48
Vier klassische Staatsphilosophen Die zentralen Lehren von Hobbes, Locke, Montesquieu und Rousseau im Überblick von Patrick Vogler ([email protected]) Verwendete Primärliteratur: THOMAS HOBBES, Leviathan, Stuttgart 1970; JOHN LOCKE, Zwei Abhandlungen über die Regierung, Frankfurt a.M. 1977; CHARLES LOUIS DE SECONDAT, BARON DE LA BRÈDE ET DE MONTESQUIEU, Vom Geist der Gesetze, Stuttgart 1965; JEAN-JACQUES ROUSSEAU, Vom Gesellschaftsvertrag, oder Grundsätze des Staatsrechts, Stuttgart 1977. Verwendete Nachschlagewerke: BOESCH JOSEPH/SCHLÄPFER RUDOLF, Weltgeschichte I, 12. Aufl., Zürich 2008; HAFT FRITJOF, Aus der Waagschale der Justitia, 4. Aufl., München 2009; KAUFMANN ARTHUR/HASSEMER WINFRIED/NEUMANN ULFRID (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 7. Aufl., Heidel- berg 2004; MOELLER BERND, Geschichte des Christentums in Grundzügen, 9. Aufl., Göttingen 2008; RADBRUCH GUSTAV, Rechtsphilosophie, Studienausgabe, 2. Aufl., Heidelberg 2003; REHBINDER MANF- RED, Rechtssoziologie, 7. Aufl., München 2009; RUSSELL BERTRAND, Philosophie des Abendlandes, 4. Aufl., München 2007; SCHLÄPFER RUDOLF/BOESCH JOSEPH, Weltgeschichte II, 18. Aufl., Zürich 2010; SCHLOSSER HANS, Grundzüge der neueren Privatrechtsgeschichte, Rechtsentwicklungen im Europäi- schen Kontext, 10. Aufl., Heidelberg 2005; SEELMANN KURT, Rechtsphilosophie, 4. Aufl., München 2007; SENN MARCEL/GSCHWEND LUKAS/DE MORTANGES RENÉ PAHUD, Rechtsgeschichte, 3. Aufl., Zürich 2009; VERDROSS ALFRED, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl., Wien 1963; WESEL UWE, Ge- schichte des Rechts, 3. Aufl., München 2006.

Vier klassische Staatsphilosophen

Embed Size (px)

DESCRIPTION

Die zentralen Lehren von Hobbes, Locke, Rousseau und Montesquieu, inkl. einer kurzen Einführung in die klassische Staatsphilosophie.

Citation preview

Page 1: Vier klassische Staatsphilosophen

Vier klassische Staatsphilosophen Die zentralen Lehren von Hobbes, Locke, Montesquieu und Rousseau im Überblick

von Patrick Vogler ([email protected])

Verwendete Primärliteratur:

THOMAS HOBBES, Leviathan, Stuttgart 1970; JOHN LOCKE, Zwei Abhandlungen über die Regierung, Frankfurt a.M. 1977; CHARLES LOUIS DE SECONDAT, BARON DE LA BRÈDE ET DE MONTESQUIEU, Vom Geist der Gesetze, Stuttgart 1965; JEAN-JACQUES ROUSSEAU, Vom Gesellschaftsvertrag, oder Grundsätze des Staatsrechts, Stuttgart 1977.

Verwendete Nachschlagewerke:

BOESCH JOSEPH/SCHLÄPFER RUDOLF, Weltgeschichte I, 12. Aufl., Zürich 2008; HAFT FRITJOF, Aus der Waagschale der Justitia, 4. Aufl., München 2009; KAUFMANN ARTHUR/HASSEMER WINFRIED/NEUMANN

ULFRID (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 7. Aufl., Heidel-berg 2004; MOELLER BERND, Geschichte des Christentums in Grundzügen, 9. Aufl., Göttingen 2008; RADBRUCH GUSTAV, Rechtsphilosophie, Studienausgabe, 2. Aufl., Heidelberg 2003; REHBINDER MANF-

RED, Rechtssoziologie, 7. Aufl., München 2009; RUSSELL BERTRAND, Philosophie des Abendlandes, 4. Aufl., München 2007; SCHLÄPFER RUDOLF/BOESCH JOSEPH, Weltgeschichte II, 18. Aufl., Zürich 2010; SCHLOSSER HANS, Grundzüge der neueren Privatrechtsgeschichte, Rechtsentwicklungen im Europäi-schen Kontext, 10. Aufl., Heidelberg 2005; SEELMANN KURT, Rechtsphilosophie, 4. Aufl., München 2007; SENN MARCEL/GSCHWEND LUKAS/DE MORTANGES RENÉ PAHUD, Rechtsgeschichte, 3. Aufl., Zürich 2009; VERDROSS ALFRED, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl., Wien 1963; WESEL UWE, Ge-schichte des Rechts, 3. Aufl., München 2006.

Page 2: Vier klassische Staatsphilosophen

2 / 48

Inhalt

I.   Einleitung ........................................................................................... 5  A.   Der Staat als Kunstwerk ................................................................................. 5  

1.   Die aristotelische Naturrechtslehre wird aufgegeben .................................... 5  2.   Die Staatsphilosophen der Neuzeit ................................................................ 5  

B.   Naturalistische Naturrechtslehren ................................................................ 6  C.   Rationalistische Naturrechtslehren .............................................................. 6  D.   Der Gesellschaftsvertrag ............................................................................... 7  

1.   Übersicht ........................................................................................................ 7  2.   Vertragsschliessende Parteien und Vertragsinhalt ........................................ 7  3.   Die Rechte der Bürger ................................................................................... 8  4.   Das Wesen der Herrschergewalt ................................................................... 9  

II.   Zwei Abhandlungen über die Regierung (LOCKE) .......................... 9  A.   Geschichtliche Einordnung ........................................................................... 9  B.   Systematische Einordnung ............................................................................ 9  C.   Begriffe ............................................................................................................ 9  

1.   Politische Macht/Gewalt ................................................................................. 9  2.   Eigentum ...................................................................................................... 10  3.   Leben ........................................................................................................... 10  4.   Freiheit ......................................................................................................... 11  5.   Besitz ........................................................................................................... 11  6.   Legislative .................................................................................................... 11  7.   Exekutive ..................................................................................................... 15  8.   Richter .......................................................................................................... 15  9.   Die föderative Gewalt ................................................................................... 15  10.   Das Gemeinwohl ........................................................................................ 15  11.   Naturzustand .............................................................................................. 16  12.   Kriegszustand ............................................................................................ 17  13.   Natürliches Gesetz ..................................................................................... 17  14.   Vernunft ..................................................................................................... 18  

D.   Der Naturzustand .......................................................................................... 18  1.   Das Leben im Naturzustand ........................................................................ 18  2.   Das Eigentum im Naturzustand ................................................................... 18  3.   Der Naturzustand: Eine historische Tatsache? ............................................ 19  

E.   Die Gründe für den Abschluss des Gesellschaftsvertrags ....................... 21  1.   Der Kriegszustand ....................................................................................... 21  

Page 3: Vier klassische Staatsphilosophen

3 / 48

2.   Das Fehlen eines Gesetzes als allgemein anerkannter Massstab .............. 21  3.   Das Fehlen eines anerkannten und unparteiischen Richters ...................... 21  4.   Exzessive Bestrafung .................................................................................. 22  5.   Probleme bei der Vollstreckung ................................................................... 22  

F.   Der Vertragsinhalt ......................................................................................... 22  G.   Die politische Gesellschaft .......................................................................... 23  

III.   Vom Gesellschaftsvertrag (ROUSSEAU) ........................................ 23  A.   Geschichtliche Einordnung ......................................................................... 23  B.   Naturzustand und Naturrecht ...................................................................... 23  C.   Gründe für den Gesellschaftsvertrag ......................................................... 24  D.   ROUSSEAUs Kerngedanke .............................................................................. 24  E.   Der Inhalt des Gesellschaftsvertrags .......................................................... 25  F.   Der Souverän ................................................................................................. 25  

1.   Ausdruck des Gemeinwillens ....................................................................... 25  2.   Unveräusserlich ........................................................................................... 26  3.   Unteilbar ....................................................................................................... 26  4.   Unbeschränkt ............................................................................................... 27  

G.   Der Gemeinwille (volonté générale) ............................................................ 27  1.   Abgrenzung zum Sonderwillen .................................................................... 27  2.   Die Differenz-Summe ................................................................................... 27  3.   Öffentliches Wohl als Ziel ............................................................................ 28  4.   Irrtümer ........................................................................................................ 29  5.   Eine Inkonsequenz ROUSSEAUs? ................................................................. 29  

H.   Ergebnis ......................................................................................................... 30  1.   Die Republik ................................................................................................. 30  2.   Ein totalitärer Staat? .................................................................................... 30  3.   Ein demokratischer Staat? ........................................................................... 31  

I.   Der Gesellschaftsvertrag: Eine historische Tatsache? .............................. 32  J.   Unterschiede und Gemeinsamkeiten bei LOCKE und ROUSSEAU ................ 32  

IV.   Der Leviathan (HOBBES) ................................................................ 33  A.   Geschichtlicher Hintergrund ....................................................................... 33  B.   Der vorstaatliche Zustand ............................................................................ 33  

1.   Der Naturzustand ......................................................................................... 33  2.   Das Naturrecht ............................................................................................. 34  

C.   Die Flucht aus dem vorstaatlichen Zustand ............................................... 34  1.   Krieg und Frieden ........................................................................................ 34  2.   Die Leidenschaften ...................................................................................... 35  

Page 4: Vier klassische Staatsphilosophen

4 / 48

3.   Die Vernunft resp. das natürliche Gesetz .................................................... 35  D.   Der Gesellschaftsvertrag ............................................................................. 37  

1.   Der Vertragsinhalt im Allgemeinen .............................................................. 37  2.   Ein sterblicher Gott ...................................................................................... 37  3.   Die Regierungsform ..................................................................................... 37  4.   Wahl oder Vertrag? ...................................................................................... 38  5.   Die höchste Gewalt als Stellvertreter ........................................................... 39  6.   Die Freiheit der Staatsbürger ....................................................................... 39  

E.   Die bürgerlichen Gesetze im Speziellen ..................................................... 40  1.   Rechtspositivismus ...................................................................................... 40  2.   Begriffsbestimmung ..................................................................................... 41  3.   Folgerungen ................................................................................................. 41  

F.   Die Rolle des Richters .................................................................................. 42  1.   Unterschiedliche Rechtsquellen ................................................................... 42  2.   Auslegung .................................................................................................... 42  3.   Entscheid ..................................................................................................... 43  4.   Qualitäten eines Richters ............................................................................. 44  

G.   Alternativen zum hobbesschen Gesellschaftsvertrag? ............................ 44  

V.   Vom Geist der Gesetze (MONTESQUIEU) ......................................... 44  A.   Übersicht ....................................................................................................... 44  B.   Kernpunkt ...................................................................................................... 44  C.   Die Legislative ............................................................................................... 45  

1.   Konstituierung .............................................................................................. 45  2.   Aufgaben ...................................................................................................... 46  3.   Einberufung und Tagung ............................................................................. 46  

D.   Die Exekutive ................................................................................................. 47  1.   Aufgaben ...................................................................................................... 47  2.   Konstituierung .............................................................................................. 47  3.   Vetorecht ...................................................................................................... 47  

E.   Die Judikative ................................................................................................ 47  1.   Aufgaben ...................................................................................................... 47  2.   Konstituierung .............................................................................................. 47  3.   Das „Wesen“ der Judikative ......................................................................... 48  

Page 5: Vier klassische Staatsphilosophen

5 / 48

I. Einleitung 1 Die nachfolgenden Ausführungen sind eine Zusammenfassung der wichtigsten

Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Staatsphilosophen LOCKE, ROUSSEAU, HOBBES und MONTESQUIEU.

A. Der Staat als Kunstwerk

1. Die aristotelische Naturrechtslehre wird aufgegeben

2 HOBBES, LOCKE und ROUSSEAU betrachten den Staat nicht mehr als ein orga-nisch gewachsenes Gebilde, sondern als Kunstwerk. Sie stehen damit im Ge-gensatz z.B. zu ARISTOTELES:

3 Der Ausgangspunkt der aristotelischen Naturrechtslehre bildet der Gedanke, dass der Mensch seiner Natur nach ein geselliges Wesen ist. Aus der natürli-chen Verbindung von Mann und Frau entsteht die Familie, aus dem Zusam-menschluss mehrerer Familien entsteht die Dorfgemeinde und schliesslich aus mehreren Dorfgemeinden die Polis. Für ARISTOTELES ist demnach der Staat kein Kunstwerk, sondern in der Natur des Menschen verankert. Diesen Gedan-ken drückt ARISTOTELES durch den berühmten Satz aus, dass der Mensch von Natur aus ein politisches, d.h. zur Polis hinstrebendes und sich in ihr vollen-dendes Wesen sei. Der Zweck der Polis ist es dann, dem Menschen zu einem menschenwürdigen Dasein zu verhelfen.

Dieses aristotelische Menschenbild findet sich in der abendländischen Philosophie bis ins 17. Jahrhundert vertreten (zuletzt wohl durch HUGO GROTIUS). Bis in die Neuzeit hat kaum ein Phi-losoph von Rang und Namen etwas anderes behauptet, als dass der Mensch seinem Wesen nach geselliger Natur ist.

2. Die Staatsphilosophen der Neuzeit

4 Die meisten Staatstheoretiker der Neuzeit betrachten den Staat nicht mehr als organisch gewachsenes Gebilde, sondern eben als Kunstwerk. Das liegt da-ran, dass sie eine ursprünglich schrankenlose Freiheit der Einzelmenschen annehmen. Diese Annahme fusst auf dem neuzeitlichen Individualismus, der einerseits im Humanismus, andererseits in den Lehren LUTHERS seinen Ur-sprung hat:

– Ideal des Humanismus war der freie, alle eigenen geistigen Kräfte zur Ent-faltung bringene Mensch. Dieses Ideal brachte manche Philosophen dazu,

Page 6: Vier klassische Staatsphilosophen

6 / 48

den Menschen als irdischen Gott (MARSILIUS FICINUS oder PICO DELLA MI-

RANDOLA) zu bezeichnen.

– LUTHER hielt den Menschen zwar für korrupt, lehnte aber trotzdem die Kirche als Mittlerin zwischen Gott und den Menschen ab und anerkannte eine direk-te Beziehung zwischen Gott und der Einzelseele.

5 Wenn der Mensch ursprünglich frei gewesen sein soll, dachten sich wohl die Staatsphilosophen der Neuzeit, dann kann es nicht sein, dass der Staat ein or-ganisch gewachsenes Gebilde ist. Denn die freie Natur des Menschen treibt den Menschen ja nicht in den Staat, sondern in die Freiheit. Deshalb mussten sie sich den Staat als durch den freien Willen der Menschen im Vertragswege geschaffen denken. So entstand der sterbliche Gott (HOBBES).

B. Naturalistische Naturrechtslehren

6 HOBBES’, LOCKES und ROUSSEAUS Theorien gehören zu den naturalistischen Naturrechtslehren. Sie verstehen Naturrecht nicht mehr im ursprünglichen Sinn als eine natürliche Ordnung von sittlichen Normen, sondern als ein Recht, das im Naturzustand herrscht.

Diese sittlichen Normen werden bei ihnen dann später z.B. zum Inhalt des „natürliche Geset-zes“ erklärt. Das ist nichts anderes als ihr eigentliches Vernunftrecht (sog. rationalistische Na-turrechtslehre). Dazu später mehr (N 8 ff.).

7 Bei HOBBES haben im Naturzustand alle Menschen ein Recht auf alles, andere Menschen eingeschlossen, ihr oberstes Ziel ist die Selbsterhaltung. LOCKES naturalistische Naturrechtslehre lautet: Im Naturzustand sind alle Menschen gleich und frei (innerhalb des natürlichen Gesetzes). Auch ROUSSEAU denkt sich den Naturzustand als Zustand völliger Gleichheit und Freiheit.

C. Rationalistische Naturrechtslehren

8 Allen drei Staatsphilosophen ist klar, dass das Naturrecht alleine den Men-schen nicht zur Staatsgründung bewegen kann. Deshalb behaupten sie, dass im Naturzustand die Vernunft dem Menschen diktiert, sich mit anderen zu einer Gesellschaft zusammenzuschliessen. Aus ihrer naturalistischen Naturrechts-lehre sind sie also gezwungen, eine rationalistische Naturrechtslehre zu entfal-ten. Das rationalistische Naturrecht ist nichts anderes als ein Vernunftrecht. Dieses Vernunftrecht unterscheidet sich von der christlichen Naturrechtslehre (AUGUSTINUS, THOMAS VON AQUIN) lediglich dadurch, dass die Vernunft nicht mehr als Abglanz einer göttlichen Vernunft (eines göttlichen Gesetzes), son-dern als reine, eben rationalistische Vernunft betrachtet wird.

