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Vita Mathematica Band 13 Herausgegeben von Emil A. Fellmann

Vita Mathematica Band 13 Herausgegeben von Emil A. Fellmann...und 1862 sowie seinem „Lehrbuch der Arithmetik“ (LA) aus dem Jahre 1861 gehört er, unabhängig von dem englischen

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  • Vita MathematicaBand 13

    Herausgegebenvon Emil A. Fellmann

  • Graßmann

    von Hans-Joachim Petsche

    Birkhäuser VerlagBasel · Boston · Berlin

  • Autor

    Prof. Dr. Hans-Joachim PetscheHessestrasse 18D-14469 Potsdam

    Bibliografi sche IInformation der Deutschen BibliothekDie Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio-grafi e; detaillierte bibliografi sche Daten sind im Internet über abrufbar.

    Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfi lmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspfl ichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

    ISBN 3-7643-7257-5 Birkhäuser Verlag, Basel – Boston – Berlin

    © 2006 Birkhäuser Verlag, P.O.Box 133, CH-4010 Basel, SwitzerlandPart of Springer Science+Business MediaGedruckt auf säurefreiem Papier, hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff. TCF Umschlagsabbildung: Hermann Günther Graßmann, Photographie aus dem Jahre 1874Satz: HD Ecker TeXtservices, BonnPrinted in Germany

    ISBN-10: 3-7643-7257-5 e-ISBN: 3-7643-7541-8ISBN-13: 978-7643-7257-6

    9 8 7 6 5 4 3 2 1

  • Für Horst Obermann

  • Inhalt

    Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX

    Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI

    Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XV

    1 Graßmanns Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1 Zeitverhältnisse .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Familientraditionen und Elternhaus .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91.3 Jugend- und Universitätsjahre.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161.4 Durchgangspunkte auf dem Weg zur eigenständigen

    mathematischen Leistung (1830–1840) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291.5 Mathematische Produktivität und erstes Ringen um

    Anerkennung (1840–1848) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391.6 Revolution in Deutschland (1848) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531.7 Erneuter Kampf um mathematische Anerkennung .. . . . . . . . . . . 671.8 Abwendung von der Mathematik, sprachwissenschaftliche

    Erfolge und späte mathematische Anerkennung.. . . . . . . . . . . . . . . 90

    Anmerkungen zum 1. Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

    2 Anreger des Schöpfertums Graßmanns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1132.1 Der Vater Justus Graßmann – Wegbereiter der

    mathematischen und philosophischen Auffassungen seinesSohnes.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

    2.2 Zusammenarbeit mit dem Bruder Robert Graßmann(1815–1901).. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

    2.3 Der Philosoph Friedrich Schleiermacher – Sein Wirken undGrundgedanken aus den Vorlesungen zur Dialektik .. . . . . . . . . . 145

    Anmerkungen zum 2. Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174

    3 Die Beiträge Hermann Günther Graßmanns zur Entwicklungder Mathematik und ihre mathematikgeschichtlicheEinordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

    3.1 Zu einigen Grundzügen der Entwicklung der Geometrie vom17. bis zum 19. Jahrhundert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182

  • VIII Inhalt

    3.2 Die Prüfungsschrift Graßmanns zur Theorie der Ebbe undFlut .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

    3.3 Die Ausdehnungslehre von 1844 und die GraßmannscheTheorie der algebraischen Kurven .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192

    3.4 Die Preisschrift zur geometrischen Analyse (1847).. . . . . . . . . . . . 2133.5 Die Ausdehnungslehre von 1862 .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2173.6 Bearbeitung der Grundlagen der Arithmetik (1861) .. . . . . . . . . . 2193.7 Das Eingreifen der Ideen Graßmanns in die Entwicklung der

    Mathematik.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227

    Anmerkungen zum 3. Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235

    4 Genesis und Gehalt der philosophischen AuffassungenHermann Günther Graßmanns in der Ausdehnungslehre von1844 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

    4.1 Die Genesis der Grundideen der Ausdehnungslehre .. . . . . . . . . . 2444.2 Die philosophischen Grundprinzipien Hermann Graßmanns

    bei der Bestimmung des Wesens der Mathematik .. . . . . . . . . . . . . 2504.3 Die Auffassungen Hermann Graßmanns zur

    Neustrukturierung der Mathematik und zurStandortbestimmung der Ausdehnungslehre.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259

    4.4 Die Auffassungen Hermann Graßmanns vom Wesen dermathematischen Methode und ihrem Verhältnis zurphilosophischen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266

    4.5 Die Graßmannsche Ausdehnungslehre und dieSchleiermachersche Dialektik .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

    4.6 Schlußbemerkung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274

    Anmerkungen zum 4. Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

    Chronologie zum Leben Hermann Graßmanns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

    Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287

    Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

    Quellenverzeichnis der Abbildungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313

    Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315

  • Danksagung

    An dieser Stelle möchte ich zunächst Herrn Dr. Steve Russ vom Depart-ment of Computer Science der Universität Warwick danken, dem ichim April 2003 auf einem Workshop zu „Knowledge Management andPhilosophy“ in Luzern begegnet bin und der mich bei einem Besuch inPotsdam drängte, mich noch einmal Graßmann zuzuwenden.

