaben Sprecher deutliche Intuitionen über die Strukturierung des Signals: der Satz I owe you bestehtaus einer diskreten Anzahl von (sechs) Phonemen. Sprache besitzt daher Information, die nichtdirekt aus dem Signal ablesbar ist. Eine wichtige Frage ist daher, worin diese Information besteht,und wie Kinder diese Information lernen. Das ist das Segmentierungsproblem:

(29) Segmentierungsproblem Wie lernen Kinder, einzelne Laute im Sprachsignal voneinander zu trennen?

2.3. KATEGORIALE WAHRNEHMUNG (= KATEGORIALE PERZEPTION)

2.3.1. Fehlende Invarianz

Eine weitere, wichtige Eigenschaft von Sprache besteht darin, dass die Beziehung zwischen Signalauf der einen Seite und Lauten und Phonemen auf der anderen Seite nicht eindeutig ist. Der Laut[t] wird z.B. niemals vollständig gleich ausgesprochen, nicht einmal von ein und dem selbenSprecher. Daher variiert auch das akustische Signal von [t] stark. Dies kann so wie im Schema(30)a ausgedrücket werden:

(30) a. Laut b. Phonemq!p q!p

Signal1 Signal2 Signal3 ... Laut1 Laut2 Laut3

Trotzdem sind Sprecher ohne Mühe in der Lage, diese unterschiedlichen physikalischen Objektealle als [t] wahrzunehmen und daher einem einzigen Laut [t] zuzuordnen. Ähnliches gilt für dieBeziehung zwischen Lauten und Phonemen ((30)b). Sprecher des Deutschen fassen z.B. die beidenLaute [r] (alveolar) und [“] (uvular) als ein einziges Phonem auf.

2.3.2. Abstrakte Kategorien

Die beiden Laute [r] und [“] stehen in freier Variation, sie können also in jedem Kontextgegeneinander augetauscht werden. Schließlich fällt auch die allophonische Variation unter (30)b.Auch hier existieren unterschiedliche akustische Formen (z.B. [x] und [ç]), die sich aberphonologisch wie eine Einheit - wie ein Phonem - verhalten.

Damit eng verwandt ist eine weitere Beobachtung. Auch die Unterschiede zwischen Lauten,die zu unterschiedlichen Phonemen gehören, sind im akustischen Signal in den meisten Fällennicht klar und explizit gekennzeichnet. So existiert kein einzelnes, klar identifizierbares akustischesMerkmal im Signal, das jeweils bei den stimmlosen Lauten [p], [t], und [k] auftritt, bei denstimmhaften Lauten [b], [d] und [g] jedoch nicht.7 Der Unterschied zwischen [t] und [d] ist alsoim oben erwähnten Sinne kontinuierlich, und nicht diskret. Dennoch unterscheiden Sprechersystematisch und verlässlich zwischen stimmhaften und stimmlosen Lauten (Liberman, Harris,Hofman & Griffith 1957; gleiches gilt für Laute, die sich in mehr als einem Merkmal unterscheiden).

Generell gilt, dass Sprecher die Welt in bestimmten Kategorien, d.h. abstrakten Einheiten,wahrnehmen. Diese Eigenschaft bezeichnet man als die Fähigkeit zur kategorialen Wahrnehmung

6Aus: http://en.wikipedia.org/wiki/Speech_perception#Linearity_and_the_segmentation_problem

7Der akustischen Korrelate für Stimmhaftigkeit sind komplex, und umfassen Länge, Grundfrequenz, VOT(Voice Onset Time, für Aspiration), Länge und Intensität der Aspriation, etc.... Außerdem variieren dieakustischen Korrelate, je nachdem ob sich der Konsonant am Silbenanfang oder Silbenende befindet.

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oder kategorialen Perzeption (KP). Eine allgemeine Definition von KP wird in (31) gegeben:

(31) Kategoriale Wahrnehmung

Ein Phänomen zeigt KP wenn Unterschiede zwischen zwei Kategorien stärkerwahrgenommen werden, als quantitativ ähnliche Unterschiede innerhalb einer Kategorie.

KP ist dafür verantwortlich, dass das sprachliche System nicht als Kontinuum, sondern in Einheitenwahrgenommen wird.

