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Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte VIII. England und Frankreich 1 VIII. Wachstum in England und Frankreich von 1850 bis 1914 Provisorische Version (Asselain 1991, Kapitel II, mit Ergänzungen) Einleitung .................................................................................................................................. 2 1. Entwicklung der englischen Wirtschaft bis 1914 .............................................................. 5 1.1. Einleitung ........................................................................................................................ 5 1.2. Die Jahre 1840 70: Erhaltung des englischen Vorsprungs ........................................... 6 1.2.1. Im Zeitraum 1840-70 waren die Exporte entscheidend ........................................... 6 1.2.2. Technische Dynamik ................................................................................................ 7 1.2.3. Landwirtschaft .......................................................................................................... 7 1.2.4. Blütezeit des Kapitals ............................................................................................... 8 1.3. Relativer Abstieg Grossbritanniens (1875-1914) ............................................................ 8 1.3.1. Zunahme der ausländischen Konkurrenz als Hauptgrund für den relativen Abstieg8 1.3.2. Erhaltene Prosperität Grossbritanniens .................................................................. 10 1.3.3. Einkommensverteilung........................................................................................... 14 1.3.4. Stärkere Abhängigkeit der englischen Wirtschaft .................................................. 15 2. Skizze der französischen Entwicklung: etwa 1850 bis 1914 ........................................... 17 2.1. Einleitung ...................................................................................................................... 17 2.2. Rasche Modernisierung (1840 60) ............................................................................. 18 2.2.1. Ausgangspunkt ....................................................................................................... 18 2.2.2. Das Eisenbahnbauprogramm von 1842.................................................................. 18 2.2.3. Aussenhandel ......................................................................................................... 19 2.3. Verlangsamtes Wachstum (1860-1892) ........................................................................ 20 2.3.1. Das Freihandelsabkommen von 1860 mit Grossbritannien ................................... 20 2.3.2. Der Krieg von 1870/71 gegen Preussen-Deutschland............................................ 20 2.3.3. Gründe für die Wachstumsverlangsamung zwischen 1860 1892 ....................... 21 2.3.4. Die Rolle der Regierung in der Krise ..................................................................... 22

VIII. Wachstum in England und Frankreich von 1850 bis … · verfügen die USA und Deutschland über modernere Produktionstechniken als Grossbritannien und Frankreich und sind deshalb

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Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte VIII. England und Frankreich

1

VIII. Wachstum in England und Frankreich

von 1850 bis 1914

Provisorische Version

(Asselain 1991, Kapitel II, mit Ergänzungen)

Einleitung .................................................................................................................................. 2

1. Entwicklung der englischen Wirtschaft bis 1914 .............................................................. 5

1.1. Einleitung ........................................................................................................................ 5

1.2. Die Jahre 1840 – 70: Erhaltung des englischen Vorsprungs ........................................... 6

1.2.1. Im Zeitraum 1840-70 waren die Exporte entscheidend ........................................... 6

1.2.2. Technische Dynamik ................................................................................................ 7

1.2.3. Landwirtschaft .......................................................................................................... 7

1.2.4. Blütezeit des Kapitals ............................................................................................... 8

1.3. Relativer Abstieg Grossbritanniens (1875-1914) ............................................................ 8

1.3.1. Zunahme der ausländischen Konkurrenz als Hauptgrund für den relativen Abstieg8

1.3.2. Erhaltene Prosperität Grossbritanniens .................................................................. 10

1.3.3. Einkommensverteilung ........................................................................................... 14

1.3.4. Stärkere Abhängigkeit der englischen Wirtschaft .................................................. 15

2. Skizze der französischen Entwicklung: etwa 1850 bis 1914 ........................................... 17

2.1. Einleitung ...................................................................................................................... 17

2.2. Rasche Modernisierung (1840 – 60) ............................................................................. 18

2.2.1. Ausgangspunkt ....................................................................................................... 18

2.2.2. Das Eisenbahnbauprogramm von 1842.................................................................. 18

2.2.3. Aussenhandel ......................................................................................................... 19

2.3. Verlangsamtes Wachstum (1860-1892) ........................................................................ 20

2.3.1. Das Freihandelsabkommen von 1860 mit Grossbritannien ................................... 20

2.3.2. Der Krieg von 1870/71 gegen Preussen-Deutschland ............................................ 20

2.3.3. Gründe für die Wachstumsverlangsamung zwischen 1860 – 1892 ....................... 21

2.3.4. Die Rolle der Regierung in der Krise ..................................................................... 22

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2.4. Der Wiederaufschwung von 1892-1914 ........................................................................ 23

2.4.1. Landwirtschaft ........................................................................................................ 23

2.4.2. Industrie .................................................................................................................. 23

2.5. Folgen des Wiederaufschwungs von 1890 für Frankreich ............................................ 24

2.5.1. Ausweitung der Industrieproduktion ...................................................................... 24

2.5.2. Produktionsmethoden ............................................................................................. 24

2.5.3. Automobilproduktion ............................................................................................. 24

2.5.4. Französische Aufholung ......................................................................................... 25

Einleitung

(Allgemeine Lage und relative Positionen von England und Frankreich in der Weltwirtschaft)

Zwischen 1850 und 1914 ergibt sich eine sehr starke Zunahme des Aussenhandels, verbunden

mit einer zunehmenden Öffnung der französischen und englischen Wirtschaft.

1860 wurde ein Freihandelsvertrag zwischen Grossbritannien und Frankreich abgeschlossen.

Aber die Freihandelstendenz beginnt in GB schon früher, etwa um 1840 (1825) herum.

Die zunehmende Aussenorientierung der Wirtschaften drückt sich in steigenden Export- und

Importquoten aus:

X/Y M/Y

GB 1840 – 44 11% 15%

1870 – 74 22% 32%

Fr. 1845 – 54 8.3%

1875 – 84 19%

Der Aussenhandel ist wachstumsbestimmend; der externe Mechanismus, repräsentiert durch

den Exportmultiplikator, gewinnt durch an Bedeutung! Die Wachstumsrate der Exporte als

wichtigste Wachstumsrate übersteigt nun die Wachstumsrate des Sozialprodukts (gX > gQ);

die Export- und Importquoten nehmen deshalb zu.

(Eigentlich sollte der externe Mechanismus wenigstens zeitweise zu Exportüberschüssen

führen, Grossbritannien hatte aber einen gigantischen Importüberschuss! Die beste Erklärung

dafür ist wahrscheinlich so: Grossbritannien, d.h. sein Finanzzentrum, die City of London, hat

in den Kolonien und abhängigen Gebieten sehr viel investiert (Finanzkapital, das Anlage

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sucht); die Investitionen gingen in Plantagen, Bergwerke, auch in die Eisenbahn. Die

(ökonomisch unterentwickelten) Empfängerländer dieser Investitionen mussten sich

verschulden und Zinsen bezahlen. Das führte zu sehr umfangreichen Einnahmen auf

Auslandinvestitionen für England, das dann damit einen Importüberschuss finanzieren konnte.

