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Verleihung des Meister-Eckhart-Preises an Richard Rorty PRESSEMAPPE

Verleihung des Meister-Eckhart-Preises an Richard Rorty · P R E S S E I N F O R M A T I O N Richard Rorty erhält Meister-Eckhart-Preis Laudatio hält Jürgen Habermas Düsseldorf/Berlin,

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Verleihung des Meister-Eckhart-Preises anRichard Rorty

PRESSEMAPPE

Meister-Eckhart-Preis

Inhalt der Pressemappe

3........ Richard Rorty erhält Meister-Eckhart-PreisJürgen Habermas hält Laudatio

4........ Meister-Eckhart-Preisträger Richard RortyBegründung der Jury

5........ Das Werk von Richard RortyKurzporträt von Thomas Schäfer

8........ Biografische Notiz: der Preisträger Richard Rorty

9........ Richard Rorty - zitiert

10...... Richard Rorty: Bemerkungen anlässlich derVerleihung des Meister-Eckhart-PreisesEs gilt das gesprochene Wort

19...... Jürgen Habermas: Das Entzücken am Schock der Deflationierung.Meister-Eckhart-Preis für Richard RortyEs gilt das gesprochene Wort

25...... Kurzporträt Identity Foundation

27...... Kurzporträt Meister Eckhart

FotosRichard Rorty

Jürgen Haberma

Alle Texte finden Sie im Internet unter www.identity-foundation.de/aktuelles.htm

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P R E S S E I N F O R M A T I O N

Richard Rorty erhält Meister-Eckhart-Preis

Laudatio hält Jürgen Habermas

Düsseldorf/Berlin, 3. Dezember 2001 – Der US-amerikanische Philosoph und

Buchautor Richard Rorty erhält den von der Identity Foundation mit 50.000 Euro

dotierten Meister-Eckhart-Preis. „Sein schriftstellerisches Gesamtwerk sticht durch

Prägnanz, Vielseitig-keit, argumentativen Reichtum und auch Witz hervor“,

begründete die Jury ihre Entscheidung. Die Laudatio bei der Preisübergabe am

3. Dezember im Deutschen Architektur Zentrum in Berlin hält Jürgen Habermas,

einer der bedeutendsten deutschen Philosophen der Gegenwart. Preisträger

Richard Rorty gilt unter internationalen Geisteswissenschaftlern als hochrangiger

philosophischer Grundlagenforscher. Rorty hat in seinen Arbeiten nie den

Lebensbezug verloren. Das zeige sich auch in seiner literarischen Gestaltungskraft,

meinte die Jury.

Der Meister-Eckhart-Preis wird in diesem Jahr zum ersten Mal von der Identity

Foundation vergeben. Er ist benannt nach dem damaligen Theologie-Professor

und Philosophen, der sich bereits im 14. Jahrhundert mit der Frage der Identität

beschäftigte und sie auf folgende Formel brachte: „Nim Din selbes wahr“.

Der Jury des Meister-Eckart-Preis gehören an: Dr. Franziska Augstein,

Kulturredakteurin der Süddeutschen Zeitung und Sachbuchautorin, Prof. Dr.

Michael von Brück, Leiter des Instituts für Religionswissenschaft an der Universität

München, Prof. Dr. Kurt Flasch, emeritierter Philosophieprofessor an der Universität

Bochum, Prof. Dr. Detlef B. Linke, Professor für klinische Neurophysiologie und

Neurochirurgische Rehabilitation der Universitätskliniken Bonn sowie Dr. Gustav

Seibt, Historiker und Kritiker (Autor der Süddeutschen Zeitung).

Die Identity.Foundation ist eine gemeinnützige Stiftung, die wissenschaftliche

Arbeiten über Fragen zur Identität im persönlichen, gesellschaftlichen und globalen

Kontext fördert. Sie wurde 1998 von Margret und Paul J. Kohtes, Vorsitzender

Partner der größten europäischen Beratungsgesellschaft für

Unternehmenskommunikation, ECC Kohtes Klewes GmbH mit Hauptsitz in

Düsseldorf, gegründet.

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P R E S S E I N F O R M A T I O N

Meister-Eckhart-Preisträger Richard Rorty

Begründung der Jury

Düsseldorf/Berlin, 3. Dezember 2001 – "Die Jury verleiht den Meister-Eckhart-

Preis 2001 an Professor Richard Rorty. Sie anerkennt damit eine philosophische

Grundlagenforschung von weiter Ausstrahlung auf die Humanwissenschaften und

auf das ethisch-politische Selbstverständnis der Gegenwart. Sie würdigt die

Präzision seiner Denkarbeit und ihren weiten kulturellen Horizont. Sie anerkennt

eine kenntnisreiche Traditionskritik von befreiender Heiterkeit.

Richard Rorty ist der Versuch gelungen, Motive des amerikanischen Pragmatismus

mit Argumenten der kontinentalen, insbesondere der deutschsprachigen Tradition

ins Gespräch zu bringen. Durch subtile Untersuchungen von Vernunft und

Erkenntnis hat er neue Rationalitätsmuster eröffnet, die es erlauben, Kulturen

und Wissensformen zwar zu relativieren, aber sowohl ihre Andersheit als auch

ihre Einheit deutlicher zu sehen, als das in den bisherigen Kulturwissenschaften

möglich war. Er hat zu aktuellen politischen Fragen, zum Beispiel der Bewertung

des Kalten Krieges oder des Feminismus, argumentierend Position bezogen. Er

hat durch seine Kritik der Ideologie-Kritik die Rolle der Intellektuellen in der

Gegenwart neu bestimmt.

Die Jury zeichnet ein schriftstellerisches Werk aus, das hervorsticht durch Prägnanz,

Vielseitigkeit, Gesprächsfähigkeit und Witz. Sie ehrt das Zusammentreffen von

argumentativem Reichtum, Lebensbezug und literarischer Gestaltungskraft, wie

sie für das Werk Meister Eckharts charakteristisch ist."

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P R E S S E I N F O R M A T I O N

Das Werk von Richard Rorty

Kurzporträt von Thomas Schäfer

Düsseldorf/Berlin, 3. Dezember 2001 – Richard Rorty gilt als einer der radikalsten

anti-metaphysischen Denker unserer Zeit. Sein Werk ist zutiefst geprägt von

einem atheistischen Grundmotiv, das sich in der ethischen These ausdrückt:

"Wir sollten versuchen, an den Punkt zu kommen, wo wir nichts mehr verehren,

nichts mehr wie eine Quasi-Gottheit behandeln, wo wir alles, unsere Sprache,

unser Bewusstsein, unsere Gemeinschaft, als Produkte von Zeit und Zufall

behandeln."

(Kontingenz, Ironie und Solidarität, 1989, S. 50)

Dieser ‚Atheismus‘ Rortys beinhaltet zugleich ein anti-fundamentalistisches

theoretisches Denken und eine antiautoritäre praktische Haltung. Das heißt: Alles,

was wir denken oder wünschen, kann nicht auf ein letztes vermeintlich wahres

Fundament zurückgeführt werden; und jeder Anspruch auf höhere Autorität ist in

diesen Fragen zurückzuweisen, weil es keine allgemeingültige Autorität für alle

Menschen gibt. Rortys Begründung dafür ist, dass wir Menschen nicht darauf

rechnen können, uns wechselseitig zu überzeugen. Das gibt es zwar manchmal,

nämlich unter Gleichgesinnten ("Wir-Gruppen"), aber nicht alle gehören dazu,

und damit gibt es immer wieder einen unauflöslichen Dissens. Rorty ist deshalb

dieser Auffassung, weil er anerkennt, dass es nicht die eine Vernunft aller Menschen

gibt, und dass die Welt und unser Leben nicht nur in einer Weise richtig oder

angemessen beschrieben werden können. Denn die Welt sagt uns nicht, wie wir

sie richtig zu beschreiben haben, weil wir keinen direkten Zugang zu ihr haben.

Rorty sagt dazu:

"Die Welt spricht überhaupt nicht, nur wir sprechen." (Kontingenz, Ironie und

Solidarität, 1989, S. 25)

Deshalb gebe es viele Vokabulare zur Wirklichkeitsbeschreibung, die alle weder

wahr noch falsch seien, sondern – insofern ist Rorty ‚Pragmatist‘ – nützlich oder

unnütz.

Die vielen, nicht nur theoretisch möglichen, sondern auch praktisch vorhandenen

Vokabulare sind in Rortys Augen somit auch kein Problem oder ein Störfaktor,

sondern ein Gewinn. Und er fordert:

"Lasst tausend Vokabulare blühen!"

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Damit wendet Rorty sich philosophisch gegen die sogenannte

"Korrespondenztheorie der Wahrheit", die davon ausgeht, dass die Wirklichkeit

mit einer passenden Darstellung richtig – also "wahr" – beschrieben werden

könnte. Denn diese Theorie neigt dazu, einer angeblich richtigen Sicht der Dinge

gegenüber vermeintlich falschen eine höhere Autorität zu verleihen. Rorty ist zwar

gegen diesen erkenntnistheoretischen Autoritarismus, er hat aber durchaus

Verständnis für solch einen Glauben, indem er sagt:

"Es fällt schwer, sich von einer Weltdarstellung verzaubern zu lassen

und sich zu allen anderen tolerant zu verhalten." (Solidarität oder

Objektivität?, 1988, S. 110)

Dennoch muss man nach Rorty der Versuchung widerstehen, seine eigene Sicht

der Dinge als absolut oder wahr zu erklären. Obwohl genau das die Philosophie

in seinen Augen immer wieder in schlechter Schülerschaft Platons getan hat:

"Ich denke, dass die philosophische Tradition von einer Art sado-

masochistischem Drang beherrscht war, eine Macht zu finden – das

Sein, die Realität, die Vernunft oder Gott genannt – um sich selbst

damit zu verbünden." (Interview mit Thomas Schäfer für

DeutschlandRadio Berlin, 1996)

Ein solcher Wahrheitsglaube widerspräche aber der demokratischen Utopie, für

die Rorty letztlich schreibt, und die das politische Motiv hinter seinen philosophischen

Schriften darstellt. Deshalb spricht Rorty von einem "Vorrang der Demokratie vor

der Philosophie": Nicht die Philosophie begründet die Demokratie, sondern

umgekehrt gelte es, eine Philosophie zu vertreten, die der Demokratie am

Nützlichsten ist. Und das ist für Rorty der Pragmatismus. Sie passt seiner Mei-

nung nach am besten zu einer demokratischen Utopie, die er wie folgt beschreibt:

"Ein demokratisches Utopia wäre eine Gemeinschaft, in der nicht

die Suche nach der Wahrheit, sondern Toleranz und Neugier als

intellektuelle Kardinaltugenden gelten. Dies wäre eine Gemeinschaft,

in der es nichts gäbe, was auch nur entfernt einer Staatsreligion

gleichkäme." (Eine Kultur ohne Zentrum, 1993, S. 90).

