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UNESCO-Weltdokumentenerbe: Der Briefwechsel von Gottfried Wilhelm Leibniz Aufnahme des Briefwechsels von Gottfried Wilhelm Leibniz in das Register des UNESCO -Weltdokumentenerbes „Memory of the World“. Dokumentation der Festveranstaltung vom 1. Juli 2008 Herausgegeben im Auftrag der Freunde und Förderer der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek e. V. von Georg Ruppelt

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UNESCO-Weltdokumentenerbe: Der Briefwechsel von Gottfried Wilhelm LeibnizAufnahme des Briefwechsels von Gottfried Wilhelm Leibniz

in das Register des UNESCO -Weltdokumentenerbes

„Memory of the World“.

Dokumentation der Festveranstaltung vom 1. Juli 2008

Herausgegeben im Auftrag der Freunde und Förderer

der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek e. V.

von Georg Ruppelt

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UNESCO-Weltdokumentenerbe: Der Briefwechsel von Gottfried Wilhelm Leibniz

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Gottfried Wilhelm LeibnizKopie von 1789 nach Andreas Scheits Gemälde von 1703

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UNESCO-Weltdokumentenerbe: Der Briefwechsel von Gottfried Wilhelm Leibniz

Aufnahme des Briefwechsels von Gottfried Wilhelm Leibniz

in das Register des UNESCO-Weltdokumentenerbes

„Memory of the World“.

Dokumentation der Festveranstaltung vom 1. Juli 2008

Herausgegeben im Auftrag der Freunde und Förderer

der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek e. V.

von Georg Ruppelt

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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die Veröffentlichung wurde gefördert durch die

Freunde und Förderer der

Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek e. V.

Abbildung auf der Umschlagvorderseite: „Neujahrsbrief“ von

G. W. Leibniz, Ausschnitt, und Leibniz‘ Rechenmaschine, Detail

Lektorat: Marita Simon

Gesamtredaktion: Ariane Walsdorf

Satz und Layout: DPP Designbüro Peter Pohl

Druck: Albert Matzow GmbH, Hameln

Verlag: CW Niemeyer Buchverlage GmbH

© 2009 Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek

Waterloostraße 8, 30169 Hannover

ISBN: 978-3-8271-8900-4

Impressum

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Grusswort des Niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff ................................................................................................... 7

Grusswort des Niedersächsischen Ministers für Wissenschaft und Kultur Lutz Stratmann .............................................................................. 11

„Wissen muss man“, schreibt Gottfried Wilhelm Leibniz in seiner „Theodizee“, „dass in jeder möglichen Welt alles miteinander in Verbindung steht.“ – Auszüge aus der Moderation des Festakts Ulrich Lenz ........................................................................................................ 15

Wer entscheidet, an was wir uns morgen erinnern werden? Das Weltdokumentenerbe-Programm der UNESCO Prof. Dr. Joachim-Felix Leonhard .................................................................... 19

„Allein was hilft die Brille in ihrem Futteral, wenn niemand durchsieht?“ Das Erbe eines Gedankenerfinders Dr. Eike Christian Hirsch ................................................................................. 27

Danksagung des Direktors der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek im Anschluss an die Übergabe der UNESCO-Urkunde Dr. Georg Ruppelt ............................................................................................. 37

Der Leibniz-Briefwechsel Dr. Georg Ruppelt ............................................................................................. 41

Leibniz-Handschriften, Transkriptionen .........................................................48

Die Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek –Niedersächsische Landesbibliothek (GWLB) .................................................. 57

Inhalt

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Leibniz’ Begräbnisstättein der Neustädter Hof- und Stadtkirche St. Johannis.Leibniz starb am 14. November 1716 in Hannover. Die Grabplatte entstand ca. 1774, die Auf-schrift 1790.

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7Sehr geehrter Herr Minister Stratmann, sehr geehrter Herr Prof. Dr. Leonhard (Vorsitzender des Nominierungskomitees für das UNESCO-Programm „Memory of the World“),sehr geehrte Mrs. Springer (Programme Officer UNESCO „Memory of the World“),sehr geehrter Herr Dr. Ruppelt (Direktor der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek),sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,meine sehr geehrten Damen und Herren!

Der heutige Abend ist für mich ein ganz besonderer Moment, weil er mein Amt als Ministerpräsident mit meinem ganz persönli-chen Interesse in gelungener Weise verbindet: Zum einen ist die Entscheidung, den Briefwechsel des Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz neu in das UNESCO-Weltregister des Weltdoku-mentenerbes aufzunehmen, für Deutschland, für Niedersachsen und für Hannover ein wichtiges Zeichen der Anerkennung. Zum anderen gehört Leibniz zu den Persönlichkeiten, die mir selbst viel bedeuten, weil sie und ihr Wirken einen nachhaltigen Eindruck auf mich machen. Nicht erst seit der von mir sehr geschätzten Leibniz-Biografie von Eike Christian Hirsch – aber danach noch profunder

– ist Leibniz für mich eine wichtige Quelle bei Fragen, die die Gren-zen meines beruflichen Faches und meiner öffentlichen Aufgabe überschreiten.

Daher freue ich mich sehr, dass wir heute gemeinsam die Überga-be der Urkunde für die Aufnahme des Briefwechsels Leibniz’ ins UNESCO-Weltdokumentenerbe feierlich begehen!

Gottfried Wilhelm Leibniz schrieb einmal über sich selbst: „Beim Er-wachen hatte ich schon so viele Einfälle, dass der Tag nicht ausreichte, um sie niederzuschreiben.“

Es fällt nicht schwer, dies zu glauben, führt man sich die lange Rei-he von Tätigkeiten vor Augen, die Leibniz im Laufe seines Lebens ausgeübt hat: So war er Mitglied der Londoner Royal Society und

Grußwort des Niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff

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8 erster Präsident der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Als Mathematiker, Physiker, Techniker und Erfinder, aber auch als Jurist, Politiker, Philosoph, Historiker, Theologe und Diplomat hat Leibniz in seiner Zeit und weit darüber hinaus entscheidende Impulse gege-ben. Gottfried Wilhelm Leibniz war der letzte Universalgelehrte, der diesen Titel verdient.

Leibniz zählte europaweit zur geistigen Elite. Lassen Sie mich nur ein paar zentrale Leistungen nennen:

die Monadenlehre als philosophisch-metaphysische Erklärung der Wirklichkeit;seine Reformgedanken im Rechtswesen;sein Theodizeegedanke zur Klärung der Frage, wie das Böse in die Welt kam;die Grundsteinlegung der Infinitesimalrechnung, also der mathematischen Methode, eine Funktion auf beliebig kleinen Abschnitten widerspruchsfrei zu beschreiben;die Konstruktion einer Rechenmaschine;die Formulierung des binären Zahlensystems und vieles mehr.

Zudem war der Universalgelehrte auch außerhalb der akademischen Bühne ein Tüftler: So trug er entscheidend zur Nutzung des Windes bei der Grubenentwässerung im Oberharzer Bergbau bei.

Leibniz war ein globaler Denker seiner Zeit und hat dabei 100 bis 200 Jahre weiter gedacht. Er hat uns ein umfangreiches Werk hinterlassen. Allein seine wissenschaftlichen, theologischen und philosophischen Abhandlungen zu lesen, nähme viele Jahre in Anspruch.

Daneben aber breitet sich sein Leben in einem gigantischen Briefkor-pus aus. Mit über 1.100 Korrespondenten bringt es sein Gesamtbrief-wechsel auf ca. 200.000 Blatt. Diesem umfangreichen Schriftverkehr verdanken wir einen großen Teil unseres heutigen Wissens über das Leben und Wirken des Wahlhannoveraners. Sie sind gerichtet an Freunde, Politiker, Geistesgrößen aus Wissenschaft und Philosophie und natürlich an Frauen.

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9Der Umfang des Briefwechsels lässt erahnen, wie viel Zeit, Mühe, Überlegung und Ansporn es den gebürtigen Leipziger gekostet haben muss, all diese Briefe zu verfassen. Diese reichhaltige Sammlung lässt zudem nicht nur Schlüsse auf die geistige wie technische Geschwin-digkeit seines Schreibens zu, sondern auch auf das große Mitteilungs- und Korrespondenzbedürfnis des Gelehrten.

Der Briefwechsel von Leibniz dokumentiert den vielfältigen und tief empfundenen Drang nach Erkenntnis, die innige Hoffnung auf Fortschritt und die immer wieder ersehnte Durchbrechung geogra-phischer Isolation. Hannover stellte für den Gelehrten mitunter eine Isolation dar und war mit lästigen beruflichen Verpflichtungen ver-knüpft. Dennoch war die Stadt auch ein Pool äußerster Kreativität und Schaffenskraft. Vierzig Jahre lang hielt er ihr die Treue und machte Hannover mit seinem weltweiten Korrespondentennetz zu einem Mit-telpunkt der wissenschaftlichen Gemeinschaft. Heute ist die Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – die Niedersächsische Landesbibliothek in Hannover die Heimat seines Nachlasses, einer der größten Gelehr-tennachlässe überhaupt.

Die rund 15.000 Briefe aus dem Nachlass von Leibniz stellen ein ein-zigartiges Dokument der Geistesgeschichte dar und werden nun völlig zu Recht als zehntes deutsches Dokument in das Weltdokumentener-be der UNESCO aufgenommen.

Leibniz’ Briefkorpus reiht sich ein neben die Sammlung ältester Tondo-kumente traditioneller Musik aus dem Berliner Phonogramm-Archiv, Beethovens Neunter Sinfonie, dem literarischen Nachlass Goethes, der 42-zeiligen Gutenberg-Bibel, Fritz Langs Stummfilm „Metropolis“, der im Kloster Reichenau hergestellten Ottonischen Buchmalerei, der Waldseemüllerkarte von 1507, der Renaissance-Bibliothek des Mathi-as Corvinus und dem Grimm’schen Handexemplar der Kinder- und Hausmärchen von 1812/1815 der Brüder Grimm.

Ich gratuliere der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek sehr herzlich zu dieser Auszeichnung und wünsche uns allen, bei den folgenden Beiträgen neue und spannende Erkenntnisse aus dem Leben und Wir-

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10 ken des Universalgelehrten Leibniz zu erfahren. Ich bin überzeugt, dass seine Korrespondenz mit ihrem weltumspannenden Themen-spektrum auch in Zukunft viele interessierte Leserinnen und Leser begeistern wird, sich anregend mit seinem Schaffen zu beschäftigen und so den Geist von Leibniz weiterleben zu lassen.

Vielen Dank!

Leibniz‘ Rechenmaschine, Detail

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11Am 5. April des Jahres 1688 suchte Gottfried Wilhelm Leibniz den Italiener Agostino Steffani auf, welcher als Opernkapellmeister am Hofe des Herzogs Ernst August von Hannover vorgesehen war. Stef-fani verschaffte Leibniz Zutritt zur Bibliothek, damit dieser seine Stu-dien zur Geschichte des Hauses Braunschweig-Lüneburg fortsetzen konnte. Elf Jahre später wurde Steffanis Oper „Orlando Generoso“ in Hannover uraufgeführt. Es darf davon ausgegangen werden, dass auch Leibniz damals im Opernpublikum saß, um sich dieses Ereignis nicht entgehen zu lassen wie auch wir heute hier sind um die barocke Musik und den Anlass zu genießen.