    Er gab mir den letztlich entscheidenden Impuls, dieses Buch in Angriffzu nehmen. Ferner gilt mein Dank Herrn Dr. Thomas Hempfling, derals Lektor des Birkhäuser Verlages meinen ersten Manuskriptentwurfso freundlich und aufgeschlossen aufnahm und mich ermutigte, weiterdaran zu arbeiten. Ganz wesentlich habe ich Herrn Dr. Stefan Göller,dem Lektor des Birkhäuser Verlages zu danken, der mich betreuteund den Forschritt meiner Arbeit konstruktiv und hilfreich begleitete.Auch Herr Prof. Dr. Peter Schreiber sei an dieser Stelle erwähnt, dermir wertvolle Hinweise zum Manuskriptentwurf gab. Letztlich sei denzahlreichen Helfern in Bibliotheken und Archiven gedankt, die mich beimeinen Nachforschungen durchweg schnell, freundlich und sachkundigunterstützten.

  • Vorwort

    In seinem 1827 erschienenen „Allgemeinen Handwörterbuch der philo-sophischen Wissenschaften“ vermerkt Wilhelm Traugott Krug unter denStichwörtern „Mathematik“ und „Mathematisch“:

    „Mathematik . . . [hat] es nur mit der in Zeit und Raum anschaulichenund daher in Zahlen und Figuren darstellbaren oder zählbaren undmessbaren Größe zu thun . . . Der Philosoph soll also wohl sich mit derMathematik und der Mathematiker mit der Philosophie befreunden, soinnig als es Talent, Neigung, Zeit und Umstände nur immer gestattenmögen. Aber man soll nicht wieder vermischen und vermengen, was diefortschreitende wissenschaftliche Bildung aus guten Gründen geschie-den hat. . . . eine mathematische Philosophie und eine philosophischeMathematik – in dem Mischsinne, wie man es gewöhnlich nimmt – istein wissenschaftliches oder vielmehr unwissenschaftliches Monstrum,und kann dem menschlichen Geiste, der zur wahren Selbstverständigunggelangt ist, ebensowenig gefallen, als ein aus Mann und Weib gemischterMenschenkörper.“1

    Ungeachtet dessen veröffentlichte 1844 der 35jährige Gymnasialleh-rer aus Stettin Hermann G. Graßmann2 eine mathematische Arbeit,deren Darstellungsweise, wie er später selbst vermerkt, „gewiss den mehrphilosophisch gebildeten Lesern mehr zusagen wird“3 und die zudemmit dem Anspruch auftrat, eine Wissenschaft zu begründen, „welche diesinnlichen Anschauungen der Geometrie zu allgemeinen, logischen Be-griffen erweitert und vergeistigt, und welche an abstrakter Allgemeinheites nicht nur mit jedem andern Zweige, wie der Algebra, Kombinations-lehre, Funktionenlehre, aufnimmt, sondern sie durch Vereinigung allerin diesen Zweigen zu Grunde liegenden Elemente noch weit überbietet,und so gewissermassen den Schlussstein des gesammten Gebäudes derMathematik bildet.“4

    Der in der Fachwelt bis dahin völlig unbekannte mathematischeDebütant unterließ es nicht, sein Werk – es handelte sich um „Dielineale Ausdehnungslehre, ein neuer Zweig der Mathematik“ (1844) – denbedeutendsten Mathematikern seiner Zeit „zur gefälligen Beachtung“ zuübersenden. Deren Einschätzung war indes für Graßmann niederschmet-ternd und lag völlig im Rahmen der eingangs umrissenen KantschenAuffassungen vom Wesen der Mathematik. August Ferdinand Möbius,der deutsche Mathematiker, dessen Ideen sich am engsten mit denen