2.3.3. Experimentelle Evidenz

Doch wie stellt man KP in Individuen fest? Einfaches Befragen ergibt unzuverlässliche Resultate.In den meisten Fällen wissen Befragte einfach nicht, wie linguistische oder andere psychologischePhänomene, die intern, also ‘in ihrem Kopf’ ablaufen, aufgebaut sind. Wer kann etwa die FrageWie viele Knoten besitzt der Strukturbaum des Satzes ‘Fas jedes Säugetier legt Eier’ ohnelinguistisches Training beantworten? Bei Kleinkindern oder Föten ist es außerdem überhaupt nichtmöglich, Fragen zu stellen. Daher verwendet man kontrollierte Experimente, bei denen eine größereAnzahl von Versuchspersonen einer Reihe von Beispielen ausgesetzt werden. Diese Beispielenennt man die unabhängigen Variablen (UV; engl. condition). Im Laufe des Experiments wirddie Reaktion der Versuchspersonen auf diese Variablen gemessen. Anschließend werden die Datenstatistisch ausgewertet.

Verlauf eines Experiments: Die Versuchspersonen hören synthetische Sprache, die am Computererstellt wurden. Dabei wird im Signal ein Laut langsam zu einem anderen Laut verändert(morphing). Die Teilnehmer an einem (fiktiven) Experiment hören z.B. die Reihe von 10 Aussagenin (32), wobei [dt], [dtt], [dttt],... bedeuten soll, dass der Laut [d] immer ähnlicher zum Laut [t]wird. Mit jedem Satz in (32) wird das [d] im Verb leiden also ein bisschen stimmloser, bis esschließliche zum Verb leiten wird. Der zehnte Satz drückt eindeutig aus, dass Sam der Reiseleiterist, während der erste Satz sagt, dass Sam das Reisen nicht mag. Alle anderen Sätze liegen, wasdie Qualität des Signals angeht, dazwischen. (Für interaktives akustisches Beispiel, mit einfacherenaber realistischeren Daten, siehe http://ucalgary.ca/pip369/mod6/speech/principles; Klicken sieCategorical Perception (1)).

(32) Variable 1: “Sam wird durch die Reise lei[d]en” ‘leiden’Variable 2: “Sam wird durch die Reise lei[dt]en”Variable 3: “Sam wird durch die Reise lei[dtt]en”Variable 4: “Sam wird durch die Reise lei[dttt]en” ...Variable 10: “Sam wird durch die Reise lei[t]en” ‘leiten’

Nach der Präsentation jeden Satzes sollen die Teilneh-mer durch drücken eine Knopfes angeben, was der Satzbedeutet. Betrachtet man nur das Signal, so gibt es einKontinuum von [d] zu [t] - aber dieses Kontinuum wirdnicht als ein Kontinuum wahrgenommen, sondern alseine Reihe von [d] (leiden), gefolgt von einer Reihevon [t] (leiten). Das Diagramm in Fig. 2 macht diesdeutlich.

Die rote/durchgehende Linie in Fig. 2 gibt an, wieviele Sprecher einer Gruppe einen Laut als [d]identifizieren. Wie das Diagramm zeigt, sind dies

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100%, wenn die Teilnehmer am Experiment ein [d] zu hören bekommen, und 0%, wenn sie [t]hören. Umgekehrt weist die blaue/unterbrochene Linie aus, wie viele Sprecher einen Laut als [t]wahrnehmen: erhalten die Teilnehmer ein [d], so beträgt die Anzahl 0%, wenn sie ein [t] hören,sind es dagegen 100%. Die dünne, schräge Linie, die linear verläuft, zeigt schließlich an, wie dieErgebnisse aussehen würden, wenn Perzeption kontinuierlich ablaufen würde.

Der wichtigste Punk, der auf das Vorhandensein von KP hinweist, ist die Tatsache, dass derWechsel zwischen 0% und 100% in beiden Fällen ‘plötzlich’ passiert, also nicht schrittweise oderkontinuierlich. Das Signal wird entweder als [d] oder als [t] wahrgenommen, es gibt aber keine‘Grenzbereiche’. Anders ausgedrückt: die Teilnehmer am Experiment hören entweder den SatzSam wird durch die Reise leiden oder Sam wird durch die Reise leiten, aber niemals Sätze, dieein unbekanntes Wort an Stelle des Verbs enthalten (und daher keine Bedeutung besitzen würden).Sprecher nehmen also Sprache kategorial wahr. Dieses Ergebnis wurde durch unzählige Experimentein unterschiedlichen Bereichen (Phonologie, Morphologie, ...) bestätigt.