Einleitung

Im Alter von gerade 20 Jahren möchte sich Gottfried Wilhelm Leibniz im Jahr 1664 an der Juristischen Fakultät der Universität Leipzig zum Doktor der Rechte promovieren lassen. Sein Ansehen und seine Leis-tungen sprechen dafür – doch er wird abgelehnt. Die Begründung: Er sei zu jung.

Zwar wird Leibniz die ihm verwehrte Anerkennung zwei Jahre später an der Universität Altdorf bei Nürnberg noch zugesprochen, doch die Begründung aus Leipzig bleibt diffus, womöglich von Neid oder Miss-gunst geprägt. Dennoch lässt sie tief blicken auf die großen Begabun-gen dieses jungen Mannes.

Grußwort des Niedersächsischen Ministers für Wissenschaft und Kultur Lutz Stratmann

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Christian,

sehr geehrter Herr Prof. Dr. Leonhard (Vorsitzender des Nominierungskomitees für das UNESCO-Programm „Memory of the World“ ),

sehr geehrte Mrs. Springer (Programme Officer UNESCO „Memory of the World“ ),

sehr geehrter Herr Dr. Hirsch (Journalist und Literat, Leibniz-Biograph),

sehr geehrter Herr Dr. Ruppelt (Direktor der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek),

meine sehr geehrten Damen und Herren!

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12 Es ist eine spannende Randnotiz im Leben des Philosophen und Ma-thematikers, Rechtsgelehrten und Erfinders. Wir wissen von solchen biographischen Details aus Leibniz’ eigenen Aufzeichnungen. Vor al-lem aber aus seinen Briefen, die er im Laufe seines Lebens an über 1.000 verschiedene Korrespondenzen in 16 Ländern geschrieben hat. Die größten Köpfe aus Wissenschaft und Adel befinden sich unter ih-nen: zum Beispiel der berühmte niederländische Philosoph Baruch de Spinoza, der englische Empirist Thomas Hobbes, die Mathema-tikerbrüder Bernoulli, Zar Peter der Große, der preußische König Friedrich I. oder Liselotte von der Pfalz, die Herzogin von Orléans.

52 Jahre später, als Leibniz in Hannover stirbt – der Stadt, in der er 40 Jahre seines Lebens verbracht hat – ist er als Universalgelehrer in ganz Europa ein Begriff.

Leibniz als großer Briefeschreiber

Wie kaum ein Zweiter hat Gottfried Wilhelm Leibniz sein Wirken in Briefen festgehalten und die Nachwelt mit einem wertvollen Schatz der eigenen Lebensbeschreibung versehen. All dies geschieht noch bevor das 18. Jahrhundert – von der Germanistik gern als das „Jahr-hundert des Briefes“ bezeichnet – sich voll entfaltet, und die großen Briefeschreiber wie Goethe oder Schiller die Bühnen der Welt betre-ten. In seinen Briefen verzahnt Leibniz Privates, Persönliches, Plau-derei, Anekdote und Wissenschaftliches. Auch Konkurrenz und Streit, wie etwa der mit Isaac Newton um die Urheberschaft der Infinitesi-malrechnung, finden in den Briefen Anklang. In ihnen spiegeln sich sein Wissensdurst, sein Erkenntnisdrang, sein zwischenmenschlicher Umgang – und auch sein ambivalentes Verhältnis zur Stadt Hannover. Leibniz hinterlässt der Welt einen gigantischen Fundus an geistesge-schichtlicher Einzigartigkeit.

Teil des Weltdokumentenerbes – ein gegenseitiger Gewinn

Dieser Briefwechsel erfährt nun die ihm zustehende Würdigung durch die Aufnahme in das Weltdokumentenerbe der UNESCO. Ich

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13gratuliere der UNESCO wie auch der Gottfried Wilhelm Leibniz Bib-liothek zu diesem gegenseitigen Gewinn. Ich freue mich persönlich sehr über die große und die Stadtgrenzen überschreitende Aufwer-tung, welche sowohl die Bibliothek wie auch die Stadt Hannover mit dem heutigen Tage dokumentiert.

Dank

Ich danke insbesondere Herrn Prof. Leonhard, dem Vorsitzenden des Nominierungskomitees des UNESCO-Programms „Memory of the World“, für seinen Einsatz und seine Unterstützung – dass wir hier heute stehen, ist maßgeblich Ihnen, Prof. Leonhard, zu verdanken. Auch danke ich Mrs. Springer, ebenfalls von der UNESCO, die den langen Weg aus Paris auf sich genommen hat, um dem Festakt heute beizuwohnen.

Ich danke natürlich auch dem hannoverschen Ensemble „Musica Alta Ripa“ unter der Leitung von Bernward Lohr, welches uns heute Abend stilecht Kostproben der Steffani-Oper „Orlando Generoso“ gibt.

Ich wünsche uns allen eine schöne Feierlichkeit anlässlich dieses be-deutsamen Ereignisses.

Leibniz-Brief vom 8. Mai 1682, Ausschnitt

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14v.l.n.r.: Christian Wulff, Niedersäch-sischer MinisterpräsidentDr. Georg Ruppelt, Direktor der Gottfried Wilhelm Leibniz BibliothekProf. Dr. Joachim-Felix Leonhard, Vorsitzender des Nominierungskomitees für das UNESCO-Programm „Memory of the World“Mrs. Joie Springer, Programme Officer UNESCO, Paris

Ensemble MUSICA ALTA RIPA mit Jörg Waschinski, Sopran

Lutz Stratmann, Niedersäch-sischer Minister für Wissen-schaft und Kultur (links)

Ulrich Lenz, Chefdramaturg Staatsoper Hannover, Moderator der Festveranstal-tung (rechts)

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15Wäre Herzog Ernst August nicht ein ebenso leidenschaftlicher wie re-gelmäßiger Besucher des venezianischen Karnevals mit seinen opu-lenten Feierlichkeiten, allen voran den in ganz Europa gepriesenen Aufführungen der noch jungen Gattung Oper gewesen – dann hätten die Landstände seines Herzogtums sich möglicherweise nicht genö-tigt gefühlt, das Geld für ein eigenes Opernhaus am Südostende des Leineschlosses zu bewilligen, damit der Herzog in Hannover bleibt.

Und hätte es nicht dieses neue Opernhaus gegeben – dann wäre mög-licherweise der Komponist Agostino Steffani nicht als Kapellmeister nach Hannover gekommen, um hier seine Oper „Orlando generoso“ zur Aufführung zu bringen, aus der Ihnen das Ensemble Musica Alta Ripa unter der Leitung von Bernward Lohr zusammen mit Jörg Waschinski soeben Ausschnitte präsentiert hat.

Und hätte der Architekt Georg Ludwig Friedrich Laves 150 Jahre spä-ter das Leineschloss nicht im klassizistischen Stil umgebaut und mit einem überaus repräsentativen Portikus versehen – dann hätte man sich nach dem Zweiten Weltkrieg nicht dafür entschieden, diesen Bau zum Sitz des Niedersächsischen Landtags zu machen und den Plenar-saal genau dort einzurichten, wo sich ehemals das Opernhaus befand.

Und hätte der neue Landtag nicht just mitten in der Altstadt seinen neuen Platz gefunden – dann hätten sich auch die Landesministe-rien und die Staatskanzlei möglicherweise nicht hier in unmittelba-rer Nähe des Ballhofs eingerichtet, und Ministerpräsident Christian Wulff und der Minister für Wissenschaft und Kultur Lutz Stratmann hätten es möglicherweise nicht geschafft, rechtzeitig zum heutigen Festakt hier zu sein.

Leibniz hat also Recht: In der besten aller möglichen Welten ist nichts dem Zufall überlassen, „alles steht miteinander in Verbindung“ – und so können Herr Wulff und Herr Stratmann hier und heute an dieser Stelle die heutige Veranstaltung feierlich eröffnen.

„Wissen muss man, dass in jeder möglichen Welt alles miteinander in Verbindung steht.“

„Wissen muss man“, schreibt Gottfried Wilhelm Leibniz in seiner „Theodizee“, „dass in jeder möglichen Welt alles miteinander in Verbindung steht.“ – Auszüge aus der Moderation des Festakts

Ulrich Lenz,Chefdramaturg an der Staatsoper Hannover

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16 Hätte Leibniz nicht von Herzog Ernst August den Auftrag gehabt, eine Chronik des welfischen Hauses zu schreiben, und hätte ihm bei seinen Recherchen in München nicht der Diplomat und Komponist Agostino Steffani dabei geholfen, Zugang zur Bibliothek des bayeri-schen Kurfürsten zu bekommen, wo Leibniz schließlich einen wich-tigen Hinweis auf eine Verbindung zwischen der Familie d’Este und den Welfen fand – dann hätte sich Leibniz möglicherweise weniger vehement dafür eingesetzt, dass Agostino Steffani Hofkomponist in Hannover wird – und es wäre möglicherweise niemals zur Komposi-tion und Uraufführung des „Orlando generoso“ gekommen, aus dem Sie nun weitere Ausschnitte zu hören bekommen ...

... in der besten aller möglichen Weisen gespielt vom Ensemble Musica Alta Ripa unter der Leitung von Bernward Lohr. Es singt erneut Jörg Waschinski.

„Wissen muss man, dass in jeder möglichen Welt alles miteinander in Verbindung steht.“

Wäre Herzog Georg Wilhelm nicht so ein leidenschaftlicher Federball-spieler gewesen – dann hätte er möglicherweise nicht zwischen 1649 und 1664 den Ballhof erbauen lassen, der sehr bald nicht nur zu Ball-spielen, sondern auch zu Theater- und Opernaufführungen genutzt wurde und bis heute wird – und wir stünden heute nicht hier, um diesen feierlichen Akt zu begehen.

Hätten zu den Adressaten der Briefe Gottfried Wilhelm Leibniz’ nicht in besonderem Maße auch gekrönte Häupter nicht nur Hannovers, sondern ganz Europas gehört, darunter Hannovers Kurfürstin Sophie oder Herzogin Elisabeth Charlotte von Orléans, die Schwägerin von Ludwig XIV., oder Preußens Königin Sophie Charlotte – dann wären Leibniz’ Briefe nach seinem Tode möglicherweise in alle Winde zer-streut worden. So aber wurden die Leibnizschen Papiere vom Hof unter Herzog Georg Ludwig beschlagnahmt, weil man darin „secre-ta domus“, Geheimnisse des Hofes vermutete. Und so sind die Brie-fe auf uns gekommen und können nun – 300 Jahre später – in das UNESCO-Weltdokumentenerbe aufgenommen werden.

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17Martina Struppek und Bernd Geiling vom besten aller möglichen Schauspielhäuser, nämlich dem Schauspiel Hannover, lesen aus Brie-fen von und an Gottfried Wilhelm Leibniz.

„Wissen muss man, dass in jeder möglichen Welt alles miteinander in Verbindung steht.“

Und es sind laut Leibniz die Zahlen, die in ihrer metaphysischen Grundgestalt die Zusammenhänge aller Dinge enthüllen.

Und so ist in einem so scheinbar unbedeutenden Butterkeks wie die-sem hier die ganze heutige Veranstaltung enthalten:

52 Zähne hat er bekanntlich, der originale Leibniz-Keks:

vier größere an den Ecken – denn vier Herzöge haben dazu beigetra-gen, dass es die heutige Veranstaltung in dieser Form geben kann:

– Herzog Georg Wilhelm, der den Ballhof erbauen ließ– Herzog Johann Friedrich, der Leibniz nach Hannover holte– Herzog Ernst August, der auf Leibniz’ Betreiben Agostino

Steffani nach Hannover verpflichtete– Herzog Georg Ludwig, der den schriftlichen Nachlass Leibniz’

beschlagnahmen ließ.