Page 7: Vier klassische Staatsphilosophen

7 / 48

9 Der Inhalt von HOBBES’ rationalistischer Naturrechtslehre lautet: Um sich selbst zu erhalten, leuchtet es dem vernünftigen Menschen ein, sich mit anderen ei-ner Herrschergewalt zu unterwerfen. HOBBES nennt dieses Naturrecht das „na-türliche Gesetz“, um es von seinem naturalistischen „Naturrecht“ klar abzu-grenzen. LOCKES rationalistische Naturrechtslehre lautet: Niemand schädige den anderen; alle Menschen sind gleich (ähnlich wie seine naturalistische Leh-re); Selbsterhaltung ist Pflicht etc. HOBBES’ Naturrecht zielt viel offensichtlicher auf den Staat ab als dasjenige von LOCKE. Gewisse Unterschiede ergeben sich ohnehin aufgrund der Tatsache, dass beide von verschiedenen anthropologi-schen Prämissen ausgehen: LOCKE hält den Mensch für tugendhafter und ver-nünftiger als HOBBES, für den der Mensch ein Wolf, also ein Tier ist.

10 Trotzdem ist bei LOCKE, HOBBES und ROUSSEAU der Staat immer das Ergebnis des vernünftig denkenden Menschen, der erkennt, dass der Naturzustand un-günstiger für ihn ist als ein Leben im Staat.

D. Der Gesellschaftsvertrag

1. Übersicht

11 Die Menschen gründen also den Staat durch einen Vertrag. Einigkeit besteht bei den meisten neuzeitlichen Staatsphilosophen wohl darin, dass die Men-schen im Vertrag festlegen, sich einer Herrschergewalt zu unterstellen. Die Verträge sind trotzdem ziemlich unterschiedlich ausgestaltet, und zwar insbe-sondere in den folgenden Bereichen:

2. Vertragsschliessende Parteien und Vertragsinhalt

12 HOBBES beschreibt den Vertragsinhalt wie folgt: „Ich übergebe mein Recht, mich selbst zu beherrschen, diesem Menschen oder dieser Gesellschaft unter der Bedingung, dass du ebenfalls dein Recht über dich ihm oder ihr abtrittst.“ Der künftige Herrscher ist damit bei HOBBES (anders als bei LOCKE und gewis-sermassen auch bei ROUSSEAU) nicht Vertragspartei, sondern wird gewählt. Das ist ziemlich zentral, denn dadurch ist der Herrscher nicht an die Vertrags-bestimmungen gebunden. Widerstand gegen den Herrscher erlaubt HOBBES deshalb nur zum Schutz des eigenen Lebens.

13 ROUSSEAU schreibt: „Gemeinsam stellen wir alle, jeder von uns seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Richtschnur des Gemeinwillens; und wir nehmen, als Körper, jedes Glied als untrennbaren Teil des Ganzen auf.“ Für den Vertragsschluss fordert ROUSSEAU Einstimmigkeit. Für die Bestimmung

Page 8: Vier klassische Staatsphilosophen

8 / 48

des Gemeinwillens (volonté générale) will er demgegenüber die Mehrheit ge-nügen lassen.

14 LOCKE ist der Ansicht, der Gesellschaftsvertrag sei die „Übereinkunft mit ande-ren, sich zusammenzuschliessen und in eine Gemeinschaft zu vereinigen, mit dem Ziel eines behaglichen, sicheren und friedlichen Miteinanderlebens, in dem sicheren Genuss ihres Eigentums und in grösserer Sicherheit gegenüber allen, die nicht zu dieser Gemeinschaft gehören“. Die Vertragsschliessenden bilden damit einen „einzigen politischen Körper, in dem die Mehrheit das Recht hat, zu handeln und die übrigen mitzuverpflichten“.

3. Die Rechte der Bürger

15 In HOBBES’ System geben alle Bürger ihre natürlichen Rechte (ihr Recht auf alles) fast völlig auf, einzig ihr Selbsterhaltungsrecht behalten sie. Deshalb dür-fe jeder Bürger sein Leben auch gegen die Staatsgewalt verteidigen. Von den natürlichen Rechten seien aber die natürlichen Gesetze zu unterscheiden, das Vernunftrecht, an das der Staat gleichwohl gebunden bleibe (ausführlich dazu Kap. 15 des Leviathans). Allerdings sei allein der Staat zu dessen Auslegung befugt, denn nicht die Wahrheit, sondern die Autorität bestimme, was Recht ist („authoritas, non veritas facit legem“). Der einzige Massstab zur Beurteilung der guten und schlechten Handlungen im Staat sei sein positives Gesetz.

16 Auch LOCKE ist der Ansicht, dass das natürliche Gesetz (sein Vernunftrecht) für die Legislative (die höchste Gewalt im Staat) verbindlich ist: Niemand schädige den anderen, alle Menschen sind gleich, jeder hat das Recht zur Selbsterhal-tung etc. Vom natürlichen Gesetz zu unterscheiden ist das Recht im Naturzu-stand (völlige Gleichheit und Freiheit), welches der Mensch aufgibt. Ein Wider-standsrecht anerkennt auch LOCKE: Dieses dürfen die Bürger ausüben, wenn der Staat seine Vertragspflichten nicht erfüllt. Diese Vertragspflichten sind die Gewährleistung eines friedlichen Zusammenlebens, der Schutz des Eigentums und der Schutz vor äusseren Gefahren (anderen Staaten).

17 Bei ROUSSEAU verzichtet jedes Mitglied des zu errichtenden sozialen Körpers auf alle seine natürlichen Rechte (Gleichheit und Freiheit) zugunsten des Ge-meinwillens, um sie dann von ihm als bürgerliche Rechte wieder zurückzuer-halten. Für ihn stellt sich m.E. aufgrund seiner Lehre vom Gemeinwillen (vo-lonté générale) die Frage zurückbehaltener Rechte oder eines Widerstands-rechts gar nicht.

Page 9: Vier klassische Staatsphilosophen

9 / 48

4. Das Wesen der Herrschergewalt

18 Bei ROUSSEAU ist die höchste Gewalt im Staat jene der Gesetzgebung. Diese ist dem Souverän vorbehalten. Der Souverän ist die Versammlung aller Bürger (d.h. eine direkte Demokratie). In LOCKES Staatsphilosophie wählen die Indivi-duen zunächst die Legislative, eine Volksvertretung. Diese bezeichnet er zwar als „höchste Gewalt“ im Staat, obwohl sie weder absolut noch willkürlich sein darf und vom Volk abgesetzt werden kann. HOBBES hält demgegenüber mehre-re Staatsverfassungen für möglich (Monarchie, Demokratie oder Aristokratie).

II. Zwei Abhandlungen über die Regierung (LOCKE)

A. Geschichtliche Einordnung

19 JOHN LOCKE veröffentlichte 1689 seine „Two Treatises of Government“, also zur Zeit der Glorious Revolution in England. Zur Rechtfertigung der Glorious Revo-lution vertrat LOCKE ähnlich wie HOBBES vor ihm die Auffassung, die Staatsge-walt sei dadurch entstanden, dass die Menschen einen staatsbildenden Ver-trag, den Gesellschaftsvertrag, abgeschlossen hätten.

Die Auffassungen von LOCKE und HOBBES waren nur „ähnlich“, weil LOCKE davon ausging, dass der Naturzustand historische Tatsache und nicht blosse Fiktion war. Auch sonst gehen ih-re Ansichten z.T. auseinander, z.B. in Bezug auf den Naturzustand, den Inhalt des Naturrechts, die Rückbehaltung gewisser Rechte selbst in der Gesellschaft etc.

B. Systematische Einordnung

20 In seinem staatsphilosophischen Hauptwerk „Two Treatises of Government“ setzt sich LOCKE zunächst mit den Ansichten Sir ROBERT FILMERS auseinander, der die erbliche Monarchie u.a. biblisch zu begründen versucht. In unserem Zusammenhang interessiert v.a. seine zweite Abhandlung, also LOCKES eigene Ansichten zur Begründung der politischen Gesellschaft.

C. Begriffe

1. Politische Macht/Gewalt

21 Politische Macht ist das Recht, für „die Regelung und Erhaltung des Eigentums Gesetze mit Todesstrafe und folglich auch allen geringeren Strafen zu schaf-fen, wie auch das Recht, die Gewalt der Gemeinschaft zu gebrauchen, um die-se Gesetze zu vollstrecken und den Staat gegen fremdes Unrecht zu schützen, jedoch nur zugunsten des Gemeinwohls“ (Second Treatise, § 3).

Page 10: Vier klassische Staatsphilosophen

10 / 48

22 Diverse Begriffe in dieser Definition bedürfen einer weiteren Erklärung:

– Eigentum (Leben, Freiheit und Besitz);

– das „Recht, Gesetze zu schaffen“ (die Legislative);

– das „Recht, diese Gesetze zu vollstrecken“ (die Exekutive);

– Gemeinwohl (Schutz des Eigentums).

2. Eigentum

23 Eigentum ist bei LOCKE nicht im zivilrechtlichen Sinne zu verstehen. Er versteht unter Eigentum (vgl. z.B. Second Treatise, §§ 87, 123):

– das Leben;

– die Freiheit; und

– den Besitz;

also dasjenige, was „Gott der Menschheit gemeinsam gegeben hat“ (Second Treatise, § 25). Als Christ argumentiert LOCKE nicht nur philosophisch, sondern auch theologisch. Er meint, es sei „auf jeden Fall klar, dass Gott, wie König David in Psalm 115, 16 sagt, die Erde den Menschenkindern gegeben hat, und dass er sie den Menschen gemeinsam gegeben hat“ (Second Treatise, § 25).

3. Leben

24 Jeder Mensch hat ein Eigentum an der eigenen Person (am eigenen „Leben“, Second Treatise, § 27). LOCKE gebraucht diese Überlegung, um das Privatei-gentum (in seiner Terminologie „Besitz“) zu begründen. Denn wenn der Mensch Eigentum an der eigenen Person hat, dann auch daran, was diese „Person“ hervorbringt, d.h. an den Früchten ihrer Arbeit. An anderer Stelle hebt er jedoch hervor, dass der Mensch trotzdem keine Gewalt über sein eigenes Leben hat. Damit will er dartun, dass der Mensch sich nicht einmal durch seine eigene Zustimmung zum Sklaven eines anderen machen kann oder sich unter die absolute und willkürliche Gewalt eines anderen stellen kann, denn: „Nie-mand kann mehr Gewalt verleihen, als er selber besitzt“ (Second Treatise, § 23).

25 Gegen die Todesstrafe war LOCKE indes nicht. Ein Naturgesetz sei: „Wer Men-schenblut vergiesst, des Blut soll auch durch Menschen vergossen werden“ (Gen 9, 6; zitiert in: Second Treatise, § 11). Selbst geringere Verletzungen dürften u.U. mit dem Tode bestraft werden, wenn nur so die Strafzwecke (ne-

Page 11: Vier klassische Staatsphilosophen

11 / 48

gative Generalprävention, Reue des Täters und Vergeltung; vgl. Second Trea-tise, § 12) verwirklicht werden können.

4. Freiheit

26 LOCKE unterscheidet zwischen natürlicher Freiheit und Freiheit des Menschen in der Gesellschaft. Er sieht Freiheit im Gegensatz zu Sir ROBERT FILMER nicht darin, das zu tun, was einem beliebt, zu leben, wie es einem gefällt, und durch keine Gesetze gebunden zu sein (Second Treatise, § 22):

– „Die natürliche Freiheit des Menschen liegt darin, von jeder höheren Gewalt auf Erden frei zu sein, nicht dem Willen oder der gesetzgebenden Gewalt eines Menschen unterworfen zu sein, sondern lediglich das Gesetz der Na-tur zu seinem Rechtsgrundsatz zu erheben“ (Second Treatise, § 22).

– „Die Freiheit des Menschen in der Gesellschaft besteht darin, unter keiner anderen gesetzgebenden Gewalt zu stehen als der, die durch Übereinkunft in dem Gemeinwesen eingesetzt worden ist, noch unter der Herrschaft eines Willens oder der Beschränkung eines Gesetzes zu stehen als lediglich der-jenigen, die von der Legislative auf Grund des in sie gesetzten Vertrauens beschlossen werden“ (Second Treatise, § 22).

5. Besitz

27 Auch die „Arbeit seines Körpers und das Werk seiner Hände sind, so können wir sagen, im eigentlichen Sinne sein Eigentum“ (Second Treatise, § 27). Was der Mensch aus dem Gemeingut „Erde“ entrückt, hat er „mit seiner Arbeit ge-mischt und ihm etwas eigenes hinzugefügt. Er hat es somit zu seinem Eigen-tum gemacht“ (Second Treatise, § 27).

6. Legislative

a) Allgemeine Merkmale

28 Die Legislative ist die Macht, Gesetze zu erlassen. Im Naturzustand hat jeder einzelne diese Macht, die nur durch das natürliche Gesetz eingeschränkt wird. In der politischen Gesellschaft ist sie vom Volk gewählt, wie das britische House of Commons (Second Treatise, § 134). LOCKE meint, in einem Staat sei etwas kein Gesetz, das nicht die Zustimmung der Gesellschaft habe (Second Treatise, § 134). Die Legislative kann auch vom Volk abgesetzt werden. Das bedeutet, ernstgenommen, die „Preisgabe der Beteiligung des Königs und der Lords an der gesetzgebenden Gewalt, die ihnen die britische Verfassung zu LOCKEs Zeit einräumte“ (RUSSELL, S. 647).

Page 12: Vier klassische Staatsphilosophen

12 / 48

29 Die Legislative tritt im Gegensatz zur ständigen Gewalt der Exekutive nur spo-radisch zusammen (Second Treatise, § 143). „Es ist nicht notwendig und nicht einmal angebracht, dass die Legislative dauernd im Amte bleibt. Dagegen ist dies unbedingt notwendig für die Exekutive. Obwohl nicht dauernd neue Ge-setze benötigt werden, ist es aber immer notwendig, dass die bereits erlasse-nen Gesetze vollzogen werden“ (Second Treatise, § 153).

30 LOCKE hält in England die Macht, Parlamente einzuberufen, sowie die Zeit, den Ort und die Dauer zu bestimmen, für eine Prärogative des Königs (Second Treatise, § 167). Eine Prärogative ist „nichts als die Macht [der Exekutive], für das öffentliche Wohl zu handeln, ohne dabei an eine Vorschrift gebunden zu sein“ (Second Treatise, § 166). Aber, so fragt LOCKE, was geschieht, wenn „die Exekutive, im Besitze der Macht des Staates, diese Macht dazu anwendet, um zu verhindern, dass die Legislative zusammentritt und handelt, wie es die ur-sprüngliche Verfassung oder die öffentlichen Erfordernisse verlangen? Ich antworte: Wenn man die Gewalt ohne Vollmacht gegen das Volk gebraucht [...], so [hat das Volk] ein Recht darauf, [...] dieses Hindernis mit Gewalt zu be-seitigen“ (Second Treatise, § 155). Wahrscheinlich war er von den Erlebnissen Englands unter KARL I. geprägt, welcher das „model parliament“ nicht mehr einberief und sich damit praktisch zu einem absolutistischen Herrscher machte. Damit befürwortet LOCKE die anschliessende Auflehnung gegen die Krone.

31 Zwar ist die Legislative nach LOCKE die „höchste Gewalt in jedem Staate“ (Se-cond Treatise, § 135). Trotzdem ist sie Einschränkungen unterworfen:

b) Die Legislative ist keine absolute Gewalt

32 Der Mensch kann nämlich nur so viele Rechte übertragen, wie er selbst hat (z.B. Second Treatise, § 135). Nun hat er aber selbst im Naturzustand keine absolute oder willkürliche Gewalt über sich selbst oder einen anderen, sondern „nur so viel, wie ihm das Gesetz der Natur zur Erhaltung seiner selbst und der übrigen Menschheit gegeben hat“ (Second Treatise, § 135). Da „kein Mensch oder keine menschliche Gesellschaft die Macht hat, ihre Erhaltung [...] dem absoluten Willen und der willkürlichen Herrschaft eines anderen auszuliefern, so werden sie, sooft sie jemand in einen derartig sklavischen Zustand verset-zen will, stets das Recht haben, das zu verteidigen, auf dessen Verzicht sie nicht die Macht haben, und sich von den Menschen zu befreien, die gegen die-ses heilige und unabänderliche Gesetz der Selbsterhaltung, um dessentwillen sie in die Gesellschaft eintraten, verstossen“ (Second Treatise, § 149). LOCKE anerkennt also ein Widerstandsrecht gegen die zweckentfremdete Regierung.