2.3.4. KP als Evidenz für UG?

Der kognotive Psychologe Peter Eimas und seine Kollegen (Eimas et al. 1971) fanden weitersheraus, dass bereits Kleinkinder (1m - 4m) in der Lage sind, Stimmhaftigkeit ([b] vs. [p]), Ortder Artikulation ([b] vs. [g]) und Art der Artikulation ([b] vs. [m]) zu unterscheiden. Kleinkinderverfügen also schon über KP. Diese Beobachtung wurde anfänglich als ein starkes Argument fürdie Annahme interpretiert, dass das Sprachsystem - oder zumindest ein Teil des Sprachsystems -angeboren sein muss. Neugeborene und Kleinkinder haben noch keinen oder sehr beschränktenKontakt mit Umweltfaktoren gehabt. Daher muss jede Eigenschaft, die an Neugeborenen beobachtetwird, angeboren sein. Doch dieses Argument für das Vorhandensein einer genetisch veranlagtensprachspezifischen kognitiven Systems hat sich als nicht überzeugend erwiesen. KP ist nämlich,wie sich zeigte, weder auf Sprache noch auf den Menschen beschränkt.

So nehmen wir einen Regenbogen als eine Reihe von sieben unterschiedlichen Farbstreifenwahr, obwohl das Spektrum aus physikalischer Sicht kontinuierlich ist. KP findet sich auch invielen anderen Bereichen der visuellen und akustischen Perzeption, etwa bei der Erkennung vonMustern und Formen oder Tonhöhen in der Musik.

Schließlich ist KP nicht artspezifisch, also nicht auf den Menschen beschränkte. Da Sprache(und somit UG) nur beim Menschen auftritt folgt daraus, dass KP kein Teil der UG sein kann. Kuhl (1987) zeigte, dass auch Chinchillas, eine Art von Eichhörnchen, kategorial zwischenmenschlichen Sprachlauten unterscheiden. Tiere verwenden KP weiters, um nicht-sprachlicheakustische Signale zu kategorisieren. So leitet KP z.B. die Partnersuche bei gewissen Froscharten(Baugh, Akre, und Ryan 2008). Wyttenbach und Hoy (1999) erbrachten den Nachweis, dass sogarGrillen KP verwenden, um zwischen anderen Grillen (4-5kHz) und akustischen Daten, die Gefahrsignalisieren (Fledermäuse, 25-80kHz) zu unterscheiden.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass es sich bei KP also um eine im gesamtenTierreich verbreitete Strategie handelt, die sich entwickelt hat, um aus der riesigen Anzahl vonDaten, die es in der Umwelt gibt, jene Information zu filtern, die für spezifische Zwecke (Überleben,Partnerwahl, etc...) wichtig ist. KP zählt somit zu einem jener Phänomene, das zu den nicht-sprachspezifischen Designfaktoren von Sprache ((4)c) gehört.

2.3.5. Phoneme in Fremdsprachen

Eine wichtige positive Erkenntnis aus der Forschung zur KP betrifft die Erkennung von Phonemen.Kleinkinder in drei Altergruppen (6-8m, 8-10m und 10-12m), die in einem englischsprachigem

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Unfeld aufwuchsen, erhielten Daten aus Hindi (Werker and Tees 1984). Hindi unterscheidetzusätzlich zu [d, t], (phonemisch) auch zwischen aspirierten und nicht aspirierten dentalen Plosiven:

(33) a. Hindi: [d, dh, t, th]b. Englisch: [d, t]

Es zeigte sich, dass Kleinkinder im Alter von 8-10m Phoneme in einer Fremdsprache unterscheidenkönnen. Ab dem 10. Monat verschwindet diese Fähigkeit. Dies weist darauf hin, dass Kinder zuBeginn Kinder über das Phoneminventar aller Sprachen verfügen. Im Laufe des Spracherwerbswerden dann all jene Phoneme eliminiert, die nicht zur Zielgrammatik gehören (selektives Lernen).