Konkret ging das so vor sich: Die Kolonien und abhängigen Gebiete mussten einen

Exportüberschuss mit England erzielen, um die Zinsen der Schuld gegenüber England, der

City of London, bezahlen zu können. Weil sich bei diesem Exportüberschuss um

Kolonialwaren handelte, wurden in England produzierte Güter dadurch nicht konkurrenziert.)

Die mit dem externen Entwicklungsmechanismus verbundene Konkurrenz auf den

Weltmärkten führt zu Rivalitäten. Und die Jagd nach neuen Kolonien (Absatzmärkte für

Endprodukte und Beschaffungsmärkte für Primärgüter) intensiviert sich in Krisensituationen.

Deshalb beginnt 1885, mitten im grossen Kondratieff-Abschwung 1873-96, das Zeitalter des

Imperialismus, das bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 dauert.

Der Imperialismus 1885 - 1914 (vor allem die Aufteilung Afrikas unter die Grossmächte

Grossbritannien, Frankreich, Deutschland, Belgien, Spanien und Portugal) ist also direkt mit

den ökonomischen Rivalitäten der Grossmächte verbunden. Es geht um Absatzmärkte für

Fertigprodukte und um die Sicherung von Rohstoffquellen. Das gilt vor allem für

Grossbritannien, das in seinem Imperium ein integriertes Handelssystem aufbaut: England

exportiert Manufakturprodukte nach möglichst vielen Ländern, vor allem in seine Kolonien

und in abhängige Gebiete, z.B. Südamerika, und importiert landwirtschaftliche Produkte und

Rohstoffe (Kolonialwaren!).

Zwischen 1850 – 1914 verlagert sich allerdings das ökonomische und politische Gewicht in

Europa: Grossbritannien und Frankreich fallen relativ zurück, Deutschland und die USA

verstärken ihre relative Position.

Das zeigt sich erstens an der Bevölkerungsentwicklung und zweitens an den Wachstumsraten:

Bevölkerung in Mio Jährliche Wachstumsraten: 1873-1914

1861 1911 Q Q/B

U.K. 29 45 1.8% 0.9%

F 37 39 1.6% 1.2%

D 36 65 2.8% 1.4%

USA 32 93 4.5% 1.8%

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(Q = Sozialprodukt, Q/B = Pro-Kopf-Sozialprodukt)

*Deutschland hat also Frankreich eingeholt, dann überholt:

- in der Produktion von Kohle und Dampfmaschinen um 1860

- in der Eisenproduktion und in der landwirtschaftlichen Produktivität um 1870

- in der Textilproduktion um 1900

*1860 hat Frankreich noch etwa gleichviel Kohle und Eisen produziert wie die USA, 1913

produzierten die USA 3 Mal mehr.

*Stahlproduktion 1913, in Mio Tonnen

USA D GB F

32 17,8 7,8 4,7

Diese Zahlen sind wichtig für die Kräfteverhältnisse im Ersten Weltkrieg, der 1914 begann

(Stahl ist ja die Grundlage für die Waffenproduktion!). Deutschland konnte Grossbritannien

und Frankreich zusammen genommen problemlos die Stange halten, der Kriegseintritt der

USA 1917 hat aber den Ersten Weltkrieg unweigerlich zugunsten der Westmächte

entschieden.

Der Chemie-Sektor wird von Deutschland (und der Schweiz!) dominiert. Im allgemeinen

verfügen die USA und Deutschland über modernere Produktionstechniken als Grossbritannien

und Frankreich und sind deshalb auf den Weltmärkten konkurrenzfähiger.

Von zentraler Bedeutung sind natürlich die Exporte von Manufakturprodukten.

Um 1850 wurden diese fast vollständig fast vollständig von Grossbritannien und Frankreich

dominiert. Später betrugen die wertmässigen Anteile von Manufakturprodukten am

Weltexport (in %):

GB F D USA

1880 19,8 9,5 9,9 11,9

1913 15.4 6.7 12,1 12,9

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Also, Grossbritannien und Frankreich erleiden einen relativen Anteilsverlust, dies bei

weitgehender Adoption der FREIHANDELSDOKTRIN durch beide Länder! Die USA waren

dagegen von 1865 (Ende des Sezessionskrieges) bis 1914 sehr protektionistisch; tatsächlich

bauten die USA in diesem Zeitraum die höchsten Zollmauern auf, die je existiert haben, bis zu

40-50 Prozent des Importwertes!! Deutschland dagegen war gemässigt protektionistisch;

Deutschland konnte sich dies leisten, weil seine technische Dynamik sehr stark war, was seine

Konkurrenzfähigkeit auf den Weltmärkten ständig steigerte.

1. Entwicklung der englischen Wirtschaft bis 1914

1.1. Einleitung

Entscheidend für die englische Wirtschaftsentwicklung von 1850 bis 1914 ist das Wachstum

der Exporte:

In einer ersten Phase (1845 – 73) sind die durchschnittlichen Wachstumsraten der Exporte (X)

und des Sozialprodukts (Q) relativ hoch:

gx = 5.4% p.a. gQ = 2.6% p.a. (externer Entwicklungsmechanismus!)

Eine zweite Phase (1873 – 1913) ist gekennzeichnet durch eine Verminderung der beiden

Wachstumsraten:

gx = 1.8% p.a. gQ = 1.6% p.a.

Damit verbunden ist eine Zunahme des Handelsbilanzdefizits:

Dieses Defizit macht im Zeitraum 1869-73 19,2% der Exporte aus; die Importe sind also um

einen Fünftel (1/5) höher als Exporte. Zum Teil handelte es sich um koloniale Ausbeutung;

grösstenteils wurde aber der Importüberschuss (X < M) finanziert durch die Erträge aus den

Ausland-Investitionen (foreign direct investment).

Wichtig: gx > gQ impliziert, dass die Exporte (X) Wirtschaftsmotor sind. Das entspricht dem

externen Entwicklungsmechanismus, der entscheidend ist für die kapitalistische

Wirtschaftsentwicklung, auch heute noch!

Nun diese beiden Phasen näher betrachten: ~ 1840 – 70 (1.2)

~ 1875 – 1914 (1.3)

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1.2. Die Jahre 1840 – 70: Erhaltung des englischen Vorsprungs

Eric Hobsbawn hat den Zeitraum 1840-70 als die Blütezeit des Kapitals bezeichnet. Es war im

Wesentlichen die Zeit des 2. Kondratieff-Aufschwungs, des Eisenbahn-Aufschwungs.

1.2.1. Im Zeitraum 1840-70 waren die Exporte entscheidend

Für 1840 – 70 betrug die marginale Exportquote (∆X/∆Q) etwa 0.3, das heisst 30% des

jeweils zusätzlichen Sozialprodukts wurden exportiert! Für den Zeitraum 1770-1840 betrug

die marginale Exportquote etwa 0.1: 10% des zusätzlichen Sozialprodukts wurden exportiert.

Für die wichtigsten Bereiche ist (∆X/∆Q) noch höher:

0.6 - 0.7 für den Textilsektor und

für den Eisen- und Stahlsektor und die Maschinenindustrie

Diese hohe marginale Exportquote hängt zusammen mit dem Eisenbahnbau.

Tatsächlich ist der Vorsprung Englands im Eisenbahnbau entscheidend: Geleise und

Lokomotiven machen um 1860 herum 25% der Gesamtexporte aus!