14 Zähne hat der Leibniz-Keks an seiner breiten Seite, zehn an seiner schmalen.

Denn 14 Jahre lang wurde unter Herzog Georg Wilhelm am Ballhof gebaut.

Und mit dem Briefwechsel von Gottfried Wilhelm Leibniz sind es ge-nau zehn Einträge aus Deutschland, die das Weltdokumentenerbe der UNESCO zu verzeichnen hat!

Und wenn Sie die beiden Schmalseiten miteinander multiplizieren und die Gesamtzahl der Zähne hinzuaddieren, kommen Sie auf die

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18 Zahl 152 – und das ist – bitte korrigieren Sie mich, Herr Wulff, wenn ich falsch liege – genau die derzeitige Anzahl der Sitze des Nieder-sächsischen Landtags, der sich – Sie erinnern sich – an eben jener Stelle befindet, wo vor über 300 Jahren Agostino Steffanis „Orlando generoso“ uraufgeführt wurde, aus dem Sie zum Abschluss noch ein-mal einige Ausschnitte hören.

Das kann doch alles kein Zufall sein!

Und der Leibniz-Keks ist – anders als wir bislang dachten – eben mehr als nur eine Rechenmaschine: Er ist ohne Zweifel der beste aller mög-lichen Butterkekse!

Danke schön!

Bibliotheca Regia Hanoverana Ex libris

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19Am 26. Mai 1828 erschien in Nürnberg ein junger Mann, der seinem äußeren Erscheinungsbild nach, zumindest als ungewöhnlich zu be-zeichnen war: verwahrlost in der Kleidung, unstet im Auftreten, vor allem aber unfähig, sich zu äußern, wer er sei, woher er komme, was er tue, was er könne. Kaspar Hauser, wie der später von seinem Vor-mund Anselm Feuerbach erzogene junge Mann genannt wurde, hatte kein Gedächtnis (mehr), vielleicht bestenfalls partiell Erinnerungen und verfügte gleichwohl über eine rasche Auffassungsgabe. Er hatte keine eigene Geschichte, aber er wurde Geschichte, bestimmte das kollektive Gedächtnis der Zeitgenossen, und auch wir erinnern uns seiner, obwohl wir ihn weder kannten noch heute wissen, wer er war und woher er kam.

Was wäre denn, wenn wir selbst unser kollektives Gedächtnis verlö-ren, wo uns Gedächtnisverlust schon im Individuellen zu schaffen macht, indem wir uns Dinge notieren und Vermerke anlegen, auch Tagebücher schreiben und Memoiren, nur, damit wir selbst – oder an-dere – später darauf zurückgreifen können? Was also wären wir ohne Geschichte, ohne Geschichtsschreibung, ohne Gedächtnisbildung und Erinnerungskultur? Wie stünde es um unsere Wahrnehmung des Täglichen, auch des Alltäglichen der Gegenwart, wo diese auf Er-fahrungen individuell und kollektiv aufbaut? Wer aber entscheidet heute, an was wir uns, d. h. eigentlich: die nachfolgenden Generati-onen erinnern werden oder wollen? Wo wir nach Karl Popper heute ohnehin nicht wissen, was wir morgen wissen werden.

Gänzlich neu sind die Fragen natürlich nicht, nur waren und sind sie kultur- und zivilisationsgeschichtlich stets neu, aber immer im Sinne der Aufklärung und Schillers berühmter Jenaer Antrittsvorlesung von 1789 zu stellen, wozu und zu welchem Ende man Universalgeschich-te studiere. Und keineswegs gilt heute das Wort von Hans Rothfels, wonach die Wahrheit in den Akten liege („veritas in actis“) unange-fochten: Nicht die formale Schriftlichkeit, sondern das inhaltliche Ver-ständnis von Texten, aber eben auch von Bildern, Tönen, Filmen und anderen Zeugnissen bietet Garantien für Echtheit und Wahrheit. Wir sollten darüber hinaus auch an eine bei Platon überlieferte Episode, nämlich an die Warnung des Pharao denken, die dieser dem Erfinder der Schrift mit auf den Weg gab: Hatte jener noch stolz seine Erfin-

Wer entscheidet, an was wir uns morgen erinnern werden? Das Weltdokumentenerbe-Programm der UNESCO

Prof. Dr. Joachim-Felix LeonhardVorsitzender des Nominierungskomitees für das UNESCO-Programm „Memory of the World“

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20 dung gepriesen, so war er überrascht und enttäuscht zugleich, als ihm der König antwortet: „Mein Lieber, Du hast nichts zur Stärkung des Gedächtnisses erfunden, sondern zu seiner Schwächung.“

Dies will im Zeitalter der Abrufbarkeit von Wissen und Inhalten per Knopfdruck, auch bei der Frage der Gedächtnisschulung in der Ele-mentarerziehung, aber ebenso bei der Handhabung von elektroni-schen Terminkalendern u. v. a. m. bedacht sein, und zwar nicht nur dann, wenn der Strom ausfällt oder im binären System der Computer die läppische Erweiterung um zwei Zahlenstellen für kurze Zeit das Problem im Übergang vom Jahre 2000 zum Jahr 2001 darstellte: Weil plötzlich nur noch wenige die älteren Programmiersprachen wie Pas-cal und Forsan kannten und damit ältere, aber keineswegs veraltete Kulturtechniken, um einmal das Wort „Software“ zu ersetzen.

Tradition und Überlieferung, Erinnerung und Wahrnehmung sind ganzheitlich und auch selektiv zu erfahren, kognitiv und historisch; aber: Werden unsere Nachfahren auf Zeugnisse unserer Zeit zurück-greifen können, auf Verträge, auf Dokumente in ihrer Vielzahl und Vielfalt, die wir ja heute synchron elektronisch und damit entmateria-lisiert kommunizieren und diachron nicht wissen, ob die Datensätze von heute in 50 Jahren für die Maschine, d. h. aber genauer gesagt: für uns selbst lesbar sind?

Die Geschichte der menschlichen Zivilisation ist im Grunde genom-men auch als eine Abfolge von Übergängen von Mitteilungsformen, und zwar nicht nur von mündlichen zu schriftlichen Zeugnissen, son-dern auch in der Entwicklung immer neuer Technologien zu begreifen. Zeichen, in der Urgeschichte der Menschheit Mythogramme und Fels-zeichnungen, bildhaft einzusetzen zur Erinnerung, und Zeichen abs-trakt zu entwickeln zur Sicherung von Erfahrung und Kommunikation: Die Entwicklung der Schriftlichkeit diente vorzugsweise der Schaffung von Verläßlichkeit für jeweils künftige Zeiten. Es war der Übergang von Oralität zu Literalität, die intensiv unser Leben bestimmt, obwohl seit Erfindung des Telephons und audiovisueller Dokumentformen die mündliche Kommunikation – wieder – an Bedeutung gewonnen hat und eher überlagert wird von einer in der zweiten Hälfte des 20. Jahr-

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21hunderts extrem gewachsenen Visualität in Fernsehen, Werbung, Pik-togrammen, Plakaten etc. bis zur graphischen Oberfläche von Personal-computern, bei denen der Nutzer bildhaft auf Mausklick eher eigentlich re-agiert denn agiert: Sind wir etwa auf dem Weg von der Oralität über die Literalität nun zu einer Visualität, gar zur Virtualität?

Alle diese Gedanken, auch die Frage, wozu man Geschichte brauche und was das Gedächtnis tauge, geraten in den Blick, wenn man an das UNESCO-Programm „Memory of the World“ denkt. Dieses hat sich dem Weltdokumentenerbe zugewandt und damit nichts Gerin-gerem als dem Gedächtnis der Menschheit – nach den schon länger bekannten Programmen des Weltkulturerbes bzw. des Weltnaturerbes. Für das „Memory of the World“ sind in den vergangenen zehn Jahren auch von deutscher Seite Vorschläge erarbeitet worden, die stets einzu-schätzen sind im Verhältnis zwischen nationalen und internationalen Betrachtunsgweisen. Dies geschieht in einem differenzierten Prozess, an dessen Anfang die Bewertung durch das Deutsche Nationalkomitee steht, dem dann die internationalen Beratungen durch das Internatio-nal Advisory Committee und schließlich die Entscheidungen durch die Generalversammlung der UNESCO folgen. Nicht Redundanz, sondern Relevanz hat die Überlegungen zu bestimmen. Die ausgewählten Do-kumente sollen nämlich digitalisiert und über Server der UNESCO im Netzwerk verteilt, d. h. verbreitet werden „in order to have preservation (via digitalization) and better access (via world wide web)“. Eine großar-tige Idee, fast post-babylonisch, mit Vertretern anderer Nationen, Kul-turen und Religionen ins Gespräch zu kommen und sich dabei über fremde Kulturen und damit gleichzeitig über die eigene Situation Ge-danken zu machen. Solche Gelegenheit waren gegeben bei den bishe-rigen Treffen des International Advisory Committee in Taschkent 1997, 1999 in Wien, 2001 in Cheong-ju in Korea, 2003 in Danzig, 2005 in Lijang in China, als einige deutsche Nominierungen zu erörtern und zu vertreten waren, und zuletzt, als die Aufnahme des Briefwechsels von Gottfried Wilhelm Leibniz bei der Sitzung des Internationalen Ko-mitees im Jahre 2007 in Pretoria in Südafrika anstand.

158 Dokumente aus vielen Ländern und Kontinenten, Sprachen, Re-ligionen und Kulturen, aus verschiedenen Gebieten des Wissens um-

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22 fasst derzeit das Weltregister dieses Programms, und vielleicht ist es reizvoll, sich einmal kurz die Vielfalt zu vergegenwärtigen: um zu erfahren, in welcher „Familie des Wissens und des Gedächtnisses“ nunmehr der Briefwechsel Gottfried Wilhelm Leibniz’ angesiedelt ist. Dabei entsteht ein Bild, informativ, aber unsystematisch, nicht klassi-fiziert nach Epochen, Räumen und Sujets, sondern eher impressionis-tisch: Das Register ist keine Enzyklopädie, sondern ein Register, nicht mehr, nicht weniger.

