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REZENSIONEN Uta Gerhardt hat ein bemerkenswertes Buch über Talcott Parsons, den bedeutendsten US-amerikanischen Soziologen des 20. Jahrhunderts, geschrieben. Es ist ein wunderba- res Buch. Erstmals bekommen wir das Werk dieses Denkers in seiner Gesamtheit und in seiner Genese in den Blick. Wir können sehen, was es bedeutet, die Soziologie methodo- logisch zu begründen. Denn Parsons musste aufgrund fortdauernden sozialen Wandels die Analyse sozialer Strukturen und Prozesse drei Mal neu beginnen. Das 20. Jahrhundert kennt nicht nur die Entfaltung freier, demokratischer Gesellschaften unter Bedingungen hoher Technisierung, Industrialisierung und institutionalisierter Bildung. Es kennt auch Zusammenbrüche, den Verlust der Freiheit im Totalitarismus der nationalsozialistischen und kommunistischen Herrschaft. Diese doppelte Perspektive auf die Gesellschaftsent- wicklung muss bei Parsons verstanden werden, will man seinem Werk gerecht werden. Sie hält sich in allen Phasen durch, wird aber immer wieder neu, unter veränderten sozia- len, politischen und ökonomischen Bedingungen formuliert. In den 1930er Jahren war es der Gegensatz von Demokratie in Amerika und Nationalsozialismus in Deutschland, in den 1950er Jahren war es die Krise der McCarthy-Zeit und in den 1970er Jahren war es die Auseinandersetzung mit dem Apartheid-Regime in Südafrika und mit dem Watergate- Skandal unter der Präsidentschaft Nixons. Gerhardt nimmt ebenfalls eine doppelte Perspektive ein. Zum einen zeigt sie in genauer Werkanalyse die wesentlichen theoretischen Konzepte, die Parsons entwickelte, und weist nach, wie er eine Fülle von Einsichten aus anderen Disziplinen in seinen ana- lytischen Rahmen integrierte und welche Phänomene der Wirklichkeit er damit in den Griff zu bekommen suchte. Zum anderen zeigt sie, wogegen sich Parsons wandte, wenn er die moderne, methodologisch begründete Sozialwissenschaft erarbeitete und vertei- digte. Methodologisch begründet heißt bei Parsons wie bei Weber, dass empirische Tat- Österreich Z Soziol (2013) 38:319–322 DOI 10.1007/s11614-013-0089-z Uta Gerhardt (2011): The Social Thought of Talcott Parsons. Methodology and American Ethos Farnham und Burlington: Ashgate, 444 Seiten, € 87,– Christopher Schlembach Online publiziert: 22.08.2013 © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 C. Schlembach () Institut für Soziologie, Universität Wien, Rooseveltplatz 2, 1090 Wien, Österreich E-Mail: [email protected]

Uta Gerhardt (2011): The Social Thought of Talcott Parsons. Methodology and American Ethos

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Rezensionen

Uta Gerhardt hat ein bemerkenswertes Buch über Talcott Parsons, den bedeutendsten Us-amerikanischen soziologen des 20. Jahrhunderts, geschrieben. es ist ein wunderba-res Buch. erstmals bekommen wir das Werk dieses Denkers in seiner Gesamtheit und in seiner Genese in den Blick. Wir können sehen, was es bedeutet, die soziologie methodo-logisch zu begründen. Denn Parsons musste aufgrund fortdauernden sozialen Wandels die Analyse sozialer strukturen und Prozesse drei Mal neu beginnen. Das 20. Jahrhundert kennt nicht nur die entfaltung freier, demokratischer Gesellschaften unter Bedingungen hoher Technisierung, industrialisierung und institutionalisierter Bildung. es kennt auch zusammenbrüche, den Verlust der Freiheit im Totalitarismus der nationalsozialistischen und kommunistischen Herrschaft. Diese doppelte Perspektive auf die Gesellschaftsent-wicklung muss bei Parsons verstanden werden, will man seinem Werk gerecht werden. sie hält sich in allen Phasen durch, wird aber immer wieder neu, unter veränderten sozia-len, politischen und ökonomischen Bedingungen formuliert. in den 1930er Jahren war es der Gegensatz von Demokratie in Amerika und nationalsozialismus in Deutschland, in den 1950er Jahren war es die Krise der McCarthy-zeit und in den 1970er Jahren war es die Auseinandersetzung mit dem Apartheid-Regime in südafrika und mit dem Watergate-skandal unter der Präsidentschaft nixons.