Diese demokratische Grundauffassung ist für Rorty aber, wie auch all seine

anderen Überzeugungen, keine "Wahrheit", sondern etwas, was uns nun einmal

prägt und bestimmt, und für das wir uns engagieren, weil wir nun einmal Liberale

und Demokraten sind, und nicht, weil wir damit anderen gegenüber im Recht

seien. Diesen, wie Rorty es nennt, "Ethnozentrismus" müssen wir schlicht

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"seite"

anerkennen und zu ihm stehen, ohne ihn aber zu einer universellen Wahrheit

oder Vernunft zu erhöhen. Diese Absage an eine höhere Rolle der Philosophie

ist für ihn deshalb kein Problem, weil wir unsere - z.B. moralischen - Überzeugungen

und Haltungen ohnehin nicht durch philosophische Demonstrationen oder Beweise

erlangen, sondern eher durch gefühlsmäßig anrührende Literatur, z.B. Romane

wie "Onkel Toms Hütte". Das ist der Grund dafür, dass Rorty häufig für die Literatur

und gegen die Philosophie plädiert – und dass er inzwischen in der Tat an einem

literaturwissenschaftlichen Department (der Stanford University) arbeitet.

Der Autor:Thomas Schäfer, Dr. phil., geboren am 11.07.1955 in Bielefeld

Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie,Lehrstuhl "Praktische

Philosophie", der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Schwerpunkte:

Sozialphilosophie und Ethik. Mentor für Philosophie, Soziologie und

Erziehungswissenschaft an Studienzentren der Fern-Universität Hagen.

Herausgeber von „Hinter den Spiegeln“, Beiträge zur Philosophie Richard Rortys

mit Erwiderungen von Richard Rorty, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2001.

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P R E S S E I N F O R M A T I O N

Biographische Notiz: der Preisträger Richard Rorty

Düsseldorf/Berlin, 3. Dezember 2001 – Richard Rorty wurde am 4. Oktober 1931

in New York City geboren. An der University of Chicago erwarb er 1949 den B.A.

und 1952 den M.A., 1956 den Ph.D. an der Yale University. Nach Ableistung des

Militärdienstes (1957-58) war er von 1958 bis 1961 als Instructor und Assistant

Professor am Wellesley College tätig; von 1961 bis 1982 lehrte er am Princeton

Philosophy Department, das er als Stuart Professor of Philosophy verließ, um

den Posten des University Professor of Humanities an der University of Virginia

zu übernehmen. Seit 1998 lehrt Richard Rorty an der Stanford University

Comparative Literature und Philosophy. Neben zahlreichen Gastprofessuren in

den USA und in Deutschland (Frankfurt a.M., Heidelberg) war und ist er Fellow

verschiedener Institutionen, darunter am Center for Advanced Study in the

Behavioral Sciences in Stanford (1982-83), am Wissenschaftskolleg in Berlin

(1986-87), an der American Academy of Arts and Sciences und am Stanford

Humanities Center (1996-97).

Unter seinen Veröffentlichungen sind folgende Bücher hervorzuheben: The

Linguistic Turn (Hrsg.), Chicago: University of Chicago Press, 1967; Der Spiegel

der Natur: eine Kritik der Philosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981;

Consequences of Pragmatism, Minneapolis: Minnesota University Press, 1982;

Philosophy in History (Hrsg. zus. mit Jerome B. Schneewind und Quentin Skinner),

Cambridge: Cambridge University Press, 1984; Solidarität oder Objektivität?,

Ditzingen: Reclam Universal-Bibliothek, 1988; Kontingenz, Ironie und Solidarität,

Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989; Objectivity, Relativism and Truth: Philosophical

Papers I, Cambridge: Cambridge University Press, 1991; Essays on Heidegger

and Others: Philosophical Papers II, Cambridge: Cambridge University Press,

1991; Eine Kultur ohne Zentrum, Ditzingen: Reclam Universal-Bibliothek, 1993;

Hoffnung statt Erkenntnis: Einleitung in die pragmatische Philosophie, Wien:

Passagen Verlag, 1994; Stolz auf unser Land, Frankfurt am Main: Suhrkamp,

1999; Truth and Progress: Philosophical Papers III, Cambridge: Cambridge

University Press, 1998; Philosophy and Social Hope, London: Penguin, 2000.

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P R E S S E I N F O R M A T I O N

Richard Rorty - zitiert

"Die Philosophie sollte den Versuch unterlassen, für beruhigende Gewissheit zu

sorgen." (Hoffnung statt Erkenntnis, 1994, S. 24f)

"Ich bin sehr froh darüber, all die Jahre damit verbracht zu haben, philosophische

Bücher zu lesen. Denn ich lernte dabei etwas, das mir immer noch wichtig scheint:

dem intellektuellen Snobismus zu misstrauen, der mich selbst ursprünglich dazu

führte, sie zu lesen." (Wilde Orchideen und Trotzky, Essay, S. 50)

"Wir müssen für das Gespräch sorgen, dann kann die Wahrheit gut für sich selbst

sorgen."

"Interessante Philosophie ist nur selten eine Prüfung der Gründe für oder wider

eine These."

"Zusammengehalten werden Gesellschaften durch gemeinsame Sichtweisen und

Hoffnungen." (Kontingenz, Ironie und Solidarität, 1989, S. 147f)

"Sprache hat die Macht, neue und andere Dinge möglich und wichtig zu machen."

(Kontingenz, Ironie und Solidarität, 1989, S. 147f)

"Die Hoffnung auf die Erfindung neuer Möglichkeiten des Menschseins hat Vorrang

vor dem Bedürfnis nach Stabilität, Sicherheit und Ordnung." (Hoffnung statt

Erkenntnis, 1994, S. 89)

„Wahrheit und Wissen sind eine Sache der sozialen Kooperation, und die

Wissenschaft gibt uns die Mittel an die Hand, bessere kooperative soziale Pläne

auszuführen als zuvor.“ (Ansprache, Berlin, 3. Dezember 2001)

„Wenn man Wahrheit will, dann ist die jeweils aktuelle Verbindung von Wissenschaft

und gesundem Menschenverstand alles was man braucht.“ (Ansprache, Berlin,

3. Dezember 2001)

9

M A N U S K R I P T

Richard Rorty: Bemerkungen anlässlich der Verleihungdes Meister-Eckhart-Preises

- Es gilt das gesprochene Wort -

Berlin, 3. Dezember 2001 – Obwohl ich - als Amerikaner und Patriot - besonders

stolz auf den Beitrag der amerikanischen Pragmatisten zum philosophischen

Denken bin, meine ich doch, dass die Philosophie vor allem im Land Kants und

Hegels zu Hause ist. Der fortdauernde Einfluss dieser beiden Männer hat das

intellektuelle Leben in Deutschland unvergleichlich geprägt. In keinem anderen

Land werden philosophische Ideen so ernst genommen und so intensiv diskutiert

wie hier. So empfinde ich es als besondere Ehre, dass mir ein Preis für meine

philosophischen Arbeiten in der Stadt verliehen wird, in der Hegel lehrte.

Ich danke der Identity-Foundation, ich danke Herrn Habermas herzlich für seine

sehr freundlichen Worte, und ich danke den Freunden und Kollegen, die mir zu

Ehren heute hier sind. Meine Übersetzerin Christa Krüger hat es möglich gemacht,

dass ich meinen Dank auf Deutsch vortragen kann.

Die Jury, die mir diesen Preis zugesprochen hat, begründet ihre Entscheidung

sehr liebenswürdig und großzügig damit, dass gewisse Ähnlichkeiten zwischen

meinen und Meister Eckharts Schriften bestünden. Aber in einer Hinsicht passen

wir ganz offensichtlich nicht zusammen. Man könnte befremdet sein, dass ein

Professor, der sich gelegentlich selbst als einen Atheisten beschrieben hat, einen

Preis bekommt, der zu Ehren eines Denkers gestiftet wurde, für den nur Gott und

sonst nichts zählte. Deshalb möchte ich diesen Anlass zur Reflexion über die

folgende Frage nutzen: Warum gilt es nicht als Skandalon, wenn ein Philosoph,

der wie Nietzsche meint, Menschen sollten sich Selbsterschaffung zum Ziel setzen,

eine Auszeichnung mit dem Namen eines christlichen Theologen erhält, der lehrte:

"Wahrer und vollkommener Gehorsam ist eine Tugend vor allen Tugenden"?

Diese Frage führt weiter zu der allgemeineren: Warum spielt die Auseinandersetzung

zwischen Theismus und Atheismus in der philosophischen Diskussion keine Rolle

mehr?

Das Wort Atheist klingt einigermaßen altmodisch. Es ist ein Relikt aus dem Streit

zwischen Religion und Wissenschaft, der im neunzehnten Jahrhundert für das

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europäische und amerikanische intellektuelle Leben von zentraler Bedeutung

war, aber jetzt nur noch am Rande interessiert. Um 1900 diskutierten wir

Philosophieprofessoren noch über das Problem, das ein Jahrhundert zuvor Kant

und Hegel in Atem gehalten hatte: Wie kann das Weltbild der Physik mit dem vom

Christentum geprägten Selbstbild der Menschen in Einklang gebracht werden?

Heute weichen wir dieser Frage aus, indem wir behaupten, es sei nicht notwendig,

alle unsere verschiedenartigen Selbstbeschreibungen zu vereinheitlichen. Die

meisten von uns sind inzwischen intellektuelle Pluralisten und durchaus bereit,

ohne Metaphysik und andere allumfassende Denksysteme auszukommen.