Zudem wird Eisen immer mehr durch Stahl ersetzt; um 1860 neue Verfahren für die

Herstellung von Stahl: Mit dem Bessemer-Verfahren kann aus Roheisen direkt Stahl

produziert werden (1856). Dieses Verfahren von Wilhelm Siemens (deutscher Ingenieur, der

in Birmingham tätig war) und den beiden Franzosen Pierre und Emile Martin 1865 verbessert.

Mit dem Siemens-Martin Verfahren konnte Stahl von sehr hoher Qualität produziert werden.

Das Wachstum des Aussenhandels beruhte auf der technischen Überlegenheit

Grossbritanniens. Dies erlaubte es Grossbritannien zum Freihandel überzugehen. Das Gesetz

der Massenproduktion von Friedrich List (die totalen Durchschnittskosten sinken mit der

Ausbringungsmenge) hat das britische Bestreben, zum Freihandel überzugehen noch

verstärkt.

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1.2.2. Technische Dynamik

Grossbritannien wies in der ersten Phase (1840-70) und darüber hinaus eine beträchtliche

technische Dynamik auf.

* Erfindungen und Patentierungen erreichen zwischen 1860 – 77 einen Höchststand; der

Gegensatz „englische Amateure“ vs. „Deutsche Systematik an den Universitäten“ bildet sich

heraus!

* In kurz- und mittelfristigen Aufschwüngen erreichen auch die Investitionen hohe

Wachstumsraten; 5,5% p.a. 1857-61 und 1875 – 79.

* Jedoch fällt GB bezüglich der Investititonsquote bereits zurück:

I/Y: GB = 7% (1855-74) D = 8,5% (1851 – 70), USA = 13,9% (1869-80).

Die Investitionsquote ist entscheidend für die Intensität des technischen Fortschritts.

Wichtig: Es besteht eine Komplementarität zwischen „home investment“

(Inlandinvestitionen) und „foreign investment“ (Auslandinvestitionen). Auslandinvestitionen

stimulieren den Kauf von englischen Maschinen. Das erhöht die Exporte und das

Sozialprodukt und die Beschäftigung und damit auch die Inlandinvestitionen.

1.2.3. Landwirtschaft

Die Landwirtschaft wird vom Freihandel am stärksten getroffen. Jedoch ergeben sich keine

katastrophalen Auswirkungen:

Indices (1828 – 34 = 100)

Produktion Importe Preise

1835-41 120 150 106

1842-48 117 250 94

1849-58 104 518 (!) 94

Kein Preiszerfall; mässiger Produktionsrückgang nur beste Böden aber wegen

Modernisierung vermutlich mit Maschinen bebaut beträchtliche Freisetzung von

Arbeitskräften

1830-50: Importe: 13% des Konsums(Verbrauchs) an Weizen

1868-75: Importe: 48% “

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1.2.4. Blütezeit des Kapitals

Die Jahre 1845-1875 bezeichnet Eric Hobsbawn als die Blütezeit des Kapitals. Die

Reallöhne steigen um 1.2% p.a.; das ist weniger als die Zunahme der Arbeitsproduktivität

(Q/N). Dies impliziert eine Zunahme des Profitanteils am Volkseinkommen (P/Y), was

wieder um bedingt ist durch die Zunahme der Investitionsquote (I/Y) im Kondratieff-

Aufschwung; der Profit-Investitionsmechanismus kam zum Tragen.

1.3. Relativer Abstieg Grossbritanniens (1875-1914)

1.3.1. Zunahme der ausländischen Konkurrenz als Hauptgrund für den

relativen Abstieg

Die ausländische Konkurrenz

a) trifft Landwirtschaft hart,

b) dann Exportindustrie und

c) schliesslich Binnenmärkte.

a) In der Landwirtschaft ergibt sich ein Preiszerfall für landwirtschaftliche Produkte wegen

den Weizen-Importen aus Russland und den USA (der Eisenbahnbau ermöglicht es diesen

beiden Ländern Weizen in grossem Ausmasse zu exportieren!).

Zentner /quarter Weizen 1877 1882 1895

60 sh 45 sh 23 sh

(sh = shilling; 1 £ = 20 sh)

Die landwirtschaftliche Produktion geht absolut zurück. Die Landflucht intensiviert sich.

Der Anteil der landwirtschaftlichen Bevölkerung an Gesamtbevölkerung beträgt 1911 noch

11% (!); 1881 betrug er noch 19%. Der Trend, dass immer weniger Menschen mehr ernähren

können, setzt sich fort!

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Zwischen 1875 – 95 gehen die Geldeinkommen in der Landwirtschaft um 50% zurück; die

landwirtschaftliche Kaufkraft sinkt um etwa 30%. Die Nahrungsmittelimporte steigen um

90%. In der Krise (Kondratieff-Abschwung und Depression) wird also die Landwirtschaft

vermehrt der Industrie geopfert: England versucht, mehr Industrieprodukte zu exportieren und

importiert im Gegenzug landwirtschaftliche Produkte. Weil Industrieprodukte arbeitsintensiv

sind und landwirtschaftliche Produkte bodenintensiv, werden zusätzliche Arbeitsplätze

geschaffen, die die Krise lindern.

b) Enger werdende Exportmärkte

Dies ist der Hauptgrund für den relativen Bedeutungsrückgang der englischen Wirtschaft.

Das sieht man sehr gut am Verhältnis der englischen Industriegüter-Exporte nach dem

europäischen Kontinent (XGB-Eur) zu den Importen kontinentaleuropäischer Industriegüter

nach England (M Eur-GB): [(XGB-Eur) / (M Eur-GB)] 100:

Dieses Verhältnis betrug im Zeitraum 1854-57 noch 277%, das heisst, England exportierte

2.77 Mal mehr Güter nach dem europäischen Kontinent als es von dort importierte. In den

Jahren 1877-79 betrug dieses Verhältnis noch 110%, im Zeitraum 1898-1901 66%!

Diese Entwicklung implizierte einen Verlust an industriellen Arbeitsplätzen in England.

Hauptverantwortlich für diese Entwicklung war die zunehmende Exportkraft Deutschlands.

Der deutsch-englische Konflikt beginnt sich abzuzeichnen!

Die Ursachen für diese Entwicklung sind:

1) Protektionismus auf europäischem Kontinent;

2) Freihandel in Grossbritannien;

3) Verstärkte Industrialisierung auf dem Kontinent, vor allem in Deutschland;

4) Erlahmen der britischen Dynamik.

Die Bedeutung der englischen Exporte (X) in überseeische Märkte verstärkt sich allerdings,

vor allem nach den Kolonien und abhängigen Gebieten. Aber auch hier erleidet

Grossbritannien Rückschläge: Um 1900 erhält Deutschland, nicht GB, den Auftrag, die

Bagdadbahn zu bauen.