  • XII Vorwort

    Graßmanns berührten, bemerkte in einem Brief an Apelt, daß er mehr-fach angesetzt habe, Graßmanns Werk zu studieren, „. . . niemals aber weitüber die ersten Blätter hinausgekommen [sei] . . ., da es . . . sich zu sehr vonaller Anschaulichkeit, dem wesentlichen Charakter der mathematischenErkenntnis, fern hält.“5 In einem Brief an Gauß spricht er ferner vonGraßmanns „Abschweifungen vom mathematischen Grund und Bo-den“6. Johann August Grunert schrieb an Graßmann: „Gewünscht hätteich auch, daß Sie sich weniger in philosophische Reflexionen eingelassen. . . hätten.“7 Der mit Möbius befreundete Ernst Friedrich Apelt vermerktzu „Graßmanns wunderliche[r] Ausdehnungslehre“: „. . . mir scheint einefalsche Philosophie der Mathematik zu Grunde zu liegen. . . . So eineabstrakte Ausdehnungslehre, wie er sucht, könnte sich nur aus Begriffenentwickeln lassen. Aber die Quelle der mathematischen Erkenntnis liegtnicht in Begriffen sondern in der Anschauung.“8 Letztlich konstatiertRichard Baltzer zur Ausdehnungslehre: „. . . mir schwindelt der Kopfund wird himmelblau vor den Augen, wenn ich drin lese.“9 So kommtes zu dem, was Moritz Cantor mit dem lapidaren Satz umreißt: „DasBuch erschien 1844 bei O. Wigand in Leipzig, fand nicht einmal einenRezensenten, noch weniger einen Käufer und wurde in fast vollständigerAuflage eingestampft!“10

    Ein halbes Jahrhundert später ist Graßmanns mathematische Lei-stung unumstritten. Von 1894 bis 1911 erscheint auf Veranlassung FelixKleins die sechs Teilbände umfassende Sammlung seiner mathematischenund physikalischen Schriften11. Dank des Wirkens von Mathematikernwie Hermann Hankel, Alfred Clebsch, Felix Klein, Friedrich Engel u. a.erfahren die Verdienste Graßmanns um die Begründung der Vektor- undTensorrechnung, um die Entwicklung der n-dimensionalen affinen undprojektiven Geometrie sowie, um nur einiges zu nennen, um die Begrün-dung der Arithmetik, ihre retrospektive Würdigung. Graßmann ist inder mathematischen Fachwelt bekannt, sein mathematisches Hauptwerkjedoch noch immer fast unbekannt, denn, obwohl „sich eine gewisseHochachtung vor dem Stettiner Mathematiker allmählich auch in wei-teren Kreisen verbreitet“, wie F. Engel 1911 bemerkt, ist „. . . nicht zuleugnen . . ., daß sich diese Hochachtung selbst heute noch bei gar vielennicht auf eigene Kenntnis der Graßmannschen Schriften gründet, sondernmehr auf Hörensagen.“12 Unter der Vielzahl der Gründe, die sich für dasfast ein viertel Jahrhundert währende Ignorieren der 1844er „Ausdeh-nungslehre“ Graßmanns anführen lassen, kommt der Ablehnung ihresphilosophischen Gehaltes und ihrer philosophischen Darstellungsweiseoffensichtlich eine hervorragende Bedeutung zu. Wie sich indes zeigenläßt, wird eine derartige philosophiefeindliche Haltung der „Ausdeh-nungslehre“ keineswegs gerecht. Eine eingehende Analyse bringt zutage,daß es u. a. gerade dieses philosophische, oder präziser, dieses dialektische

  • Vorwort XIII

    Herangehen Graßmanns an mathematische Probleme war, das ihm zurSchöpfung und relativ umfassenden Ausgestaltung einer neuen mathema-tischen Disziplin, der Vektor- und Tensorrechnung, befähigte. Ja, dieseFeststellung läßt sich noch erweitern: Graßmann war in der Lage, eineneuartige vektoralgebraische Theorie des n-Dimensionalen aufzubauen,weil er auf der Höhe des philosophischen Denkens seiner Zeit stand,weil er die von den Ideologen der aufstrebenden deutschen Bürgertumsentwickelte Dialektik als Erkenntnis- und Darstellungsmethode bewußtanzuwenden trachtete!

    Die vorliegende Arbeit stellt den Versuch einer kritischen Würdigungdes Lebens und des Werkes Hermann Graßmanns (1809–1877) dar.

    Hermann Graßmann ist heute, obwohl er als Begründer der Vek-torrechnung in die Mathematikgeschichte Eingang fand, ein weitgehendunbekannter Mathematiker. Sein hundertster Todestag im Jahre 1977verstrich weitgehend unbemerkt, eine Konferenz aus Anlaß des 150. Jah-restages des Erscheinens der „Linealen Ausdehnungslehre“ im Mai 1994auf Rügen war einer der letzten markanten Versuche, ihn des Vergessenszu entreißen.