Nur zwei Gruppen von Philosophen sind noch in Versuchung, sich "Atheisten" zu

nennen. Zum einen diejenigen, welche die Existenz Gottes als eine empirische

Hypothese betrachten und davon überzeugt sind, dass die moderne Wissenschaft

hinreichende materialistische Erklärungen für die Erscheinungen geliefert hat, die

unsere Vorfahren durch Bezug auf Gott erklärten. Diese Philosophen wiederholen

noch immer jene zuerst von Hume und Kant entwickelten Argumente, die zeigen,

dass keine besondere Beschaffenheit der Sinnenwelt für die Attribute eines nicht

raum-zeitlichen Wesens relevant ist.

Aber genau deshalb, weil Hume und Kant recht damit hatten, dass die Vorstellung

einer "empirischen Bestätigung" nichts ausrichtet, wenn von Gott die Rede ist,

wäre es falsch zu behaupten, dass der Atheismus durch eine solche Bestätigung

gestützt werde. Präsident Bush traf das Richtige, als er in einer Rede zu Gefallen

christlicher Fundamentalisten sagte, der Atheismus sei ein 'Glaube', denn er lasse

sich "durch Argumente oder Beweismittel weder bestätigen noch widerlegen".

Dasselbe vom Theismus zu sagen, wäre dem Präsidenten nicht eingefallen, hätte

ihm aber einfallen sollen. Denn Hume und Kant haben uns gezeigt, wie nutzlos

es ist, die Entscheidung zwischen Theismus und Atheismus als eine Entscheidung

zwischen zwei alternativen Erklärungen beobachtbarer Phänomene zu denken.

Die andere Gruppe der Philosophen, die sich Atheisten nennen, neigt dazu, das

Wort "Atheismus" anstelle von "Antiklerikalismus" oder "Säkularismus" zu

verwenden. Ich wünsche mir jetzt, ich hätte bei entsprechender Gelegenheit statt

des ersten Begriffs einen dieser beiden letzten Ausdrücke benutzt. Denn

Antiklerikalismus ist keine epistemologische oder metaphysische Einstellung,

sondern eine politische Ansicht. Die Ansicht, dass kirchliche Einrichtungen, auch

wenn sie noch soviel Gutes tun - bei allem Trost, den sie Notleidenden oder

Verzweifelten spenden -, doch das Wohl demokratischer Gesellschaften gefährden,

und zwar so sehr, dass es am besten wäre, wenn sie endlich verschwinden

würden.

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Die Gefahren, die wir Antiklerikalisten fürchten, sind in meinem Land besonders

evident. Die christlichen Fundamentalisten, ohne deren Unterstützung weit rechts

stehende amerikanische Politiker nicht auskommen können, untergraben die

säkularistische Jefferson-Tradition der amerikanischen Kultur. Dank der

Fundamentalisten ist es wieder respektabel, zu sagen, US Amerika sei eine

"christliche Nation" - eine Behauptung, die vor wenigen Jahrzehnten noch als

geschmacklos galt.

Antiklerikalisten wie ich haben natürlich noch einen anderen Grund, warum wir

darauf hoffen, dass die institutionalisierte Religion endlich von der Bildfläche

verschwindet. Wir halten Außerweltlichkeit für gefährlich, weil, in John Deweys

Worten, "Menschen ihre eigene Macht zur Förderung des Guten im Leben niemals

ganz ausgeschöpft haben, weil sie darauf warteten, dass eine Macht außerhalb

ihrer und außerhalb der Natur die Arbeit tut, für die sie selbst zuständig sind".

(Dewey, "A Common Faith", in Later Works, Bd. 9, S. 31.)

Philosophen, die behaupten, der Atheismus, nicht aber der Theismus, sei durch

Evidenz gestützt, würden sagen, religiöser Glaube sei irrational; wir zeitgenössischen

Säkularisten dagegen bescheiden uns und sagen nur, er sei politisch gefährlich.

In unserer Sicht ist gegen eine Religion nichts einzuwenden, solange sie privatisiert

ist - solange ein Glaube als vollkommen unerheblich für die öffentliche Politik gilt.

Manche Vertreter dieser Ansicht sind so wie ich ohne religiöse Unterweisung

aufgewachsen und haben sich nie einer religiösen Tradition angeschlossen.

Andere dagegen, zum Beispiel der hervorragende italienische Gegenwartsphilosoph

Gianni Vattimo, haben ihre philosophische Bildung und Schulung dazu genutzt,

Argumente für die Vernünftigkeit einer Rückkehr zur Religiosität ihrer Jugend zu

formulieren. Eine solche Argumentation findet sich in Vattimos bewegendem,

originellen Buch Credere di credere (Deutsch: Glauben - Philosophieren). Seine

Antwort auf die Frage: "Glaubst du wieder an Gott?" besagt so viel wie: Ich merke,

dass ich immer religiöser werde, also muss ich wohl an Gott glauben. Vielleicht

hätte Vattimo besser daran getan, zu sagen: Ich werde immer religiöser, komme

also mehr und mehr zu dem, was viele Menschen Glauben an Gott nennen, aber

ich bin mir nicht gewiss, ob der Begriff 'Glaube' die richtige Bezeichnung für meine

Religiosität ist.

Der Gewinn einer solchen Neuformulierung wäre die Rücksicht auf unsere

Überzeugung, dass ein Glaube, wenn er denn wahr ist, von allen geteilt werden

müsste. Aber Vattimo denkt nicht, dass alle M enschen Theisten, und schon gar

nicht, dass alle Katholiken sein müssten. Mit dem Gedanken der Privatisierung

der Religion folgt er Jefferson. Im Anschluss an William James trennt er die Frage:

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Damit wendet Rorty sich philosophisch gegen die sogenannte

"Korrespondenztheorie der Wahrheit", die davon ausgeht, dass die Wirklichkeit

mit einer passenden Darstellung richtig – also "wahr" – beschrieben werden

könnte. Denn diese Theorie neigt dazu, einer angeblich richtigen Sicht der Dinge

gegenüber vermeintlich falschen eine höhere Autorität zu verleihen. Rorty ist zwar

gegen diesen erkenntnistheoretischen Autoritarismus, er hat aber durchaus

Verständnis für solch einen Glauben, indem er sagt:

"Es fällt schwer, sich von einer Weltdarstellung verzaubern zu lassen

und sich zu allen anderen tolerant zu verhalten." (Solidarität oder

Objektivität?, 1988, S. 110)

Dennoch muss man nach Rorty der Versuchung widerstehen, seine eigene Sicht

der Dinge als absolut oder wahr zu erklären. Obwohl genau das die Philosophie

in seinen Augen immer wieder in schlechter Schülerschaft Platons getan hat:

"Ich denke, dass die philosophische Tradition von einer Art sado-

masochistischem Drang beherrscht war, eine Macht zu finden – das

Sein, die Realität, die Vernunft oder Gott genannt – um sich selbst

damit zu verbünden." (Interview mit Thomas Schäfer für

DeutschlandRadio Berlin, 1996)

Ein solcher Wahrheitsglaube widerspräche aber der demokratischen Utopie, für

die Rorty letztlich schreibt, und die das politische Motiv hinter seinen philosophischen

Schriften darstellt. Deshalb spricht Rorty von einem "Vorrang der Demokratie vor

der Philosophie": Nicht die Philosophie begründet die Demokratie, sondern

umgekehrt gelte es, eine Philosophie zu vertreten, die der Demokratie am

Nützlichsten ist. Und das ist für Rorty der Pragmatismus. Sie passt seiner Mei-

nung nach am besten zu einer demokratischen Utopie, die er wie folgt beschreibt:

"Ein demokratisches Utopia wäre eine Gemeinschaft, in der nicht

die Suche nach der Wahrheit, sondern Toleranz und Neugier als

intellektuelle Kardinaltugenden gelten. Dies wäre eine Gemeinschaft,

in der es nichts gäbe, was auch nur entfernt einer Staatsreligion

gleichkäme." (Eine Kultur ohne Zentrum, 1993, S. 90).

Diese demokratische Grundauffassung ist für Rorty aber, wie auch all seine

anderen Überzeugungen, keine "Wahrheit", sondern etwas, was uns nun einmal

prägt und bestimmt, und für das wir uns engagieren, weil wir nun einmal Liberale

und Demokraten sind, und nicht, weil wir damit anderen gegenüber im Recht

seien. Diesen, wie Rorty es nennt, "Ethnozentrismus" müssen wir schlicht

"Habe ich ein Recht, religiös zu sein?", von der Frage: "Soll jeder an die Existenz

Gottes glauben?"

Im selben Maß, in dem man die bekannte Hume/Kant-Kritik der natürlichen

Theologie akzeptiert, jedoch nicht einverstanden ist mit der positivistischen

Behauptung, dass der explanatorische Erfolg der modernen Wissenschaft den

Glauben an Gott als irrational erwiesen habe, im selben Maß wird man dazu

neigen, den Begriff Glauben für eine unglückliche Charakterisierung von Religiosität

zu halten. Und man wird Vattimos Versuch begrüßen, die Religion vom

epistemischen Schauplatz abzuziehen, einem Schauplatz, auf dem sie dem Angriff

der Naturwissenschaften ausgesetzt scheint.

Derartige Versuche sind nicht neu. Kants Vorschlag, Gott als ein Postulat der

reinen praktischen Vernunft und nicht als eine Erklärung natürlicher Erscheinungen

anzusehen, ebnete den Weg, so dass Denker wie Schleiermacher eine "Theologie

der symbolischen Formen" entwickeln konnten. Kierkegaard, Barth und Levinas

gingen auf diesem Weg weiter und machten Gott zum ganz Anderen - jenseits

der Reichweite nicht nur von Beweis und Argument, sondern auch von diskursivem

Denken.

Vattimos Bedeutung liegt darin, dass er diese unseligen post-Kantischen Initiativen

beide ablehnt. Den Versuch, Religion mit Wahrheit zu verknüpfen, weist er zurück

und hat deshalb keine Verwendung für Vorstellungen von der Art einer

"symbolischen", "emotionalen", "metaphorischen" oder "moralischen" Wahrheit.

Ebenso wenig kann er jene Theologie brauchen, die er "existentialistisch" nennt

- für sie beruht Religiosität darauf, dass Rettung von der Sünde nur aus der

unbegreiflichen Gnade einer Gottheit kommen könne, die ganz anders als die

Menschen ist.