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[Die Bagdadbahn führt von Istanbul nach Bagdad (der Irak existierte damals noch nicht und

der heutige Irak gehörte damals zum Osmanischen Reich). Die Bagdadbahn war die

Fortsetzung des legendären Orient-Express: London - Paris - Lausanne - Brig - Mailand -

Venedig - Belgrad - Sofia - Istanbul. Die Legende um den Orient-Express wurde noch

verstärkt durch den Krimi von Agatha Christie: Mord im Orient-Express, ein Buch, das auch

verfilmt wurde.]

c) Die stimulierende Wirkung der Exporte (X) erlahmt allmählich und führt so zu einem

Rückgang der Binnennachfrage: Sozialprodukt, Volkseinkommen und Beschäftigung gehen

zurück.

Dies führt auch zu einer relativen Stagnation der Investitionen, trotz eines Überflusses an

finanziellen Mitteln; dies impliziert, dass nicht die finanziellen Mittel die Investitionen

bestimmen, sondern dass die langfristige effektive Nachfrage die Investitionen bestimmt.

Die Investitionen und die Investitionsquote (I/Q) sind aber entscheidend für das

wirtschaftliche Wachstum und die wirtschaftliche Dynamik, vor allem durch technischen

Fortschritt. In den drei wichtigsten Industrieländern hat sich die Investitionsquote (I/Q) so

entwickelt:

UK Deutschland USA

1855-74 7% 1851-70 8,5% 1869-80 13,9%

1875-94 6,8% 1871-90 11,4% 1889-1913 12,9%

1895-1914 7,7% 1891-1913 15%

Die deutsche Wirtschaftsdynamik vor dem ersten Weltkrieg war also regelrecht gigantisch.

Die dadurch entstehende Rivalität mit England war der Hauptgrund für den Ersten Weltkrieg.

Im Versailler-Friedensvertrag nach dem Kriege (1919) wurde, vor allem auf Drängen

Englands, die deutsche Wirtschaftskraft vorübergehend gebrochen.

1.3.2. Erhaltene Prosperität Grossbritanniens

Vor dem Ersten Weltkrieg (1913) ist Grossbritannien nicht mehr erste Industriemacht, jedoch

noch erste Handels- und Finanzmacht.

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Um 1900 stabilisiert sich das Handelsbilanzdefizit (Exporte von Gütern minus Importe von

Gütern) bei 200 Mio £ p.a. - das sind mehr als 10% des britischen Volkseinkommens (Y)!

Dieses Handelsbilanzdefizit erhöht den englischen Wohlstand: Q - X + M; das Sozialprodukt

(Q) repräsentiert die Güterversorgung der englischen Volkswirtschaft; die Exporte (X)

verlassen das Land und stehen somit in England nicht zur Verfügung; schliesslich erhöhen die

Importe (M) die Verfügbarkeit von Gütern in England. Weil M > X ist, erhöht sich also der

englische Wohlstand.

Dennoch kommt ein Leistungsbilanzüberschuss zustande: 50 Mio £ p.a. zwischen 1891 –

1900 und 200 £ Mio (10% von Y) in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, nämlich 1911-13.

Die Leistungsbilanz hält die Exporte und Importe von Gütern und Dienstleistungen fest.

Die unsichtbaren Einkommen (Dienstleistungsbilanz) überkompensieren somit das

Handelsbilanzdefizit.

Die unsichtbaren Einkommen der Dienstleistungsbilanz bestehen aus 3 Komponenten:

1) Die Einkommen der Handelsflotte (Transportdienstleistungen) betragen 1913 90 Mio £.

Mit 12 Mio Registertonnen übertrifft die Transportkapazität der britischen Handelsflotte

diejenige der 5 hauptsächlichen Konkurrenten: USA, Deutschland, Japan, Frankreich und

Norwegen.

Die englische Handelsflotte führt vor allem Seetransport-Aufträge für andere Länder durch.

2) Die Einkommen aus Versicherungen und Bankdienstleistungen belaufen sich vor dem dem

Ersten Weltkrieg auf 70 Mio Pfund pro Jahr.

London ist bei weitem der grösste Finanzplatz der Welt: Die City of London spielt eine

zentrale Rolle bei der kurzfristigen Finanzierung des internationalen Handels.

Die Versicherungsgesellschaft Lloyd’s hat ein Quasi-Monopol auf Weltebene für

Seeversicherungen.

3) Die Kapitalerträge aus im Ausland investiertem englischem Kapital erreichen 1913 den fast

unglaublichen Betrag von 190 £ Mio!! Das sind 10% des Volkseinkommens (Y) für dieses

Jahr! Im Zeitraum 1908-13 (Konjunkturaufschwung) erreicht die Auslandinvestitionsquote

10% des Volkseinkommens (Y) und übertrifft damit die Inlandinvestitionen (~7% von Y).

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Wahrscheinlich handelt es sich bei den Auslandinvestitionen um die Reinvestition der

jeweiligen Kapitalerträge (also 190 £ Mio für 1913).

Gemäss den Schätzungen des englischen Ökonomen Alec Cairncross betrug der englische

Auslandkapitalstock 1880 1200 Mio £, 1913 3600 Mio £: ein Zinssatz von um die 5% auf

diesen Betrag ergibt etwa die Kapitalerträge von 190 Mio £ für 1913.

Das britische Auslandvermögen beträgt zwischen einem 1/3 und einem 1/6 des britischen

Inlandvermögens (je nach Schätzung) oder 50% der Welt-Auslandinvestitionen.

Diese Zahlen beruhen auf dem berühmten Buch des englischen Ökonomen Alec Cairncross:

Home and foreign investment, 1870-1913: studies in capital accumulation, Cambridge

(Cambridge University Press) 1953

Und nun eine Frage von zentraler Wichtigkeit:

Haben sich die Auslandinvestitionen negativ auf die englische Wirtschaft ausgewirkt, indem

sie z.B. eine ausländische Konkurrenz aufgebaut haben? Oder anders: Haben die Engländer

in Indien oder in anderen Kolonien oder abhängigen Gebieten Textil- und

Maschinenfabriken aufgebaut, die der englischen Industrie hätten gefährlich werden

können? Das war überhaupt nicht der Fall, wie die sektorale Verteilung der

Auslandinvestitionen zeigt:

70% der englischen Auslandinvestitionen gingen in den Eisenbahnbau und in die

allgemeine Infrastruktur (z.B. Wasserversorgung von Städten).

12% der englischen Auslandinvestitionen gingen in die Landwirtschaft (Plantagen, z.B.

Tee-Plantagen) und in den Rohstoffsektor (Bergwerke).

Nur 4% der englischen Auslandinvestitionen gingen in den Manufaktursektor!

Die englischen Auslandinvestitionen in Kolonien und abhängigen Gebieten haben drei

wichtige Dimensionen:

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Erstens, diese Auslandinvestitionen waren verbunden mit höheren englischen Exporten in

die Kolonien und abhängige Gebiete (z.B. Eisenbahnschienen und Lokomotiven). Gemäss

dem externen Entwicklungsmechanismus führt das zu einer Erhöhung von Output und

Beschäftigung in England.