(34) Frage: In welcher Reihenfolge werden Phoneme erlernt/eleminiert?

Eine nicht nur historisch wichtige Antwort auf Frage (34) stammt aus der Studie Kindersprache,Aphasie und Allgemeine Lautgesetze von Roman Jakobson (1941). Da die darin entwickelten Ideen -in adaptierter Form - auch noch auf die gegenwärtiger Forschung Einfluß haben, stellt der nächsteAbschnitt einige Aspekte von Jakobsons Analyse etwas genauer vor.

2.4. JAKOBSON (1941)

Eine der ersten systematische Studien zu L1 stammt vom russischen Strukturalisten, Linguistenund Literaturwissenschafter Roman Jakobson (1896 - 1982). Jakobson (1941) schlug vor, dass

Kinder nicht Laute/Phoneme lernen, sondern distinktive Merkmale ([+labial],[+tief],...). L1-Erwerb folgt dem Prinzip, Kontraste zwischen diesen Merkmalenzu maximieren. Kinder wählen also ein System aus, das möglichst großeUnterschiede in bezug auf Merkmale bevorzugt.

Schrittweises Erlernen von Merkmalen: Aus dem oben Gesagten ergibt sichauch eine Reihenfolge, in der Kinder die Laute der Sprachen lernen. /p/ und /a/sind die beiden Laute mit den größtem Kontrast - auf der einen Seite einstimmloser labialer Konsonant (C) auf der anderen ein tiefer Vokal (V) - und

werden daher zuerst gelernt. Zusätzlich ergibt sich aus dem Kontrast zwischen /p/ (C) und /a/ (V)eine weitere Präferenz im Spracherwerb: CV-Silben werden bevorzugt. Der erste Schritt im Erwerbder Phonologie ist also:

Schritt 1: Kontrast Konsonant vs. Vokal (/p/ vs. /a/) Y Präferenz für CV-Silben

Im Anschluss folgt die Trennung zwischen oralen und nasalen Plosiven in Schritt 2:

Schritt 2: Kontrast zwischen nasalen und oralen Plosiven Y /m/ vs. /p/Daraus ergibt sich nun auch, dass /ma/ und /pa/ die ersten beiden Silben sein sollten, die Kindererlernen. Dies legt eine plausible Erklärung nahe, warum viele Sprachen Formen, die ähnlich wieMama und Papa klingen, besitzen. In den nächsten Phasen lernen Kinder dann den Artikulationsort[labial] und [hoch/tief], etc... bis schließlich genau jene Merkmalskontraste erlernt wurden, diedas Phoneminventar der Zielsprache definieren.

Schritt 3: Kontrast zwischen labial und nicht labial Y /p, b, m/ vs. /t, d, n/Schritt 4: Kontrast zwischen hohen und tiefen V Y /i, u/ vs. /a/

Typologie und Aphasie: In Jakobson (1941) finden sich noch zwei weitere wichtige Ideen, dienachhaltigen Einfluss insbesondere auf die Entwicklung der Phonologie hatten. Konkret stellteJakobson die Hypothesen auf, dass die selben Prinzipien, die für Kindersprache gelten, (i) dieForm der Phoneminventare in den Sprachen der Welt erklären, und (ii) den Ablauf von

Roman Jakobson

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pathologischem Sprachverlust (Aphasie) regulieren. Die Grundidee ist, dass Kontraste zwischenLauten (also Phoneme), die früh erlernt werden, in allen (genauer: vielen) Sprachen auftauchen,während Kontraste, die später erlernt werden, nur in einer Teilmenge aller Sprachen zu findensind. Bei Aphasie werden schließlich jene Phoneme zu Beginn ‘verlernt’, die spät in das Systemintegriert wurden. Dadurch ergibt sich eine gemeinsame Analyse von phonologischem L1-Erwerb,Aphasie und der Frage, welche Form die Phoneminventare überhaupt annehmen können. (35)fasst die vier zentralen Hypothesen von Jakobson (1941) zusammen:

(35) a. Die Einheiten der Phonologie sind distinktive Merkmale, nicht Laute oder Phoneme.b. Universale Prinzipien erklären den Verlauf des L1-Erwerbs.c. Universale Prinzipien strukturieren die Lautinventare aller Sprachen. d. Universale Prinzipien leiten den Verlauf von Aphasie.