Gerhardt nimmt ebenfalls eine doppelte Perspektive ein. zum einen zeigt sie in genauer Werkanalyse die wesentlichen theoretischen Konzepte, die Parsons entwickelte, und weist nach, wie er eine Fülle von einsichten aus anderen Disziplinen in seinen ana-lytischen Rahmen integrierte und welche Phänomene der Wirklichkeit er damit in den Griff zu bekommen suchte. zum anderen zeigt sie, wogegen sich Parsons wandte, wenn er die moderne, methodologisch begründete sozialwissenschaft erarbeitete und vertei-digte. Methodologisch begründet heißt bei Parsons wie bei Weber, dass empirische Tat-

Österreich z soziol (2013) 38:319–322Doi 10.1007/s11614-013-0089-z

Uta Gerhardt (2011): The Social Thought of Talcott Parsons. Methodology and American EthosFarnham und Burlington: Ashgate, 444 Seiten, € 87,–

Christopher Schlembach

Online publiziert: 22.08.2013 © springer Fachmedien Wiesbaden 2013

C. schlembach ()institut für soziologie, Universität Wien, Rooseveltplatz 2,1090 Wien, Österreiche-Mail: [email protected]

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sachen nur vor dem Hintergrund objektiver theoretischer Konstruktionen verstanden und auf dieser Basis erklärt werden können. Diese Konstruktionen werden vom Forscher frei entwickelt und sind dennoch nicht beliebig. Der Forscher steht in einer Theorietradition und muss bisherige Forschung mit einbeziehen. er verfährt vor diesem Hintergrund aber heuristisch und bezieht sich auf diejenigen Aspekte der Wirklichkeit, die in Frage stehen und die daher relevant sind. schließlich impliziert moderne soziologie auch eine politi-sche Haltung. Weder verfährt soziologie also relativistisch noch positivistisch. Parsons wusste dies nicht nur von Max Weber, sondern auch von Lawrence Henderson und Alfred Whitehead. Gegenüber der je weiteren Theorieintegration bei Parsons gibt es also auch eine Art wissenschaftlicher Anomie in Form inadäquater Theoriekonzeptionen.

Gerhardt positioniert Parsons Soziologie im ersten Teil  (Themes) von vier Teilen. sie arbeitet die methodologische Begründung der sozialwissenschaft heraus, also die Freiheit der entwicklung von Fragestellungen, der Konstruktion analytischer Konzepte und der Wahl von Methoden. Diese Perspektive, die den Positivismus spencers und die Geschichtsphilosophie Marx’ ablehnte, hatte sich in der Tradition der idealistischen Phi-losophie und der Geisteswissenschaften von Dilthey und simmel bis Weber entwickelt. in den 1930er Jahren nahm Parsons mit den Worten „spencer is dead“ daher Abschied vom Positivismus. er wusste natürlich, dass spencer alles andere als tot war. Damals wie heute ist der sozialwissenschaftliche Positivismus verbreitet.

Im zweiten Teil  (Tenets) zeigt sie Parsons wissenschaftliche und politische Perspek-tive, die sich im erkenntnisinteresse widerspiegelt. Gerhardt sieht Parsons in der nach-folge Max Webers, dessen Protestantische ethik er Anfang der 1930er Jahre ins englische übertragen hatte. in feinfühligen Textanalysen wird deutlich, wie gut Parsons Weber verstanden hatte, etwa das Konzept des historischen individuums, das der idealtypen-konzeption vorausging. Die Protestantische ethik wird von Gerhardt ins zentrum der Methodologie gerückt, denn dort findet Parsons die Modernisierung im Zeichen volunta-ristischer Lebensführung als Gegenstand und als methodologisches Problem. Diese ein-sicht war zusammen mit der doppelten struktur sozialen Handelns im „Geheimnis der zwei Dissertationen“ über sombart und Weber bereits angelegt: (mitunter anomischer) Kapitalismus und moderner Kapitalismus, das sind zwei verschiedene strukturen.