Zweitens aber führten die damaligen britischen Auslandinvestitionen zu einer Verschuldung

der englischen Kolonien und abhängigen Gebiete. Diese konnten sich negativ auf britische

Güterexporte niederschlagen: ein Teil der Exporterlöse der Kolonien und abhängigen Gebiete

(Erlöse aus Exporten von Rohstoffen und Energieträgern) musste nämlich abgezweigt

werden, um den Schuldendienst zu bestreiten und konnte deshalb nicht zum Kauf von

englischen Industrieprodukten verwendet werden (X - (i + d) D = M). Hier zeigt sich, dass der

Finanzkapitalismus in einen gewissen Gegensatz zum Industriekapitalismus treten kann.

Drittens schliesslich, zementierten die englischen Auslandinvestitionen in den Kolonien

und abhängigen Gebiete die von England aufgebaute Weltwirtschaftsordnung. England

produziert Industrieprodukte, die zum Teil in Kolonien und abhängige Gebiete exportiert

werden. Umgekehrt importiert England aus den Kolonien und abhängigen Gebieten

Primärprodukte (Rohstoffe, Energieträger und landwirtschaftliche Produkte), die dann in

England zu Industrieprodukten verarbeitet werden.

Also: Mittel- und langfristig hat sich England mit seinen Auslandinvestitionen keine

Konkurrenz aufgebaut, im Gegenteil. England hat sich ein sehr bequemes Leben eingerichtet:

gesicherte Export- und Beschaffungsmärkte.

In einer sehr langfristigen Perspektive ist es aber möglich, dass sich England (Europa und die

USA) mit ihren Auslandinvestitionen in die Verkehrsinfrastruktur eine Konkurrenz aufgebaut

hat. So hat eventuell der englisch-europäische Eisenbahnbau in Indien und China in diesen

Ländern einige der Voraussetzungen für eine spätere wirtschaftliche Entwicklung geschaffen.

Diese setzt heute so richtig ein: China und Indien entwickeln sich rasant und werden zu

ernsthaften Konkurrenten der alten westlichen Industrieländer auf den Weltmärkten.

Im diesem Abschnitt (2.2.2.) wurde die absolute Höhe der Einkommen betrachtet. Nun

machen wir ein paar kurze Bemerkungen zur Einkommensverteilung.

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1.3.3. Einkommensverteilung

Die Auslandinvestitionen erlauben es, den Profitanteil am Volkseinkommen (P/Y) zu

erhalten: Im Zeitraum 1860-64 betrug die englische Profitquote (P/Y) 24,2%; in den Jahren

1910-14 war diese Quote 23,2%. Aus den Profiten wurde sehr viel konsumiert (die

Konsumquote der Profite oder der Bruchteil der konsumierten Profite (cP) muss relativ hoch

gewesen sein (um die 0.7; d.h. etwa 70% der Profite wurden konsumiert!), denn die

Investitionsquote betrug in den genannten Zeiträumen nur um die 7 - 8%.

Die allgemeinen Einkommensungleichheiten bleiben im 19. Jahrhundert bestehen:

Die 10% der Haushalte mit den höchsten Einkommen erhalten…

1827 1851 1901

27,9% des Volkseinkommens (Y) 34,3% von Y 30,7% von Y

Jedoch steigt der Wohlstand steigt bei weiten Teilen der Arbeiterklasse: Reallöhne steigen

zum Teil schneller als das Sozialprodukt.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzen die Gewerkschaften verschiedene Forderungen durch:

Einmal die volle Anerkennung der Gewerkschaften, über die bestimmte Rechte, zum Beispiel

betreffend die Arbeitsbedingungen, durchgesetzt werden können.

Dann wurde der Aufbau eines Sozialversicherungssystems (Krankheit, Invalidität,

Arbeitslosigkeit) durchgesetzt.

Schliesslich wurde 1909 die Forderung nach der progressiven Einkommenssteuer realisiert.

Trotzdem ergeben sich Schwierigkeiten: Die Preissteigerungen übertreffen bei Beginn des 20.

Jahrhunderts die Zunahme der Nominallöhne. Das führt 1911-12 zu gewaltigen

Streikbewegungen. Diese nehmen im Verlaufe des 20. Jahrhunderts zu und begleiten den

relativen Abstieg GB’s. (Die Preissteigerungen waren vermutlich erforderlich, um vermehrt

Ressourcen für die steigenden Rüstungsausgaben vor dem Ersten Weltkrieg freizusetzen; mit

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15

sinkenden Reallöhnen ging die Kaufkraft der Bevölkerung zurück, die private

Konsumgüternachfrage ging zurück, was Ressourcen für die staatliche Nachfrage freisetzte.)

Schlussbemerkung: Die Einkommensverteilung ist deshalb wichtig, weil sie der wichtigste

Bestimmungsfaktor des Beschäftigungsvolumens ist: Eine gleichmässigere

Einkommensverteilung erhöht die Kaufkraft der Bevölkerung, damit die

Konsumgüternachfrage und die Beschäftigung, und umgekehrt.

1.3.4. Stärkere Abhängigkeit der englischen Wirtschaft

Diese Abhängigkeit und Verwundbarkeit der englischen Wirtschaft wird durch verschiedene

Faktoren bewirkt: zunehmende Aussenabhängigkeit (Importabhängigkeit); dazu kommt die

Exportabhängigkeit; zudem geht der Anschluss an moderne technologische Entwicklungen

verloren; die kolonialen Absatzmärkte werden deshalb immer wichtiger.

1) Die Aussenabhängigkeit (Importabhängigkeit) der englischen Wirtschaft verstärkt sich

in den Jahren 1880 – 1914:

a) Wie in allen Industrieländern entsteht eine verstärkte Abhängigkeit von Rohstoffimporten.

Z.B. muss der Grossteil des benötigten Eisenerzes eingeführt werden.

b) Was die Landwirtschaft angeht müssen 80% des benötigten Weizens und 3/4 der

benötigten landwirtschaftlichen Güter eingeführt werden.

c) In diesen Jahren (1880-1914) entsteht auch eine Abhängigkeit von Industrieprodukten, vor

allem von amerikanischen Maschinen und vor allem von deutschen Chemieprodukten (beim

Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 erlitt England einen Schock, weil die Färbemittel für

die (braunen) englischen Khaki-Uniformen aus Deutschland eingeführt werden mussten).

2) Exportabhängigkeit: 40% der Industrieproduktion wird exportiert; die Exporte sind

jedoch von wenigen Schlüsselbranchen getragen: Die englische Baumwollindustrie macht

50% der Weltkapazitäten aus (!) und exportiert 75% der Produktion. Ebenfalls wichtig für

Produktion und Export sind die Wollenindustrie sowie die Metall- und Maschinenindustrie.

3) Im Allgemeinen hat jedoch Grossbritannien den Anschluss an die moderne

Entwicklung teilweise verloren: in der Chemie, der Elektroindustrie sowie der

Automobilindustrie, das heisst in den neuen Industrien. Dazu kommt, dass die

Modernisierung der alten Industriezweige ungenügend; diese sind in ihrer frühzeitigen

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Entwicklung „gefangen“ [die englische industrielle Revolution war das Werk intelligenter

Amateure! (Nicholas Kaldor)].

Die Veraltung der Produktionsstrukturen führt zu einer Erhöhung der Produktionskosten,

Verminderung der Profite und der Eigenmittel für Forschung und Entwicklung: Der englische

Rückstand kumuliert sich, vor allem bezüglich der Vereinigten Staaten und Deutschland.