Vattimos Theologie ist, wie er selbst sagt, auf die "Halb-Gläubigen" zugeschnitten,

die "Lauen im Glauben" des Proto-Existentialisten Paulus - diejenigen, die nur

zu Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen in die Kirche gehen (Vgl S. 75). Vattimo

lässt sich nicht auf die Passagen aus dem Römerbrief ein, die Karl Barth am

höchsten schätzte, er reduziert die christliche Heilsbotschaft auf die Paulus-Stelle,

die von den meisten anderen Menschen am höchsten geschätzt wird: Kapitel 13

des Ersten Korintherbriefs. Er bereitet eine überraschende Behauptung strategisch

vor, indem er die Menschwerdung als einen Akt auslegt, in dem Gott all seine

Macht und Autorität und all sein Anderssein zum Opfer gebracht habe. Die

Menschwerdung sei eine kenosis gewesen, eine Entäußerung, mit der Gott den

Menschen alles in die Hände gab. Durch diese Auslegung kommt Vattimo zu

seiner entscheidenden Behauptung: Die "Säkularisierung" sei "konstitutives

13

Merkmal einer authentischen religiösen Erfahrung." (S. 9)

Auch Hegel verstand Geschichte als Menschwerdung des Geistes und die

"Schlachtbank der Geschichte" als das Kreuz. Aber Hegel war nicht bereit, die

Liebe an den Platz der Wahrheit zu rücken. Also macht er die Geschichte zu einer

dramatischen Erzählung, die ihren Gipfelpunkt in einem Status der Erkenntnis

erreicht: dem absoluten Wissen. Für Vattimo dagegen hat die Geschichte keine

innere Dynamik und keine immanente Teleologie; bei ihm ist nicht die Rede von

der Entwicklung eines großen Dramas, sondern nur von der Hoffnung, dass die

Liebe siegen möge.

Vattimo meint, wenn wir die Geschichte ebenso ernst nehmen wie Hegel, uns

jedoch weigern, sie in einen epistemologischen oder metaphysischen Kontext

einzubetten, dann könnten wir das Pendel anhalten, so dass es nicht mehr

zwischen militant positivem Atheismus und symbolistischer oder existentialistischer

Verteidigung des Theismus hin und her schwingt. Er sagt: " (Nur) weil sich die

metaphysischen Meta-Erzählungen aufgelöst haben, hat die Philosophie die

Plausibilität der Religion wiederentdeckt und kann infolgedessen das religiöse

Bedürfnis des allgemeinen Bewusstseins außerhalb der Schemata der

aufklärerischen Kritik betrachten". (Derrida und Vattimo, Die Religion, S. 113)

Vattimo möchte die aufklärerische Kritik bis zur Unerheblichkeit entschärfen und

das Problem der Koexistenz von Naturwissenschaften und christlichem Vermächtnis

lösen. Er hofft, dass ihm das gelingt, indem er Christus weder mit der Wahrheit

noch mit der Macht, sondern allein mit der Liebe gleichsetzt.

Vattimos Argument steht im Einklang mit meinen pragmatistischen philosophischen

Ansichten, und es illustriert, wie Gedankengänge, die bei Nietzsche und Heidegger

beginnen, sich verschränken lassen mit solchen, die von James und Dewey

ausgehen. Denn diese beiden intellektuellen Traditionen haben eine Gemeinsamkeit:

den Gedanken, dass die Suche nach Wahrheit und Wissen nicht mehr und nicht

weniger ist als das Streben nach intersubjektiver Übereinstimmung. Der

epistemische Schauplatz ist ein öffentlicher Raum, aus dem die Religion sich

zurückziehen kann und soll.

Vattimo sagt, "heute hat das Cartesische - und so auch das Hegelsche - Denken

seine Bahn vollendet, und es ist nicht mehr sinnvoll, Glauben und Vernunft

einander so scharf entgegenzusetzen". (S. 99) Mit dem "Cartesischen und

Hegelschen Denken" meint Vattimo ziemlich genau das, was Heidegger als "Onto-

Theologie" bezeichnete. Er stimmt Heidegger darin zu, dass "die Metaphysik der

Objektivität in einem Denken gipfelt, das die Wahrheit des Seins mit der

14

Berechenbarkeit, Messbarkeit und endgültigen Manipulierbarkeit des Objekts der

technik-orientierten Wissenschaft gleichsetzt." (S. 22) Denn wenn man Rationalität

mit dem Bemühen um universelle intersubjektive Übereinstimmung gleichsetzt

und Wahrheit mit der Frucht eines solchen Bemühens, und wenn man außerdem

behauptet, dass diesem Streben nichts übergeordnet werden darf, dann wird man

die Religion nicht nur aus dem öffentlichen, sondern auch aus dem intellektuellen

Leben hinausdrängen. Und zwar deshalb, weil man in diesem Fall die

Naturwissenschaften zum Paradigma von Rationalität und Wahrheit erklärt hätte.

Dann müsste man Religion entweder als einen erfolglosen Konkurrenten empirischer

Untersuchung oder "bloß" als ein Vehikel emotionaler Befriedigung denken.

Um die Religion vor der Onto-Theologie zu bewahren, muss man sagen, das

Streben nach intersubjektiver Übereinstimmung sei nur ein menschliches Bedürfnis

unter vielen anderen und steche nicht automatisch alle anderen Bedürfnisse aus.

Auf diesen Satz könnten sich Nietzsche und Heidegger mit James und Dewey

einigen. Alle Vier dieser Anti-Cartesianer haben grundsätzliche Einwände gegen

den pejorativen Gebrauch des Wortes "bloß" in Wendungen wie "bloß privat"

oder "bloß literarisch", "bloß ästhetisch", "bloß emotional". Alle Vier geben erstens

Gründe dafür an, dass die Unterscheidung zwischen dem Kognitiven und dem

Nicht-Kognitiven genau wie die Unterscheidung zwischen der Befriedigung von

öffentlichen und der Befriedigung von privaten Bedürfnissen zu behandeln sei;

und zweitens bestehen sie darauf, dass an den "privaten Bedürfnissen" nichts

"bloß" sei. Alle Vier versuchen - in den Worten, die Vattimo zur Beschreibung

Heideggers verwendet : "uns aus einem Denkhorizont herauszuhelfen, der ein

Feind der Freiheit und der Geschichtlichkeit des Seins" ist. (S. 22)

Bleibt man in diesem Denkhorizont und hält man deshalb Epistemologie und

Metaphysik weiterhin für vorrangige Philosophie, dann wird man überzeugt sein,

dass alle Behauptungen, die man aufstellt, kognitiven Gehalt haben müssen.

Eine Behauptung hat einen derartigen Gehalt, sofern sie in das Gesellschaftsspiel

eingebunden ist, das der amerikanische Gegenwartsphilosoph Robert Brandom

"Gründe geben und Gründe verlangen" nennt. Wer sagt, Religion solle privatisiert

werden, meint damit jedoch, dass religiöse Menschen das Recht haben müssen,

zu bestimmten Zwecken aus diesem Spiel auszuscheiden. Es steht ihnen zu,

ihre Behauptungen abzukoppeln vom Netzwerk der sozial akzeptablen Inferenzen,

die Rechtfertigungen für das Aufstellen derartiger Behauptungen liefern und

praktische Konsequenzen daraus ziehen, dass sie aufgestellt wurden.

Vattimo scheint mir auf eine in diesem Sinn privatisierte Religion abzuzielen,

wenn er die Säkularisierung der europäischen Kultur als die Erfüllung eines

Versprechens beschreibt: der Verheißung, dass Gott uns mit der Menschwerdung,

15

verstanden als kenosis, alles aushändigt. Je weiter säkularisiert, je weniger

hierokratisch die westliche Welt wird, um so besser verwirklicht sie die Verheißung

des Evangeliums, dass Gott uns nicht mehr als Knechte, sondern als Freunde

sehen werde. Laut Vattimo ist "das Wesen der Offenbarung reduziert auf Caritas,

christliche Liebe, alles andere dagegen bleibt der Unbestimmtheit verschiedenartiger

geschichtlicher Erfahrungen überlassen". (S. 86)

Indem Vattimo Gottes Selbstentäußerung und den Versuch der Menschen, Liebe

als das einzige Gesetz zu denken, als Seite und Kehrseite einer Medaille darstellt,

kann er alle die großen Demaskierer der westlichen Welt, von Kopernikus und

Newton bis hin zu Darwin, Nietzsche und Freud, als Menschen sehen, die Werke

der Liebe ausführen. Sie haben, wie er sagt, "die Zeichen der Zeit gelesen ohne

jeden Vorbehalt außer dem Liebesgebot" (S. 71) Sie folgten Christus insofern,

als "Christus selbst der Demaskierer ist und dass die Demaskierung, die er

einleitete, ... der Sinn der Heilsgeschichte selbst ist." (S. 71)

Zu fragen, ob dies eine "legitime" oder "gültige" Version des Katholizismus oder

des Christentums sei, hieße genau die falsche Frage stellen. Der Begriff "Legitimität"

lässt sich nicht auf das anwenden, was Vattimo oder irgendwer sonst mit seiner

Einsamkeit anfängt. Wer eine solche Anwendung versucht, behauptet implizit,

niemand habe ein Recht, zu den Hochzeiten, Taufen und Trauergottesdiensten

von Freunden und Verwandten zu gehen, es sei denn, er erkenne an, dass

kirchliche Einrichtungen allein befugt sind zu entscheiden, wer als Christ zählt

und wer nicht. Oder auch: niemand habe das Recht, sich Jude zu nennen, es sei

denn, er befolge dieses rituelle Gebot und nicht jenes.

Ich kann die Einstellung, die ich mit Vattimo teile, wie folgt, zusammenfassen:

Der Kampf zwischen Religion und Naturwissenschaft im neunzehnten Jahrhundert

war ein Kampf zwischen Institutionen um die kulturelle Oberherrschaft. Für die

Religion wie für die Wissenschaft war es nur gut, dass die Wissenschaft diesen

Kampf gewann. Denn Wahrheit und Wissen sind eine Sache der sozialen

Kooperation , und die Wissenschaft gibt uns die Mittel an die Hand, bessere

kooperative soziale Pläne auszuführen als zuvor. Wenn man Wahrheit will, dann

ist die jeweils aktuelle Verbindung von Wissenschaft und gesundem

Menschenverstand alles was man braucht. Wenn man aber etwas anderes als

Wahrheit will, dann ist eine Religion, die vom epistemischen Schauplatz abgezogen

wurde, eine Religion, die das Problem Theismus versus Atheismus nicht interessant

findet, womöglich genau das Richtige für die eigene Einsamkeit.