Weiters wird Parsons Werk im Dienst der Demokratie und des Aufbaus der Societal Community verstanden, die sich um ein Kulturmuster organisiert, das er in The Social System als American Ethos bezeichnet. in der sprache der Pattern Variables meint das American Ethos die Kombination von Universalismus und Leistungsprinzip  (achieve-ment). es bedeutet freie, also voluntaristisch begründete Lebensführung, die der Moder-nisierungsprozess gemäß simmel ermöglicht, der sich aus der Differenzierung sozialer strukturen, der Pluralisierung von Lebensformen und der Verallgemeinerung sozialer normen zusammensetzt.

Im dritten Teil  (Dialogs) arbeitet Gerhardt die wissenschaftlichen Dialoge heraus, in denen Parsons seine Position findet. Das sind die Diskussionen mit den Vertretern der kri-tischen Theorie, mit Charles Mills und mit den Rational-Choice-Theoretikern. Die Aus-einandersetzung mit der Frankfurter schule ist insbesondere mit Blick auf das American Ethos wichtig. Adorno warf Parsons vor, dass das soziale system unproblematisch ist, solange die Menschen konform handeln. Aber Parsons könne mit dieser Konzeption nicht zeigen, ob das selbsterhaltende system auch menschlichen interessen diene. es ist also

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im Verdacht instrumenteller Vernunft, in der Menschen systematischen Mord für normal halten. Dem ist zu entgegnen, dass dieses Problem für Parsons ein höchst dringliches Anliegen der zeitgenossen als Mitmenschen und auch der soziologie war. er kämpfte für methodologisch begründete, moderne sozialwissenschaft. es muss immer wieder darauf hingewiesen werden, dass Adorno wie schon damals Habermas eine soziologie vertraten, die Weber zurückwies, und dass Parsons mit der Tradition der sozialwissenschaft, die von Hegel bis Dilthey und Weber reichte, aufs engste verbunden war. Der Rückgriff auf Marx war für Parsons, gerade weil es ihm um die moderne soziologie ging, nicht mehr möglich.

in den 1950er Jahren war es die Kontroverse mit Charles Mills, der die strukturanalyse der amerikanischen Gesellschaft mit Blick auf Macht und elitenbildung vereinfachte. Mills warf Parsons vor, er würde abstrakte Theorie machen, die es nicht schafft, Biogra-phie und Weltgeschichte zu verbinden. Parsons musste die inadäquate und letztlich mar-xistische Konzeption von Mills zurückweisen. Mills entging, dass wesentliche strukturen sozialen Handelns nicht auf Macht, sondern auf Einfluss aufgebaut waren, der die Freiheit des individuums anerkennt und gerade dadurch eine legal-rationale Handlungsstruktur in einem integrierten sozialen system ermöglicht. Die Analyse der Arzt-Patienten-interak-tion, ein Kern- und Meisterstück parsonsscher Handlungsanalyse, ist diesbezüglich nach wie vor relevant. Gerade im zusammenhang der Medizinsoziologie weist Gerhardt auf die Bedeutung Freuds hin, den er innovativ im Rahmen der Handlungstheorie interpre-tierte. Damit konnte er ein wichtiges Verbindungsglied zwischen Kulturtradition und Per-sönlichkeit konzeptualisieren.

Der kritische Blick auf Mills ist noch immer von großer Bedeutung, weil er die ablehnende Haltung gegenüber Parsons vor allem bei jener Generation von soziologen erklärbar macht, die in den 1960er Jahren zu studieren und zu forschen begann. Parsons erscheint in dieser Perspektive als Konservativer, der die Menschen in sein soziales sys-tem einsperren wollte und gleichzeitig der soziologischen einbildungskraft den Krieg erklärte. Richtig ist, dass Parsons sowohl sozialen Wandel und voluntaristische Lebens-führung als Tatsachen anerkannte und theoretisierte, eben weil seine soziologische ein-bildungskraft an Weber geschult war. zu recht plädiert Gerhardt dafür, den Weberianer Parsons herauszustellen und nicht Weber zu entparsonisieren.