Es hat sich gezeigt, dass das System Jakobsons zwar zu interessanten Fragen führt, aber aneinem entscheidenden Mangel leidet, den es mit allen strukturalistischen Modellen teilt: es istnicht möglich, die Theorie zu überprüfen, ohne die einzelnen Begriffe präzise zu definieren. Wasbedeutet z.B. ‘Kontraste maximieren’? Warum ist der Kontrast zwischen nasalen und oralen Plosiven([m] vs. [p]) größer, als jener zwischen [•] und [p]? Warum ist die Silbenform CV ‘besser’ alsVC? Erst wenn diese und ähnliche Fragen beantwortet werden können, kann man die Vorhersagendes Systems testen. Aber wenn man plausible Antworten auf diese Fragen gefunden hat, zeigtsich, dass man auch zumindest einige Antworten auf die Fragen besitzt, die Jakobson ursprünglichgestellt hat. Allgemein gilt: strukturalistische Theorien teilen die Welt gut in Kategorien ein - sieerklären aber nicht, warum es genau jene Kategorien gibt, die wir beobachten.

Beispiele: Zum Abschluss noch einige Beispiele für typische phonologische Prozesse im L1-Erwerb. Die ersten beiden sind gut mit der Idee der CV-‘Protosilben’ (Jakobson 1941) kompatibel.

(36) Beispiel für (34)a: Silbenvereinfachung CVC ÿ CV[§ape] Apfel (alle Daten aus Rauch 2003)[§e:ze] Esel[hu:me] Hummel[ga:be] Gabel

(37) Silbenvereinfachung: CVNC ÿ CVN[kin] Kind[h�n] Hund[mo:n] Mond

(38) Ersetzung von Frikativ durch Plosiv (engl. stop; ‘stopping’ in Smith 1973)a. [pise] Fische b. [bāt] bus

[pelt] fällt [maip] knife[done] Sonne[gant] Gans

(39) [•]-Löschung[poat] Sport[dain] Stein[vants] Schwanz

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(40) [l]-Löschung[kait] Kleid[fus] Fluss

Analyse: Der sonorere Teil eines komplexen Onsets wird gelöscht.

(41) Frage: Welche der Prozesse in (38) - (40) lassen sich mit Jakobsons Theorie erklären -und wie?

Bevor wir uns im nächsten Handout dem weiteren Verlauf des Spracherwerbs zuwenden,der zum Erwerb der ersten Wörter führt, ist es wichtig, eine Lücke zu füllen. Bisher wurde nochnicht auf die anatomischen Veränderungen eingegangen, die einen Einfluss auf Sprache haben.Im nächsten Abschnitt wird daher kurz die Entwicklung des Vokaltrakts dargelegt werden.

3. ANATOMISCHE ENTWICKLUNG DES VOKALTRAKTS

3.1. QUELLEN-FILTER MODELL DER SPRACHPRODUKTION

Akustisch gesehen kann Sprache als das Produkt von zwei Teilen interpretiert werden: einer Quelle(Stimmbänder, in der Larynx) sowie akustischen Filtern, die gewisse Bereiche des Signalsverstärken, und andere wieder schwächen. Diese Filterung findet im Vokaltrakt statt, also im Bereichder bei den Lippen beginnt, Mundraum, Nasenhöhle und Rachen umschließt und amKehlkopf/Larynx endet. Dieses Modell der Sprachproduktion bezeichnet man als das Quellen-FilterModell (source - filter model). Es wurde vom schwedischen Phonetiker Gunnar Fant in den 1960erJahren entwickelt.

Quelle und Entwicklung der Grundfrequenz: Die Quelle im Quellen-Filtermodell wird durchVibration der Stimmbänder zur Verfügung gestellt. Die Geschwindigkeit, in der die Stimmbändervibrieren wird die Grundfrequenz (fundamental frequency; F0) genannt und wird in Hertz (Hz,Schwingungen pro Sekunde) gemessen. Bei Neugeborenen und Kleinkindern liegt dieGrundfrequenz um die 400Hz. Zudem ist F0 in den ersten Jahren noch sehr variabel, es gibtSchwankungen von 250Hz bis zu 600Hz. zu Bei 6 - 10jährigen Kindern sinkt F0 ab, stabilisiertsich und liegt dann zwischen 350Hz und 400 Hz. Zu diesem Zeitpunkt gibt es übrigens noch keinestatistisch relevanten, phonetischen Unterschiede in F0 zwischen Knaben und Mädchen.