Vielleicht ist es so, vielleicht aber auch nicht. Zwischen Leuten wie mir und Leuten

wie Vattimo besteht immer noch ein großer Unterschied. Das ist nicht überraschend,

16

wenn man bedenkt, dass er als Katholik erzogen ist und ich ganz ohne Religion

aufgewachsen bin. Nur wenn man meint, eine Sehnsucht nach Religiosität sei

irgendwie präkulturell und verrate "ein menschliches Grundbedürfnis", wird man

nicht bereit sein, die Sache an diesem Punkt auf sich beruhen zu lassen, wird

man Religion nicht vollständig privatisieren, das heißt, von der Forderung nach

Universalität entlasten wollen.

Wenn man jedoch die Idee aufgibt, dass die Suche nach Wahrheit oder die Suche

nach Gott allen menschlichen Organismen fest einmontiert sei, und wenn man

statt dessen die Möglichkeit offen lässt, dass beide auf kulturelle Prägung

zurückgehen, dann wird eine solche Privatisierung ganz natürlich und richtig

erscheinen. Vattimo und seinesgleichen werden dann nicht mehr denken, der

Mangel an religiösen Empfindungen sei Zeichen von Vulgarität, und Leute

meinesgleichen werden nicht mehr denken, das Vorhandensein solcher Gefühle

sei Zeichen von Feigheit. Wir Kontrahenten können uns dann in unseren Verzicht

auf derartig unfreundliche Erklärungen vom 1. Korinther 13 bestärken lassen.

Der Kern meiner Differenzen mit Vattimo ist, dass er etwas Vergangenes als heilig

ansieht, während ich überzeugt bin, dass Heiligkeit ihren Platz nur in einer idealen

Zukunft hat. Vattimo hält Gottes Entschluss, sich aus unserem Herrn in unserem

Freund zu verwandeln, für das entscheidende Ereignis der Vergangenheit, auf

das wir in unseren gegenwärtigen Bestrebungen angewiesen sind. Nach seinem

Verständnis ist das Heilige verknüpft mit unserer Erinnerung an jenes Ereignis.

Nach meinem Verständnis, soweit ich eines habe, ist das Heilige verknüpft mit

der Hoffnung, dass meine fernen Nachkommen eines Tages, irgendwann in einem

späteren Jahrtausend, in einer globalen Zivilisation leben werden, die mehr oder

weniger ausschließlich unter dem Gebot der Liebe steht. In einer solchen

Gesellschaft wäre die Kommunikation herrschaftsfrei, Klassen und Kasten

unbekannt, Hierarchie käme nur zeitlich begrenzt und zu pragmatischen Zwecken

vor, und Macht wäre ganz und gar Sache der freien Übereinkunft einer lese- und

schreibkundigen, gut ausgebildeten Wählerschaft.

Ich habe keine Idee, wie eine solche Gesellschaft zustande kommen mag. Es ist

ein Mysterium, könnte man sagen. In diesem Mysterium geht es wie in dem der

Menschwerdung um das Entstehen einer Liebe, die langmütig und freundlich ist

und alles duldet. Der Text des Ersten Korinther 13 ist für beide Parteien in gleicher

Weise von Nutzen - für religiöse Menschen wie Vattimo mit ihrem Gefühl von

Abhängigkeit gegenüber dem, was in ihrem Verständnis unseren gegenwärtigen

Zustand transzendiert, nicht anders als für Nichtreligiöse, in deren Verständnis

nur Hoffnung auf eine bessere Zukunft über die Gegenwart hinausweist. Die

Differenz zwischen diesen beiden Gruppen ist der Unterschied zwischen einer

17

Nostalgie, die man nicht rechtfertigen kann, und einer Hoffnung, für die es auch

keine Rechtfertigung gibt. Das ist jedoch kein Widerstreit zweier Glaubensrichtungen

hinsichtlich dessen, was existiert oder nicht existiert. Deshalb möchte ich denken,

dass wir, Vattimo und ich, beide wenigstens einen kleinen Schritt über den Streit

zwischen Theismus und Atheismus hinausgekommen sind.

Übersetzung: Christa Krüger.Gianni Vattimo, Credere di Credere , wurde - mit leichten Anpassungen an die

englische Version - zitiert nach der deutschen Übersetzung von Christiane Schultz:

Glauben - Philosophieren, Reclam, Stuttgart 1997. Das Vattimo-Zitat aus Religion

wurde zitiert nach Gianni Vattimo, "Die Spur der Spur" (Übersetzung: Hella Beister),

in: J. Derrida, Gianni Vattimo, Die Religion, Suhrkamp, Frankfurt 2001

18

P R E S S E I N F O R M A T I O N

Das Entzücken am Schock der Deflationierung.

Meister-Eckhart-Preis für Richard Rorty

- Es gilt das gesprochene Wort -

Es überrascht nicht, dass die Jury, die einem neuen Preis Aufmerksamkeit und

Anerkennung verschaffen möchte, als ersten Preisträger einen Autor mit Weltgeltung

wählt - und auf die selbstdefinierende Bedeutung dieser Entscheidung vertraut.

Auf den ersten Blick hat freilich die Zusammenführung des amerikanischen

Pragmatisten mit einem als deutschem Mystiker gefeierten Theologen einen leicht

surrealen Überraschungseffekt.

Gewiss lassen sich auch Parallelen finden. Rorty schreibt ein literarisches Englisch.

Als brillanter Schriftsteller geht er mühelos von einer Textsorte zur anderen über.

Die Prosa der wissenschaftlichen Abhandlung und der philosophischen Monographie

zehrt auch von der glänzenden Rhetorik des Redners und dem prägnanten Stil

des Essayisten. Dieses Talent erinnert an die sprachschöpferische Kraft des

gelehrten Dominikaners, der sich in seinen Tischlesungen, Predigten und

Unterweisungen des Lateinischen entledigt und ein spirituelles Vokabular in die

Volkssprache einführt – ins „barbarisch“ Deutsch, das der Welt der Theologen

damals noch weithin als „die Sprache des Teufels“ galt. Übrigens kann man, ganz

ohne pejorativen Unterton, auch von Rorty sagen, dass er das Predigen nicht

scheut. Fremd ist ihm die missionarische Gabe der inspirierten, die Hörer

begeisternden Rede nicht. Im Publikum sind übrigens Frauen bevorzugte Adressaten

– hier die Beginen, dort die Feministinnen.

Eine andere Parallele ist der Makel der Häresie. Im späten zwanzigsten Jahrhundert

verfügt zwar die philosophische Profession nicht mehr - wie seinerzeit der Erzbischof

von Köln und der Papst in Avignon - über die Autorität, achtundzwanzig abweichende

Glaubenswahrheiten zu inkriminieren. Aber die Exkommunikation, die der harte

Kern der Analytiker an ihrem abtrünnigen, wenngleich international anerkannten

und einflussreichen frater doctus vollziehen, folgt einem nicht minder schmerzlichen

Ritual. Vor diesem Hintergrund rechtfertigt schon der ironische Umstande, dass

Rorty heute die Stellung eines Professors für vergleichende Literaturwissenschaften

einnimmt, eine Auszeichnung des Philosophen im Namen von Meister Eckhart.

19

"Habe ich ein Recht, religiös zu sein?", von der Frage: "Soll jeder an die Existenz

Gottes glauben?"

Im selben Maß, in dem man die bekannte Hume/Kant-Kritik der natürlichen

Theologie akzeptiert, jedoch nicht einverstanden ist mit der positivistischen

Behauptung, dass der explanatorische Erfolg der modernen Wissenschaft den

Glauben an Gott als irrational erwiesen habe, im selben Maß wird man dazu

neigen, den Begriff Glauben für eine unglückliche Charakterisierung von Religiosität

zu halten. Und man wird Vattimos Versuch begrüßen, die Religion vom

epistemischen Schauplatz abzuziehen, einem Schauplatz, auf dem sie dem Angriff

der Naturwissenschaften ausgesetzt scheint.

Derartige Versuche sind nicht neu. Kants Vorschlag, Gott als ein Postulat der

reinen praktischen Vernunft und nicht als eine Erklärung natürlicher Erscheinungen

anzusehen, ebnete den Weg, so dass Denker wie Schleiermacher eine "Theologie

der symbolischen Formen" entwickeln konnten. Kierkegaard, Barth und Levinas

gingen auf diesem Weg weiter und machten Gott zum ganz Anderen - jenseits

der Reichweite nicht nur von Beweis und Argument, sondern auch von diskursivem

Denken.

Vattimos Bedeutung liegt darin, dass er diese unseligen post-Kantischen Initiativen

beide ablehnt. Den Versuch, Religion mit Wahrheit zu verknüpfen, weist er zurück

und hat deshalb keine Verwendung für Vorstellungen von der Art einer

"symbolischen", "emotionalen", "metaphorischen" oder "moralischen" Wahrheit.

Ebenso wenig kann er jene Theologie brauchen, die er "existentialistisch" nennt

- für sie beruht Religiosität darauf, dass Rettung von der Sünde nur aus der

unbegreiflichen Gnade einer Gottheit kommen könne, die ganz anders als die

Menschen ist.

Vattimos Theologie ist, wie er selbst sagt, auf die "Halb-Gläubigen" zugeschnitten,

die "Lauen im Glauben" des Proto-Existentialisten Paulus - diejenigen, die nur

zu Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen in die Kirche gehen (Vgl S. 75). Vattimo

lässt sich nicht auf die Passagen aus dem Römerbrief ein, die Karl Barth am

höchsten schätzte, er reduziert die christliche Heilsbotschaft auf die Paulus-Stelle,

die von den meisten anderen Menschen am höchsten geschätzt wird: Kapitel 13

des Ersten Korintherbriefs. Er bereitet eine überraschende Behauptung strategisch

vor, indem er die Menschwerdung als einen Akt auslegt, in dem Gott all seine

Macht und Autorität und all sein Anderssein zum Opfer gebracht habe. Die

Menschwerdung sei eine kenosis gewesen, eine Entäußerung, mit der Gott den

Menschen alles in die Hände gab. Durch diese Auslegung kommt Vattimo zu

seiner entscheidenden Behauptung: Die "Säkularisierung" sei "konstitutives

Die nun auch amtlich angesonnene Beschäftigung mit Literatur betrachtet Rorty

freilich nicht - wie andere Kollegen aus den philosophischen Fachbereichen der

Elite-Universi-täten - als Umweg oder gar als Abweg. Die Frage, wen Philosophen

mehr beneiden, Naturwissenschaftler oder Dichter, dient ihm sogar als Lackmustest.