Heute kann der interessierte Betrachter im Internet z. B. ein prachtvol-les armenisches Evangeliar, aufbewahrt im Matenataran-Museum in Yerevan ebenso bestaunen wie ein Evangeliar in bosnischer Sprache, das sich heute in Bratislava in der Slowakei befindet; etwas verwundert nimmt er zu Kenntnis, dass das in Korea gegen 1377 entstandene, heu-te in Paris aufbewahrte und Zen-Lehren buddhistischer Priester ent-haltende Buljo Jikji Simche Yojeol das erste mit beweglichen Lettern gedruckte Buch ist – und eben nicht die rund 80 Jahre später von Gu-tenberg gedruckte 42-zeilige Lateinische Bibel, die als Prachtexemplar der Niedersächsichen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen gemeinsam mit dem koreanischen Buch 2003 in das „Memory of the world“ Register aufgenommen wurde. 80 Jahre bei 12.000 Kilome-tern Entfernung – die Erfindung musste irgendwie in der Luft gelegen haben. Eine in der Tschechischen Nationalbibliothek befindliche, die Erde als Scheibe darstellende Weltkarte des Ibn al-Wardi beschreibt die seinerzeitige Welt ebenso wie die berühmte Waldseemüller-Karte, auf der zum ersten Male der Name „Amerika“ auftaucht und die heu-te in der Library of Congress in Washington aufbewahrt wird. Eine Sammlung von alten Postkarten liefert uns Bilder – und Einsichten in das Westafrika der Kolonialisierung: Sie zeigt uns die Konstruktion einer Lehmmoschee in Mali wie sie auch Blicke auf die Geschichte der Sklaverei im Senegal eröffnet. Aus den Phonogrammarchiven in Wien und Berlin sind Sprachproben vom Ende des 19., Anfang des 20. Jahr-hunderts registriert, die mit abenteuerlich anmutenden Trichtergerä-ten in Papua-Neuguinea und in Afrika aufgenommen wurden: Das Wort wurde zum Ton, das gesprochene Wort konserviert, wo die Spra-chen selbst längst erloschen sind und Untergang von Sprachen den Verlust historischer Identitäten bedeutet. Eine Postkartensammlung

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23aus Ägypten zeigt uns, wie es beim Bau des Suez-Kanals zuging, eine medizinische Handschrift aus Indien in Tamil beschreibt Diagnosen und Therapien, mit denen man in Südasien Krankheiten und Gebre-chen vor Jahrhunderten zu heilen pflegte – und es zum Teil traditio-nell heute noch tut. Frühgeschichtliche Inschriften aus den Philippi-nen stehen als Zeugnisse menschlicher Zivilisationsgeschichte neben hetitischen Keilschriften aus Bogzköy; ein die Einnahmen und Steu-ern verzeichnender „Codice Tributos de Mixquiahuala Poinsett 1“ der Azteken aus der Nationalbibliothek für Anthropologie und Geschichte in Mexiko-Stadt beeindruckt uns – weil auf ihm die abzuliefernden Steuern und Gegenstände gleich mit abgebildet sind. Die Briefe Mao Zedongs an den 14. Dalai Lama sind auch Jahrzehnte nach ihrem Ent-stehen von mehr als „nur“ lokalem Interesse, was in gleicher Weise für die Korrespondenz zwischen dem pakistanischen Präsidenten Muhammad Ali Jinnah und dem uns bekannte(re)n Mahatma Gandhi gilt. Die Aufzeichnungen von James Cook, das Patent von Kálmán Ti-hanyi von 1926 für den Bau des ersten Radioskops aus Ungarn, der Autograph von Beethovens 9. Symphonie, die bekanntlich in nicht wenigen Ländern zur Nationalhymne wurde, der Nachlass Frédéric Chopins, das „Archiv der Verschollenen“, weil von der Militärjunta in Chile vernichteten Menschen, Plakate aus dem Russland der Jahr-hundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert, der Film „Metropolis“, den wir als Entwurf der Massengesellschaft aus dem Jahre 1926 heute mit anderen Augen wieder neu sehen, die Verbindung von topogra-phischem Weltkulturerbe der Reichenau-Klöster mit dem heute auf verschiedene Bibliotheken verteilten Weltdokumentenerbe in Gestalt der einmaligen Handschriften aus ottonischer Zeit – ich breche ab und stelle fest: In diese Vielfalt des Gedächtnisses der Menschheit passt der Briefwechsel Gottfried Wilhelm Leibnizens gut, genauer: sogar sehr gut, weil Leibniz es war, der schon lange vor unserer Zeit, aus dem Grundgedanken der Aufklärung das Wichtige und Richtige gesagt hat: in einer Denkschrift von eigener Hand, gesandt an Herzog Ernst August, und wohlgemerkt: Promemoria betitelt, vom November 1680, schreibt er: „Une Bibliotheque doit estre un inventaire general, un soulagement de la memoire, un Archif imprimé, un raccurci des plus belles pensées des plus grands hommes …“ („Eine Bibliothek soll sein ein allgemeines Inventar, eine Unterstützung des Gedächtnisses,

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24 ein gedrucktes Archiv, ein Abriß der besten Gedanken bedeutender Männer …“; Niedersächsiche Landesbibliothek, LH XL 6 Bl. 26. 1 Bl. 2°. 2 S., zitiert nach Günter Scheel, Drei Denkschriften von Leibniz aus den Jahren 1680 bis 1702 über den Charakter, den Nutzen und die finanzielle Ausstattung der Hannoverschen Bibliothek, in: Die Niedersächsische Landesbibliothek in Hannover: Entwicklung und Aufgaben, hrsg. v. W. Totok u. K.-H. Weimann, Frankfurt 1976, S. 63f).

„Das Leben verstehen,“ sagt Sören Kierkegaard, „heißt, rückwärtig Be-trachtungen vorzunehmen, das Leben aber zu leben heißt, nach vor-ne zu sehen.“ Im global village der Informationsgesellschaft, die nicht selten als Wissensgesellschaft apostrophiert wird und die doch we-sentlich eine Bildungsgesellschaft ist, in dieser Zeit mit ihren gewalti-gen Wachstumsraten des auf Papier oder im Internet veröffentlichten Wissens fragt man sich, wie sich dieses Wissen in Bibliotheken, Ar-chiven und Museen angehäuft hat und wozu diese Informationsflut noch führen mag, die Quantität vor Qualität setzt und bei der man sich zunehmend wie der antike Sisyphos vorkommt, der zwar den Fels den Berg hinauf bewegt, aber am Ende der Schwere des Steins unterliegt.

Die schon früh geäußerte Sorge bzw. Klage über „zuviel Kommunika-tion“, „es sei des Bücherschreibens kein Ende mehr“, liest man schon im Alten Testament, Buch der Prediger, 12,2, und auch Leibniz, für den das gesammelte Wissen, wie gesagt, ein „archif générale de mé-moire“ sein sollte, also ein aus Bibliotheken, Archiven, Kunstkabinet-ten und Museen zusammengesetztes geistig-kulturelles „Gedächtnis“, und Goethe machten sich Sorgen um zu viele Publikationen. Leibniz bezeichnete Sammlungen als „Schatzkammern des menschlichen Geistes“, Goethe als „großes Kapital, das geräuschlos unberechenbare Zinsen spendet“. Beide Bilder entsprechen im Grunde der modernen Auffassung von Gedächtnis als Leistungen des Behaltens (retention), der Erinnerung (recall) und Wiedererkennung (recognition). Und ge-nau an diesem Punkt scheint der pädagogische Ansatz gegeben zu sein, zu Analyse und Kritik zu gelangen, das Unwesentliche vom Wesentlichen zu unterscheiden, Echtheit und Wahrheit zu erkennen lernen: Dies kann „nur“ über einen kontinuierlichen Bildungspro-

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25zess erfolgen, der umso schwerer erscheint, als die Bildhaftigkeit der Informationsvermittlung durch Fernsehkanäle und Internet deutlich zugenommen hat und Schüler heute schnell für bare Münze halten, was ihnen Wikipedia und andere offerieren, und damit leicht in Ge-fahr geraten, bei dieser Form von Beschränkung nicht mehr über den Tellerrand hinausschauen zu können.

Stets ist die Wissensvermittlung in Inhalt und Form evolutionär gewe-sen, stets ist die „Vergangenheit für alle Gesellschaften eine lebendige Vergangenheit gewesen, etwas, was man Tag für Tag, im Leben immer-fort und bis in alle Ewigkeit brauchte“, wie der Historiker J. H. Plumb in seinen Betrachtungen zur Zukunft der Geschichte schrieb. Weiter heißt es bei ihm: „Je belesener und gelehrter eine Gesellschaft ist, desto komplizierter und machtbezogener werden die Zwecke, für welche die Vergangenheit benutzt wird.“ Schon ein anderer, Lessing, hatte früher gemeint: „Die Geschichte soll nicht das Gedächtnis belasten, sondern den Verstand erleichtern.“ Belesener und gelehrter wurde, wurden die Gesellschaft(en), aber gerade deswegen darf es eine kollektive Amne-sie nicht geben. Wir wissen „eben heute nicht, was wir morgen wissen werden“, bemühen wir zum zweiten Male Karl Popper, aber wir haben umso mehr unser Augenmerk auf die Wechselwirkung von Aneignung und Lernen, von individueller und kollektiver Gedächtnisbildung in der Wahrnehmung von Geschichte – und Geschichten zu legen.

Die Verleihung der Urkunde zur Eintragung des Briefwechsels Gott-fried Wilhelm Leibniz’ in das Weltregister des Gedächtnisses der Menschheit ist ein Anlass zum Feiern für alle, die für dieses spezielle

„archif générale de mémoire“ Verantwortung und Sorge tragen: für das Land Niedersachsen als Träger der heute nach dem großen Denker ge-nannten Bibliothek und für die Bibliothek selbst, die sich fachlich um die Aufbewahrung und Nutzung kümmert. Ein solcher Tag bietet aber auch – sicher im Sinne Gottfried Wilhelm Leibniz – Gelegenheit, in die Diskussion zur Kultur und Bildung unserer Zeit einzutreten. Es ist vieles, alles – „panta rhei“ – im Fluss, Gedächtnis und Geschichte, Erinnerung und Wahrnehmung. Das Ziel erinnert aber an den Titel von Leibnizens Denkschrift an Herzog Ernst August: Promemoria. Seit Jahrzehnten und Jahrhunderten.

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26Vier-Spezies-Rechenma-schine von Gottfried Wil-helm Leibniz, gebaut Ende des 17. Jahrhunderts. Erste mechanische Rechenma-schine, die auf 16 Stellen alle vier Grundrechenarten beherrscht. Einziges erhaltenes Original von insgesamt vier gebauten Modellen.

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27Herr Ministerpräsident Christian Wulff, verehrte Festversammlung!

Wir feiern und ehren heute einen Nachlass. Gottfried Wilhelm Leib-niz selbst war ein leidenschaftlicher Sammler von alten Handschrif-ten. Hörte er gar vom Nachlass eines Gelehrten, so war er elektrisiert. (Der heutige Aufwand hätte ihm gefallen.)

Im April 1697 las er in einer alten Handschrift der Bibliothek zu Wol-fenbüttel, die er leitete. Da stand, der Nachlass des berühmten italieni-schen Dichters und Gelehrten Francesco Petrarca, damals schon mehr als 300 Jahre tot, befinde sich „in sacrae aedis fastigio apud equos aë-neos“, also im Giebel des Gotteshauses in der Nähe der Bronzepferde. Leibniz musste nicht lange überlegen. Bronzepferde an einer Kirche? Das konnte nur Venedig sein! Bald mobilisierte er seine Briefpartner in Venedig, doch sie fanden nichts. Leibniz drängte erneut. Dann be-kam er die Nachricht: In einer Kammer auf dem Dachboden des Do-mes zu Venedig habe man etwas gefunden – und es sei tatsächlich der Petrarca-Nachlass. Ein stiller Triumph.

Dem Nachlass von Leibniz, dessen Briefteil wir heute feiern, ist es besser ergangen. Er blieb vollständig beisammen in der kurfürstlichen Bibliothek. Diese Vollständigkeit verdanken wir dem Pedanten Leib-niz, der keinen Entwurfszettel wegwerfen konnte und von jedem sei-ner Briefe, bevor er fortging, eine Abschrift machte. Dass hingegen alles beisammen blieb, verdanken wir der kurfürstlichen Regierung in Hannover. Sie ließ noch in der Nacht, in der Leibniz gestorben war, alle Türen seiner Arbeitsräume versiegeln. Diese Maßnahme war im voraus so festgelegt worden, damit nichts vielleicht Geheimes aus den Zehntausenden von Zetteln des Geheimen Hofrats nach außen drin-gen und keine Interna des Hofes bekannt werden konnten. So segens-reich kann sich behördliches Misstrauen auswirken.