Page 13: Vier klassische Staatsphilosophen

13 / 48

33 LOCKE stand konsequenterweise auch dem Absolutismus ablehnend gegen-über: „Als ob die Menschen, als sie den Naturzustand verliessen und sich zu einer Gesellschaft vereinigten, übereingekommen wären, dass alle, mit Aus-nahme eines einzigen, unter dem Zwang von Gesetzen stehen, dieser eine aber alle Freiheit des Naturzustandes behalten sollte, die sogar noch durch Gewalt vermehrt und durch Straflosigkeit zügellos gemacht wurde! Das heisst die Menschen für solche Narren zu halten, dass sie sich zwar bemühen, den Schaden zu verhüten, der ihnen durch Marder und Füchse entstehen kann, aber glücklich sind, ja, es für Sicherheit halten, von Löwen verschlungen zu werden“ (Second Treatise, § 93).

34 Die Menschen übertragen gemäss LOCKE dem Staat mit dem Gesellschaftsver-trag nur so viele Rechte, als zur Sicherung des gemeinsamen Wohls (N 44 f.) nötig sind. Deshalb stellt er auch fest, man könne nie annehmen, dass „sich die Gewalt der Gesellschaft oder der von ihr eingesetzten Legislative weiter erstre-cken soll als auf das gemeinsame Wohl“ (Second Treatise, § 131).

c) Die Legislative ist keine willkürliche Gewalt

35 Zum einen hat sie nur das gemeinsame Wohl zum Ziel. Zum anderen kann man nicht davon ausgehen, dass die Menschen auf die „Freiheit des Naturzu-standes verzichten und sich selbst Fesseln anlegen, wenn es nicht darum gin-ge, ihr Leben, ihre Freiheit und ihr Vermögen zu erhalten und auf Grund fester Regeln [...] zu sichern“ (Second Treatise, § 137). Denn das hiesse, sich „selbst in eine schlimmere Lage begeben als es der Naturzustand war“ (Second Trea-tise, § 137). Wenn nämlich jemand „der willkürlichen Gewalt eines einzelnen Mannes, der hunderttausend andere beherrscht, ausgesetzt ist, so befindet er sich in einer viel schlechteren Lage als jemand, der sich der willkürlichen Ge-walt von hunderttausend einzelnen Menschen gegenübersieht“ (Second Trea-tise, § 137).

36 Mit anderen Worten: Die Legislative kann keinem Menschen einen Teil seines Eigentums ohne seine Zustimmung wegnehmen, denn die Erhaltung des Ei-gentums ist ja Zweck und Ziel der Regierung (Second Treatise, § 138). Und unter Eigentum versteht LOCKE eben nicht nur den Besitz, sondern auch das Leben und die Freiheit in der Gesellschaft (nicht die natürliche Freiheit; vgl. N 26).

37 Daraus liesse sich schliessen: Wenn der Mensch mit dem Gesellschaftsvertrag kein Eigentum überträgt und der oberste Staatszweck der Schutz des individu-ellen Eigentums ist, dann dürfte der Staat ihn eigentlich nicht zur Aufgabe des

Page 14: Vier klassische Staatsphilosophen

14 / 48

Eigentums zwingen, z.B. indem der Bürger im Kampf für sein Land sein Leben einsetzt. An dieser Stelle wird LOCKE aber aus praktischen Gründen inkonse-quent:

– Ein Soldat muss zum Zwecke des guten Funktionierens der Armee absolu-ten Gehorsam gegenüber seinem Befehlshaber zeigen, sein Leben für sein Land einsetzen (zum Schutz des Eigentums der anderen) und bei soldati-scher Pflichtverletzung mit seinem Leben büssen. LOCKE schreibt: „Aber dennoch sehen wir, dass weder der Feldwebel, der einem Soldaten befehlen kann, auf die Mündung einer Kanone loszumarschieren [...], diesem Soldat befehlen darf, ihm einen Pfennig von seinem Gelde zu geben, noch der Ge-neral, der ihn zum Tode verurteilen kann, [...] bei aller seiner [...] Gewalt über Leben und Tod über einen Heller von dem Vermögen dieses Soldaten verfügen kann“ (Second Treatise, § 139).

– Der Staat hat das Recht, Steuern zu erheben und damit in das Eigentum der Bürger einzugreifen (allerdings nur, wenn die Legislative per Mehrheitsbe-schluss zustimmt). Dies geschieht natürlich aus der praktischen Überlegung, wonach der Staat zum Schutz des individuellen Eigentums selbst Mittel be-nötigt (vgl. Second Treatise, § 140; kritisch: RUSSELL, S. 641).

d) Die Gewalt der Gesetzgebung ist unübertragbar

38 Die Legislative darf die Gesetzgebung nicht in die Hände anderer übertragen, weil sie per Gesellschaftsvertrag nur die Gewalt hat, Gesetze zu geben, nicht aber, Gesetzgeber zu schaffen (Second Treatise, § 141). Heute erlassen die Exekutive und die Judikative z.T. auch Gesetze (z.B. Gerichtsorganisations-verordnungen der Judikative, alle Verordnungen des Bundesrates).

e) Gesetze müssen „fest“ und allgemeingültig sein

39 Die Legislative muss „nach öffentlich bekanntgemachten, festen Gesetzen re-gieren, die nicht für besondere Fälle geändert werden dürfen, sondern für reich und arm nur einen Rechtsgrundsatz kennen, für den Günstling am Hofe eben-so wie für den Bauern am Pflug“ (Second Treatise, § 142).

40 LOCKE ging also bereits im 17. Jh. von einem einheitlichen Rechtssubjekt aus und verwarf jede ständische Unterscheidung in der Gesetzgebung (d.h. unter-schiedliche Regeln für Adlige, Klerus, Bauern etc.), wie man sie z.B. noch im Preussischen Allgemeinen Landrecht im 19. Jh. vorfand.

Page 15: Vier klassische Staatsphilosophen

15 / 48

Anders rund hundert Jahre später noch ROUSSEAU: Der Gegenstand der Gesetze sei zwar im-mer allgemein; trotzdem könne das Gesetz „verschiedene Klassen von Bürgern schaffen“ (2. Buch, 6. Kapitel).

7. Exekutive

41 Die Exekutive ist für LOCKE eine ständige Gewalt, die auf die Vollziehung der erlassenen und in Kraft bleibenden Gesetze achten soll. Sie muss von der Le-gislative getrennt sein (vgl. Second Treatise, § 144), denn es würde eine „zu grosse Versuchung sein, wenn dieselben Personen, die die Macht haben, Ge-setze zu geben, auch noch die Macht in die Hände bekämen, diese Gesetze zu vollstrecken. Dadurch könnten sie sich selbst von dem Gehorsam gegen die Gesetze, die sie geben, ausschliessen und das Gesetz in seiner Gestaltung wie auch in seiner Vollstreckung ihrem eigenen persönlichen Vorteil anpassen“ (Second Treatise, § 143).

8. Richter

42 LOCKE zählt auch die richterliche Gewalt zur Legislative (z.B. in Second Trea-tise, §§ 88, 89, 131, 136), unterscheidet also nur zwischen Legislative und Exekutive. RUSSELL, S. 648: „Überraschend ist, dass LOCKE nichts über die richterliche Gewalt sagt, obwohl sie zu seiner Zeit eine brennende Frage war. Bis zur Revolution konnten die Richter jederzeit vom König entlassen werden; die Folge war, dass sie seine Feinde verurteilten und seine Freunde freispra-chen.“

9. Die föderative Gewalt

43 Im 12. Kapitel der Zweiten Abhandlung spricht er zusätzlich noch von einer „föderativen Gewalt des Staates“. Er grenzt sie gegen die Exekutive ab, indem er sagt: Die Exekutive beinhaltet die Vollziehung der Gesetze innerhalb der Gesellschaft gegenüber allen, die ihr angehören. Die föderative Gewalt sorgt für die Sicherheit und die Interessen des Volkes nach aussen allen denen ge-genüber, von denen sie Nutzen oder Schaden erwarten könnte (m.E. Aussen-politik; vgl. Second Treatise, § 147).

10. Das Gemeinwohl

44 Dem Staat übertragen die Bürger durch den Gesellschaftsvertrag nur so viele Rechte, als zur Sicherung des Gemeinwohls notwendig sind (Second Treatise, § 131). Weil für LOCKE das Eigentum (Leben, Freiheit, Besitz) im Zentrum steht, ist das Gemeinwohl der ungehinderte Genuss resp. der Schutz des Ei-gentums (Second Treatise, § 131), die „Erhaltung“ (Second Treatise, § 135).

Page 16: Vier klassische Staatsphilosophen

16 / 48

LOCKE erachtet den Schutz des Eigentums als einzig legitimes öffentliches Inte-resse zur Einschränkung des natürlichen Gesetzes, so wie heute öffentliche In-teressen die Einschränkung von Grundrechten rechtfertigen können (vgl. Art. 36 Abs. 2 BV).

45 Im Staat verlieren die Menschen also ihre natürliche Freiheit, erhalten aber im Gegenzug den Schutz ihres Eigentums ,d.h.:

– Leben;

– Freiheit in der Gesellschaft; und

– Besitz.

46 RUSSELL schreibt (S. 641): „LOCKE fiel es offensichtlich nicht ein, zu fragen, wer über das Gemeinwohl im konkreten Einzelfall zu entscheiden hat. Es liegt auf der Hand, dass die Regierung stets zu ihren eigenen Gunsten entscheiden wird, wenn ihr das Urteil darüber überlassen ist.“ Dieser pragmatische Einwand hat in der Realität durchaus seine Berechtigung – in LOCKES theoretischer Welt spielt die Kontrolle des Staates aber keine Rolle, denn entweder schützt der Staat tatsächlich das Eigentum, oder die Bürger haben das Recht zum Wider-stand.

11. Naturzustand

47 Der Naturzustand ist der vorstaatliche Zustand. Er hat zwei Qualitäten:

48 Er ist ein „Zustand vollkommener Freiheit, innerhalb der Grenzen des Gesetzes der Natur ihre Handlungen zu regeln und über ihren Besitz und ihre Persön-lichkeit so zu verfügen, wie es ihnen am besten scheint, ohne dabei jemanden um Erlaubnis zu bitten oder vom Willen eines anderen abhängig zu sein“ (Se-cond Treatise, § 4). Im Naturzustand liegen also Legislative und Exekutive in der Hand jedes Einzelnen, die lediglich durch das „natürliche Gesetz“ be-schränkt werden. Vgl. zum Begriff des „Gesetzes der Natur“ nachfolgend N 51.

Die Naturrechtslehre von Locke ist demnach sowohl naturalistisch als auch rationalistisch: Sie ist naturalistisch, weil Locke davon ausging, dass die Menschen im Naturzustand völlig frei wa-ren. Sie ist zugleich rationalistisch, weil selbst im Naturzustand die Freiheit durch das natürli-che Gesetz (Vernunftrecht) eingeschränkt ist.

49 Es ist ein „Zustand der Gleichheit, in dem alle Macht und Rechtsprechung wechselseitig sind, da niemand mehr besitzt als ein anderer“ (Second Treatise, § 4). Die Menschen sind gleich, weil sie von gleicher Gattung und von gleichem Rang sind. Die Gleichheit ist „Grundlage für jene Verpflichtung zur gegenseiti-gen Liebe unter den Menschen“ (Second Treatise, § 5). LOCKE zitiert dabei

Page 17: Vier klassische Staatsphilosophen

17 / 48

RICHARD HOOKER: „Mein Verlangen also, von denen, die von Natur aus mei-nesgleichen sind, so stark wie möglich geliebt zu werden, legt mir die natürli-che Pflicht auf, ihnen dieselbe Zuneigung entgegen zu bringen“ (aus: Second Treatise, § 5).

12. Kriegszustand

50 LOCKE grenzt den Naturzustand vom Kriegszustand ab. Der Kriegszustand ist ein Zustand der Feindschaft und Vernichtung, Gewalt ohne Recht, gegen die Person eines anderen gerichtet (Second Treatise, Kapitel 3). LOCKE richtet sich hier implizit gegen HOBBES, der den Naturzustand als „Krieg aller gegen alle“ („homo homini lupus“) bezeichnet: „Sooft manche Menschen sie [Natur- und Kriegszustand, Anm. d. Autors] auch verwechselt haben [...]“ (Second Treatis-e, § 19).

13. Natürliches Gesetz

51 Das Gesetz der Natur herrscht im Naturzustand. Es verpflichtet jeden (auch wenn sich der Einzelne entscheiden kann, ihm zuwider zu handeln). Es ent-spricht der Vernunft. Es lehrt die Menschheit folgende Grundsätze (ausführlich Second Treatise, § 6):

– Neminem laedere: Niemand soll „einem anderen, da alle gleich und unab-hängig sind, an seinem Leben und Besitz, seiner Gesundheit und Freiheit Schaden zufügen. Denn alle Menschen sind das Werk eines einzigen all-mächtigen und unendlich weisen Schöpfers.“

– Gleichheit: Weil alle die gleichen Fähigkeiten haben und zur Gemeinschaft der Natur gehören, kann unter den Menschen auch keine Rangordnung an-genommen werden, die uns dazu ermächtigt, einander zu vernichten, als wären wir einzig zum Nutzen des anderen geschaffen.

– Selbsterhaltung: Jeder ist verpflichtet, sich selbst zu erhalten.

– Erhaltung (Schutz) Dritter: Wenn die eigene Selbsterhaltung nicht auf dem Spiel steht, soll der Mensch nach Möglichkeit auch die übrige Menschheit erhalten.

52 Das natürliche Gesetz ist nicht mit LOCKES naturalistischer Naturrechtslehre (N 47 ff.) gleichzusetzen, wonach die Menschen im Naturzustand gleich und frei sind.

Page 18: Vier klassische Staatsphilosophen

18 / 48

14. Vernunft

53 Die Vernunft entspricht dem natürlichen Gesetz. Der Mensch ist aber nicht an die Vernunft gebunden, sondern frei, ihr zuwider zu handeln und seine privaten Interessen zu verfolgen.

D. Der Naturzustand

1. Das Leben im Naturzustand

54 Der Naturzustand ist ein vorstaatlicher Zustand, der sich dadurch auszeichnet, dass alle Menschen gleich (berechtigt) und frei sind, innerhalb der Schranken des natürlichen Gesetzes (der Vernunft) sich selbst Gesetze zu geben (Legis-lative) und diese auch zu vollstrecken (Exekutive). LOCKE stellt die Menschen im Naturzustand nicht als „Gemeinschaft tugendhafter Anarchisten“ dar, die „weder Polizei noch Gerichte brauchen, weil sie stets der Vernunft gehorchen“ (so aber: RUSSELL, S. 634); denn die Menschen haben die Möglichkeit, dem natürlichen Gesetz zuwider zu handeln (auch wenn das nicht alle tun).

55 Die Fähigkeit der Vollstreckung führt dazu, dass selbst im Naturzustand (also im Zustand vollkommener Freiheit) ein Mensch die Macht über einen anderen erlangen kann, und zwar dann, wenn dieser das natürliche Gesetz übertritt. Denn „das Gesetz der Natur wäre [...] nichtig, wenn im Naturzustand niemand die Macht hätte, dieses Gesetz zu vollstrecken“ (Second Treatise, § 7). Im Na-turzustand (im Zustand völliger Gleichheit) ist jedermann Vollstrecker des na-türlichen Gesetzes.

LOCKE nennt als Gründe für die Strafe die „Wiedergutmachung“ (i.S.v. Schadenersatz, der nur dem Geschädigten zusteht; vgl. Second Treatise, § 10 u. 11) und die Abschreckung anderer, d.h. die negative Generalprävention (Second Treatise, § 8). In Second Treatise, § 12 nennt er zudem die Vergeltung und das Hervorrufen von Reue beim Täter als Strafzwecke.

2. Das Eigentum im Naturzustand

56 Im Naturzustand ist die Erde und alles, was auf ihr ist, Gesamteigentum aller Menschen. Die Menschen begründen Privateigentum, indem sie etwas aus der Natur entnehmen, es mit ihrer Arbeit mischen, d.h. ihr etwas eigenes hinzufü-gen. „Denn da die Arbeit das unbestreitbare Eigentum des Arbeiters ist, kann niemand ausser ihm ein Recht auf etwas haben, was einmal mit seiner Arbeit verbunden ist. Zumindest nicht dort, wo genug und ebenso gutes den anderen gemeinsam verbleibt“ (Second Treatise, § 27). Hauptgegenstand des Eigen-tums seien heute nicht mehr die Früchte der Erde, sondern die Erde selbst. Das Eigentum an der Erde könne aber genauso erworben werden wie an den

Page 19: Vier klassische Staatsphilosophen

19 / 48

Früchten: „So viel Land ein Mensch bepflügt [...] ist sein Eigentum“ (Second Treatise, § 32).

„Der Grundsatz, dass ein Mensch ein Recht auf das Produkt seiner eigenen Arbeit hat, ist für eine industrielle Zivilisation unbrauchbar“ (RUSSELL, S. 645). Wie soll man beispielsweise den Anteil des Fliessbandarbeiters an der Gesamtproduktion feststellen?