4) Mit der abnehmenden Konkurrenzfähigkeiten Grossbritanniens werden die kolonialen

Absatzmärkte immer wichtiger. Das Ende des 19. Jahrhunderts stellt den Höhepunkt des

britischen Imperialismus dar (Jagd nach gesicherten Absatz- und Beschaffungsmärkten). Der

Prozentsatz der Exporte (X) nach kolonisierten oder abhängigen Ländern nimmt zu:

1870: 26% 1913: 37%

Aber auch zwischen Kolonien und Dominions (britische Kolonien mit Selbstverwaltung, z.B.

Kanada, Australien, Neuseeland) ergeben sich Differenzen in der Abhängigkeit vom

Mutterland:

Anteil Grossbritanniens an den Importen dieser Länder (Britische Exporte nach diesen

Ländern), in Prozent:

1869-71 1894-96 1913

Kolonie Indien 65 68.3 64.2

Dominion Australien 62.3 69.9 51.3

Dominion Kanada 56.6 32.0 20.7

Unabhängige USA 39.5 20.1 16.3

Britischer Aussenhandel 1913 (allgemeine Situation):

Handelsbilanzüberschuss mit Indien und anderen asiatischen Ländern sowie mit

Lateinamerika und Afrika.

Jedoch besteht ein Handelsbilanzdefizit mit Kanada, den USA und Europa (diese Länder

führen Zölle ein, um entstehende Industrien zu schützen!).

Die Kontrolle über imperiale Zölle und Regierungsaufträge verschaffen der englischen

Industrie leicht zugängliche Märkte. Die englischen Unternehmer sind deshalb im Vergleich

zu den deutschen und schweizerischen Unternehmern weniger gewohnt, um anspruchsvolle

Märkte zu kämpfen.

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Vor dem Ersten Weltkrieg ist also Grossbritanniens Wohlstand intakt, aber verwundbar.

Der Erste Weltkrieg schwächt die Finanzvorherrschaft Englands entscheidend! Das mit

Abstand grösste Gläubigerland England wir zum Schuldnerland, vor allem gegenüber den

USA. Die Wall Street in New York beginnt die City of London in den Schatten zu stellen.

2. Skizze der französischen Entwicklung: etwa 1850 bis

1914

2.1. Einleitung

Es gelingt Frankreich bis zum Ersten Weltkrieg nicht, Grossbritannien einzuholen; anderseits

wird Frankreich rasch von den neuen Industriestaaten Deutschland und den USA überholt.

Gründe: schwaches Bevölkerungswachstum, ungenügende Rohstoff- und Energieressourcen,

unproduktive Landwirtschaft (Kleinbetriebe), verspätete Entwicklung des Bankwesens, z.T.

fehlender Unternehmergeist (die Vertreibung der Hugenotten 1694 wirkt sich immer noch

aus!); der landwirtschaftliche Sektor bietet einen beschränkten, aber sicheren Absatzmarkt für

Industrieprodukte; die Exporte von landwirtschaftlichen Produkten ist bedeutend, was den

Import von Industrieprodukten ermöglicht, was wiederum die Entwicklung der französischen

Industrie behindert.

Jedoch, über lange Zeitperioden gesehen weist Frankreich ein Alternieren von Wachstums-

und Stagnationsphasen auf, so dass dieses Land heute einen relativ hohen Lebensstandard

erreichen konnte.

Vor 1913 kann man drei Entwicklungsphasen ausmachen. Diese Phasen kann man

charakterisieren durch die jährliche durchschnittlichen Wachstumsraten von wichtigen

Entwicklungsindikatoren:

1840 – 60 1860-92 1992-1913

(Freihandel)

Verbrauch von Dampfenergie 9 5 6.5*

Anzahl von patentierten Erfindungen 5 2 4

Investitionsvolumen (wichtig!) 1.8** 0.8 1.9

*unterschätzter Energieverbrauch, wegen Elektromotoren! ** 1822 – 1861

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Im Folgenden werden diese drei Phasen kurz betrachtet.

2.2. Rasche Modernisierung (1840 – 60)

2.2.1. Ausgangspunkt

Der Ausgangspunkt ist eine florierende Landwirtschaft.

Ein erster Grund für die gute Lage der Landwirtschaft sind verschiedene Staatseingriffe in der

Zeit des Zweiten Kaiserreiches 1852-71 (Napoleon III):

1) Es werden landwirtschaftlicher Schulen errichtet, um die bessere Landwirte heranzubilden.

2) Landwirtschaftliche Banken werden gegründet, um die Investitionen in die Landwirtschaft

zu erleichtern (Crédit Agricole, heute eine der bedeutendsten französischen Banken).

3) Grosse Bodenmeliorationsprogramme werden durchgeführt (z.B. Entsumpfungen).

4) Es wird regionale Wirtschaftsförderung betrieben.

Ein zweiter Grund für die florierende Landwirtschaft:

Es werden hohe Preise für landwirtschaftliche Güter festgelegt (sehr wichtig!). Dadurch

steigt der Geldwert des landwirtschaftlichen Überschusses, was eine starke Nachfrage nach

Industrieprodukten auslöst. Deshalb wächst die Industrie rasch, was wiederum eine

zunehmende Nachfrage nach landwirtschaftlichen Produkten erzeugt. Diese Ausweitung der

Produktion in beiden Sektoren ermöglicht es, produktivere (kapitalintensivere)

Produktionstechniken einzuführen. So werden die Produktionskosten reduziert. Höhere

Gewinne entstehen, was wiederum die Investitionen in Landwirtschaft und Industrie

stimuliert. So schaukeln sich die beiden Sektoren Landwirtschaft und Industrie gegenseitig

hoch. Diese positive Interaktion von Landwirtschaft und Industrie macht den Kern der

Entwicklungstheorie von Adam Smith aus (1. Kapitel des 3. Buches des Reichtums der

Nationen, 1776).

Siehe dazu Abschnitt V.4.1. (Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Landwirtschaft).

Das dort dargestellte Schema der Interaktion zwischen Landwirtschaft und Industrie ist

grundlegend für die Erklärung der französischen Wirtschaftsentwicklung.

2.2.2. Das Eisenbahnbauprogramm von 1842

stimuliert industrielle Entwicklung entscheidend. Der durch die florierende Landwirtschaft in

Gang gesetzte Entwicklungsprozess wird dadurch beschleunigt: die durch den Eisenbahnbau

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beschleunigte industrielle Entwicklung wirkt sich auch positiv auf die Landwirtschaft aus: es

werden vermehrt landwirtschaftliche Güter nachgefragt. Der steigende Überschuss im

landwirtschaftlichen Sektor eröffnet der Industrie neue Absatzmärkte; die Wechselwirkung

zwischen Landwirtschaft und Industrie verstärkt sich (siehe Abschnitt 3.1.1. oben).

Zwischen 1848-60 werden jährlich etwa 750 km Eisenbahnlinien gelegt (in Deutschland und

Grossbritannien jährlich etwa je 500 km).