Er selber kann sich nicht vorstellen, einen Mathematiker oder Physiker zu beneiden,

aber er ist sich nicht sicher, ob Quine sich hätte vorstellen können, Blake oder

Rilke zu beneiden. Die Liebe zu Blake oder Nietzsche verrät den unverbesserlichen

Romantiker, der der Genieästhetik einen beinahe schwärmerischen, ins

Anthropologische erweiterten Begriff von Poiesis als Sinnschöpfung, von

neuerungssüchtiger Produktivität und sich selbst entwerfender Subjektivität

entlehnt.

Aber dieser produktionsästhetische Begriff der schöpferisch-selbstschöpferischen

Subjektivität bildet keine Brücke zum „Seelenfunken“ des Meister Eckhart. Bei

genauerem Hinsehen verbindet den Nominalisten und Naturalisten, der dem

diskursiven Ideal vermittelnder Erkenntnis anhängt, nicht viel mit der platonisch-

neuplatonischen Seelenspekulation, die nur ein Ziel kennt – „Gott zu schauen

unmittelbar in seinem eigenen Sein“. Eckharts Worte, die diesen wortlosen Akt

augenschließender Kontemplation umkreisen, sind im übrigen so vieldeutig, dass

sie den Autor der deutschen Predigten vor einer fatalen Wirkungsgeschichte nicht

bewahrt haben. Rorty, dem unmissverständlich Linksliberalen, wird dieses Schicksal

ideologischer Ausdeutung und Ausbeutung erspart bleiben.

Was den Inhalt beider Werke betrifft, könnte allenfalls Eckharts berühmte

Interpretation von Lukas 10, 38ff. eine gewisse Verwandtschaft mit Rortys Vorliebe

für eine pragmatis-tische Bewertung von Theorien im Lichte ihrer

handlungsrelevanten Folgen begründen. Denn entgegen dem biblischen Wortlaut

erhebt Eckhart Martha, die tätige Hausfrau, die sich für ihre Gäste abrackert, über

ihre Schwester Maria, die dem Herrn reglos zu Füßen sitzt, um dessen Worten

zu lauschen. Die an Hegel erinnernde Kritik der „schönen Seele“, die, wie Eckhart

von Maria sagt, „im Wohlgefühl und in der Süße stecken bleibt“, verweist jedoch

auf die „Verrichtung der Werke“ nur als den richtigen Weg, der zur intuitiven

Vereinigung der Seele mit Gott hinführt: die Verschmelzung ist am Ende „frei und

ledig alles Vermittelnden“. Ein pragmatistischer Gehalt ist dieser Interpretation

nicht abzugewinnen. An Rorty erinnert allein der Akt der kühnen und schockierenden

Umkehrung einer kanonisierten Rangordnung.

Rorty folgt Nietzsche in der ähnlich radikalen Umwertung platonischer

Unterscheidungen. Er möchte die architektonisch tragenden Oppositionsbegriffe

Wesen und Erscheinung oder wahr und unwahr aus dem Verkehr ziehen und das

Gebäude einer platonis-tisch von sich entfremdeten Kultur zum Einsturz bringen.

20

Rorty teilt Wittgensteins Auf-fassung, dass das falsche, in sich verhakte Leben

auf falsche, verstellende Begriffe zurückgeht. Nur diese metaphysische Prämisse

erklärt die kulturkritische Emphase des Vorhabens einer metaphysikkritischen

Umerziehung der Zeitgenossen. Die Kur, die Rorty empfiehlt, verschleiert das

zugrundeliegende Motiv des ganzen Unternehmens.

Rorty hat den Wunsch, der Philosophie jene lebenspraktische Bedeutung

zurückzugeben, die sie einmal beansprucht hat. Sie soll, indem sie dem Einzelnen

Orientierung anbietet und den moralischen Fortschritt der Menschheit befördert,

den Zustand der Welt verbessern helfen. Nicht eben kleinmütig entwirft Rorty eine

liberale Utopie: „das Bild von einem Planeten, auf dem alle Angehörigen unserer

Gattung Sorge tragen für das Geschick aller übrigen Angehörigen.“ Freilich soll

die Philosophie dieses Ziel nur verwirklichen können, indem sie sich als Philosophie

aufhebt – diesmal nicht durch die revolutionäre Umwälzung der Verhältnisse,

sondern durch eine mit und an der Philosophie vollzogene Umwälzung. Die

revolutionäre Forderung richtet sich gegen die Philosophie selber, gegen ein

vermeintlich desaströses Selbstverständnis der Philosophen, mit dem sie heute

ihrer eigentlichen Mission im Wege stehen. Das verhaltene Pathos ist eines der

Dekonstruktion. Rorty lässt aus hochtrabenden Allgemeinbegriffen, die über das

versehrbare Einzelne achtlos hinweggehen, gleichsam die Luft raus. Die brillante

Zuspitzung des nominalistischen Protestes verrät das schriftstellerisch kalkulierte

Entzücken am Schock der Deflationierung. In der Ästhetik der Darstellungsform,

nicht im Politischen, überlässt sich Rorty seinem anarchistischen Temperament.

Wir sollen die Suche nach absoluten Wahrheiten aufgeben und nicht länger

danach streben, das Wesen oder die Natur der Dinge zu ergründen. Wir sollen

Wahrheitssuche und Erkenntnisstreben durch eine rhetorische Praxis ersetzen,

die weniger an überschießenden Ideen als an den handgreiflichen Folgen der

Gedanken orientiert ist. Ist erst einmal die Nutzlosigkeit der ontologischen

Unterscheidung zwischen Wesen und Erscheinung, der epistemologischen

Unterscheidung zwischen Sein und Schein, der semantischen Unterscheidung

zwischen wahr und falsch durchschaut, kann sich die philosophische Arbeit an

den praktischen Zielen von „Leistungssteigerung“ und „Toleranz“ ausrichten.

Der wissenschaftliche Fortschritt bemisst sich an den prognostischen Erfolgen

von Theorien, die über technische Neuerungen in eine Verbesserung der

Lebensbedingungen umgesetzt werden können. Der gesellschaftliche Fortschritt

bemisst sich an der immer weitergehenden Einbeziehung von Marginalisierten

und Fremden in jene Art der Loyalität, die wir gegenüber unseren Nächsten

empfinden. Der moralische Fortschritt manifestiert sich in der wachsenden

Sensibilität gegenüber dem Leiden anderer und in der Eliminierung von

21

Grausamkeiten. Das klingt populär und ist es auch. Aber hinter der Fassade des

Volkspädagogen verbirgt sich eine Theorie, die ein breitenwirksames Buch wie

„Kontingenz, Ironie und Solidarität“ (1989) erst mit soliden Gründen ausstattet.

In schroffem Gegensatz zu irrlichternden Philosophie-Entertainern, die sich mit

funkelnden Formulierungen beim anspruchsvoll zerstreuten Medienpublikum

Ansehen erwerben, arbeitet Rorty professionell. Er ist ein eminent scharfsinniger,

hoch produktiver, hartnäckig analysierender, neugieriger und kontinuierlich lernender

Philosoph auf der Höhe seiner Profession. Gewiss sieht er die Debatten des

Faches eingebettet in den Zusammenhang eines größeren kulturellen Wandels.

Aber nur weil er an den Debatten der Zunft, oft genug als innovativ treibende

Kraft, teilnimmt, fühlt er sich bei exoterischen Auftritten berechtigt, aus den vielen

kleinteiligen Argumenten große Schlüsse zu ziehen. Bei allem Hohn, den er

gelegentlich über die Profession ausschüttet, hält er sich an deren Standards,

wenn er eigene Gedanken entwickelt und erprobt: „Wir Philosophieprofessoren

können in einem fort kleinteilige Argumente für oder gegen die Korrespondenztheorie

der Wahrheit, für oder gegen die Objektivität von Werten aufbieten.

Wir gingen unserem Beruf nicht nach, wenn wir nicht ständig solche Argumente

hin und her wendeten.“

In seinem bahnbrechenden Werk „The Mirror of Nature“ (1979) hat Rorty jene

mentalis-tischen Grundannahmen demontiert, die die Hauptströmungen von

cognitive science und zeitgenössischer Semantik immer noch mit der klassischen

Erkenntnistheorie des 17. und 18. Jahrhunderts verbinden. Seitdem ziehen sich

die Themen Wahrheit und Objektivität durch die unermüdlich fortgesponnenen

Argumentationsfäden, die Roery seit Jahrzehnten nicht nur mit Donald Davidson

und Hilary Putnam, John Searle und Chuck Taylor, Hans Georg Gadamer und

Jacques Derrida verbinden. Jugendlich frisch kommentiert er jede halbwegs

aufregende Neuerscheinung von Dennett, Brandom, McDowell oder Crispin

Wright. Jede Kritik würdigt er mit penibler Verteidigung oder mit einem

überraschenden Revirement der Schlachtordnung. Letztlich will er mit einem

einzigen Problem fertig werden – oder besser: mit den Folgeproblemen des

Vorschlages, den er zur Lösung dieses Problems entwickelt hat.