57 Probleme der Verteilungsgerechtigkeit ergeben sich für LOCKE grds. nicht. Er zitiert dabei den ersten Brief des PAULUS an TIMOTHEUS: „Gott gibt uns reichlich allerlei zu geniessen“ (1. Tim. 6, 17). Er betont aber gleichzeitig: Wenn Gott uns nur so weit gegeben hat, als wir geniessen können, dann ist das, was dar-über hinausgeht (also ungenutzt verdirbt), mehr als mein Anteil und gehört an-deren (vgl. Second Treatise, § 31).

58 Nur die Erfindung des Geldes und die stillschweigende Übereinkunft der Men-schen, ihm einen Wert beizumessen, hätte die Bildung grösserer Besitztümer und das Recht darauf mit sich gebracht. Denn Geld (das Metall) verdirbt nicht, und die Grenzen des rechtmässigen Eigentums liegen ja nicht in der Vergrös-serung des Besitzes, sondern darin, dass irgend etwas ungenutzt verdirbt. Wer mehr Naturalien produzierte oder besass, diese aber dem „Bedürftigen“ ver-kaufte, beging damit kein Unrecht, denn die Naturalien verdarben dann ja nicht.

LOCKE scheint „rein abstrakt und akademisch zu bedauern, dass es so etwas wie wirtschaftli-che Ungleichheit gibt, denkt aber gewiss nicht daran, dass es vielleicht vernünftig wäre, geeig-nete Massnahmen zu ihrer Verhütung zu ergreifen“ (RUSSELL, S. 646; gl. M. SEELMANN, § 10 N 11).

3. Der Naturzustand: Eine historische Tatsache?

59 LOCKE scheint davon auszugehen, dass die Menschen tatsächlich einmal im Naturzustand gelebt haben (vgl. Second Treatise, § 15, sowie Kapitel 7 u. 8, v.a. ab § 100). Für ihn ist der Staatsvertrag keine blosse Fiktion zur Begrün-dung der Staatsgewalt, sondern wohl eher eine historische Tatsache. Er setzt sich eingehend mit zwei Einwänden auseinander:

a) Beispiele in der Geschichte

60 Auf den Einwand, in der Geschichte existierten keine Beispiele einer Gesell-schaft unabhängiger und untereinander gleicher Menschen, die zusammen kamen und eine Regierung bildeten, antwortet LOCKE: Mit den Staaten verhält es sich wie mit den Menschen. Von ihrer eigenen Geburt und Kindheit wissen sie in der Regel nichts, denn die Menschen beginnen i.d.R. erst ihre Geschich-te aufzuzeichnen, wenn sie sich zu Gesellschaften zusammengeschlossen ha-ben (Second Treatise, § 101).

Page 20: Vier klassische Staatsphilosophen

20 / 48

61 Die „friedlichen Anfänge von Regierung“ (Second Treatise, § 112) lagen in der Übereinkunft der nunmehr volljährigen, selbständigen Söhne, sich der Herr-schaft des Vaters zu unterwerfen. Das war naheliegend, denn Väter waren auf das Wohl ihrer Familie bedacht, die freiwillige Unterwerfung der Söhne unter ihre Herrschaft vernünftig. Wenn sich mehrere Familien zu Sippen zusammen-schlossen, hätten diese Familien dann einen der Väter zum Haupt gewählt.

62 Aus der frühen Regierungsform der Monarchie leiteten Leute wie ROBERT FIL-

MER ab, die Menschen seien schon immer einem (absoluten und gottgewollten) Monarchen untertänig gewesen. Dem entgegnet LOCKE, die Menschen hätten nie von einer „Monarchie jure divino geträumt [...], bis es uns in neuester Zeit von der Theologie geoffenbart wurde“ (Second Treatise, § 112). Er kritisiert damit die alte Zweischwertertheorie, die auf dem Lukasevangelium (Kap. 22, Vers 38) basiert.

63 Ausserdem widerlege diese frühe Regierungsform seine Behauptung von der Entstehung politischer Gesellschaften durch Übereinkunft der Individuen nicht, da die Individuen, nachdem sie eine Körperschaft geworden sind, diejenige Form der Regierung einsetzen können, die sie für geeignet halten. LOCKE spricht von „Wahlmonarchien“ und meint, die Monarchie war die einfachste und naheliegendste Regierungsform für Menschen, die keine Erfahrung mit Ge-waltherrschaft hatten, weil sie von ihren liebenden Vätern regiert wurden (aus-führlich: Second Treatise, §§ 105–107).

b) Alle Menschen werden unter einer Regierung geboren

64 Alle Menschen, so behaupten manche, seien unter einer Regierung geboren und deshalb nicht frei, eine neue Regierung zu begründen. Ein jeder würde als Untertan seines Vaters oder seines Fürsten geboren (vgl. Erblichkeit der Lehen und der bäuerlichen Schollenpflicht beim Grundherrn) und stehe deshalb unter lebenslangen Verpflichtungen. Dem widerspricht LOCKE und weist darauf hin, dass in der Geschichte zahlreiche Beispiele bestünden, in denen Menschen sich der Familie oder Gemeinschaft, in der sie aufgewachsen waren, entzogen „und an anderen Orten neue Regierungen errichteten [...] solange genügend Raum vorhanden war“ (Second Treatise, § 115).

65 Wenn sich der Vater mit anderen vertraglich zu einer Gesellschaft zusammen-schliesst, heisst das nicht, dass die Kinder an diesen Vertrag ebenso gebun-den sind (a.M. HOBBES). Ein Kind wird „weder als Untertan eines Landes noch einer Regierung geboren [...]. Es steht unter Vormundschaft und Autorität des Vaters, bis es das Alter der Selbstverantwortung erreicht hat. Erst dann ist es

Page 21: Vier klassische Staatsphilosophen

21 / 48

ein freier Mensch, der auch die freie Entscheidung darüber hat, welcher Regie-rung er sich unterstellen will“ (Second Treatise, § 118). Diese freiwillige Unter-stellung unter eine Regierung kann sowohl ausdrücklich als auch stillschwei-gend geschehen. Vor allem durch stillschweigende Zustimmung werden die Kinder zum Partner desselben Vertrags, den ihre Väter abgeschlossen haben (ausführlich: Second Treatise, §§ 119–122).

66 Dazu RUSSELL, S. 640 f.: „Es ist klar, dass sich das aus LOCKEs Prinzipien er-geben muss, entspricht jedoch kaum der Wirklichkeit. Wenn ein junger Ameri-kaner, der einundzwanzig Jahre wird, verkünden wollte: ‚Ich halte mich für nicht an den Vertrag gebunden, durch den die Vereinigten Staaten gegründet wur-den’, würde er bald Schwierigkeiten haben.“

E. Die Gründe für den Abschluss des Gesellschaftsvertrags

67 LOCKE scheint ähnlich wie HOBBES davon auszugehen, dass die Vernunft den Abschluss des Gesellschaftsvertrags diktiert. Der Inhalt des Vernunftrechts ist bei LOCKE aber ein anderer als bei HOBBES: HOBBES’ Vernunftrecht (seine rati-onalistische Naturrechtslehre, sein „natürliches Gesetz“) zielt etwas expliziter auf den Abschluss eines Gesellschaftsvertrags ab.

1. Der Kriegszustand

68 Der Kriegszustand, also wenn ein Mensch gegen einen anderen ohne Recht Gewalt anwendet, um ihn in seine „absolute Gewalt zu bekommen“ (Second Treatise, § 17) ist ein „gewichtiger Grund, weshalb sich die Menschen zu einer Gesellschaft zusammenschliessen“ (Second Treatise, § 21).

2. Das Fehlen eines Gesetzes als allgemein anerkannter Massstab

69 Das Fehlen eines positiven Gesetzes, das als allgemeiner Massstab anerkannt und zur Entscheidung von Streitigkeiten dient, ist ein wichtiger Grund für den Zusammenschluss. Zwar sei das natürliche Gesetz allen vernunftbegabten Wesen klar; sie werden aber durch ihr eigenes Interesse beeinflusst, und „da sie ausserdem nicht darüber nachdenken und es folglich auch zu wenig ken-nen, pflegen sie es nicht als ein Recht anzuerkennen, das in seiner Anwen-dung [...] für sie verbindlich wäre“ (Second Treatise, § 124).

3. Das Fehlen eines anerkannten und unparteiischen Richters

70 Im Naturzustand ist jeder gleichzeitig Richter (Legislative und Judikative) und Vollzieher (Exekutive) des natürlichen Gesetzes und daher parteiisch in der ei-

Page 22: Vier klassische Staatsphilosophen

22 / 48

genen Sache. Ausserdem neigt der Mensch im Naturzustand z.B. aus Rache zu übertriebenen Strafen (Second Treatise, § 125).

4. Exzessive Bestrafung

71 Durch das natürliche Recht der Bestrafung (Exekutive), welches jedem Men-schen bei Verstössen gegen das natürliche Gesetz zusteht, werden die Men-schen Richter in eigener Sache, d.h. parteiisch entscheiden und sich in der Be-strafung durch ihre Bosheit, Leidenschaft und Rache zu weit hinreissen lassen (Second Treatise, § 13).

5. Probleme bei der Vollstreckung

72 Nicht jeder Mensch ist gleichermassen imstande, Verstössen gegen das natür-liche Gesetz zu begegnen (d.h. sich gegen einen Übertreter zu wehren). Exis-tiert eine Staatsgewalt (die Exekutive), kann sie dem Menschen diese Aufgabe abnehmen resp. ihn unterstützen. Die Vollstreckung der Strafe gegen den Übertreter des Naturgesetzes ist häufig gefährlich und „oftmals für die, die sie durchführen wollen, verderblich“ (Second Treatise, § 126).

F. Der Vertragsinhalt

73 Inhalt des Gesellschaftsvertrags ist die „Übereinkunft mit anderen, sich zu-sammenzuschliessen und in eine Gemeinschaft zu vereinigen, mit dem Ziel ei-nes behaglichen, sicheren und friedlichen Miteinanderlebens, in dem sicheren Genuss ihres Eigentums und in grösserer Sicherheit gegenüber allen, die nicht zu dieser Gemeinschaft gehören“ (Second Treatise, § 95).

74 Die Vertragsschliessenden bilden damit einen „einzigen politischen Körper, in dem die Mehrheit das Recht hat, zu handeln und die übrigen mitzuverpflichten“ (Second Treatise, § 95). Würde der Beschluss der Mehrheit nicht als Be-schluss aller gelten, würde dieser „ursprüngliche Vertrag, durch den er sich mit anderen zu einer Gesellschaft vereinigt, keinerlei Bedeutung haben und kein Vertrag sein [...]. Denn welcher Anschein eines Vertrages würde dann noch übrigbleiben? Welche neue Verpflichtung würde er eingehen, wenn er durch die Beschlüsse dieser Gesellschaft nicht weiter gebunden wäre [...]? Dies wür-de eine noch ebenso grosse Freiheit bedeuten, wie er sie [...] im Naturzustand hat [...]“ (Second Treatise, § 97). Das klingt demokratisch, doch „darf dabei nicht vergessen werden, dass LOCKE den Ausschluss der Frauen und Besitzlo-sen von den Bürgerrechten voraussetzt“ (RUSSELL, S. 640).

Page 23: Vier klassische Staatsphilosophen

23 / 48

75 Dass die Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit selbst despotische Züge annehmen kann, scheint LOCKE zu vernachlässigen. Heute weisen die Men-schenrechte und die Grundrechte die Mehrheit in ihre Schranken (z.B. durch das Diskriminierungsverbot resp. das Postulat der Rechtsgleichheit).

G. Die politische Gesellschaft

76 Gründen freie Individuen durch den Gesellschaftsvertrag eine politische Ge-sellschaft, so ist das „erste und grundlegende positive Gesetz [...] die Begrün-dung der legislativen Gewalt, so wie das erste und grundlegende natürliche Gesetz, das sogar über der legislativen Gewalt gelten muss, die Erhaltung der Gesellschaft und [...] jeder einzelnen Person in ihr ist“ (Second Treatise, § 134). Für LOCKE gilt das Naturrecht (das natürliche Gesetz) also auch innerhalb der politischen Gesellschaft und ist für die Legislative verbindlich.

77 HOBBES war der Ansicht, die Bürger hätten einen Vertrag geschlossen, um alle Macht dem auserwählten Souverän zu übertragen; der König sei aber nicht Vertragspartner und besässe deshalb zwangsläufig unbegrenzte Autorität. „Diese Theorie hätte zunächst CROMWELLS totalitären Staat rechtfertigen kön-nen; nach der Restauration rechtfertigte sie KARL II. In LOCKES Formulierung der Doktrin ist die Regierung hingegen Vertragspartner; der Widerstand gegen sie ist gerechtfertigt, wenn sie ihre vertraglichen Pflichten nicht erfüllt“ (RUS-

SELL, S. 639).

III. Vom Gesellschaftsvertrag (ROUSSEAU)

A. Geschichtliche Einordnung

78 JEAN-JACQUES ROUSSEAU (1712–1778) war ein Genfer Philosoph der Aufklä-rung. Er lebte in der Zeit des Absolutismus in Frankreich und war einer der wichtigsten Wegbereiter der französischen Revolution. Er geht von einer radi-kalen Kulturkritik aus. Das zeigt uns schon der Anfang des ersten Kapitel sei-nes Hauptwerks „Vom Gesellschaftsvertrag“ von 1762: „Der Mensch wird frei geboren und ist doch überall in Ketten.“

B. Naturzustand und Naturrecht

79 In seinem „Discours sur les sciences et les arts“ (1750) nimmt ROUSSEAU einen vorsozialen Naturzustand an. In diesem Zustand lebte der Naturmensch „in den Wäldern umherirrend ohne Sprache, Wohnung und Arbeit, allein sich selbst genügend, ohne jede gesellige Verbindung und ohne Kampf. Nur zeit-

Page 24: Vier klassische Staatsphilosophen

24 / 48

weise führte die Paarungszeit die Geschlechter zueinander. Daher bestand in diesem Zustand eine vollständige Gleichheit, die keiner zu untergraben ver-suchte, da jeder sich selbst genug war“ (VERDROSS, S. 124).

80 Der Naturzustand ist für ROUSSEAU folglich ein Zustand völliger

– Freiheit und

– Gleichheit.

81 Das ist ROUSSEAUs Naturrecht: Ähnlich wie bei LOCKE und HOBBES ist sein In-halt die absolute Freiheit und Gleichheit (vgl. z.B. im Ansatz: 1. Buch, 4. Kapi-tel). Seine Naturrechtslehre wird darum naturalistisch bezeichnet, weil ROUSSEAU davon ausgeht, dass das Naturrecht nur im Naturzustand gilt und durch das positive Recht im Staat (welches Ausdruck des Gemeinwillens ist) ersetzt wird.

C. Gründe für den Gesellschaftsvertrag

82 In der aus dem Naturzustand herausführenden Entwicklung kommt einmal die Zeit, wo der Einzelne nicht mehr länger in seiner ursprünglichen Unabhängig-keit bleiben kann. Um der Selbsterhaltung willen wird es dann erforderlich, sich mit anderen zu einer Gesellschaft zusammenzuschliessen: „Ich unterstelle, dass die Menschen jenen Punkt erreicht haben, an dem die Hindernisse, die ihrem Fortbestehen im Naturzustand schaden, in ihrem Widerstand den Sieg davontragen über die Kräfte, die jedes Individuum einsetzen kann, um sich in diesem Zustand zu halten. Dann kann dieser ursprüngliche Zustand nicht wei-terbestehen, und das Menschengeschlecht würde zugrunde gehen, wenn es die Art seines Daseins nicht änderte“ (1. Buch, 6. Kapitel).

D. ROUSSEAUs Kerngedanke

83 Das Wesen des Menschen liegt in seiner natürlichen Freiheit. Daraus ergibt sich das Grundproblem: Wie können Freiheitswesen zusammenleben, wenn Zusammenleben konkret immer eine Beschränkung der Freiheit bedeutet?

84 ROUSSEAU betrachtet den Naturzustand des Menschen, in welchem Freiheit und Gleichheit herrschen, als Idealzustand. Er will daher eine Staatsform aus-findig machen, die dem Naturzustand möglichst ähnlich ist: „Finde eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, in dem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor“ (1. Buch, 6. Kapitel).

Page 25: Vier klassische Staatsphilosophen

25 / 48

E. Der Inhalt des Gesellschaftsvertrags

85 „Wenn man also beim Gesellschaftsvertrag von allem absieht, was nicht zu seinem Wesen gehört, wird man finden, dass er sich auf folgendes beschränkt: Gemeinsam stellen wir alle, jeder von uns seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Richtschnur des Gemeinwillens; und wir nehmen, als Körper, jedes Glied als untrennbaren Teil des Ganzen auf“ (1. Buch, 6. Kapitel). Zu-nächst genügt es festzuhalten, dass der Gemeinwille so etwas wie der ge-meinsame, deckungsgleiche Wille aller Bürger im Staat ist. Das Ganze ist aber etwas komlexer.