Das Erbe nicht ruhen lassen

In den folgenden Jahrzehnten wurde Leibniz immer berühmter, be-rühmter als zu Lebzeiten, und schon das war ein Grund, nun alles sorgfältig zu verwahren – wie ein Brille im Etui. Im Titel meines Vor-

„Allein was hilft die Brille in ihrem Futteral, wenn niemand durchsieht?“ Das Erbe eines Gedankenerfinders

Dr. Eike Christian HirschJournalist und Literat, Leibniz-Biograph

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28 trags steht: „Allein was hilft die Brille in ihrem Futteral, wenn niemand durchsieht?“ Oder, so steht es im Original: ... wenn niemand dadurch siehet. Das kräftige Bild stammt aus einer deutsch verfassten Schrift von Leibniz, die einige Forderungen erhebt, etwa die, die deutsche Spra-che zu fördern und die Logik. Wir haben sie und sollen sie auch nutzen!

So kann man auch von seinem Nachlass sagen: Was nützte er, läge er nur im klimatisierten Archiv. Ja selbst, wenn er herausgegeben ist, was nützte er, wenn er nicht genutzt würde. Aber das geschieht ja auch. Jedes Jahr kommen allein mehr als ein Dutzend Leibniz-Forscher aus Spanien, Italien, Frankreich, den USA, aus Argentinien, Chile oder Japan hierher, um am noch unveröffentlichten Nachlass zu arbeiten. Und die Veröffentlichung schreitet schneller voran als je.

Bislang sind allein mit Briefen 28 dicke, schwere Bände erschienen, sie enthalten etwa 11.000 Stücke, und lange sind die Herausgeber noch nicht am Ende. Das Geflecht der Korrespondenzen ist ein Ge-samtkunstwerk, ein Wissenschaftsdenkmal. Und schon deshalb eine erstaunliche Leistung, weil es keine Post gab und für die meisten Brie-fe erst ein eigener Weg der Beförderung organisiert werden musste. Die Adressaten reichen vom Handwerker bis zu Königen, die Adres-sen von Stockholm und Moskau bis Peking, von London bis Rom.

Ein Brief nach Peking

Nehmen wir als Beispiel zwei Briefe nach Peking. Leibniz hatte in Rom Jesuiten kennen gelernt, die als Chinamissionare am kaiserli-chen Hof zu Peking Mathematik unterrichteten und den Glauben ver-breiteten. Einem von ihnen gab er einen Brief mit, von dem er hoffte, er werde dem chinesischen Kaiser K’ang-hsi vorgelesen werden, ei-nem kraftvollen Herrscher, der die Mongolen besiegt und mit dem Za-ren von Russland einen Vertrag geschlossen hatte. Dieser Brief, einem Missionar mitgegeben, ist wohl nicht angekommen. Vier Jahre später, 1701, richtet Leibniz einen Brief an den französischen Jesuiten und Missionar in Peking, Joachim Bouvet. Auch dieser Brief wurde einem Missionar anvertraut und war in der Hoffnung geschrieben, er werde dem Kaiser vorgelesen.

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29Leibniz bietet darin viel Mathematik und gibt freimütig Auskunft über neueste europäische Techniken. Als Gegengabe erbittet er Bericht über das streng gehütete Geheimnis der chinesischen Papierherstel-lung und der legendären dortigen Heilkunst. Die Antwort des Jesui-ten und Mathematikers Bouvet fällt enttäuschend aus, geboten wird Leibniz nichts. So erfährt Leibniz nur, dass eine politische Nachricht, die er eingestreut hatte, des Kaisers Ohr erreicht hat, nämlich dass der Zar bei Narva eine Schlacht verloren habe gegen die Schweden. Der Kaiser, dem die Botschaft neu war, zeigte sich erstaunt.

So viel tausende von Briefen, gewechselt mit weit über tausend Kor-respondenten, wahrlich ein Kulturdenkmal. Einer der Herausgeber, Professor Herbert Breger, spricht von einem „Internet der Postkut-schenzeit“, das unsere Ideen von Öffentlichkeit und Fortschritt vor-wegnehme. „Wir finden im Leibniz-Nachlass ein Gründungsdoku-ment der Moderne“, sagt er, und können dabei zuschauen, wie die europäische Rationalität entstand, die sich inzwischen über den Glo-bus ausgebreitet hat.

Gottfried Wilhelm Leibniz galt zu seiner Zeit als ausgemachter Chinakenner und hat sich bemüht, das chinesische Denken, so wenig damals davon bekannt war, zu verstehen. Der chinesische Leibnizforscher Professor Wenchao Li sagt heute, es sei ein Phä-nomen, wie viel Leibniz verstanden habe. „Die Europäer verstehen uns nur sehr schwer“, sagt Li, aber Leibniz sei in das fremdartige Denken eingedrungen. Nicht mit einer hermeneutischen Methode, sondern mit einem Ethos des Verstehenwollens. Dieses Ethos gilt es erst wieder zu erlangen. Also ist Leibniz uns doch manchmal noch voraus.

Ist Leibniz noch aktuell?

Aber sonst? Kann ein Forscher, der vor dreihundert Jahren gelebt hat, noch aktuell sein? Ist das nicht alles nur von wissenschaftshistori-scher Bedeutung, geradezu museal? Die exakten Wissenschaften ent-wickeln sich rasend schnell. Historische Verdienste setzen sehr bald Staub an, eigentlich sofort. So wie auch Erfindungen veralten.

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30 Aktualität, das würde voraussetzen, dass er uns in heutigen, in unge-klärten Streitfragen noch etwas zu sagen hätte.

Damit liegt die Messlatte hoch.

Die Wissenschaftler haben es schwer, grausam schnell geht der Fort-schritt über sie hinweg. Zu sagen „er war der Erste ...“ ist ein Lorbeer, der längst verwelkt ist. Das wird durch nichts mehr erhellt als durch einen Blick auf die Künstler. Nehmen wir einen Rembrandt, der vor Leibniz gelebt hat; er ist nicht museal, obwohl er im Museum hängt. Seine Bilder können uns ergreifen. Oder nehmen wir Johann Sebasti-an Bach, knapp vierzig Jahre nach Leibniz geboren. Er wirkt taufrisch, lebendig und begeisternd.

Aber ein Forscher? Selbst wenn Leibniz der größte Mathematiker sei-ne Zeit gewesen sein sollte, der größte Förderer der Logik, der je ge-lebt hat, es nützt ihm kaum etwas. Wir verneigen uns vor ihm, aber wir sehen oder hören nicht mehr hin.

Seine Aktualität könnte ja nur darin bestehen, dass er uns noch heute einen Rippenstoß versetzt, uns in unserem gewohnten Denken stört, oder eine Tür offenhält, uns gar zu neuen Ufern herausfordert. Tut er das? Ist er so einer? Das wäre die Frage. Was bleibt vom Erbe eines Gedankenerfinders?

Anreger – heute noch?

Die Messlatte liegt hoch. Ich könnte es auch so sagen: Das Zitat, unter das ich diese Überlegungen gestellt habe, lautet ja: „Allein was hilft die Brille in ihrem Futteral, wenn niemand dadurch siehet.“ Und ich möchte Ihnen jetzt eine neue Deutung dieser Überschrift zumuten.

Die Brille ist bekanntlich ein Werkzeug, das uns helfen kann, besser zu sehen und zu erkennen. Könnte das Denken von Leibniz ein sol-ches Werkzeug sein, noch heute? Sollten wir die Methode, den Ansatz von Leibniz vielleicht so bewerten wie ein Werkzeug, das uns auch heute noch besser sehen lässt?

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31Oder anders gefragt: Was hieße es, die Welt mit diesem Werkzeug zu betrachten, das er uns überliefert hat? Mit seiner Brille, die wir nicht im Futteral lassen sollten? Dann ginge es darum zu fragen, was es heute bedeutet, die Welt durch seine Brille zu sehen.

Gegenentwurf zur Moderne

Nun, so eigenwillig war er, uns eine andere Sichtweise zu eröffnen. Bleibt nur die Frage, ob wir uns davon noch anregen, ja herausfordern lassen.

Er hat sich nämlich einen Gegenentwurf zum mechanistischen Welt-bild geleistet. Er tat es zu einer Zeit, als man sich solch eine Opposition noch erlauben konnte, am Anfang unserer modernen Wissenschaft.

Es ist ein energischer Gegenentwurf, der gegen die mechanistische Auffassung von der Natur nicht weniger als den Geist retten wollte, letztlich die Freiheit des Handelns, auch die Seele.

Und sein Entwurf könnte, so scheint mir, noch heute die Alternative zur gewohnten, überaus erfolgreichen Naturwissenschaft sein.

Damit Sie mich nicht missverstehen. Ich meine nicht, dass er damit einfach Recht hätte! Das kann man nicht sagen, denn diese Grund-satzfragen sind noch nicht entschieden. Aber er hat (durch seine Ge-genbehauptung) eine Alternative offen gehalten zur längst bewährten naturwissenschaftlichen Sichtweise. Eine Alternative, die auch heute noch aufs Schönste provokant wirkt.

Der unvergessene Verhaltensforscher Konrad Lorenz hat sich ge-wünscht, ein Wissenschaftler solle jeden Morgen eine eigene Lieblings-idee, also ein mögliches Vorurteil, verspeisen. Gut. Und Leibniz wäre, füge ich hinzu, dabei ein passender Tischgenosse.

Ein Kopf als Gedankenexperiment

Vor vielen Jahren wurde hier im kleinen Kreis diskutiert, ob man in Hannover ein Leibnizdenkmal errichten könnte. Mir fiel dabei ein,

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32 und der Vorschlag ist etwas abwegig, man könnte einen riesigen menschlichen Kopf errichten, der begehbar ist. Und innen rattert, stößt und rumpelt es wie in einer Mühle.

Wenn Sie meine Idee nicht verstehen, so kann ich Ihnen nur Recht geben.

Immerhin mag deutlich sein: Heute ist es wirklich so, Wissenschaftler betreten gleichsam das Gehirn und können ihm – mit den so genann-ten bildgebenden Verfahren – beim Denken zusehen. Die Schlüsse, die sie daraus ziehen (etwa ein Singer oder ein Roth), sind umstritten.

Dazu hat Leibniz in seinem Alterswerk, der Monadologie, Abschnitt 17, ein schönes Bild entwickelt. Man könnte auch von einem Gedan-kenexperiment sprechen. In etwas freier Übersetzung aus dem (fran-zösisch verfassten) Original lautet es so:

„Man stelle sich vor, dass es eine Maschine gäbe, die aufgrund ihrer Bauart denken, fühlen und wahrnehmen könnte. Diese Maschine kann man sich dann vergrößert so vorstellen, dass man in sie wie in eine Mühle eintreten könnte. Dann würde man in ihr nur Teile finden, die einander stoßen, und nichts, was die Leistung einer ‚Wahrneh-mung’ zu erklären vermöchte.“

Mir scheint, es ist ein anschauliches Bild und es ist modern. Heute würden wir vielleicht sagen: Wer das Gehirn betritt, der sieht nur die Synapsen feuern, aber er erblickt nichts, was ein Bewusstsein, ein ‚Ich’ sein könnte, nichts, was unser Denken, unseren Geist begrün-den würde.