Von entscheidender Bedeutung: Die Herstellung von Schienen und der Bau von

Lokomotiven wird für die einheimische Industrie reserviert. Zollschranken werden

errichtet und Einfuhrbeschränkungen vorgenommen, um die Einfuhr von billigeren

englischen Lokomotiven (sicher wurden einige Prototypen importiert, die dann nachgebaut

wurden). Das bedeutete zwar kurzfristig höhere Preise für Lokomotiven, Eisenbahnwagen

und Schienen. Jedoch konnten langfristig die Preise gesenkt werden, weil die

Produktionsmengen im Zuge des Ausbaus des Eisenbahnnetzes ausgeweitet werden konnten.

Produktionstechnische Fortschritte - Verbesserung der Produktionsverfahren - haben natürlich

auch zu Preissenkungen beigetragen. (Das muss immer wiederholt werden: Das Gesetz der

Massenproduktion von Friedrich List - die Durchschnittskosten sinken mit höherer

Ausbringungsmenge - impliziert, dass zu Beginn der wirtschaftlichen Entwicklung ein

gewisser Protektionismus unbedingt notwendig ist, um die entstehende „junge“ Industrie

zu schützen (infant industry argument.)

Wichtig: Der Eisenbahnbau bringt eine Verlagerung von der Konsumgüterindustrie hin zur

Investitionsgüterindustrie, der Eisen- und Stahlindustrie und der Maschinenindustrie

(Herstellung von Maschinen, nicht von Konsumgütern!).

2.2.3. Aussenhandel

Der Aussenhandel entwickelt sich günstig: Die Rohstoffimporte machen 70% der

Gesamtimporte aus. Die Importe und Exporte von landwirtschaftlichen Produkten entwickeln

sich etwa parallel. Industriegüterexporte haben sich zwischen 1831-40 bis 1851-60

verdreifacht. 15% der französischen Industriegüterproduktion werden exportiert. Die Importe

an industriellen Gütern machen nur etwa 7% der Industriegüter-Exporte aus. Selbst

Frankreich trägt also zum Ausbau der neuen Weltwirtschaftsordnung bei.

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2.3. Verlangsamtes Wachstum (1860-1892)

2.3.1. Das Freihandelsabkommen von 1860 mit Grossbritannien

steht bezeichnenderweise am Beginn der Verlangsamung des Wachstumsprozesses; die

französische Industrie ist der englischen (und später auch der deutschen) Industrie nicht

gewachsen. Es findet auch eine Störung der grossen Aussenhandelsgleichgewichte statt.

Zuerst ergibt sich zwar eine Exportsteigerung, aber vor allem bei landwirtschaftlichen

Produkten (unter anderem haben die Engländer wahrscheinlich in grossem Ausmass gute

Weine, verschiedene Weichkäsesorten, Gänseleber und anderes aus Frankreich eingeführt)!

Dann aber verlangsamte sich das Exportwachstum; vor allem gingen die Exporte von

Industriegütern zurück.

Durchschnittliche jährliche Wachstumsrate der französischen Exporte

1840-60: 6% 1875-95: 0.5% (!)

1860-65: 11% 1895-1914: 3%

1865-75: 4%

Jedoch nehmen die Importe von industriellen und landwirtschaftlichen Produkten

dramatisch zu: Der Handelsbilanzüberschuss der Jahre (1850-60) verwandelt sich in ein

Defizit (um 1880), auch für landwirtschaftliche Produkte! Vermutlich waren die

Getreideimporte aus den Vereinigten Staaten und eventuell aus Russland (Eisenbahnbau in

USA und Russland!) entscheidend für diese unnatürliche Situation.

2.3.2. Der Krieg von 1870/71 gegen Preussen-Deutschland

Der Krieg von 1870/71 gegen Preussen-Deutschland bringt erhebliche Störungen des

wirtschaftlichen Gleichgewichts. Die Abtretung von Elsass-Lothringen impliziert

den Verlust des modernsten Textilherstellungszentrums (Mülhausen),

auch den Verlust der Lothringischen Eisenerzlager;

die Metallindustrie in Lothringen und

die Maschinenindustrie im Elsass gehen auch verloren.

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Allerdings ist es der französischen Metallindustrie verhältnismässig rasch gelungen, sich

wieder aufzufangen:

Neue Eisenvorkommen werden entdeckt (en Meurthe et Moselle). Dieses Eisen enthält

allerdings Phosphor ist von schlechter Qualität.

Aber 1878 entdeckten die Engländer Thomas und Gilchrist ein Verfahren, um dem

phosphorhaltigen Eisenerz den Phosphor zu entziehen. Dieses Verfahren wird in Lothringen

sofort angewandt.

Jedoch erreicht die französische Metallindustrie erst gegen 1890 den Stand von 1869.

2.3.3. Gründe für die Wachstumsverlangsamung zwischen 1860 – 1892

Hauptgrund ist sehr wahrscheinlich der Übergang zum Freihandel:

Zuerst einmal ergeben sich negative Auswirkungen auf die Industrie: Verlangsamung des

Exportwachstums und rascher Anstieg der Manufakturimporte.

Noch wichtiger waren, zweitens, die Auswirkungen auf die Landwirtschaft und die

Sekundärwirkungen auf die Industrie:

Freihandel und Fortschritte im Transportwesen führen zu rasch steigenden Importen von

landwirtschaftlichen Produkten und zu einem Zerfall der landwirtschaftlichen Preise:

Der Getreidepreis fällt zwischen 1860 und1895 um 45%!

Die Getreideimporte steigen rasant an; die französische Landwirtschaft ist nicht modern

genug! Es gibt viele Kleinbetriebe!

Importe in Prozent der Getreideproduktion

0.3% der Getreideproduktion 1851-60

10% „ 1871-80

19% „ 1888-92

In den Jahren 1870-1890 stagniert der landwirtschaftliche Output Frankreichs in noch nie

gekannter Weise. Kombiniert mit dem Preiszerfall ergibt sich ein absoluter Rückgang der

französischen landwirtschaftlichen Einkommen, gegeben durch den Geldwert des

landwirtschaftlichen Überschusses; dies impliziert einen Rückgang der Nachfrage nach

Industrieprodukten von Seiten des landwirtschaftlichen Sektors. Dies könnte eventuell

der Hauptgrund für den Rückgang der Wachstumsrate der Industrieproduktion darstellen.

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Die französische Industrie wird durch die Getreideimporte besonders stark getroffen, weil der

Landwirtschaftssektor in Frankreich relativ viel grösser ist als in England. Frankreich

entwickelt über den internen Entwicklungsmechanismus (Interaktion zwischen Industrie und

Landwirtschaft). In England dagegen steht der externe Entwicklungsmechanismus im

Vordergrund.

[Siehe dazu wiederum den Abschnitt V.4.1. (Die volkswirtschaftliche Bedeutung der

Landwirtschaft). Das dort dargestellte Schema der Interaktion zwischen Landwirtschaft und

Industrie ist grundlegend für die Erklärung der französischen Wirtschaftsentwicklung.]

Wiederum ist die Schlussfolgerung: Der Beschäftigungseffekt des Aussenhandels wirkt sich

bei Freihandel negativ auf das wirtschaftlich weniger entwickelte Land aus.