Diese „erste Übereinkunft“ (1. Buch, 5. Kapitel) geschieht nicht durch Mehrheitsbeschluss, sondern durch Einstimmigkeit. „In der Tat, woraus entstünde, es sei denn, die Wahl war ein-stimmig, ohne eine vorausgehende Übereinkunft die Verpflichtung für die Minderheit, sich der Wahl der Mehrheit zu unterwerfen“ (1. Buch, 5. Kapitel)?

86 Jedes Mitglied des zu errichtenden sozialen Körpers hat also auf alle seine natürlichen Rechte zugunsten des Gemeinwillens zu verzichten, um sie dann von ihm als bürgerliche Rechte wieder zurückzuerhalten. Diese Unterwerfung mindert die Freiheit des einzelnen nicht, da er seine Rechte nicht einer ande-ren Person, sondern einem Kollektivum übertrage, in dem jeder seinen Willen wiederfindet.

F. Der Souverän

1. Ausdruck des Gemeinwillens

87 Der Souverän gibt dem Gemeinwillen Ausdruck (1. Buch, 7. Kapitel). Er ist die öffentliche Person, die aus dem Zusammenschluss der Einzelnen zustande kommt (1. Buch, 6. Kapitel). „Da nun der Souverän nur aus den Einzelnen be-steht, aus denen er sich zusammensetzt, hat er kein und kann auch kein dem ihren widersprechendes Interesse haben; folglich braucht sich die souveräne Macht gegenüber den Untertanen nicht zu verbürgen, weil es unmöglich ist, dass die Körperschaft allen ihren Gliedern schaden will, und wir werden im fol-genden sehen, dass sie auch niemandem im besonderen schaden kann. Der Souverän ist, allein weil er ist, immer alles, was er sein soll“ (1. Buch, 7. Kapi-tel).

88 Für ROUSSEAU ist der Souverän also nicht die Regierung, sondern eine „mehr oder weniger metaphysische Wesenheit, die sich nicht vollkommen in einem der sichtbaren Staatsorgane verkörpert“ (RUSSELL, S. 705). Der Souverän ist unfehlbar, sein Wille immer richtig, denn es ist der Gemeinwille, „volonte générale“.

Page 26: Vier klassische Staatsphilosophen

26 / 48

89 Teilweise ist man der Ansicht, diese überspitzte Formulierung, wonach der „Souverän, allein weil er ist, immer alles ist, was er sein soll“, hätte ROUSSEAU zu Unrecht den Vorwurf des Totalitarismus bzw. des Faschismus eingebracht, denn er ergebe sich logisch aus dem Ansatz, dass der Souverän, durch einen vernünftigen Akt konstituiert, nichts anderes als der Ausdruck des Gemeinwil-lens ist. Dieser Satz könne sowenig wie der gleichermassen berühmte Satz HEGELS aus den Grundlinien der Philosophie des Rechts „Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig“ als eine blinde Apologie des Bestehenden interpretiert werden (vgl. die Reclam-Ausgabe, Anm. 31 zum 1. Buch).

2. Unveräusserlich

90 Im 1. Kapitel des 2. Buches argumentiert ROUSSEAU, das die Souveränität un-veräusserlich ist. Denn der Gemeinwille weicht notwendig dem Sonderwillen eines Herrn. Deshalb kann ROUSSEAU auch sagen: „Die Macht kann wohl über-tragen werden, nicht aber der Wille“ (2. Buch, 1. Kapitel).

3. Unteilbar

91 Die Souveränität ist unteilbar: Denn der Gemeinwille ist entweder allgemein, oder er ist es nicht. Allgemein ist er aber nur, wenn alle Stimmen gezählt wer-den, auch wenn schlussendlich die Mehrheit darüber entscheidet, was der vor-bestehende Gemeinwille war (2. Buch, 2. Kapitel).

92 Was ROUSSEAU tatsächlich unter „Unteilbarkeit“ verstand, lässt sich m.E. schwer sagen. Vermutlich will er sich mit dem 2. Kapitel nicht gegen die Gewal-tenteilungslehre von LOCKE und MONTESQUIEU wenden. ROUSSEAU kritisiert wohl eher die im 17. Jh. allgemein übliche Auffassung, die Souveränität setze sich aus verschiedenen Rechten zusammen. Er betont den ursprünglichen Charakter der Souveränität: Für einen Staat ist Souveränität keine nachträgli-che, zusammengesetzte Grösse, sondern eine ursprüngliche und fundamenta-le. Für ihn hat die Unteilbarkeit der Souveränität v.a. zur Folge, dass der Akt der Gesetzgebung als der wesentliche Inhalt der Souveränität der Versamm-lung aller Bürger vorbehalten bleibt (Ablehnung der repräsentativen zugunsten der direkten Demokratie): „Es ist, als setzten sie den Menschen aus mehreren Körpern zusammen“ (2. Buch, 2. Kapitel).

Page 27: Vier klassische Staatsphilosophen

27 / 48

4. Unbeschränkt

93 Die politische Körperschaft (der Souverän) hat die „unumschränkte Gewalt“, eine Gewalt, die vom Gemeinwillen geleitet ist (2. Buch, 4. Kapitel). Dieser un-umschränkten Gewalt setzt ROUSSEAU gleichwohl Grenzen (?):

– Der Souverän darf seine Glieder nicht mit „einer für die Gemeinschaft unnö-tigen Kette belasten“ (2. Buch, 4. Kapitel; ebenso: LOCKE, The Second Trea-tise of Government, § 131 und MONTESQUIEU, Vom Geist der Gesetze, 19. Buch, 14. Kapitel). Der Gedanke, dass der Souverän den Einzelnen nur zum Wohl der Gemeinschaft belasten darf, war nahezu Gemeingut.

– Der Gemeinwille „muss in seiner Auswirkung allgemein sein; er muss von al-len ausgehen, um sich auf alle zu beziehen“ (2. Buch, 4. Kapitel). Bezieht er sich auf einzelnes, widerspricht er seinem eigenen Begriff und wird unge-recht. Gleiches schreibt ROUSSEAU in Bezug auf die Gesetze, nämlich dass ihr Gegenstand immer allgemein ist (vgl. 2. Buch, 5. Kapitel).

Auch aus diesen Stellen wird ersichtlich, wie wichtig für ROUSSEAU die Gleichheit war (auch wenn er nicht von einem einheitlichen Rechtssubjekt ausging).

G. Der Gemeinwille (volonté générale)

1. Abgrenzung zum Sonderwillen

94 Der Gemeinwille ist eine Art „mystische Einheit der Bürger“ (VERDROSS, S. 127). Er ist nicht identisch mit dem Willen der Mehrheit (vgl. 4. Buch, 2. Kapitel) oder gar mit dem Willen aller Bürger. Man muss sich das etwa so vorstellen, dass das Privatinteresse jedes Bürgers aus zwei Teilen besteht:

– Gemeinwille: Der allen Mitgliedern des Staates eigene Wille.

– Sonderwille: Der dem einzelnen Bürger eigene Wille.

„In der Tat kann jedes Individuum als Mensch einen Sonderwillen haben, der dem Gemein-willen, den er als Bürger hat, zuwiderläuft oder sich von diesem unterscheidet“ (1. Buch, 7. Kapitel).

2. Die Differenz-Summe

95 Vereinfacht könnte man sagen, dass jeder Bürger Einzelinteressen (Sonderwil-len) verfolgt. Das Gemeinsame in diesen unterschiedlichen Interessen bildet das „gesellschaftliche Band“, den Gemeinwillen (2. Buch, 1. Kapitel). Möglich-erweise ist das Ganze aber nicht so einfach. An einer anderen Stelle sagt ROUSSEAU nämlich: „Es gibt oft einen beträchtlichen Unterschied zwischen dem Gesamtwillen und dem Gemeinwillen; dieser [der Gemeinwille] sieht nur auf

Page 28: Vier klassische Staatsphilosophen

28 / 48

das Gemeininteresse, jener [der Gesamtwille] auf das Privatinteresse und ist nichts anderes als eine Summe von Sonderwillen: aber nimm von ebendiesem das Mehr und das Weniger weg, das sich gegenseitig aufhebt, so bleibt als Summe der Unterschiede der Gemeinwille“ (2. Buch, 3. Kapitel).

In der Übersetzung, mit welcher BERTRAND RUSSELL gearbeitet hat (zit. Auf S. 707): „Zieht man aber von eben diesen Sonderwillen das ab, wodurch sie sich mehr oder weniger aufheben, so bleibt der allgemeine Wille als Differenz-Summe übrig.“

96 Wenn also die Bürger keine Gelegenheit haben, sich gegenseitig besonders vorteilhafte Geschäfte in die Hand zu spielen, dann werden ihre einander zuwi-derlaufenden Sonderinteressen sich gegenseitig aufheben, sodass als Ender-gebnis ihr gemeinsames Interesse (ihr Gemeinwille, volonté générale) übrig-bleibt (vgl. RUSSELL, S. 706).

3. Öffentliches Wohl als Ziel

97 Der Gemeinwille zielt immer auf das öffentliche Wohl ab und ist immer auf dem rechten Weg (vgl. 2. Buch, 3. Kapitel). Das öffentliche Wohl, das höchste Wohl, das „den Endzweck jeder Art von Gesetzgebung bilden soll“, sind Freiheit und Gleichheit (2. Buch, 11. Kapitel):

– Freiheit: ROUSSEAU versteht unter Freiheit im Staat nicht länger die natürli-che Freiheit, zu tun und zu lassen, was man will, sondern er meint damit die „bürgerliche Freiheit“, also die Freiheit, sich dem Gemeinwillen anzuschlies-sen (der in ROUSSEAUs Welt ja der Wille jedes einzelnen Bürgers ist): „Damit nun aber der Gesellschaftsvertrag keine Leerformel sei, schliesst er still-schweigend jene Übereinkunft ein, die allein die anderen ermächtigt, dass, wer immer sich weigert, dem Gemeinwillen zu folgen, von der gesamten Körperschaft dazu gezwungen wird, was nichts anderes heisst, als dass man ihn zwingt, frei zu sein“ (1. Buch, 7. Kapitel). Dieses „Gezwungen-werden, frei zu sein“ ist ein sehr metaphysischer Begriff. RUSSELL meint da-zu: „Freiheit ist das angebliche Ziel, worauf ROUSSEAU seine Gedanken rich-tet; in Wirklichkeit aber strebt er Gleichheit an, und sei es selbst auf Kosten der Freiheit“ (S. 703).

– Gleichheit: „Was die Gleichheit anbelangt, so darf unter diesem Wort nicht verstanden werden, dass das Ausmass an Macht und Reichtum ganz genau gleich sei, sondern dass, was die Macht anbelangt, diese unterhalb jeglicher Gewalt bleibe und nur aufgrund von Stellung und Gesetz ausgeübt werde, und was den Reichtum angeht, dass kein Bürger derart vermögend sei, sich einen anderen kaufen zu können, und keiner so arm, dass er gezwungen

Page 29: Vier klassische Staatsphilosophen

29 / 48

wäre, sich zu verkaufen“ (2. Buch, 11. Kapitel). Auch die Gleichheit im Staat unterscheidet sich von der natürlichen Gleichheit, einem Zustand völliger Gleichheit, die „keiner zu untergraben versuchte, da jeder sich selbst genug war“ (VERDROSS, S. 124).

98 Für RUSSELL heisst das in Wirklichkeit nur: Im Gemeinwillen muss die denkbar grösste, dem Staat mögliche Kollektiv-Befriedigung des Privatinteresses zum Ausdruck kommen, da der Gemeinwille der allen Bürgern gemeinsame Teil des Eigennutzes ist (vgl. RUSSELL, S. 706 f.).

4. Irrtümer

99 Der Titel des 3. Kapitel im 2. Buch lautet: „Ob der Gemeinwille irren kann“. Die-ser Titel ist m.E. falsch gewählt. Denn der Gemeinwille ist ja „immer auf dem rechten Weg“ (2. Buch, 3. Kapitel). Was ROUSSEAU zum Ausdruck bringen will, ist vielmehr, dass die Bürger manchmal nicht die Aussage des Gemeinwillens bekommen. Das liegt nach ROUSSEAUs Auffassung daran, dass er durch das Vorhandensein untergeordneter Vereinigungen („Parteiungen“ und „Teilverei-nigungen“ innerhalb des Staates) gestört wird. Jede von ihnen wird einen all-gemeinen Willen haben, der mit dem Willen des Staates als Gesamtheit kolli-dieren kann. „Man kann dann sagen, dass es nicht mehr so viele Stimmen gibt wie Menschen, sondern nur noch so viele wie Vereinigungen“ (2. Buch, 3. Ka-pitel).

100 Daraus folgt etwas sehr wichtiges: „Um wirklich die Aussage des Gemeinwil-lens zu bekommen, ist es deshalb wichtig, dass es im Staat keine Teilgesell-schaften gibt und dass jeder Bürger nur seine eigene Meinung vertritt. Derge-stalt war die einzigartige und erhabene Einrichtung des LIKURG. Wenn es aber Teilgesellschaften gibt, ist es wichtig, ihre Zahl zu vervielfachen und ihrer Un-gleichheit vorzubeugen, wie dies Solon, Numa und Servius taten. Diese Vor-sichtsmassregeln sind die einzig richtigen, damit der Gemeinwille immer auf-geklärt sei und das Volk sich nicht täusche“ (2. Buch, 3. Kapitel).

101 RUSSELL, S. 707 sieht in dieser Stelle den korporativen oder totalitären Staat als ROUSSEAUs Ziel, da die praktischen Auswirkungen dieses Systems das Verbot politischer Parteien, Kirchen, Gewerkschaften und allen sonstigen menschli-chen Organisationen mit gleichgerichteten Interessen wären.

5. Eine Inkonsequenz ROUSSEAUs?

102 Mit den obigen Ausführungen zur volonté générale (zum Gemeinwillen) erhebt sich die Frage, ob ROUSSEAU damit nicht sein Ziel verfehlt, denn eigentlich will

Page 30: Vier klassische Staatsphilosophen

30 / 48

er ja eine Gemeinschaftsform finden, wo „jeder nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor“.

103 Darauf antwortet ROUSSEAU, dass diese Frage falsch gestellt sei: „Der Bürger stimmt allen Gesetzen zu, selbst jenen, die man gegen seinen Willen verab-schiedet, und sogar solchen, die ihn bestrafen, wenn er es wagt, eines davon zu verletzen. Der beständige Wille aller Glieder des Staates ist der Gemeinwil-le; durch ihn sind sie Bürger und frei. Wenn man in der Volksversammlung ein Gesetz einbringt, fragt man genaugenommen nicht danach, ob die Bürger die Vorlage annehmen oder ablehnen, sondern ob diese ihrem Gemeinwillen ent-spricht oder nicht; jeder gibt mit seiner Stimme seine Meinung darüber ab, und aus der Auszählung der Stimmen geht die Kundgebung des Gemeinwillens hervor. Wenn also die meiner Meinung entgegengesetzte siegt, beweist dies nichts anderes, als dass ich mich getäuscht habe und dass das, was ich für den Gemeinwillen hielt, es nicht war. Wenn mein Sonderwille gesiegt hätte, hätte ich gegen meinen eigenen Willen gehandelt und wäre deshalb nicht frei gewesen“ (4. Buch, 2. Kapitel). Hier wird erneut deutlich, dass der Gemeinwille – wie schon gesagt (N 94) – nicht durch den Mehrheitsentscheid entsteht, son-dern schon vorher besteht.

H. Ergebnis

1. Die Republik

104 „Diese öffentliche Person, die so aus dem Zusammenschluss aller zustande kommt, trug früher den Namen Polis, heute trägt sie den der Republik, oder der staatlichen Körperschaft, die von ihren Gliedern Staat genannt wird, wenn sie passiv, Souverän, wenn sie aktiv ist, und Macht, im Vergleich mit ihresgleichen. Was die Mitglieder betrifft, so tragen sie als Gesamtheit den Namen Volk, als Einzelne nennen sie sich Bürger, sofern sie Teilhaber an der Souveränität, und Untertanen, sofern sie den Gesetzen des Staates unterworfen sind“ (1. Buch, 6. Kapitel).

105 Unklar ist m.E. die Antwort auf die Frage, ob ROUSSEAU tatsächlich der Demo-kratie das Wort redet, oder ob sein Gesellschaftsvertrag nicht doch insgeheim den totalitären Staat rechtfertigen soll:

2. Ein totalitärer Staat?

106 ROUSSEAUs Lehre vom allgemeinen Willen macht die „mystische Identifizierung eines Führers mit seinem Volke möglich, die einer Bestätigung durch so irdi-

Page 31: Vier klassische Staatsphilosophen

31 / 48

sche Einrichtungen wie zum Beispiel einer Wahlurne nicht bedarf“ (RUSSELL, S. 708). Es ist m.E. fraglich, ob man ROUSSEAU derartiges anlasten darf.