Während des Stimmbruchs (ca. 11-15 Jahre) werden die Stimmbänder länger und dicker. DieGrundfrequenz fällt daher ab, um dann bei ca. 100Hz - 150 Hz (Männer) und 190Hz - 230Hz(Frauen) zu landen. Da bei Sprachproduktion Obertöne bis zu ca. 4,000 Hz (Formant F4) eine Rollespielen, erstreckt sich der Frequenzbereich von Sprache bei erwachsenen Sprechern also von ca.100Hz - 4,000Hz bei Männern, und ca. 200Hz - 4,000Hz bei Frauen.

Filter - Veränderung des Vokaltrakts: Der kindliche Vokaltrakt ist anders geformt als jener vonErwachsenen. Erstens nimmt die Zunge quantitativ einen größeren Raum ein; zweitens liegt dieLarynx, und somit die Zunge, höher als beim Erwachsenen. Dies hat auch auf Sprachproduktioneinen Einfluss. Im Folgenden werden die wichtigsten Veränderungen beschrieben, die einen Einflussauf Sprache und Spracherwerb haben. Für Details und Zusammenfassung der Ergebnisse zurForschung zur vergleichenden Anatomie in Säugetieren siehe Fitch (2010).

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Fig 3: Kindlicher Vokaltrakt Fig 4: Erwachsene

Fig. 5: Absenkung der Larynx

3.2. ABSENKUNG VON LARYNX UND ZUNGENKÖRPER

Bei Tieren und neugeborenen Kindern befindet sich der Kehlkopf (Larynx) in einer höherenPosition als beim erwachsenenen Menschen (Fig. 3 und Fig. 4).

H: Palatum (engl. hard palate)S: Velum (soft palate)J: Kiefer (jaw)T: Zunge (tongue)E: EpiglottisG: Glottis

Bei Kindern liegt die Larynx in der Höhe des3. Nackenwirbels (Fig. 5). Die Epiglottis (Ein Fig. 3) kann dadurch das Velum (S)berühren, und es kommt zu einer Trennungder Nasenhöhle und des Mundraums.Speiseröhre und Luftröhre funktionierendaher bei Kleinkindern und Säugetieren8 als getrennte Systeme. Dies hat den großen Vorteil, dassNeugeborene und Säugetiere gleichzeitig trinken und atmen können, ohne zu ersticken. Ausserdemliegt, durch die hohe Stellung der Larynx bei Säuglingen, ein Grossteil des Zungenkörpers imMundraum.

Ab dem 3. Lebensmonat beginnt die Larynx abzusinken. Nach dem 6. Lebensjahr befindetsie sich beim 6. Wirbel (Fig. 5). Wie Lieberman et. al (1969) zeigten, ist die Absenkung der Larynx

wichtig, da dieser Prozess eine Voraussetzung darstellt, umeine größere Anzahl von Lauten produzieren zu können. DerVokaltrakt wird länger (ca. 17cm), und dadurch liegt auchder Zungenkörper nicht mehr vollständig im Mundraum. AlsKonsequenz wird es möglich, schnelle Veränderungen desVokaltrakts durckzuführen. Diese erhöhte Flexibilität istwiederum für die Bildung der wichtigsten Vokale /i, a, u/notwendig (Lieberman et. al 1969), die in praktisch allenmenschlichen Sprachen vorkommen (Maddieson 1984/2009).

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Absenkungder Larynx zu einer Verlagerung der Zunge führt. Dieseanatomische Veränderung erweitert wiederum die akustischen

Möglichkeiten. Nachteil: Nahrung kann nun in die Lunge gelangen, und es besteht die Gefahrdes Verschluckens und Erstickens.

8Nicht alle Tierarten besitzen eine hohe Larynx, gewisse Hirscharten bilden eine Ausnahme (Fitch &Denby 2001).

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#2: Eigenschaften von L1 16

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