Es ist ein Streit um die Ergebnisse der Gehirnforschung. Führende Wissenschaftler sind überzeugt, nun endlich auch beweisen zu kön-nen, dass es „den Geist“ nicht gibt, auch kein Bewusstsein, schon gar keine Seele. Es gibt nur Gehirnfunktionen, die man heute schon weit-gehend sichtbar machen kann. Und diese Gehirnfunktionen beruhen auf Nervenreizen, letztlich sind sie Biochemie. Es gibt kein Ich und keinen freien Willen, das ist alles Illusion.

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33Man weiß, es ist schwer, dagegen zu halten. Erdrückend scheint der Beweis, dass naturwissenschaftliche Vorgänge unseren geistigen Leis-tungen zugrunde liegen, ja diese Leistungen sind. Doch auch hier haben alle, die nach einem anderen Konzept suchen, ihren Patron und Schutzheiligen in Leibniz. Er hat – auch mit seinem Gedanken-experiment – den Weg veranschaulicht. Seine Einsicht könnte man so zusammenfassen: „Wer mit Methoden der Naturwissenschaft forscht, wird immer nur naturwissenschaftliche Vorgänge finden.“ Er schreibt dazu im selben Abschnitt der Monadologie, das Denken sei „durch mechanische Gründe ... nicht erklärbar“.

Leibniz hat also schon gewusst: Wer das Gehirn betritt, der wird den Geist nicht finden. Und wir können nun zu den Gehirnforschern sa-gen: „Warum wundert ihr euch? Ihr werdet nur Teile finden, die ein-ander stoßen. Das wusste schon Leibniz.“

Soweit das Gedankenexperiment. Es erscheint mir wie ein Denkmal seiner Modernität.

Worin besteht denn nun sein Gegenentwurf, seine Alternative?

Treten wir einen Schritt zurück vom riesigen Kopf, der eine Mühle ist, und fragen wir uns, worin die Alternative denn nun grundsätzlich besteht, die Leibniz eröffnen wollte.

Er hat offenbar das Verdienst, einen Gegenentwurf zum aufkommen-den mechanischen Weltbild entwickelt zu haben, der bis heute provo-ziert.

Seine erste Behauptung war: Es gibt neben der mechanisch-determi-nistischen Welt der Natur (und der Naturwissenschaft) noch eine geis-tige Welt. Diese Behauptung war schon schlimm genug.

Noch kühner war ihre Steigerung: Die geistige Welt ist wichtiger. Denn nicht der Geist kommt aus der Materie, sondern die Materie beruht auf dem Geist.

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34 Leibniz konnte für sich in Anspruch nehmen, ein nüchterner und erfolgreicher Naturwissenschaftler zu sein, der dieser Wissenschaft mit der Infinitesimalrechnung das mathematische Rüstzeug gegeben hatte. Aber er war eben in beiden Welten zu Hause, in der Mechanik und in der Metaphysik.

Das hat er am Ende seines Lebens in einem Brief an einen Anhän-ger seiner Philosophie mit eigenen Worten so gesagt: „Ich schmeichle mir, in die Harmonie der verschiedenen Reiche eingedrungen zu sein und erkannt zu haben, dass beide Parteien recht haben, vorausgesetzt, dass sie gegenseitig ihre Kreise nicht stören, dass also alles in den Naturerscheinungen gleichzeitig auf mechanische und auf metaphy-sische Weise geschieht, dass aber die Quelle der Mechanik in der Me-taphysik liegt.“

Er war also „in die Harmonie der verschiedenen Reiche eingedrun-gen“. Mir liegt daran, an dieser Stelle eine kleine Warnung auszuspre-chen. Wir nennen Leibniz gern ein Universalgenie. Das könnte so klingen, als habe er Wissen aufgehäuft, im besten Fall überall zugleich geforscht. Diese Deutung tut ihm Unrecht. Viel zu wissen, überall zu forschen, das macht niemanden zum Genie. Nein, er suchte die Ein-heit von Natur- und Kulturwissenschaft. Die Einheit der Wissenschaft also, die schon damals zu zerbrechen begann. Er verkörperte diese Einheit, aber vor allem: Er wollte sie fundieren. Sein Denken ist der Versuch, diese Einheit zu stiften – letztlich die Einheit von Natur und Geist. Das allein macht ihn zum Genie.

Er stand gut da im 20. Jahrhundert

Mir scheint, dass Leibniz, nehmen wir ihn einfach ’mal als Physiker, mit seiner grundsätzlichen Alternative zur herkömmlichen Naturwis-senschaft nicht nur dem Fortschritt hinterher lief – sozusagen als ewi-ger Zweiter. Nein, er stand nach den großen Umbrüchen in der Physik des 20. Jahrhunderts, sagen wir es salopp, nicht schlecht da.

Leibniz hatte bekanntlich als kleinste Bausteine der Wirklichkeit seine Monaden gesehen, gleichsam Geistpunkte, Seelenfunken. Zu seinen

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35Zeiten favorisierten führende Forscher die Vorstellung vom Atom. Sie dachten dabei an harte Kügelchen mit Haken und Ösen (Entschuldi-gung, das ist jetzt etwas polemisch gesagt).

Bis vor hundert Jahren schien es, als hätte sich Leibniz total geirrt. Dann brach das alte Bild vom Atom zusammen. Niels Bohr machte das Atom zu einer unvorstellbaren, fast abstrakten Größe. Schließlich lösten sich die Elementarteilchen auf in eine Wolke von Formeln. Je-denfalls ist es erlaubt zu vermuten, dass die wahren Elementarteilchen mehr Ähnlichkeit mit einer Monade haben als mit dem herkömmli-chen Atom der klassischen Physik.

Leibniz hatte eben schon gesehen: Die Materie kann nicht im Letzten und Kleinsten immer noch aus Materie bestehen.

Bei manchem Physiker des vorigen Jahrhunderts war die Welt der Mo-naden auch deshalb wieder beliebt, weil es eine Welt von Subjekten ist, nicht von Objekten unserer Beobachtung. Es ist eine dezentral gesteu-erte Welt. Immer wenn die kleinsten Bausteine sich im Experiment ziemlich selbstständig zu benehmen schienen, lag es nun nahe zu fragen: Sind sie nicht doch Monaden?

Ebenso hat Leibnizens Behauptung, wir lebten in der besten aller möglichen Welten, neue Freunde gefunden, als sich die Theorie vom Urknall allmählich bestätigte. Da zeigt sich ein verblüffender Gleich-klang mit seiner Idee, die Welt sei ein optimales Modell.

Nicht immer recht. Dafür unbegreiflich

Nun sollte ich erneut dem Missverständnis vorbeugen: Nein, ich will keineswegs den Eindruck erwecken, Leibniz habe einfach Recht oder auch nur meistens Recht. Das kann man gar nicht wissen, weil vie-les noch unentschieden ist; zudem kommt es aufs Rechthaben kaum an. Seine Funktion ist die einer anregenden Herausforderung. Er ist der Beweis dafür, dass man die Welt auch anders denken kann als die erfolgreiche Naturwissenschaft, und zwar ebenso rational und ra-dikal. Doch, man muss es zugeben, seine eigene Weltsicht ist kaum

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36 begreiflich. Auch das ist gut so. Die Monadenlehre geht nicht auf. Was vielleicht ein Vorteil ist. Sein Entwurf ist alles andere als ein geschlos-senes System.

Der amerikanische Physiker Lee Smolin – um wenigstens einen der Leibnizverehrer unter den Naturwissenschaftlern zu zitieren – rühmt Leibniz als einen Denker, der die objektive Unerkennbarkeit der Welt vorgedacht hat, indem er sie vielfältig und komplex sein ließ. Leibniz habe zudem eine Theorie ohne Absolutheit entwickelt.

Ja, sein Weltbild ist nicht festgezurrt. Sein System ist flexibel, es kennt den inneren Widerspruch. „Die losen Enden“, sagt Leibnizforscher Herbert Breger, „hängen gleichsam noch heraus.“

Seine Monadenlehre wirkt auf manchen daher wie nicht zu Ende ge-dacht. Eher faszinierend als verständlich. Von Niels Bohr, dem tiefs-ten Denker der Quantenmechanik, wird jedoch überliefert, er habe jüngeren Kollegen, die ihm ihre Ideen vortrugen, geantwortet: „Ihre Theorie ist verrückt, aber ich fürchte, sie ist nicht verrückt genug!“ Es könnte sein, füge ich hinzu, dass die Theorie von den Monaden doch verrückt genug ist.

Leibniz ist ein Visionär. Einer, der uns allen heute noch die Möglich-keit eröffnen will, an Geist und Freiheit zu glauben. Diesen Weg we-nigstens offen gehalten zu haben, ist ein Verdienst im Zeitalter der Naturwissenschaft.

Ein Wegweiser

Zum Schluss sei an einen anderen Außenseiter der Physik erinnert, an Johann Wolfgang Goethe und seine Farbenlehre. Über ihn als Na-turwissenschaftler schrieb Carl Friedrich von Weizsäcker, und das will ich nun auf Leibniz angewandt wissen, diese schönen Worte:

„Erst aus der Ferne erkennen wir, dass sein Licht nicht das des Leucht-turms ist, der den Hafen anzeigt, sondern das (Licht) eines Sterns, der uns auf jeder Reise begleiten wird.“

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37Herr Ministerpräsident, Herr Minister, Mrs. Springer, verehrte Vor-redner, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freunde!

Diese Anerkennung durch eine weltumspannende Organisation hätte ihm gefallen, und sicher hätte ihm auch dieses Fest heute zu seinen Ehren gefallen. Es hätte ihm gefallen – ihm, der doch Zeit seines Le-bens Anerkennung durch die gelehrte wie die politische Welt suchte. Und die ist ihm ja auch zuteil geworden – wenn es seiner Meinung nach wohl durchaus auch hätte etwas mehr sein dürfen. Aber nicht zufällig heißt die große Biographie unseres heutigen Festredners

„Der berühmte Herr Leibniz“.

Es scheint allerdings, dass diese Berühmtheit gegen Ende des 20. Jahr-hunderts nur noch begrenzt vorhanden war, jedenfalls in der deutschen Öffentlichkeit. Dass in unserer Bibliothek sein schier ungeheurer Nach-lass aufbewahrt wird, war zum Beispiel bis vor wenigen Jahren – man glaubt es kaum – nicht einmal allen Berufskollegen bekannt.

Wie könnte man dies ändern? Anfang des Jahres 2003 ließ mir diese Frage im Wortsinn keine Ruhe mehr. Und eines Nachts stand blitzar-tig der Begriff „UNESCO-Weltdokumentenerbe“ vor den geschlosse-nen Augen.

Aber natürlich! Leibniz – der weltweit Briefvernetzte! Leibniz – das Universalgenie, in nahezu allen Wissenschaften seiner Zeit zu Hause!Leibniz – der vehement die Einrichtung von Archiven und Bibliotheken gefordert hatte! Leibniz – der selbst der Erfinder der Welterbe-Idee hätte sein können!Wer also könnte besser zum Weltdokumentenerbe-Programm der UNESCO passen als er!

Noch in derselben Woche ging ein Bericht an den Niedersächsischen Minister für Wissenschaft und Kultur. Darin wurde die Idee vorge-tragen, bei der Deutschen UNESCO-Kommission einen Antrag zu

Danksagung des Direktors der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek im Anschluß an die Übergabe der UNESCO-Urkunde

Dr. Georg Ruppelt

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38 stellen. In diesem Antrag sollte die Aufnahme des Leibniz-Nachlasses oder von Teilen seines Nachlasses in das Memory of the World-Regis-ter beantragt werden. Der Minister begrüßte den Plan und informier-te das Kabinett.