107 Allerdings: ROUSSEAU scheint sich bewusst zu sein, dass zur Begründung einer völkischen Einheit der blosse Sozialkontrakt nicht hinreicht. Denn es ist nötig, dass sich „jeder Bürger in vollkommener Unabhängigkeit gegenüber allen an-deren und in äusserster Abhängigkeit von der Polis befindet“ (2. Buch, 12. Ka-pitel). Er fordert daher, die staatliche Einheit zusätzlich durch Sitten (4. Buch, 7. Kapitel), die öffentliche Meinung (2. Buch, 12. Kapitel), die Verhinderung von Teilgesellschaften (2. Buch, 3. Kapitel) und Etablierung einer bürgerlichen Re-ligion (4. Buch, 8. Kapitel) zu untermauern:

108 Die bürgerliche Religion (religion civile) erklärt ROUSSEAU im spannenden 8. Kapitel des 4. Buches. Für ROUSSEAU hat die Trennung des politischen Sys-tems vom theologischen zur Folge, dass der Staat aufgrund innerer Spaltun-gen aufhört, einer zu sein. Denn man kann nicht zwei Göttern dienen. Deshalb lobt er auch HOBBES, der es „vorzuschlagen gewagt hat, die beiden Köpfe des Adlers wieder zu vereinigen“. Er schlägt daher eine bürgerliche Religion vor, ein „rein bürgerliches Glaubensbekenntnis, dessen Artikel festzusetzen dem Souverän zukommt“ (d.h. die Bürger bestimmen die Religion, natürlich nach dem vorbestehenden Gemeinwillen). Die Dogmen der bürgerlichen Religion sollten dann u.a. sein:

– Es existiert ein allmächtiger, allwissender, wohltätiger, vorhersehender und sorgender Gott.

– Der Gesellschaftsvertrag und die Gesetze sind heilig.

Jeder, der diese Dogmen nicht akzeptiert, sei aus dem Staat zu verbannen. Wer, nachdem er sie anerkannt hat, sich so verhält, als ob er diese Dogmen nicht glaube, soll mit dem Tod bestraft werden.

3. Ein demokratischer Staat?

109 Wenn ROUSSEAU die Demokratie lobt, meint er damit den Stadtstaat nach grie-chischem Vorbild. Denn nur im Stadtstaat ist eine Demokratie unter unmittelba-rer Beteiligung aller Bürger überhaupt praktikabel. Das wäre aber die Idealsitu-ation, denn der Souverän ist ja unteilbar (N 91 f.). Häufig weist er lobend auf Sparta hin, wie es PLUTARCH in seinem „Leben des Lykurg“ schildert (z.B. 2. Buch, 3. Kapitel). Er plädiert für den kleinen Stadtstaat, denn „im allgemeinen ist ein kleiner Staat verhältnismässig stärker als ein grosser“ (2. Buch, 9. Kapi-tel).

Page 32: Vier klassische Staatsphilosophen

32 / 48

I. Der Gesellschaftsvertrag: Eine historische Tatsache?

110 Wohl die deutlichste Stelle, aus der hervorgeht, dass ROUSSEAU keine histori-sche Beschreibung geben will, wie es zum staatlichen Zustand gekommen ist, findet sich im 1. Buch, 6. Kapitel: „Die Bestimmungen dieses Vertrages [...], wiewohl sie vielleicht niemals förmlich ausgesprochen wurden [...].“ Der Ge-sellschaftsvertrag bietet für ROUSSEAU m.E. nur die theoretische Grundlage für den staatlichen Zustand. Oder anders: Der Vertrag ist nicht die Form, unter der man den empirischen Willen der Vertragspartner festhält, sondern eine Regel der Vernunft, der sich das Individuum unterstellen muss, wenn es in einer Ge-sellschaft leben will.

J. Unterschiede und Gemeinsamkeiten bei LOCKE und ROUSSEAU

111 Bei LOCKE besteht keine absolute „Kontinuität“ zwischen Naturzustand und bürgerlichem Zustand. Zwar hat der Staat das Eigentum (Leben, Freiheit, Be-sitz) grds. zu schützen, wie es im Naturzustand bereits existiert. Aber LOCKE unterscheidet trotzdem zwischen der natürlichen Freiheit und der Freiheit in der Gesellschaft (vgl. Second Treatise, § 22). Auch anerkennt er, dass das Eigen-tum zum öffentlichen Wohle beschränkt werden darf (vgl. N 44).

112 Bei ROUSSEAU sieht es nicht ganz anders aus. Im Naturzustand herrschen bei ihm Freiheit und Gleichheit (vgl. VERDROSS, S. 124). Er will ja nun auch eine Staatsform finden, die dem Naturzustand möglichst ähnlich ist (1. Buch, 6. Ka-pitel). Dabei unterscheidet auch er die natürliche Freiheit von der Freiheit in der Gesellschaft, die er als „bürgerliche Freiheit“ bezeichnet, also die Freiheit, sich dem Gemeinwillen anzuschliessen (vgl. 1 Buch, 7. Kapitel).

113 Der Unterschied besteht lediglich darin, dass ROUSSEAU meint, jedes Mitglied des zu errichtenden sozialen Körpers habe auf alle seine natürlichen Rechte zugunsten des Gemeinwillens zu verzichten, um sie dann von ihm als bürgerli-che Rechte wieder zurückzuerhalten, während für LOCKE der Einzelne seine natürlichen Rechte auf Leben, Freiheit und Besitz zurückbehalten hat und der Staat diese nicht verletzen dürfe. Das Ergebnis ist in beiden Fällen praktisch dasselbe, abgesehen davon, dass beide die natürlichen Rechte anders definie-ren.

114 Für ROUSSEAU ist der demokratische Staat, in welchem die (bürgerliche) Gleichheit herrscht, Hauptziel (vgl. N 97). Für LOCKE ist es mehr der liberale Staat, der die Freiheitsrechte (v.a. das Eigentum) des Einzelnen schützt.

Page 33: Vier klassische Staatsphilosophen

33 / 48

IV. Der Leviathan (HOBBES)

A. Geschichtlicher Hintergrund

115 Thomas HOBBES veröffentlichte sein Hauptwerk im Jahr 1651. Ausgelöst wur-den seine Ansichten nicht durch einen tatsächlichen Bürgerkrieg, sondern nur durch die Aussicht darauf. HOBBES wurde natürlich in seiner Auffassung be-stärkt, als seine Befürchtungen sich unter KARL I. bewahrheiteten. 1642 began-nen in England die Bürgerkriege, die anschliessend in das Diktaturregime CROMWELLS mündeten.

116 HOBBES lebte bereits seit 1640 nach Frankreich. Weil er im Leviathan die ka-tholische Kirche angriff, verletzte er die französische Regierung. Dies veran-lasste ihn, wiederum nach England zu fliehen und sich CROMWELL zu unterwer-fen. Seither hielt er sich von jeder politischen Betätigung fern.

B. Der vorstaatliche Zustand

117 Der vorstaatliche Zustand ist bei HOBBES gekennzeichnet durch den Naturzu-stand und das in diesem Zustand herrschende Naturrecht.

1. Der Naturzustand

118 HOBBES geht ähnlich wie LOCKE davon aus, dass die Menschen ursprünglich in einem Naturzustand gelebt haben. Allerdings versteht HOBBES anders als LO-

CKE diesen Naturzustand nicht als historische Tatsache (RUSSELL, S. 559).

119 Im Naturzustand herrschte das Naturrecht (von den natürlichen Gesetzen streng zu unterscheiden), also das Recht aller auf alles, andere Menschen ein-geschlossen (Kap. 14). Ziel oder Zweck des Menschen ist die Selbsterhaltung, das dazugehörige Mittel im Naturzustand ist die Unterwerfung all jener, welche ihm diese Selbsterhaltung streitig machen: „Sooft [...] zwei ein und dasselbe wünschen, dessen sie aber beide nicht zugleich teilhaftig werden können, so wird einer des anderen Feind, und um das gesetzte Ziel, welches mit der Selbsterhaltung immer verbunden ist, zu erreichen, werden beide danach trachten, sich den andern entweder unterwürfig zu machen oder ihn zu töten“ (Kap. 13). Für dieses Problem sucht HOBBES eine annehmbare Lösung: Es kann nicht angehen, dass die Menschen sich gegenseitig versklaven oder tö-ten, nur um sich selbst zu erhalten. HOBBES sucht m.a.W. die Selbsterhaltung anders zu gewährleisten. Seine Lösung: Der Leviathan.

Page 34: Vier klassische Staatsphilosophen

34 / 48

120 Man könnte nun behaupten, dass die im Naturzustand lebenden Menschen sich folglich dann nicht im Kriege befinden, wenn alle sich selbst erhalten kön-nen, ohne dass sie sich einander zur Selbsterhaltung gewisse Dinge streitig machen müssen. Dem entgegnet HOBBES: „Wenn diejenigen, welche mit mäs-sigem Besitz zufrieden sind, nur sich und das ihrige zu verteidigen, nicht aber ihre Macht dadurch zu vermehren suchten, dass sie andere selbst angreifen, so würden sie nicht lange bestehen können, weil es Menschen gibt, die sich entweder aus Machtgefühl oder aus Ruhmsucht die ganze Erde gerne untertan machen möchten“ (Kap. 13).

121 Hieraus ergibt sich für HOBBES, dass „ohne eine einschränkende Macht der Zustand der Menschen ein [...] Krieg aller gegen alle [sei]. [...] Die Zeit aber, in der kein Krieg herrscht, heisst Frieden“ (13. Kap.). Zusammenfassend: Im Na-turzustand, der als Krieg aller gegen alle dargestellt wird, herrscht das Natur-recht, ein Recht aller auf alles.

2. Das Naturrecht

122 Das Naturrecht ist „die Freiheit, nach welcher ein jeder zur Erhaltung seiner selbst seine Kräfte beliebig gebrauchen und folglich alles, was dazu etwas bei-zutragen scheint, tun kann“ (Kap. 14). Im Naturzustand besitzen folglich „alle ein Recht auf alles, die Menschen selbst nicht ausgenommen“ (Kap. 14). Die-ses Naturrecht ist also kein Recht im normativen Sinne, sondern eine natürli-che Fähigkeit des Menschen. HOBBES’ Lehre wird deshalb auch als naturalisti-sche Naturrechtslehre bezeichnet.

Freiheit begreift für HOBBES in ihrer „ursprünglichen Bedeutung nach die Abwesenheit aller äusseren Hindernisse in sich“ (Kap. 14 u. 21). Freiheit ist also gegeben, wenn jede Bewe-gungsbehinderung fehlt (RUSSELL, S. 561). Ist das Hindernis kein äusseres, sondern ein inner-liches, fehlt es demgegenüber nicht an Freiheit, sondern an Vermögen (Kap. 21). Freier Wille bedeutet dann nicht die Freiheit des Willens, sondern des Wollenden.

C. Die Flucht aus dem vorstaatlichen Zustand

1. Krieg und Frieden

123 Für HOBBES ist offensichtlich, dass ein Leben im Naturzustand für den Men-schen unhaltbar ist, denn im Naturzustand herrscht Krieg, und dieses Übel ist weitaus schlimmer als jede noch so korrupte Regierung.

124 Das Gegenteil vom Krieg heisst Frieden. Im Kriegszustand herrscht ein Recht aller auf alles, und um das eigene Überleben zu sichern, kann im Naturzustand niemand auf seine natürlichen Rechte verzichten. Im Friedenszustand sind da-

Page 35: Vier klassische Staatsphilosophen

35 / 48

gegen Ruhe und Selbsterhaltung gesichert, das Naturrecht demnach nicht mehr nötig. Mehr noch: Würde jemand auf sein Naturrecht im Friedenszustand weiter beharren, dann würde der Kriegszustand fortdauern.

125 HOBBES glaubt zwei Gründe erkennen zu können, welche die Menschen dazu bewegen, den vorstaatlichen Kriegszustand zu verlassen:

– Die Leidenschaften; und

– die Vernunft (resp. das aus der Vernunft kommende natürliche Gesetz).

2. Die Leidenschaften

126 „Die Leidenschaften, die die Menschen zum Frieden unter sich geneigt machen können, sind die Furcht überhaupt und insbesondere die Furcht vor einem ge-waltsamen Tod; ferner das Verlangen nach den zu einem glücklichen Leben erforderlichen Dingen und endlich die Hoffnung, sich diese durch Anstrengung wirklich zu verschaffen“ (Kap. 13).

3. Die Vernunft resp. das natürliche Gesetz

127 „Das Recht besteht immer in der Freiheit, etwas zu tun oder zu unterlassen; das Gesetz aber schliesst eine Verbindlichkeit, etwas zu tun oder es zu unter-lassen, in sich. Folglich sind Recht und Gesetz ebenso unterschieden wie Frei-heit und Verbindlichkeit“ (Kap. 14). HOBBES unterscheidet m.a.W. zwischen Na-turrecht und natürlichem Gesetz.

128 Das natürliche Gesetz ist „eine Vorschrift oder allgemeine Regel, welche die Vernunft lehrt, nach welcher keiner dasjenige unternehmen darf, was er als schädlich für sich selbst anerkennt“ (Kap. 14).

RUSSELL, S. 562 bezeichnet die Ethik HOBBES’ als egoistisch, vermutlich u.a. aufgrund der Tat-sache, dass HOBBES der Ansicht ist, die Vernunft lehre zunächst bloss, dass keiner tun soll, was für ihn selbst schädlich ist (Kap. 14). Betrachtet man den Leviathan als Gesamtheit, mag das wohl zutreffen, v.a. wenn man berücksichtigt, dass das Recht zur Selbsterhaltung nie der obersten Gewalt übertragen werden kann (Kap. 21; vgl. auch N 144). Trotzdem bezieht sich HOBBES an anderen Stelle explizit auf die – weniger egoistische – goldene Regel: „Alles, was die natürlichen Gesetze fordern, wie z.B. Gerechtigkeit, Billigkeit und kurz, andern das zu tun, was wir wünschen, dass es uns von anderen geschehe [...]“ (Kap. 17). Oder: „Naturgesetze bedürfen daher keiner Bekanntmachung und sind in dem einzigen Satz enthalten: Was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch“ (Kap. 26).

129 Mit anderen Worten: Die Vernunft lehrt den Menschen das natürliche Gesetz. Somit entfaltet sich aus der naturalistischen Naturrechtslehre heraus eine zwei-te, rationalistische Naturrechtslehre, die sich „streng rational die Frage stellt, welche Mittel zur Erreichung des vorausgesetzten Friedensziels notwendig

Page 36: Vier klassische Staatsphilosophen

36 / 48

sind“ (VERDROSS, S. 115). Mit den verschiedenen Naturrechtslehren verfolgt HOBBES m.a.W. verschiedene Zwecke.

In dieser Hinsicht ist HOBBES in guter Gesellschaft mit ROUSSEAU und KANT: Sie alle wollen das Naturrecht (bei HOBBES: das natürliche Gesetz) unmittelbar aus der Vernunft abgeleitet wissen. Diese rationalistische Naturrechtslehre ist von jener von PUFENDORF zu unterscheiden. HOBBES leitet das natürliche Gesetz unmittelbar aus der Vernunft ab, während PUFENDORF das Natur-recht zwar mit Hilfe der blossen Vernunft (also ohne Bezugnahme der Moraltheologie) ermitteln will, bei ihm aber die vernünftige Betrachtung des empirischen Menschen Aufschluss über den Inhalt des Naturrechts gibt.

130 Wenn aber keiner dasjenige unternehmen darf, was er als schädlich für sich selbst anerkennt, folgt daraus vernünftigerweise, dass er den Naturzustand verlassen muss. Denn solange „dieses Recht [das Naturrecht] gilt, wird keiner, sollte er auch der Stärkste sein, sich für sicher halten können“ (Kap. 14). Daher das erste natürliche (d.h. vernünftige) Gesetz: „Suche Frieden, solange nur Hoffnung darauf besteht“ (Kap. 14).

131 Der Friede ist das Ende des Krieges, der im Naturzustand herrscht. Das heisst: Im Frieden hört der Naturzustand und damit die Geltung des Naturrechts auf, welches das Recht aller auf alles postuliert. Im Frieden ist die „Ruhe und Selbsterhaltung gesichert“ (Kap. 14). Deshalb ergibt sich aus dem ersten auch das zweite natürliche Gesetz: „Sobald seine Ruhe und Selbsterhaltung gesi-chert ist, muss auch jeder von seinem Rechte auf alles – vorausgesetzt, dass andere dazu auch bereit sind – abgehen und mit der Freiheit zufrieden sein, die er den übrigen eingeräumt wissen will“ (Kap. 14).

132 Mit anderen Worten: Im Naturzustand benötigt der Mensch das natürliche Recht, um überleben zu können. Im Friedenszustand gibt der Mensch sein na-türliches Recht auf; ansonsten bleibt der Kriegszustand bestehen. Das ist die Erklärung für den Inhalt des ersten und zweiten natürlichen Gesetzes.