Das Problem selbst ist schnell skizziert. Einerseits erheben wir mit Behauptungen

einen absoluten Anspruch auf die Wahrheit des Gesagten. Wenn wir etwas für

wahr halten, meinen wir nicht, dass es nur hier und jetzt gilt, nur für uns wahr ist,

aber nicht für andere. Wenn Aussagen wahr sind, sind sie es unter allen Umständen

und für jedermann. In diesem Sinne ist „Wahrheit“ eine „unverlierbare“ Eigenschaft

von Aussagen. Andererseits verwenden wir das Prädikat „wahr“ nur im

Zusammenhang von Gründen, mit denen Opponenten oder Proponenten die

22

verstanden als kenosis, alles aushändigt. Je weiter säkularisiert, je weniger

hierokratisch die westliche Welt wird, um so besser verwirklicht sie die Verheißung

des Evangeliums, dass Gott uns nicht mehr als Knechte, sondern als Freunde

sehen werde. Laut Vattimo ist "das Wesen der Offenbarung reduziert auf Caritas,

christliche Liebe, alles andere dagegen bleibt der Unbestimmtheit verschiedenartiger

geschichtlicher Erfahrungen überlassen". (S. 86)

Indem Vattimo Gottes Selbstentäußerung und den Versuch der Menschen, Liebe

als das einzige Gesetz zu denken, als Seite und Kehrseite einer Medaille darstellt,

kann er alle die großen Demaskierer der westlichen Welt, von Kopernikus und

Newton bis hin zu Darwin, Nietzsche und Freud, als Menschen sehen, die Werke

der Liebe ausführen. Sie haben, wie er sagt, "die Zeichen der Zeit gelesen ohne

jeden Vorbehalt außer dem Liebesgebot" (S. 71) Sie folgten Christus insofern,

als "Christus selbst der Demaskierer ist und dass die Demaskierung, die er

einleitete, ... der Sinn der Heilsgeschichte selbst ist." (S. 71)

Zu fragen, ob dies eine "legitime" oder "gültige" Version des Katholizismus oder

des Christentums sei, hieße genau die falsche Frage stellen. Der Begriff "Legitimität"

lässt sich nicht auf das anwenden, was Vattimo oder irgendwer sonst mit seiner

Einsamkeit anfängt. Wer eine solche Anwendung versucht, behauptet implizit,

niemand habe ein Recht, zu den Hochzeiten, Taufen und Trauergottesdiensten

von Freunden und Verwandten zu gehen, es sei denn, er erkenne an, dass

kirchliche Einrichtungen allein befugt sind zu entscheiden, wer als Christ zählt

und wer nicht. Oder auch: niemand habe das Recht, sich Jude zu nennen, es sei

denn, er befolge dieses rituelle Gebot und nicht jenes.

Ich kann die Einstellung, die ich mit Vattimo teile, wie folgt, zusammenfassen:

Der Kampf zwischen Religion und Naturwissenschaft im neunzehnten Jahrhundert

war ein Kampf zwischen Institutionen um die kulturelle Oberherrschaft. Für die

Religion wie für die Wissenschaft war es nur gut, dass die Wissenschaft diesen

Kampf gewann. Denn Wahrheit und Wissen sind eine Sache der sozialen

Kooperation , und die Wissenschaft gibt uns die Mittel an die Hand, bessere

kooperative soziale Pläne auszuführen als zuvor. Wenn man Wahrheit will, dann

ist die jeweils aktuelle Verbindung von Wissenschaft und gesundem

Menschenverstand alles was man braucht. Wenn man aber etwas anderes als

Wahrheit will, dann ist eine Religion, die vom epistemischen Schauplatz abgezogen

wurde, eine Religion, die das Problem Theismus versus Atheismus nicht interessant

findet, womöglich genau das Richtige für die eigene Einsamkeit.

Vielleicht ist es so, vielleicht aber auch nicht. Zwischen Leuten wie mir und Leuten

wie Vattimo besteht immer noch ein großer Unterschied. Das ist nicht überraschend,

Wahrheit einer Behauptung angreifen oder rechtfertigen. Wahrheitsansprüche

sind von Haus aus auf Kritik und Rechtfertigung bezogen. Diese epistemische

Abhängigkeit der Wahrheitsfeststellung von einer Rechtfertigungspraxis, die immer

auch fehlschlagen kann, hat aber eine fatale Konsequenz für den Anspruch auf

absolute Geltung. Anders als „Wahrheit“ ist „Begründen“ ein publikumsbezogener

und hörerrelativer Erfolgsbegriff: „Auch unter der Voraussetzung, dass ‚wahr’ ein

absoluter Begriff ist, werden die Anwendungsbedingungen immer relativ bleiben.

Denn so etwas wie eine Überzeugung, die schlechthin gerechtfertigt oder ein für

alle mal begründet wäre, gibt es nicht...Es gibt keine Überzeugungen, von denen

man wissen kann, dass sie gegen jeden möglichen Zweifel gefeit wären.“

Auf dieses Problem können wir natürlich auf verschiedene Weise reagieren. Rorty,

und das ist der Stein des Anstoßes, empfiehlt die Eliminierung des Wahrheitsbegriffs.

Er möchte ihn durch den Begriff der gerechtfertigten Behauptbarkeit, der ohnehin

die ganze Arbeit leisten muss, ersetzen. Mit diesem Zug hat Rorty

Auseinandersetzungen provoziert, die ich an dieser Stelle nicht fortsetze. In

unserem Zusammenhang interessiert das Motiv für diesen Vorschlag: Rorty wählt

die radikalste unter den möglichen Antworten wohl deshalb, weil er genau die

Konsequenzen, vor denen seine Kollegen zurückschrecken, für wünschenswert

hält.

Indem wir dem undefinierbaren Wahrheitsbegriff jedes philosophische Interesse

absprechen, so mag sich Rorty gesagt haben, entledigen wir uns nicht nur der

irreführenden Intuition, als sei unsere Erkenntnis ein Abbild oder Spiegel der

Natur. Mit dem Verzicht auf eine kontextunabhängige Wahrheitsgeltung und mit

der Verabschiedung einer objektiven, von unserem Geiste unabhängigen Welt,

mit der Zurückführung von Rationalität „überhaupt“ auf je „unsere“ Rationalität

oder mit der Aufweichung des Gegensatzes von Kommunikation und Manipulation,

Überzeugen und Überreden – kurzum, mit der Verflüssigung platonischer

Grundbegriffe lockern sich, so scheint es, imaginäre Zwänge, denen wir uns ganz

ohne Not unterworfen haben. Auf die Kontingenzspielräume, die so entstehen,

wirft Rorty dann einen romantisierenden Blick.

Für ihn bedeutet das wachsende Kontingenzbewusstsein einen Fortschritt im

Bewusstsein der Freiheit. Es ist Chance und Ansporn zu Kreativität, zur Erfindung

neuer Vokabulare für ein verändertes Selbst- und Weltverständnis. Mit Innovation

und Experiment kommen Erfahrungen der ästhetischen Avantgarde zum Zuge.

Das Außeralltägliche der existentiellen Lebensentwürfe muss allerdings mit den

Gerechtigkeitsforderungen des politischen Liberalismus und mit den Aufgaben

des demokratischen Intellektuellen in Einklang bleiben. Auch wenn jede der beiden

Seiten einen eigenen Altar und einen eigenen Hausgott behält. Heidegger und

23

Dewey treten ein komplementäres Verhältnis zueinander.

Rorty gehört zu den an einer Hand abzählbaren amerikanischer Intellektuellen,

deren Stimme über den ganzen Kontinent hinweg gehört wird. In seinen couragierten

und völlig uneitlen Parteinahmen äußert sich eine nicht unkritische, aber

ungebrochene Loyalität gegenüber dem eigenen Land. Es ist ein Patriotismus

aus Brechtschem Geist: „...Und weil wir dies Land verbessern, lieben und

beschirmen wir’s.“ Wiederum besteht ein transparenter Zusammenhang zwischen

den skrupulös verteidigten philosophischen Auffassungen und den erfrischend

offenen politischen Stellungnahmen. Das zeigt sich auch an jüngsten Kommentaren

zum Eingreifen in Afghanistan. In der Rationalitätsdebatte hatte Rorty gegen die

hermeneutische Auffassung von der Reziprozität des Ver-stehens einen

methodischen Ethnozentrismus zur Geltung gebracht. Diese philosophische

Stellung spiegelt sich nun in einer ziemlich umstandslosen Parteinahme für einen

selbstbewussten Umgang der säkularen humanistischen Kultur des Westens mit

den anderen Kulturen.

Eine Laudatio ist nicht der Ort zum Einspruch. Widersprechen muss ich aber einer

captatio benevolentiae, mit der der Autor sein letztes Buch in eigener Sache

einleitet. Dort stellt er nämlich der Originalität der großen Philosophen die Neugier

des Eklektikers gegenüber, um sich selbst unter die Nichtgenies einzureihen: „Ich

werde unruhig, sehe mich nach neuen Helden um, während ich den alten

einigermaßen die Treue halte. Und so ist es gekommen, dass ich mich zum

Synkretisten gemausert habe. Aber auch der erfolgreichste Synkretismus kann

nicht hoffen, es den wahrhaft heroischen Leistungen (der großen Philosophen)

gleichzutun.“ Wir sollten Rorty die Demutsgeste, auch wenn sie alles andere als

scheinheilig ist, schon deshalb nicht durchgehen lassen, weil sie auf einer falschen

Prämisse beruht.

Die neuen Vokabulare, um die er Plato, Hegel und Nietzsche beneidet, fallen

nicht vom Himmel, sind keine poetischen Welterschließungen, die über uns

kommen. Neue Perspektiven, die das uns Bekannte in einem anderen Licht sehen

und auf neue Weise beschreiben lassen, werden nicht genial erzeugt; sie entstehen

aus einfallsreichen Antworten auf Probleme, mit deren Lösungen wir uns über

lange Strecken abmühen. Erst die frustrierende Arbeit an hartnäckigen Problemen

gibt den Anstoß zu kreativen Einfällen. Für dieses innovative Zusammenspiel von

Phantasie und kleinteiliger Argumentation gibt es kein besseres Beispiel als das

faszinierende Werk des heute zu ehrenden Philosophen, dem wir nicht erlauben

können, sein Licht unter den Scheffel

zu stellen.

24

P R E S S E I N F O R M A T I O N

Kurzporträt Identity Foundation

Düsseldorf/Berlin, 3. Dezember 2001 – Die Identity Foundation ist eine

gemeinnützige Stiftung zur Wissenschaftsförderung. Ihr Schwerpunkt sind

Forschungen zum Selbstverständnis von Personen, Gruppen und Institutionen.

Die Stiftung wurde ins Leben gerufen vom Gründer der Kommunikationsagentur

ECC Kohtes Klewes, Paul J. Kohtes, und seiner Frau Margret.