in den 1960er Jahren begann Parsons erneut mit der entwicklung soziologischer Theo-rie. Die struktur-funktionale Phase war zu diesem zeitpunkt schon längst verlassen. Die vier schemata der Handlungsanalyse (Pattern Variables, AGiL, LiGA, Four Functions scheme) wurden aufgegeben. er zeigte, wie der Black American nun in die Gesellschaft voll integriert werden konnte, und er begann mit der Konzeption der symbolischen inter-aktionsmedien, die wie Geld soziales Handeln strukturieren. Geld, Macht, Einfluss und Wertbindungen sind die vier Medien, die den vier Handlungsdimensionen der Umwelt-bewältigung, zielerreichung, integration und Kulturmustererhaltung entsprechen. Öko-nomisches Handeln ist als interaktionsdimension zu wenig, und auch Macht reicht nicht aus, um soziales Handeln verstehend zu erklären. Daher kann man weder den Macht-theoretikern und Konflikttheoretikern folgen noch den neueren Rational-Choice-Ansät-zen und den Tauschtheorien, die sich seit Homans und Becker entwickelten. Gerhardt stellt die spannende Vermutung an, dass Parsons innovativer Aufsatz On the Concept of Influence eine direkte entgegnung auf den mikroökonomischen Ansatz von Homans war.

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Denn soziales Handeln kann nicht als Face-to-face-interaktion konzeptualisiert werden, wo doch viele interaktionsprozesse moderner, differenzierter Gesellschaften generalisiert und mediatisiert sind. Man wird verstehen, wie betroffen Parsons war, als er sich von Homans anlässlich einer Presidential Address der American Sociological Association in Montréal Überlegungen anhören musste, die sogar hinter Spencer zurückfielen. Heute sind Rational-Choice-Theorie, Utilitarismus und methodologischer individualismus weit verbreitet und salonfähig. Das macht sie aber gegenüber der Wirklichkeit, also dem sub-jektiven sinn sozialen Handelns in der differenzierten, pluralisierten und über interak-tionsmedien strukturierten Gesellschaft nicht adäquater.

Im kurzen vierten Teil  (Positions) deutet Gerhardt an, auf welche Weise Parsons heute Wege ins 21. Jahrhundert eröffnen kann, die gerade mit Blick auf anomische Phänomene der Gegenwart relevant sind. Die Krisen des Finanzsystems sind sehr gut mit den symbo-lischen interaktionsmedien analysierbar und lassen sich als Fehlintegrationen (Anomie) der politischen institutionen der Ökonomie (des Bankensystems) begreifen. Mit Parsons kann man zeigen, dass Finanzspekulation und Kreditwesen keine nullsummenspiele sind, sondern dass sie Geldwert mit Blick auf eine zukunft schaffen, die man als kontrol-lierbar erachtet. Wenn aber die erwartungen der Gegenwart immer weniger mit künftigen Realisierungen dieser Handlungsentwürfe zusammenstimmen, weil Mechanismen sozia-ler Kontrolle geschwächt wurden und die illusorische Hoffnung auf schnellen Reichtum endemisch wird, so kann man darüber nachdenken, wie man diese sozialen Prozesse auf einer ihnen adäquaten (sozialen) ebene mittels institutionen reguliert.

es ist zu hoffen, dass Gerhards Buch Wirkung zeigt, dass die groben Fehlinterpreta-tionen von Parsons abnehmen. es erschließt uns den ganzen Parsons und verdeutlicht die Kontroversen, die heute wie gestern geführt werden. Wertfreie Wissenschaft ist möglich und heißt nicht, gegenüber Politik und Gesellschaft indifferent zu sein. Das geht in einer Welt nicht, in der Demokratien immer auch in zustände der Anomie, der Desintegration und der entdifferenzierung geraten können. soziologie steht für Parsons im Dienst der Demokratie, ihrem Bestand widmete er sein erkenntnisinteresse. Parsons, das wird durch dieses Buch deutlich, sollte wieder gelesen werden.