133 Neben den ersten beiden natürlichen Gesetzen (suche Frieden und verzichte wenn möglich auf deine Rechte, wenn du dich mit anderen zusammen-schliesst) existieren nämlich noch weitere: (3) Pacta sunt servanda; (4) unge-rechtfertigte Bereicherungen sind u.U. zurückzuerstatten; (5) jeder sei dem an-dern nützlich; (6) jeder soll u.U. Beleidigungen vergeben; (8) zeige keinen Hass gegen andere; (9) alle Menschen sind gleich; (15) Friedensmittler müssen si-cher kommen und gehen dürfen etc. (ausführlich: Kap. 15).

Page 37: Vier klassische Staatsphilosophen

37 / 48

D. Der Gesellschaftsvertrag

1. Der Vertragsinhalt im Allgemeinen

134 HOBBES sieht als einzige Möglichkeit, den Friedenszustand zu erreichen und zu erhalten, den Abschluss eines Gesellschaftsvertrags in seinem Sinne. Er um-schreibt in Kap. 17 den Vertragsinhalt wie folgt: „’Ich übergebe mein Recht, mich selbst zu beherrschen, diesem Menschen oder dieser Gesellschaft unter der Bedingung, dass du ebenfalls dein Recht über dich ihm oder ihr abtrittst.’ Auf diese Weise werden alle einzelnen eine Person und heissen Staat oder Gemeinwesen. So entsteht der grosse Leviathan oder, wenn man lieber will, der sterbliche Gott, dem wir unter dem ewigen Gott allein Frieden und Schutz zu verdanken haben.“

2. Ein sterblicher Gott

135 Warum nennt HOBBES den Leviathan einen sterblichen Gott? Er liefert uns die Antwort in Kap. 19: „Wie auch immer die Staatsverfassung sein mag [vgl. N 137], ihr Stoff, d.h. die Menschen, ist sterblich [...]. So wie also zur Errichtung eines Staates ein künstlicher Mensch nötig war, so ist auch zur Fortdauer des Staates ein künstliches Leben erforderlich“. Für die Monarchie ist deshalb das Recht der Erbfolge nötig. In der Demokratie und der Aristokratie fällt das Erb-folgerecht weg, weil die Demokratie erst aufhört, wenn keine Bürger mehr da sind, und die Aristokratie sich selbst konstituiert.

136 Ein weiterer Grund für die Sterblichkeit des Leviathans liegt in der Tatsache, dass für HOBBES die Verpflichtung der Bürger gegen die Obrigkeit nur solange andauert, wie der Staat imstande ist, die Bürger zu schützen. Denn das erste natürliche Gesetz, welches das Recht jedes Menschen postuliert, sich selbst zu schützen, falls dies kein anderer tun kann, wird durch keinen Vertrag besei-tigt. Die Gehorsamspflicht der Bürger ist also von der Schutzpflicht des Staates abhängig (ausführliche Herleitung in N 143 f.).

3. Die Regierungsform

137 Mit dem Gesellschaftsvertrag vereinbaren die Bürger untereinander, einer Herrschergewalt gehorchen zu wollen. Als Herrschergewalt kommen eine oder mehrere Menschen in Betracht: „Jeder muss alle seine Macht oder Kraft einem oder mehreren Menschen übertragen“ (Kap. 17). Dabei gibt es eine Einschrän-kung: Eine Teilung der Herrschergewalt, z.B. zwischen König und Parlament, kommt für HOBBES aber nicht in Frage. „Hiermit steht er in vollem Gegensatz zu

Page 38: Vier klassische Staatsphilosophen

38 / 48

den Ansichten LOCKEs und MONTESQUIEUs. Wie HOBBES sagt, kam es zum eng-lischen Bürgerkrieg, weil sich die Macht auf den König, die Lords und das Volk verteilte“ (RUSSELL, S. 560). HOBBES hält dementsprechend nur drei Staatsver-fassungen für möglich (ausführlich: Kap. 19):

– Monarchie: Die höchste Gewalt liegt in den Händen eines einzigen. In Kap. 19 führt HOBBES verschiedene Gründe an, um derentwillen eine von einem Monarchen regierte Staatsform einer Staatsführung durch eine Versamm-lung vorzuziehen sei (zusammenfassend z.B. RUSSELL, S. 561).

– Demokratie: Die Gewalt wird von einer Versammlung ausgeübt, zu der jeder freien Zutritt hat. Deshalb stellt RUSSELL, S. 561 auch treffend fest: „Er fasst die Demokratie nach Art der Antike als direkte Beteiligung jedes Bürgers an der Gesetzgebung und Verwaltung auf“.

– Aristokratie: Die höchste Gewalt wird dem vornehmsten Bürgerstande an-vertraut. HOBBES scheint dabei an eine Körperschaft wie das Oberhaus in England gedacht zu haben (vgl. RUSSELL, S. 561).

138 Tyrannei, Oligarchie und Anarchie sind dagegen für HOBBES – im Gegensatz zu Aristoteles – keine eigentlichen Begriffe für Staatsformen, denn sie drücken nur den Widerwillen gegenüber der Regierung bei denen aus, die sich ihrer bedienen (Kap. 19). Wer beispielsweise den König nicht mag, nennt in ein Ty-rann.

4. Wahl oder Vertrag?

139 Die Macht oder Kraft wird durch Wahl übertragen: Der Vertrag wird nicht, wie später bei LOCKE und ROUSSEAU, zwischen den Bürgern und der künftigen herrschenden Gewalt geschlossen. Die Bürger schliessen untereinander den Vertrag, einer von der Mehrheit (vgl. Kap. 18, 1. Satz) gewählten Herrscherge-walt gehorchen zu wollen. Das hat zur Folge, dass niemand das Recht hat, sich gegen den Herrscher aufzulehnen (Ausnahme: Widerstandsrecht bei Verstoss gegen das Recht auf Selbsterhaltung), denn der Herrscher war nicht Vertragspartner: „Zweitens kann wegen schlechter Verwaltung des Staats die höchste Gewalt ihrem Besitzer nicht genommen werden, denn einerseits stellt derselbe den gesamten Staat dar, und folglich sind seine Handlungen als Handlungen des ganzen Staats anzusehen; wer kann aber dabei den Staat als schuldig anklagen? Andererseits errichtet ja der, welchem die höchste Gewalt übertragen wird, mit denen, welche sie ihm übertrugen, eigentlich keinen Ver-

Page 39: Vier klassische Staatsphilosophen

39 / 48

trag, und folglich kann er keinem Unrecht tun, weshalb ihm die höchste Gewalt genommen werden dürfte“ (Kap. 18).

5. Die höchste Gewalt als Stellvertreter

140 HOBBES schreibt, der Wille aller werde in der höchsten Gewalt „gleichsam auf einen Punkt vereinigt“ (Kap. 17), sodass „dieser eine Mensch oder diese eine Gesellschaft eines jeden einzelnen Stellvertreter werde und ein jeder die Hand-lungen jener so betrachte, als habe er sie selbst getan“ (Kap. 17). Jeder von denen, die dem einen die höchste Gewalt freiwillig (vgl. Kap. 17) übertrugen, müssen sich „als den Urheber aller der Handlungen dieses einen ansehen“ (Kap. 18). Daher ist auch klar, dass „der Oberherr keinem von diesen Unrecht tun kann: denn was er tut, tun sie selbst. Sich selbst aber kann niemand Un-recht zufügen“ (Kap. 18).

141 Der wichtigste Grund für diese Ansicht, wonach der Oberherr die Rolle des Stellvertreters hat, ist m.E. in HOBBES’ System folgender: Jeder Bürger über-trägt der Obrigkeit sein natürliches Recht (auf alles). Übt die Obrigkeit dieses Recht gegenüber dem Bürger aus, ohne sein Stellvertreter zu sein, dann be-fände sie sich mit dem Bürger im Kriegszustand.

142 Die Rechte der obersten Gewalt, d.h. der Stellvertreter, sieht HOBBES mit dem folgenden Argument als ausgewiesen: „Alle diese Rechte beziehen sich offen-bar auf den Staat; der Staat kann aber nur durch seinen Stellvertreter oder Oberherrn reden und handeln, und deshalb sind sie von diesem, er bestehe aus einem einzigen oder aus einer Gesellschaft, nicht zu trennen“ (Kap. 18).

6. Die Freiheit der Staatsbürger

143 Der Leviathan ist nicht totalitär, da er nur zum Schutz des Lebens und der irdi-schen Güter seiner Bürger bestimmt ist. Er ist also an das natürliche Gesetz, das diese Güter zu achten gebietet, gebunden (auch wenn er allein zur Ausle-gung des natürlichen Gesetzes befugt ist). Hingegen wird durch den Staat das Naturrecht (das Recht aller auf alles) wesentlich eingeschränkt. Es wird aber nicht ganz aufgehoben, weil jeder Bürger sein Leben auch gegen die Staats-gewalt verteidigen darf: „Ein Staat wird durch Verträge, die ein jeder mit einem jeden schliesst, errichtet; folglich behält der Bürger seine Freiheit bezüglich all dessen, worauf er sein Recht weder durch einen Vertrag einem andern über-tragen noch er selbst diesem entsagen kann“ (Kap. 21). Der Mensch hat folg-lich sein natürliches Recht zur Selbstverteidigung resp. Selbsterhaltung nicht aufgegeben. So sagt es auch das erste natürliche Gesetz, welches HOBBES

Page 40: Vier klassische Staatsphilosophen

40 / 48

aus der Vernunft ableitet: „Suche Frieden, solange nur Hoffnung darauf be-steht. Verschwindet diese Hoffnung, so schaffe dir von allen Seiten Hilfe und nutze sie; dies steht dir frei“ (Kap. 14). Dieses erste natürliche Gesetz leitet HOBBES aus folgender allgemeinen Regel, welche die Vernunft lehrt, ab: „Kei-ner tue das, was er als schädlich für sich selbst anerkennt“.

144 Daraus ergibt sich für HOBBES, dass das Recht zur Selbsterhaltung absolut ist (ausführlich: Kap. 21):

– Die Untertanen haben ein Recht auf Selbstverteidigung gegenüber dem Mo-narchen. Das ist logisch, da für HOBBES die Selbsterhaltung das Motiv ist, eine Regierung einzusetzen. Widerstand bei der Verteidigung eines anderen ist hingegen strafbar, denn das zersetzt den Staat.

– Ein Mann darf sich weigern zu kämpfen, wenn die Regierung ihn dazu auf-fordert, es sei denn, die Verteidigung des Staates erfordert die Hilfe sämtli-cher Bürger. Sonst wäre die Errichtung des Staates vergeblich gewesen. Dieses Recht wird wohlgemerkt von keiner modernen Verfassung zugestan-den.

– Der Mensch hat keine Verpflichtung gegenüber einem Herrscher, der nicht in der Lage ist, ihn zu schützen. Damit ist HOBBES gerechtfertigt, der sich CROMWELL unterwarf, als KARL II. in der Verbannung war.

145 Ausser den angeführten Fällen hängt hingegen die Freiheit vom Stillschweigen der bürgerlichen Gesetze ab, d.h. die Bürger sind überall dort frei, wo die Ge-setze es zulassen. Diese Freiheit wird, wie der Oberherr es für gut findet, bald ausgedehnt, bald eingeschränkt sein (Kap. 21). An dieser Stelle mündet HOB-

BES’ rationalistische Naturrechtslehre in den Rechtspositivismus (vgl. auch N 146 f.).

E. Die bürgerlichen Gesetze im Speziellen

1. Rechtspositivismus

146 Wie bei HOBBES aus der naturalistischen Naturrechtslehre die rationalistische herauswächst, so führt diese in den Rechtspositivismus hinein. HOBBES be-merkt nämlich, dass das natürliche Gesetz doch nicht hinreicht, um den Frie-den zu begründen, denn nicht jeder Mensch handelt auch entsprechend seiner vernünftigen Einsicht. „Die Vorschriften über das Mein und Dein, über das Gute und Böse, Erlaubte und Unerlaubte in den Handlungen müssen daher von dem Oberherrn gemacht werden, denn von alledem hängt der Frieden im Staate ab. Diese Vorschriften bekommen den Namen bürgerliche Gesetze“ (Kap. 18).

Page 41: Vier klassische Staatsphilosophen

41 / 48

Mit anderen Worten: Die natürlichen Gesetze haben lediglich eine moralische Verbindlichkeit. Sie fallen unter die Moral und verdienen es streng genommen nicht einmal, Gesetze genannt zu werden. Sie sind „Eigenschaften, welche die Menschen zu Frieden und Gehorsam hinlen-ken“. Nur der Staat mit seinen bürgerlichen Gesetzen schafft und garantiert Frieden, und wir brauchen diese bürgerlichen Gesetze, da die Naturgesetze allein kein Durchsetzungszwang haben.

2. Begriffsbestimmung

147 HOBBES unterscheidet die bürgerlichen Gesetze von den natürlichen Gesetzen, welche die Vernunft vorschreibt. In Kap. 26 schreibt er: „Als Menschen müssen wir den natürlichen Gesetzen, als Bürger aber den bürgerlichen Gesetzen Ge-horsam leisten“. Das bürgerliche Gesetz ist „eine Regel, welche der Staat mündlich oder schriftlich oder sonst auf eine verständliche Weise jedem Bürger gibt, um daraus das Gute und Böse zu erkennen und danach zu handeln“.

3. Folgerungen

148 Aus der Definition folgert HOBBES, dass den bürgerlichen Gesetzen acht We-sensmerkmale eigen sind:

– Der Gesetzgeber ist Inhaber der höchsten Gewalt, denn nur der Staat darf den Bürgern Gesetze vorschreiben.

– Der Oberherr ist den bürgerlichen Gesetzen nicht unterworfen.

Wir erinnern uns: Mit dem Gesellschaftsvertrag überträgt jeder einzelne seine natürliche Freiheit, sein natürliches Recht auf alles, oder anders: sein Recht, sich selbst zu beherr-schen, dem Souverän. Der Souverän ist also frei (mit Einschränkungen).

– Gewohnheitsrecht entsteht nicht durch Länge der Zeit, sondern den Willen des Oberherrn, welcher durch sein Stillschweigen seine Einwilligung dazu gab.

– Die natürlichen und bürgerlichen Gesetze sind ineinander enthalten. Die na-türlichen Gesetze werden erst verbindlich, wenn „der Staat sie zu beobach-ten gebietet“ (sie also zu bürgerlichen Gesetzen werden).

Mit anderen Worten: Inhaltlich gesehen ist das Gesetz natürlich, aber formell ist es bürger-lich. Hier opfert HOBBES genau genommen alle höheren Werte der natürlichen Gesetze, um die physische Existenz und den Genuss der materiellen Güter sicherzustellen (vgl. VER-

DROSS, S. 118 f.). Keine mir bekannte Rechtsordnung verwirklicht nämlich die naturrechtli-chen Prinzipien (wie z.B. die Goldene Regel) vollständig. Die natürlichen Gesetze werden praktisch von den bürgerlichen Gesetzen überschrieben, das natürliche Gesetz vom positi-ven Recht verdrängt. Denn an anderer Stelle schreibt HOBBES: „In einem Staate hängt die Auslegung der natürlichen Gesetze nicht von den Lehrern und Schriftstellern der Moralphi-losophie, sondern von dem Staat selbst ab“ (Kap. 26). Das Verhältnis zwischen dem Gesetz

Page 42: Vier klassische Staatsphilosophen

42 / 48

der Natur und den positiven Gesetzen steht bei HOBBES im Vergleich zur traditionellen na-turrechtlichen Lehre im Gegensatz. Für einen Naturrechtler ist das positive Gesetz nur so-lange verbindlich, als es den Gesetzen der Natur entspricht, für HOBBES dagegen ist das Gesetz der Natur nur verbindlich, insofern es dem positiven Gesetze entspricht.

– Wie das Gewohnheitsrecht sind auch die bisherigen (d.h. älteren) Gesetze nur gültig, weil das dem momentanen Willen des Oberherrn entspricht.

Deshalb ist für HOBBES der Oberherr, welcher einen Staat erobert und an den dort herr-schenden Gesetzen nichts ändert, trotzdem der Gesetzgeber dieses Staates.

– Die Rechtsetzungsbefugnis des Oberherrn ist unteilbar. Gelehrte und Bürger dürfen die Gesetze weder abändern noch verbessern.

Auch in diesem Wesensmerkmal ist der absolute Wille des Herrschers entscheidend.

– Die Absicht des Gesetzgebers, und nicht die Vernunft des Richters, macht das Gesetz aus.

– Das Gesetz als Befehl des Souveräns ist nur für diejenigen, die in der Lage sind, davon Kenntnis zu nehmen, verbindlich (also nicht für unmündige Kin-der oder Wahnsinnige).

F. Die Rolle des Richters

1. Unterschiedliche Rechtsquellen

149 In HOBBES’ System entscheidet der Richter Rechtshändel. Zur Entscheidfin-dung stehen ihm zum einen die bürgerlichen Gesetze zur Verfügung. Kann den bürgerlichen Gesetzen keine Entscheidregel entnommen werden, muss der Richter nach einem Naturgesetz entscheiden.