2.3.4. Die Rolle der Regierung in der Krise

Die Krise begann in Frankreich bereits mit dem Freihandelsabkommen von 1860; sie wurde

verstärkt durch den Kondratieff-Abschwung, der etwa 1873 einsetzte. 1879 lancierte die

französische Regierung ein Beschäftigungsprogramm, um dem Beschäftigungsproblem

(Arbeitslosigkeit) begegnen zu können:

- Hafeneinrichtungen und Kanäle wurden verbessert,

- Es wurden 17000 km neue Eisenbahnstrecken gebaut, die allerdings teilweise nur begrenzt

rentabel waren, einfach zur Schaffung von Arbeitskräften (Ankurbelung der

Binnennachfrage).

Dieses Beschäftigungsprogramm hat zweifellos die negativen Auswirkungen der Krise

gemildert. Vor allem die Metallindustrie scheint profitiert zu haben.

Es gelang jedoch nicht, einen Aufschwung zustande zu bringen.

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2.4. Der Wiederaufschwung von 1892-1914

Der Wiederaufschwung setzt gleichzeitig mit dem wieder erstarkenden Protektionismus ein!

2.4.1. Landwirtschaft

Höhere Zölle verbessern sofort die Situation in der Landwirtschaft. Die Importe an

landwirtschaftlichen Gütern gehen in der Zeitperiode 1892-1902 im Vergleich zum

vorhergehenden Jahrzehnt um 25% zurück.

Um 1900 betrugen die Weizenimporte noch 3% der Gesamtproduktion, 1890 noch 19%

der gesamten Weizenproduktion!

Von zentraler Bedeutung war jedoch, dass sich die landwirtschaftlichen Preise

stabilisierten; diese steigen in den späteren 1890er Jahren (ab 1896) sogar an.

Damit stiegen die landwirtschaftlichen Einkommen (der Geldwert des landwirtschaftlichen

Überschusses stark an:

Landwirtschaftliche Einkommen =

(Preise von landwirtschaftlichen Gütern) mal (landwirtschaftliche Gütermengen, zum Beispiel

Zentner Weizen)

Die höheren landwirtschaftlichen Einkommen führen zu einer zunehmenden Nachfrage nach

Industrieprodukten. Die industriellen Einkommen steigen auch; wegen dem Gesetz der

Massenproduktion werden Industrieprodukte billiger, so dass der landwirtschaftliche Sektor

mehr Industrieprodukte kaufen kann. Die positive Interaktion zwischen Landwirtschaft und

Industrie setzt ein; beide Sektoren schaukeln sich gegenseitig hoch (Adam Smith).

[Siehe dazu wiederum den Abschnitt V.4.1. (Die volkswirtschaftliche Bedeutung der

Landwirtschaft). Das dort dargestellte Schema der Interaktion zwischen Landwirtschaft und

Industrie ist grundlegend für die Erklärung der französischen Wirtschaftsentwicklung.]

2.4.2. Industrie

Der wachsende Protektionismus geht einher mit einer Zunahme des internationalen

Handels!!

Gründe:

1) In den einzelnen Ländern steigt die Binnennachfrage und damit gegenseitige Nachfrage

nach Gütern!

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2) Der Protektionismus bringt Ordnung in den internationalen Handel; es besteht weniger

Unsicherheit als bei intensiver Konkurrenz.

Die französischen Industriegüterexporte steigen von 15-17% der Industrieproduktion (1870-

1900 ~) auf 21% im Jahre 1910.

Die Ausweitung des internationalen Handels bis 1914 verstärkt die gegenseitige Abhängigkeit

(von der Keynes sagte, dass sie zu gross war!).

2.5. Folgen des Wiederaufschwungs von 1890 für Frankreich

2.5.1. Ausweitung der Industrieproduktion

Bis 1914 findet eine rasche Ausweitung der Industrieproduktion und damit der Beschäftigung

im Industriesektor statt.

Ein wichtiges Indiz dafür: Zwischen 1890 und 1913 verdreifachte sich die Produktion an

Roheisen, die von Stahl versechsfachte sich. [Das deutet auch die Vorbereitung auf einen

Krieg an, der dann 1914 kam.]

2.5.2. Produktionsmethoden

Die Produktionsmethoden verbessern sich in praktisch allen Branchen:

Die Hochöfen (Eisenproduktion) werden leistungsfähiger. Der Gebrauch an mechanischer

Energie (Motoren) verallgemeinert sich. Erste Elektromotoren tauchen auf. Dampfmaschinen

werden verbessert und verbreiten sich rasch. Die Profite steigen, dann auch die Investitionen,

was wiederum die Profite steigert. Diese Interaktion zwischen Investitionen und Profiten

(Einkommenseffekt der Investitionen im Kondratieff-Aufschwung) ist typisch für die

Diffusion von technischem Fortschritt durch die Brutto-Investitionen.

2.5.3. Automobilproduktion

In der Automobilproduktion nimmt Frankreich in Europa den ersten Platz ein: 1913 werden in

Frankreich 45000 Automobile produziert (In Oldtimer Museen, z. B. in Martigny, im

Gianadda-Museum, stehen französische Marken im Vordergrund).

[Der weltweit führende Automobil-Hersteller war natürlich Ford in den USA mit etwa

500'000 Automobilen vor dem Ersten Weltkrieg.]

Auch in der Aluminiumproduktion ist Frankreich führend: es erbringt 15% der

Weltproduktion. Das Leichtmetall Aluminium erleichtert und ermöglicht Fortschritte in der

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Flugzeugkonstruktion. (Frankreich hatte das Glück, dass um 1900 im Süden des Landes

Bauxit (Aluminium-Erz) entdeckt wurde!)

2.5.4. Französische Aufholung

Frankreich holt betreffend den Industrialisierungsgrad bezüglich England auf.

Bemerkenswert ist: Der Rückstand auf Deutschland, der Ende des 19. Jh. bestand, stabilisiert

sich. Beide Wirtschaften entwickeln sich in den zentralen Sektoren parallel. Das ist für

Frankreich eine bemerkenswerte Leistung.

Vergleich des deutsch-französischen Entwicklungsniveaus durch Indexzahlen:

(Index - Frankreich) / (Index - Deutschland)

Der deutsche Entwicklungsindex ist jeweils gleich 100.

Wenn das Verhältnis (Index - Frankreich) / (Index - Deutschland) grösser als eins (> 1),

dann besteht ein französischer Vorsprung, und umgekehrt für (< 1).

1860 1900 1910

Landwirtschaftliche Arbeitsproduktivität 1.4 0.7 0.7

Pro-Kopf-Verbrauch an Rohbaumwolle 1.9 0.8 0.9

Roheisenproduktion Pro Kopf der Bevölkerung 1.8 0.5 0.5

Verbrauch an Kohle pro Kopf 1 0.45 0.5

Energiepotential des Dampf- 1 0.6 0.65

Maschinenbestandes pro Kopf

Jedoch ist die Wachstumsphase 1900-13 zu kurz, um das wirtschaftliche Kräfteverhältnis in

Europa bedeutsam zu beeinflussen.

Frankreich bleibt ein halbindustrialisiertes Land. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg ist

Frankreich zu einem eigentlichen Industrieland geworden.