Die Niedersächsische Landesregierung, Herr Ministerpräsident, stand unserem Antragsprojekt von Anfang an äußerst positiv gegenüber. Auch unser Antrag von 2004 auf Umbenennung der Bibliothek, der damit im Zusammenhang stand, wurde vom Wissenschaftsministe-rium innerhalb von wenigen Tagen positiv entschieden. Mein erster großer Dank geht also an die Niedersächsische Landesregierung, an Sie, Herr Ministerpräsident, und insbesondere an Minister Stratmann, Staatssekretär Dr. Lange, Frau Dr. Schwandner und Frau Fliess.

Wie nun den Antrag stellen? Wir wurden dabei auf das Vorzüglichs-te beraten von der Deutschen UNESCO-Kommission. In zahlreichen persönlichen Gesprächen bekamen wir wertvolle Hinweise. Herzli-chen Dank Ihnen, liebe Frau Merkel, für Ihre Geduld und Ihre zahl-reichen Anregungen.

Als es ein wenig schwierig zu werden schien, wandte ich mich an den Präsidenten der Deutschen UNESCO-Kommission, Herrn Wirt-schaftsminister Hirche, und an den Vorsitzenden des UNESCO-No-minierungskomitees, Professor Leonhard. Ich danke beiden für ihre klugen Ratschläge. Sie haben uns nicht nur wirklich geholfen, son-dern sie haben uns auch in unserem Vorhaben bestärkt.

Ein solcher Antrag bedarf natürlich einer kompetenten Aufarbeitung und einer zureichenden Begründung. Dazu haben Herr Dr. Thomas Fuchs, heute Leipzig, und Frau Dr. Karin Hartbecke, heute Bielefeld, Wesentliches beigetragen. Zum wiederholten Male und diesmal auch öffentlich: Herzlichen Dank den beiden Kollegen!

Ein ebenso herzlicher Dank geht an Professor Wenchao Li von der Potsdamer Leibniz-Editionsstelle. Sie, lieber Herr Li, haben uns bei ei-ner Nachfrage durch Ihre globalen wissenschaftlichen Verbindungen sehr geholfen.

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39Ich danke den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bibliothek, die sich unserer Sache mit Engagement gewidmet haben. Ich danke den Damen und Herren des hannoverschen Leibniz-Zirkels. Sie haben mit uns gebangt, und nun feiern wir gemeinsam. Ich danke den Medien, die unsere Anstrengungen immer aufmerksam verfolgt und darüber berichtet haben.

Und ich danke Ihnen allen, meine sehr verehrten Damen und Herren, dass Sie heute der UNESCO, dass Sie dem Land Niedersachsen, dass Sie unserer Bibliothek und vor allem dass Sie Gottfried Wilhelm Leib-niz durch Ihre Gegenwart die Ehre erweisen.

Die Bibliothek – meine Damen und Herren – ist stolz auf diese wun-derbare Auszeichnung. Sie sieht sie vor allem als Verpflichtung ge-genüber dem großen Leibniz an. Und wir werden uns, das verspreche ich Ihnen, keinesfalls auf dieser Ehre ausruhen – ganz in Leibnizens Sinne, der ja die Ruhe als eine Stufe zur Dummheit bezeichnet hat.

Bei der Bewältigung der kommenden Herausforderungen können wir uns dankenswerterweise der Unterstützung des Ministeriums für Wissenschaft und Kultur sicher sein. Wir freuen uns auf die neu-en Aufgaben, denen wir uns in bewährter Zusammenarbeit mit den Akademien in Berlin–Brandenburg und Göttingen intensiv widmen wollen.

Umfangreiche Hilfe erfahren wir aber auch von dritter Seite. Ein Dank geht an dieser Stelle an die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die VGH und die VGH-Stiftung. Sie haben alle drei bereits großzügig Mit-tel bereitgestellt!

Lassen Sie mich schließen mit Eike Christian Hirsch – und mit Goethe. Die letzten Sätze der eingangs schon erwähnten Biographie lauten:

„Er [Leibniz] zog ein in das Reich des Geistes und der Gnade, dessen Bürger er schon lange war. Und von dort, so scheint es uns, wirkt er bis heute als der, der er immer hatte sein wollen, als ein Lehrer der Menschheit.“

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40 Und Goethe forderte in einem Gedenken an seinen Freund Schiller:

„So feiert ihn! Denn, was dem Mann das LebenNur halb erteilt, soll ganz die Nachwelt geben!“

Lassen Sie uns dieser Aufforderung auch im Namen von Gottfried Wilhelm Leibniz nachkommen!

Gottfried Wilhelm Leibniz (1676–1716)

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Der Leibniz-Briefwechsel

Dr. Georg Ruppelt

Leibniz-Briefe im UNESCO-Weltdokumentenerbe

Am 15. Juni 2007 informierte die Deutsche UNESCO-Kommission die Öffentlichkeit in einer Pressemitteilung darüber, dass der Brief-wechsel von Gottfried Wilhelm Leibniz in das Register des UNESCO-Weltdokumentenerbes aufgenommen würde. Die Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek und ihre zahlreichen Kooperationspartner nahmen diese Nachricht ebenso begeistert auf wie nationale und internatio-nale Medien. Endlich, so lautete der Tenor zahlreicher Glückwunsch-schreiben aus aller Welt, werde der für viele Wissenschaften so grund-legende Universalgelehrte auch von der internationalen Öffentlichkeit in seiner Bedeutung bewusst wahrgenommen.

Die Vorbereitungen für den Aufnahmeantrag hatten im Sommer 2003 begonnen. Der Direktor der Niedersächsischen Landesbibliothek (seit Januar 2005 heißt sie Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek), dessen Anliegen es seit seinem Dienstantritt 2002 war, Leibniz wieder in das Bewusstsein auch einer breiteren Öffentlichkeit zu heben, beantragte bei der Deutschen UNESCO-Kommission in Bonn mit einer ausführ-lichen Begründung, den Leibniz-Briefwechsel zur Aufnahme in das Weltdokumentenerbe vorzuschlagen. Die Entscheidung der Kommissi-on fiel positiv für den Antrag der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek aus und setzte sich damit gegen einige konkurrierende Anträge durch.

Der Briefwechsel

Der Briefwechsel des Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) bildet ein einmaliges Dokument der frühneuzeitlichen Gelehrtenrepublik. Mit rund 15.000 Briefen an etwa 1.100 Korres-pondenzpartner verschiedener sozialer Schichten stellt er eine unver-gleichliche Informationsquelle für Wissenschaft und Kultur, Politik und Alltagsleben zwischen Barock und Aufklärung dar. Die Korrespondenz spiegelt die Annäherung Russlands an Europa in der Zeit Zar Peters I. ebenso wider wie den frühneuzeitlichen Kulturaustausch mit China oder bahnbrechende wissenschaftlich-technische Entwicklungen der Zeit. Das Themenspektrum reicht von Philosophie, Theologie und Po-

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42 litik über Geschichte, Mathematik, Physik bis zu Sprachwissenschaft, Medizin und Musiktheorie. Briefeschreiben hatte für Leibniz mehr als die Bedeutung, die Telefonate oder der Austausch von E-Mails heute für uns haben; es war seine Form des Kommunizierens. Wenn sehr viel später einmal Heinrich von Kleist über die „allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ schreiben wird, so mag man für Leibniz ergänzen: und beim Briefeschreiben.

Dass Leibniz schreibend gedacht hat und seine Gedanken sozusagen im Fluss zu Papier brachte, macht seine nachgelassenen Papiere zu einem einmaligen Dokument für den Entstehungsprozess seiner Ge-danken. Zudem hat Leibniz kein Hauptwerk geschrieben, das seine Ideen systematisch zusammenfassen würde. Seine Bemerkung ge-genüber einem Briefpartner „Wer mich nur aus meinen veröffentlich-ten Schriften kennt, kennt mich nicht“ bestätigt, dass der Nachlass selbst sein Lebenswerk darstellt.

Wie kaum ein anderer Gelehrter war Leibniz also ein Mann der Kom-munikation und der Vermittlung. So wurde Hannover zum Zentrum eines weltweiten wissenschaftlichen Netzwerkes.

Der Nachlass

Der Nachlass Leibniz’, der sich in der nach ihm benannten Bibliothek in Hannover befindet, dürfte einer der umfangreichsten und vielseitigs-ten Nachlässe überhaupt sein. Unmittelbar nach Leibniz’ Tod wurde er vom englischen König Georg I. beschlagnahmt, weil dieser befürchtete, dass eventuell enthaltene politische Interna (etwa im Zusammenhang mit der englischen Thronfolge des Hauses Hannover) in die Öffentlich-keit gelangen könnten. So ist der Nachlass in seltener Geschlossenheit überliefert. Er umfasst rund 50.000 Stücke in etwa 200.000 Blättern, darunter die genannten Briefe – eine schier unglaubliche Zahl für die Hinterlassenschaft eines einzelnen Menschen! Die Internationalität von Leibniz’ Denken schlägt sich schon äußerlich in der Sprache der Nachlasspapiere nieder: Rund 40 % sind in Latein, rund 30 % in Fran-zösisch und rund 15 % in Deutsch verfasst; einzelne Texte liegen in Englisch, Italienisch und Niederländisch vor. Der Leibniz-Nachlass ist

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43bislang zu großen Teilen unveröffentlicht. Unter der Ägide der Göttin-ger und der Berlin-Brandenburgischen Akademien der Wissenschaften wird in Hannover, Münster, Berlin und Potsdam an seiner Herausgabe gearbeitet. Die größte Editionsstelle, das so genannte Leibniz-Archiv, ist eine Abteilung der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek.

Universelles Wissen

Leibniz’ Gedankenwelt bildet eine der wichtigsten geistigen Schnitt-stellen, in deren Umfeld das Denken des Mittelalters und der Antike in die europäische Neuzeit vermittelt wird. Auch wenn die Rezeption seiner Ideen aufgrund des Fehlens eines publizierten Gesamtwerkes bis heute erschwert wird, ist sein Einfluss auf Wissenschaft und Auf-klärung des 18. Jahrhunderts außerordentlich groß. Zeitgleich mit Newton, aber unabhängig von diesem, entwickelte Leibniz die Diffe-rential- und Integralrechnung und legte damit einen der Grundstei-ne moderner Mathematik und Technik. Dem Historiker Leibniz, der sich jahrzehntelang intensiv mit der Geschichte der Welfendynastie befasste, verdankt die quellenkritische Geschichtsforschung wichtige Impulse. In seiner Philosophie verband Leibniz die logische, meta-physische und wissenschaftliche Ergründung der Welt mit den mo-ralischen Fragen der Menschheit. Sein Harmoniestreben und seine Suche nach einem Ausgleich widerstreitender Perspektiven werden nicht nur in seinem philosophischen Denken, sondern auch in sei-nen Bemühungen um eine Reunion der christlichen Konfessionen deutlich. Über die Grenzen der einzelnen Fächer hinaus war Leibniz eine zentrale Gestalt der wissenschaftlichen Gemeinschaft. Sein Le-benswerk verkörpert die Universalität des Wissens seiner Zeit.