2. Auslegung

150 Wendet der Richter Gesetze auf einen Sachverhalt an, so besteht seine Auf-gabe nicht nur in der richtigen Auswahl der anwendbaren Norm, sondern auch in ihrer Auslegung. HOBBES schreibt: „Alle Gesetze, mögen sie schriftlich ver-fasst sein [bürgerliche Gesetze] oder nicht [natürliche Gesetze], bedürfen einer Auslegung“ (Kap. 26).

Zwar schreibt HOBBES: „In einem Staate hängt die Auslegung der natürlichen Gesetze nicht von den Lehrern und Schriftstellern der Moralphilosophie, sondern von dem Staate selbst ab“ (Kap. 26). Aber die richtige Auslegung eines Naturgesetzes „besteht in dem Ausspruch des Oberherrn oder desjenigen, der in seinem Namen Rechtshändel zu entscheiden hat und das Gesetz durch Anwendung auf einen Fall auslegt“ (Kap. 26). Die Autorität des Richters ergibt sich folglich aus der Kompetenzzuweisung des Oberherrn. Das bedeutet nicht eine Teilung der Souveränität: Für HOBBES ist die höchste Gewalt absolut und unteilbar. Der Richter ist blosser

Page 43: Vier klassische Staatsphilosophen

43 / 48

Stellvertreter des Oberherrn und als solcher zu absolutem Gehorsam verpflichtet. Würde eine Gewaltentrennung stattfinden, bestünde die Gefahr, dass die Gewalten untereinander uneins würden, mit der Folge, dass Anarchie ausbrechen könnte.

151 Was versteht aber HOBBES unter Auslegung? Er unterscheidet „zwischen dem Buchstaben und dem Sinn“:

– Buchstäbliche Bedeutung betrifft die „blossen Worte des Gesetzes“ (Kap. 26) und kann mit der heutigen grammatischen Auslegung verglichen wer-den.

– Der Sinn ist „das, was der Gesetzgeber damit gemeint hat“ (Kap. 26). Inso-weit meint HOBBES mit der Auslegung nach dem „Sinn“ nicht primär eine te-leologische Auslegung, sondern eine historische Auslegung, die sich am Willen des historischen Gesetzgebers orientiert (was der Gesetzgeber ge-meint hat). Die Auslegung nach dem Sinn ist aber nicht nur historisch, son-dern hat auch einen teleologischen Aspekt, denn HOBBES stellt die Fiktion auf, dass der Gesetzgeber immer Billigkeit beabsichtigt, dass also die ratio legis immer in der Billigkeit liegt.

152 Wie bereits festgehalten ergibt sich die Autorität des Richters aus der Kompe-tenzzuweisung des Oberherrn. Wenn aber der Richter als blosser Stellverteter des Oberherrn, und nicht als eigenständige (richterliche) Gewalt im Staat an-gesehen wird, dann folgt daraus, dass die Auslegung des Richters nicht seine eigene ist, sondern dem Staate (dem Oberherrn) zugerechnet wird (wie im normalen Stellvertretungsrecht nach Art. 32 ff. OR). Dann kann man auch sa-gen, dass die Auslegung des Richters authentische Interpretation ist (wenn das Produkt der Interpretation von demselben Autor kommt, der auch das Objekt der Interpretation produziert hat).

Pro memoria: Offizielle Auslegung ist vorhanden, wenn das Produkt der Interpretation von ei-nem anderen Autor als demjenigen kommt, welcher das Objekt der Interpretation produziert hat. So z.B. ein Rundschreiben, das ein Gesetz interpretiert, und von einer untergeordneten In-stanz der Verwaltung kommt. Richterliche Auslegung ist die Tätigkeit der Richter, wenn sie Ur-teile erlassen. Auslegung der Doktrin wird von Juristen in ihren Schriften vorgenommen.

3. Entscheid

153 Aufgrund der Vorträge und Beweisofferten der Parteien, verbunden mit einer richtig ausgelegten Rechtsnorm, fällt der Richter seinen Entscheid. Dabei soll sich der Richter nie an Präjudizien orientieren, sondern stets „ein gerechtes und billiges Urteil“ (Kap. 26) fällen.

Anders als andere Rechtsordnungen widerspricht HOBBES der Auffassung, dass unrichtige Ur-teile den Richter binden können (stare decisis): „Weil sich indes jeder Ober- oder Unterrichter

Page 44: Vier klassische Staatsphilosophen

44 / 48

bisweilen irrt und ein unrichtiges Urteil spricht, ist er, wenn er nachher bei einem ähnlichen Fal-le seinen vorigen Irrtum einsieht, gehalten, ein gerechteres Urteil zu fällen. Denn sein Irrtum kann nie zum Gesetze werden und die Verbindlichkeit auferlegen, darin zu verharren“ (Kap. 26). Unrichtig ist ein Urteil für HOBBES insbesondere dann, wenn der Sachverhalt falsch erfasst wurde oder das Urteil der Gerechtigkeit, gezähmt durch die Billigkeit, nicht entspricht.

4. Qualitäten eines Richters

154 HOBBES meint, zu einem guten Richter gehören folgende Qualitäten (Kap. 26):

– Er entscheidet in allen Streitfällen nach der Billigkeit.

– Er ist nicht habsüchtig.

– In seinen Amtsgeschäften ist er von Furcht, Zorn, Hass, Liebe und von Mit-leid frei.

– Er hört jeden geduldig an, soll auf alles aufmerksam werden, was er gehört hat, soll es behalten, ordnen und anwenden.

G. Alternativen zum hobbesschen Gesellschaftsvertrag?

155 In Kap. 17 seines Leviathans setzt er sich mit einigen anderen Wegen, den Frieden zu erhalten, auseinander, verwirft sie aber klar: Ein blosser Vertragss-schluss ohne Machtübertragung besteht in Worten, und blosse Worte können keine Furcht resp. Gehorsam erregen. Die Sicherheit kann auch nicht gewähr-leistet werden, wenn sich nur wenige Menschen miteinander verbinden. Schliesslich reiche es auch nicht zu einer fortdauernden Sicherheit aus, dass die Menschen nur auf eine gewisse Zeit, z.B. in einem Krieg oder in einzelnen Treffen, unter einem Oberherrn stehen.

V. Vom Geist der Gesetze (MONTESQUIEU)

A. Übersicht

156 In MONTESQUIEUs 1748 erschienenen „Geist der Gesetze“ ist für die Rechts- und Staatsphilosophie v.a. das 6. Kapitel im 11. Buch mit dem Titel „Über die Verfassung Englands“ von Bedeutung. In diesem Buch erklärt MONTESQUIEU die Lehre der Gewaltenteilung.

B. Kernpunkt

157 MONTESQUIEU unterscheidet drei „Arten von Vollmacht“ im Staat, nämlich Legis-lative, Exekutive und Judikative. Diese drei Mächte grenzt MONTESQUIEU sach-lich, zeitlich und personell voneinander ab, um die politische Freiheit zu ge-

Page 45: Vier klassische Staatsphilosophen

45 / 48

währleisten. Denn die politische Freiheit ist nur gewährleistet, wenn die Regie-rung so beschaffen ist, dass kein Bürger einen anderen (z.B. den Monarchen oder einen Angehörigen der Legislative) zu fürchten braucht. Er schreibt:

158 „Alles wäre verloren, wenn ein und derselbe Mann beziehungsweise die glei-che Körperschaft entweder der Mächtigsten oder der Adligen oder des Volkes folgende drei Machtvollkommenheiten ausübte: Gesetze erlassen, öffentliche Beschlüsse in die Tat umsetzen, Verbrechen und private Streitfälle aburteilen.“

159 Die Gewaltentrennung ist aber nicht strikt. Vielmehr entwickelt er ein subtiles Netzwerk von Teilungen und Mischungen, Hinderungs- und Eingriffsmöglich-keiten, Veto- und Kontrollpotenzialen, Gegengewichten und Gleichgewichten, checks und balances. In seinem Modell hat der Staat eine Mischverfassung, wo verschiedene demokratische (Volksparlament), oligokratische (Adelskör-perschaft) und monokratische (Monarch) Elemente miteinander verbunden sind.

C. Die Legislative

1. Konstituierung

a) Volksvertretung

160 Die Legislative ist bei MONTESQUIEU die gesetzgebende Macht. Im Idealfall hat das Volk als Gesamtkörper die legislative Befugnis inne. Da dies in grossen Staaten aber unmöglich sei und in kleinen Staaten vielen Nachteilen unterliege, sei das Volk genötigt, Repräsentanten zu wählen.

161 Die Einwohner jedes bedeutenden Ortes sollten deshalb einen Repräsentanten wählen. Alle Bürger in den verschiedenen Distrikten sollten das Recht zur Stimmabgabe haben, ausgenommen jene, die „in solch einem Elend leben, dass man ihnen keinen eigenen Willen zutraut“.

Die Antwort auf die Frage, wer denn zu bestimmen hat, welche Leute derart „elend“ leben, dass sie ihr Stimmrecht verwirkt haben, lässt MONTESQUIEU allerdings vermissen.

b) Adelskörperschaft

162 Neben der gewählten Körperschaft der Volksvertreter soll die legislative Befug-nis auch einer Adelskörperschaft anvertraut werden. Denn würden „Leute, die durch Geburt, Reichtum oder Auszeichnungen hervorragen“, mit dem Volk vermengt, und besässen sie „wie die andern bloss eine Stimme“, würde die gemeinsame Freiheit für sie (die Adligen) Sklaverei bedeuten. MONTESQUIEU

Page 46: Vier klassische Staatsphilosophen

46 / 48

plädiert m.E. für ein Zweikammer-System wie in England (Ober- und Unter-haus).

163 Die Mitgliedschaft in der Adelskörperschaft sollte erblich sein.

164 In Parlamentsgeschäften, wo der Adel der Gefahr von Korruption ausgesetzt ist, wie z.B. bei Steuergesetzen, soll sein Gesetzgebungsrecht eingeschränkt sein: Der Adel soll kein Entscheidungsrecht, sondern nur ein Verhinderungs-recht erhalten.

2. Aufgaben

165 Die Legislative hat zwei Aufgaben: Gesetzgebung und Kontrolle des Vollzugs. Die Kontrolle des Vollzugs sei aber nicht das Recht, die exekutive Befugnis „aufzuhalten“. Dieses Recht brauche die Legislative nicht, weil die Durchfüh-rung schon ihrer Natur nach ihre Grenzen habe, eine weitere Begrenzung da-her unnötig sei. Die Person, welche mit der Exekutive betraut ist, muss „gehei-ligt“ sein. Könnte die Legislative über die Exekutive zu Gericht sitzen, bestünde die Gefahr, dass die Legislative tyrannisch wird, denn von dem Augenblick der Anklage oder Verurteilung der Exekutive gäbe es keine Freiheit mehr.

Anders als der Legislative soll dagegen die Exekutive ein Vetorecht gegenüber „Unternehmun-gen der legislativen Körperschaft“ erhalten. Hätte sie kein derartiges Recht, wäre die Legislati-ve despotisch, denn sie könnte sich alle erdenklichen Vollmachten selber verleihen und so alle anderen Befugnisse zunichte machen.

3. Einberufung und Tagung

166 Die Legislative sollte regelmässig zusammenkommen. Zwischen den einzelnen Tagungen soll keine „beachtliche Zeitspanne“ liegen, denn sonst bestünde ins-besondere die Gefahr, dass die Exekutive beginnt, Beschlüsse zu fassen und der Staat absolutistisch wird.

MONTESQUIEU scheint England unter KARL I. im Auge gehabt zu haben, als er diese Textpassa-ge schrieb.

167 Eine ständige Tagung der legislativen Körperschaft wäre unnütz; zudem würde dadurch die exekutive Befugnis zu stark beschränkt (MONTESQUIEU plädierte also für ein Milizparlament). Auch soll die Legislative nicht auf eigenen Wunsch zusammentreten können, denn „stände ihr das Recht zu, sich selber zu verta-gen, so könnte es vorkommen, dass sie sich nie vertagte“.

Page 47: Vier klassische Staatsphilosophen

47 / 48

D. Die Exekutive

1. Aufgaben

168 Die exekutive Befugnis in Sachen, die vom Völkerrecht abhängen, d.h. das Stiften von Frieden oder Krieg, das Senden oder Empfangen von Botschaften, die Herstellung der Sicherheit und die Vorsorge gegen Einfälle nennt MON-

TESQUIEU einfach die Exekutive.

2. Konstituierung

169 „Die exekutive Befugnis muss in den Händen eines Monarchen liegen, weil in diesem Zweig der Regierung fast durchweg unverzügliches Handeln vonnöten ist“.

170 Auf keinen Fall sollen einige Abgeordnete der Legislative auch gleichzeitig die exekutive Befugnis ausüben können.

3. Vetorecht

171 „Wenn die exekutive Befugnis nicht das Recht besässe, die Unternehmungen der legislativen Körperschaft aufzuhalten, wäre diese letztere despotisch.“ Ausserdem sähe sich die Exekutive sonst „bald ihrer Sonderrechte beraubt“.

E. Die Judikative

1. Aufgaben

172 Die exekutive Befugnis in Sachen, die vom Zivilrecht abhängen, also die Be-strafung von Verbrechen und das Gericht über Streitfälle von Einzelpersonen soll für MONTESQUIEU richterliche Befugnis heissen.

2. Konstituierung

173 Die richterliche Befugnis darf keinem unabsetzbaren Senat verliehen werden, sondern sie muss von Personen ausgeübt werden, die „nach einer vom Gesetz vorgeschriebenen Weise zu gewissen Zeiten im Jahr aus dem Volkskörper ausgesucht werden“. Denn die Gerichtsbefugnis sei „gefürchtet unter den Menschen“. Durch die Konstituierung des Gerichts im Sinne MONTESQUIEUs werde das Gericht „unsichtbar und nichtig“, d.h. mit keinem bestimmten Stand oder Beruf verbunden, denn man habe nicht dauernd das Gefühl, den Richter vor der Nase zu haben.

Vereinzelt wird diese Textstelle in rechtsgeschichtlichen und rechtsphilosophischen Werken herangezogen zum Beweis, MONTESQUIEU habe die richterliche Gewalt als „nichtig“ betrachtet.

Page 48: Vier klassische Staatsphilosophen

48 / 48

Aus dem Zusammenhang scheint zumindest bei dieser Stelle das Gegenteil eher zuzutreffen, denn MONTESQUIEU bezeichnet die Gerichtsbefugnis als gefürchtetes Amt.

174 Die Richter müssen aus dem Stand des Angeklagten stammen oder ihm eben-bürtig sein. „Sonst könnte er sich in den Kopf setzen, er sei in die Hände vor-eingenommener Leute gefallen, die ihm Gewalt antun wollen.“

175 Die richterliche Gewalt kann aber der Legislative zukommen, wenn über Delik-te von Angehörigen der Legislative (z.B. von Adligen) zu entscheiden ist. MON-

TESQUIEU glaubte nämlich, dass Adlige vor bürgerlichen Gerichten weniger fair beurteilt würden als von Menschen aus demselben Stand.

3. Das „Wesen“ der Judikative

176 Obwohl die Gerichte veränderlich sein müssen (die richterliche Befugnis soll ja keinem unabsetzbaren Senat verliehen werden), trifft das nicht im selben Mas-se auf die Urteile zu. Diese dürfen „nie mehr als ein genauer Gesetzestext“ sein.

Ob MONTESQUIEU an dieser Stelle die richterliche Rolle zum blossen „Subsumtionsautomaten“ degradiert, wie einzelne Staatsphilosophen und Historiker behaupten, scheint mir zweifelhaft. Der nächste Satz im Text lautet nämlich: „Wenn sie nur die Privatmeinung des Richters dar-stellten, würde man in einem Gesellschaftszustand leben, ohne genau die Verpflichtungen zu kennen, die man damit vertraglich eingeht.“ MONTESQUIEU plädiert m.E. eher für die richterliche Bindung an die Gesetze und Präjudizien. Dass er tatsächlich glaubte, Gesetze könnten derart klar sein, dass sie keiner Auslegung bedürfen (wie z.B. später FRIEDRICH II. von Preussen), kann MONTESQUIEU allein aufgrund dieser Textstelle nicht unterstellt werden.

177 An einer anderen Stelle meint MONTESQUIEU: „Doch die Richter der Nation sind, wie gesagt, lediglich der Mund, der den Wortlaut des Gesetzes spricht, Wesen ohne Seele gleichsam, die weder die Stärke noch die Strenge des Gesetzes mässigen können.“

Auch hier ist m.E. aus dem Zusammenhang etwas fraglich, ob MONTESQUIEU die Richter als blosse „Subsumtionsautomaten“ ansah. Allerdings ist für mich nachvollziehbar, warum viele MONTESQUIEU diese Ansicht zuschreiben, v.a. wenn man die beiden anderen Stellen ebenfalls beizieht: „Urteile dürfen nie mehr als ein genauer Gesetzestext sein“ und „Die Gerichte sind unsichtbar und nichtig“.