Die Identity Foundation entwickelt und fördert Projekte, in denen Fragen der

persönlichen, sozialen und interkulturellen Identität wissenschaftlich interdisziplinär

und allgemeinverständlich aufgearbeitet werden. Der wissenschaftliche Beirat

besteht aus folgenden Personen: Professor Dr. Eugen Buß (Vorsitzender),

Inhaber des Lehrstuhls für Soziologie der Universität Hohenheim, Stuttgart,

Professor Dr. Erhard Meyer-Galow, Gastprofessor an der Ruhruniversität

Bochum, früher Vorstandsvorsitzender Stinnes AG und Vorstandsmitglied der

VEBA AG (E.ON), Professor Dr. Muneto Sonoda, Leiter des japanischen

Kulturzentrums EKO-Haus in Düsseldorf, Dr. Rainer Zimmermann, CEO der

BBDO-Group Germany.

Den Vorstand der Identity Foundation bilden: Paul J. Kohtes (Vorsitz) und Dr.

Ulrich Freiesleben, Unternehmer aus Münster.

Zur Zeit werden neben dem Meister-Eckhart-Preis folgende Projektebearbeitet:

Quellen der IdentitätEine Studie zu Selbstverständnis und Sendungsbewusstsein von Top-Managern.

Diese aktuelle Untersuchung liefert Erkenntnisse über die Schnittstelle von

Personal Identity und Corporate Identity. Anhand empirischer Analysen wurden

die Quellen erforscht, aus denen sich die Identität von Führungspersönlichkeiten

der ersten Ebene speist. Unter den Befragten befanden sich zu 30 Prozent

Vorstandsvorsitzende, stellvertretende Vorstandsvorsitzende bzw. Vorsitzende

von Aufsichtsräten, zu 38 Prozent Vorstandsmitglieder sowie zu 32 Prozent

persönlich haftende Gesellschafter, Inhaber und Geschäftsführer größerer deutscher

Unternehmen. Die Studie liefert einen umfassenden Überblick zum

Orientierungsrahmen und den Werthaltungen von Spitzenmanagern in Deutschland.

25

"seite"

Eine Folgestudie befasst sich mit den Managern der „New Economy“. Die

Ergebnisse werden Anfang 2002 erwartet.

Gesundheitsstudie

Im Auftrag der Identity Foundation untersuchte das Allensbach-Institut den

Einfluss des individuellen Körpergefühls auf das Identitätserlebnis. Ganz

in der Tradition des römischen Dichters Juvenal „mens sana in corpore

sano" wird dem Thema Gesundheit heute in der Gesellschaft ein enorm

hoher Stellenwert beigemessen. Die Identity Foundation wollte wissen, ob

die Deutschen sich bei Krankheit gut betreut fühlen, welche Erfahrungen

sie mit alternativen Heilmitteln und -verfahren gemacht haben und welchen

Ratgeber sie in Gesundheitsdingen vertrauen: Was die Menschen noch

von der Schulmedizin erwarten, welche Bedeutung Psychologie und

Glauben haben und wo sich der Durchschnitts-Patient heute informiert.

Die Untersuchung stützt sich auf 2.111 Face-to-face-Interviews mit einem

repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung ab 16 Jahren.

26

P R E S S E I N F O R M A T I O N

Kurzporträt: Meister Eckhart

Düsseldorf/Berlin, 3. Dezember 2001 – Der Philosoph und Theologe Meister

Eckhart lehrte und predigte um 1300 unter anderem in Köln, Paris und Straßburg.

Er gilt heute als ‚Schöpfer der deutschen wissenschaftlichen Prosa’ (Gustav

Landauer). Meister Eckhart war einer der ersten theologischen Wissenschaftler

des Mittelalters, der es wagte, wichtige Werke in Deutsch zu verfassen. Heute

gilt er ‚als einzig wirklich schöpferisch begabter spekulativer Kopf der deutschen

Mystik’ (Josef Quint). Seine Mystik ist frei von frömmelndem Glauben, sie ist

Skepsis und Pantheismus. Seine Gedanken haben die moderne Psychologie,

insbesondere bei C. G. Jung und Erich Fromm stark beeinflusst. Als ‚einen genialen

Seelenanalytiker‘ bezeichnete ihn sein bekanntester Übersetzer in heutiges

Deutsch, Josef Quint.

Eckhart wurde um 1260 in der Nähe von Gotha in Thüringen geboren. Bereits in

jungen Jahren trat er ins Dominikanerkloster Erfurt ein. Die Ordensleitung erkannte

rasch das herausragende Talent des jungen Mannes. 1294 hielt Eckhart bereits

seine ‚Antrittsvorlesung‘ an der Universität Paris. 1300 wurde er in Paris zum

Professor (Magister) berufen. Daraus leitet sich sein Titel „Meister“ ab. Weitere

Stationen seiner erstaunlichen Karriere waren die Ämter als Prior des Erfurter

Predigerklosters, Vikar von Thüringen, Provinzial der Ordensprovinz von Sachsen

bis in die Niederlande und Generalvikar von Böhmen. Immer wieder fand er die

Zeit, an der Pariser Universität sowie an der Ordenshochschule in Köln zu lehren

und Predigten und Schriften auf Deutsch und Latein zu verfassen.

Seine brillanten und oft provokanten Thesen (Beispiel: „Alle Kreaturen sind reines

Nichts“) riefen Neider und Kritiker auf den Plan. 1326 geriet er – trotz seiner

ranghohen Ämter – in die Mühlen der Inquisition. Ein intriganter und zermürbender

Prozess begann. Nur seine große Popularität und wissenschaftliche Bedeutung

schützten ihn vor einer persönlichen Verurteilung. Aber auch sein Besuch beim

Papst in Avignon 1328 konnte das Blatt nicht wenden. Nach seinem Tod, Eckhart

wurde etwa 68 Jahre alt, wurde sein Werk von Papst Johannes XXII in der

berühmten Bulle “In agro dominico“ (Auf dem Acker des Herrn) als weitgehend

ketzerisch verurteilt. In der Folge sind zahlreiche Schriften von ihm vernichtet

worden und Manches liegt nur in Fragmenten oder in nicht authentischen Abschriften

vor.

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Zu den bekanntesten erhaltenen deutschen Werken Meister Eckharts zählen vor

allem seine Predigten, aber auch die ‚Reden der Unterweisung‘, das Traktat ‚Vom

edlen Menschen‘ und die Abhandlung ‚Von der Abgeschiedenheit‘. Das lateinische

Hauptwerk besteht aus den fünf Auslegungen und Kommentaren zu drei Büchern

des Alten

Testaments – Genesis, Exodus und Sapientia – sowie zum Evangelium nach

Johannes.

Sehr zur heutigen Wiederentdeckung Meister Eckharts beigetragen hat die

Übersetzung seiner Werke aus dem Mittelhochdeutschen durch Josef Quint:

Deutsche Predigten und Traktakte, Diogenes TB 20642.

Rorty teilt Wittgensteins Auf-fassung, dass das falsche, in sich verhakte Leben

auf falsche, verstellende Begriffe zurückgeht. Nur diese metaphysische Prämisse

erklärt die kulturkritische Emphase des Vorhabens einer metaphysikkritischen

Umerziehung der Zeitgenossen. Die Kur, die Rorty empfiehlt, verschleiert das

zugrundeliegende Motiv des ganzen Unternehmens.

Rorty hat den Wunsch, der Philosophie jene lebenspraktische Bedeutung

zurückzugeben, die sie einmal beansprucht hat. Sie soll, indem sie dem Einzelnen

Orientierung anbietet und den moralischen Fortschritt der Menschheit befördert,

den Zustand der Welt verbessern helfen. Nicht eben kleinmütig entwirft Rorty eine

liberale Utopie: „das Bild von einem Planeten, auf dem alle Angehörigen unserer

Gattung Sorge tragen für das Geschick aller übrigen Angehörigen.“ Freilich soll

die Philosophie dieses Ziel nur verwirklichen können, indem sie sich als Philosophie

aufhebt – diesmal nicht durch die revolutionäre Umwälzung der Verhältnisse,

sondern durch eine mit und an der Philosophie vollzogene Umwälzung. Die

revolutionäre Forderung richtet sich gegen die Philosophie selber, gegen ein

vermeintlich desaströses Selbstverständnis der Philosophen, mit dem sie heute

ihrer eigentlichen Mission im Wege stehen. Das verhaltene Pathos ist eines der

Dekonstruktion. Rorty lässt aus hochtrabenden Allgemeinbegriffen, die über das

versehrbare Einzelne achtlos hinweggehen, gleichsam die Luft raus. Die brillante

Zuspitzung des nominalistischen Protestes verrät das schriftstellerisch kalkulierte

Entzücken am Schock der Deflationierung. In der Ästhetik der Darstellungsform,

nicht im Politischen, überlässt sich Rorty seinem anarchistischen Temperament.

Wir sollen die Suche nach absoluten Wahrheiten aufgeben und nicht länger

danach streben, das Wesen oder die Natur der Dinge zu ergründen. Wir sollen

Wahrheitssuche und Erkenntnisstreben durch eine rhetorische Praxis ersetzen,

die weniger an überschießenden Ideen als an den handgreiflichen Folgen der

Gedanken orientiert ist. Ist erst einmal die Nutzlosigkeit der ontologischen

Unterscheidung zwischen Wesen und Erscheinung, der epistemologischen

Unterscheidung zwischen Sein und Schein, der semantischen Unterscheidung

zwischen wahr und falsch durchschaut, kann sich die philosophische Arbeit an

den praktischen Zielen von „Leistungssteigerung“ und „Toleranz“ ausrichten.

Der wissenschaftliche Fortschritt bemisst sich an den prognostischen Erfolgen

von Theorien, die über technische Neuerungen in eine Verbesserung der

Lebensbedingungen umgesetzt werden können. Der gesellschaftliche Fortschritt

bemisst sich an der immer weitergehenden Einbeziehung von Marginalisierten

und Fremden in jene Art der Loyalität, die wir gegenüber unseren Nächsten

empfinden. Der moralische Fortschritt manifestiert sich in der wachsenden

Sensibilität gegenüber dem Leiden anderer und in der Eliminierung von

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