Weltweite Kontakte

Zusätzlich zu seiner vielseitigen und internationalen Korrespondenz nutzte Leibniz seine ausgedehnten Reisen (vier Jahre Aufenthalt in Pa-ris, ein Jahr in Italien, Stationen in den Niederlanden und in England) zum Ausbau seiner weltweiten Kontakte. Leibniz’ Interesse an Harmo-nie, Kommunikation, Austausch und Vermittlung zwischen den Völ-kern, Kulturen und Religionen kommt auch in seiner Korrespondenz

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Die Karte von Leibniz’ Korrespon-denten zeigt die eu-ropäischen Ausmaße, das breite inhaltliche Spektrum seiner Korrespondenz. Der Schwerpunkt liegt dabei in den europä-ischen Hauptstädten London, Paris, Wien, Berlin und Dresden.

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46 mit jesuitischen Missionaren in China zum Ausdruck, die sich über ei-nen Zeitraum von 20 Jahren hinzog. In einem Brief an die Kurfürstin Sophie verglich Leibniz sich gar mit einem „Adressenbüro für China“. Über die Jesuiten in Peking arbeitete Leibniz auf einen wechselseitigen europäisch-chinesischen Austausch wissenschaftlicher Erkenntnisse, praktischer Erfahrungen und technischer Erfindungen hin. Beispiels-weise schlug er vor, dass junge Chinesen nach Europa kommen und die Europäer unterrichten sollten. In ähnlichem Sinne bedauerte er, dass das Studium der arabischen Sprache in Europa zu wenig betrieben werde.

Das Memory of the World-Programm der UNESCO

Die Eintragung in das Weltdokumentenerbe ist nicht nur eine An-erkennung der Bedeutung des Leibnizschen Briefwechsels und der Arbeit der Bibliothek. Es ist auch eine Verpflichtung im Sinne des UNESCO-Programms. Dieses wurde 1992 zum Erhalt des dokumen-tarischen Erbes der Menschheit ins Leben gerufen. Mit dem Weltdo-kumentenerbe soll ein umfassendes digitales Netzwerk mit ausge-wählten herausragenden Zeugnissen des Menschheitsgedächtnisses geschaffen werden: wertvolle Buchbestände, Handschriften, Partitu-ren, Bild-, Ton- und Filmdokumente – Unikate eben. Das Programm verfolgt drei Hauptziele, deren Durchsetzung und Verwirklichung den Träger-Institutionen der Dokumente obliegt:

1. Erhalt des Weltdokumentenerbes mit den geeigneten Techni-ken; dies kann durch direkte praktische Hilfe, Information, Bera-tung und Förderung der Aus- und Fortbildung geschehen.

2. Allgemeiner Zugang zum dokumentarischen Erbe; dies bein-haltet die Förderung von digitalisierten Kopien und Katalogen im Internet sowie von Veröffentlichungen und deren Verbrei-tung. Öffentlicher Zugang in physischer, digitaler oder anderer Form soll stark gefördert werden.

3. Weltweit soll das Bewusstsein für die Bedeutung und Bedro-hung des dokumentarischen Erbes gestärkt werden. Schutz und

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47Zugang sollen sich gegenseitig ergänzen: Zugang verstärkt das Bewusstsein für die Dringlichkeit des Erhaltes und Schutzes des dokumentarischen Erbes.

Nach der Aufnahme des Leibniz-Briefwechsels ist Deutschland nunmehr mit zehn Einträgen im MoW-Register vertreten (vgl. www.unesco.de/mow-deutschland): 1999 wurden die historischen Bestän-de des Phonogrammarchivs bei der Stiftung Preußischer Kulturbe-sitz in Berlin anerkannt. 2001 kamen hinzu: Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks um 1450 (gemeinsam aufgenommen mit der kore-anischen Buchdruckerfindung von 1377), der literarische Nachlass Goethes, Beethovens 9. Sinfonie, die die Musikgeschichte nachhal-tig beeinflusst hat, und Fritz Langs Stummfilmklassiker „Metropolis“ von 1925/26 als filmische Umsetzung eines architektonischen Zu-kunftsbildes der Stadt. 2003 wurden die Rei-chenauer Handschriften aus ottonischer Zeit in das Register aufgenommen, 2005 dann die Hausmärchen der Brüder Grimm und als gemeinsamer amerikanisch-deutscher Beitrag die Waldseemüllerkarte von 1507 der Library of Congress, Washington. Als Ge-meinschaftsnominierung mit Ungarn, Belgi-en, Frankreich, Italien und Österreich wurde die berühmte Renaissance-Bibliothek des Mathias Corvinus (Biblio-theca Corviniana) 2005 in das Register aufgenommen, 2007 dann befürwortete das internationale Beraterkomitee die Aufnahme des Leibniz-Briefwechsels. Mit dem Weltdokumentenerbe-Programm der UNESCO wird in gewisser Weise eine Forderung von Leibniz selbst weltweit anerkannt, nämlich die Forderung, Sammlungen wie Archive und Bibliotheken als Schatzkammern des Geistes und des Menschheitsgedächtnisses einzurichten. Seine eigenen Worte über den Nutzen einer Bibliothek bringen gewissermaßen auch das Ziel des MoW-Projekts auf den Punkt:

„Der Nutzen einer auserlesenen Bibliothek kann nicht in Zweifel gezo-gen werden. Man findet darin gleichsam einen Auszug dessen, so Gott und der menschliche Verstand gewirket.“

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Leibniz-Handschriften

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Transkription

Leibniz an Otto von Guericke17. August 1671LBr 341 Bl. 11r

Leibniz, Akademie-Ausgabe, Reihe II, Bd. 1, 2. Aufl. 2006.

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Leibniz-Handschriften

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Transkription

Leibniz an Isaac Newton7./17. März 1693LBr 684 Bl. 1r

Leibniz, Akademie-Ausgabe, Reihe III, Bd. 5, 2003.

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Leibniz-Handschriften

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Transkription

Leibniz an Kurfürstin Sophie Charlotte von Brandenburg27. April (7. Mai) 1699LBr 389 Bl. 140r

Leibniz, Akademie-Ausgabe, Reihe I, Bd. 17, 2001.

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Leibniz-Handschriften

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Transkription

Leibniz an Joachim Bouvet15. Februar 1701LBr 728 Bl. 96r

Leibniz, Akademie-Ausgabe, Reihe I, Bd. 19, 2005.

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Die GWLB ist eine moderne Regionalbibliothek mit bedeutenden histo-rischen Beständen. Zu ihrem wertvollsten Besitz gehören Handschriften, die bis in das achte Jahrhundert zurückreichen, Nachlässe, alte Drucke und Sondersammlungen.

Eine über dreihundertjährige Entwicklung führt von der 1665 gegründe-ten Hofbibliothek des Welfenhauses über die Königliche und Provinzi-albibliothek zur Landes- und Forschungsbibliothek des 21. Jahrhunderts, die ihren heutigen Namen Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek im Jahr 2005 erhielt.

Als eine der zentralen Wissenschafts-, Kultur- und Bildungseinrichtungen Niedersachsens stellt sich die GWLB den Herausforderungen der moder-nen Informationswelt. Mit einem Bestand von fast zwei Millionen Medien, über 7.500 Zeitschriften und ausgestattet mit neuester Informationstech-nologie gehört sie zu den bedeutendsten Bibliotheken in Norddeutschland.

Die alten Bücher, Zeitungen und Zeitschriften der ehemals Königlichen Bibliothek (bis 1866) bilden einen hervorragenden Fundus an Quellenwer-ken zur Wissenschafts- und Kulturgeschichte seit dem Mittelalter.

Zu ihren wertvollsten Beständen gehört der Nachlass des Universal-gelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), der vier Jahrzehnte in Hannover wirkte und neben seinen vielen Aufgaben bei Hofe auch die Bibliothek leitete. In der Bibliotheksabteilung Leibniz-Archiv wer-den die Manuskripte aus seinem umfangreichen Nachlass im Auftrag der Göttinger Akademie der Wissenschaften ediert. 2007 nahm die UNESCO den 15.000 Briefe umfassenden Briefwechsel, den Leibniz mit rund 1.100 Personen, darunter viele Gelehrte und Fürsten, geführt hatte, als zehnten deutschen Beitrag in das Weltdokumentenerbe auf.

Als Regionalbibliothek sammelt, archiviert und erschließt die GWLB im Rahmen ihres gesetzlichen Auftrags (Pflichtexemplarrecht seit 1737) alle in Niedersachsen erscheinenden Publikationen, neben Büchern auch Zei-

Hofbibliothek

Zwei Millionen Medien

Kulturgeschichte

Leibniz-Nachlass

Pf lichtexemplarrecht

Die Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek –Niedersächsische Landesbibliothek (GWLB)

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58 tungen, Zeitschriften und andere Drucksachen. Ebenso wird das Schrift-tum über Niedersachsen umfassend gesammelt, in der Niedersächsischen Bibliographie verzeichnet und im Internet weltweit zur Verfügung gestellt.

Als wissenschaftliche Allgemeinbibliothek und Informationszentrum ver-sorgt die GWLB alle interessierten Bürgerinnen und Bürger. Ihre Sammel-schwerpunkte liegen im Bereich der Geisteswissenschaften, insbesondere in der Philosophie und der Geschichte.

Mit ihrem breit gefächerten Kulturprogramm, mit Ausstellungen, Vorträ-gen, Lesungen, Bücherfesten ebenso wie mit wissenschaftlichen und allge-meinbildenden Tagungen leistet die GWLB einen Beitrag zur kulturellen Identität Niedersachsens und verbindet dabei Tradition und Moderne.

Die Abteilung „Zentrum für Aus- und Fortbildung“ plant, koordiniert und organisiert landesweit die Ausbildung der Nachwuchskräfte für Biblio-theks- und Informationseinrichtungen sowie die Fortbildung in diesem Bereich.

Die „Akademie für Leseförderung der Stiftung Lesen an der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek“ veranstaltet Seminare für Multiplikatoren und unterstützt die Bildung von Lese-Netzwerken in Norddeutschland.

Mehrere eigenständige kulturelle Einrichtungen haben ihren Sitz in der GWLB, so der Landesverband Niedersachsen des Deutschen Bibliotheks-verbandes (DBV), der die Interessen der öffentlichen und wissenschaft-lichen Bibliotheken vertritt, die internationale Leibniz-Gesellschaft und der Freimaurerische Bibliotheksverein, der den Bestand alter und neuer Literatur zur Geschichte der Freimaurerei in Deutschland und Europa ausbaut und die wissenschaftliche Forschung zur Freimaurerei fördert.

Von großer Bedeutung für die GWLB ist der 2003 gegründete gemein-nützige Verein der Freunde und Förderer der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek e. V. (www.gwlb-freunde.de).

Geisteswissenschaften

Kulturprogramm

Aus- und Fortbildung

Leseförderung

Kulturelle Einrichtungen

Freunde und Förderer

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Der Briefwechsel aus dem Nachlass von Gottfried Wilhelm Leib-

niz stellt ein einzigartiges Zeugnis der europäischen Gelehr-

tenrepublik im Übergang vom Barock zur frühen Aufklärung

dar. Er umfasst mit rund 15.000 Briefen von und an weltweit

rund 1.100 Korrespondenten alle wichtigen Bereiche der Wis-

senschaften. Leibniz etablierte so ein Kommunikationsnetz, wel-

ches Hannover zu einem Mittelpunkt der wissenschaftlichen

Gemeinschaft werden ließ.

ISBN 978-3-8271-8900-4