    Das neunzehnte Jahrhundert, der Zeitraum also, in dem Graß-mann sein Schöpfertum entfaltete, harrt mathematikgeschichtlich nochimmer weitgehend einer Aufarbeitung. Die Analyse der geschichtlichenWechselwirkung von Philosophie und Mathematik steht fast vollständigaus.13

    Grund genug also, sich Graßmann eingehender zuzuwenden.

  • Einleitung

    Mit Hermann Graßmann, dessen zweihundertster Geburtstag ins Haussteht, tritt uns eine der außergewöhnlichsten Forscherpersönlichkei-ten des 19. Jh. entgegen. Die Umstände, unter denen er seine wissen-schaftlichen Leistungen vollbrachte, sind nicht minder beeindruckendals die erzielten Forschungsergebnisse selbst. Graßmann, der ursprüng-lich Theologe werden wollte und auf mathematischem und naturwis-senschaftlichem Gebiet weitgehend Autodidakt war, wandte sich erstin einem Alter von über 30 Jahren der wissenschaftlichen Forschungzu. Mit Ausnahme seines dreijährigen Berliner Studiums blieb er Zeitseines Lebens seiner Geburtsstadt Stettin verhaftet, als Gymnasialleh-rer fast ohne Kontakt zu den führenden Naturwissenschaftlern undMathematikern seiner Zeit und fernab von den Zentren wissenschaft-licher Forschung. Seine Hausbibliothek umfaßte nur wenige wissen-schaftliche Werke. – Aber welche Fülle wissenschaftlicher Leistungenstand dem gegenüber! In die Geschichte ging Graßmann ein durchEntdeckungen auf dem Gebiet der Elektrizitätslehre, der Farbenlehreund der Vokaltheorie. Gleichzeitig gehört er zu den Pionieren der ver-gleichenden Sprachtheorie und der Vedaforschung. Sein Wörterbuchdes Rig-Veda, der Sammlung vorbuddhistischer Götterhymnen Indiens(12.–6. Jh. v. u. Z.), erlebte 1996 eine sechste Nachauflage14. Vor allemjedoch machte sich Graßmann auf dem Gebiet der Mathematik verdient.Mit seinen beiden „Ausdehnungslehren“ (A1, A2) aus den Jahren 1844und 1862 sowie seinem „Lehrbuch der Arithmetik“ (LA) aus dem Jahre1861 gehört er, unabhängig von dem englischen Mathematiker W. R.Hamilton, zu den Begründern der Vektor- und Tensorrechnung, warer, ein Jahrzehnt vor B. Riemann, der erste Mathematiker, der durchVerallgemeinerung der gewöhnlichen dreidimensionalen Geometrie eineTheorie der n-dimensionalen Mannigfaltigkeiten schuf. Obwohl seinenmathematischen Ergebnissen fast 30 Jahre die offizielle Anerkennung ver-sagt blieb, übten sie noch einen nachhaltigen wissenschaftlichen Einflußaus auf Mathematiker wie Felix Klein, Giuseppe Peano, Alfred NorthWhitehead, Élie Cartan, Hermann Hankel, Walther von Dyck, JosiahWillard Gibbs . . . um nur einige anzuführen. Schon aus diesen wenigenFakten wird erkennbar, daß die wissenschaftlichen Leistungen Graß-manns ein vorzüglicher Gegenstand wissenschaftshistorischer Analysesein sollten.

  • XVI Einleitung

    Nun muß indes vermerkt werden, daß die vorliegende Schrift nichtdie erste Arbeit über Leben und Wirken Graßmanns ist. Bereits einJahr nach Graßmanns Tod, 1878, erschien eine Biographie von VictorSchlegel (1878) und 1911, anläßlich der Herausgabe der sechs Teileumfassenden gesammelten Werke Graßmanns, veröffentlichte FriedrichEngel eine umfangreiche Biographie (BIO). Die genannten Schriftensind als Fundgrube größtenteils verloren gegangener Dokumente überdas Leben Graßmanns von unschätzbarem Wert – als wissenschaftlicheBeiträge zur Klarstellung von Platz und Bedeutung Graßmanns in derGeschichte der Wissenschaft weisen sie jedoch eine Reihe von Unzuläng-lichkeiten auf. Wenn, um nur ein Beispiel anzuführen, Schlegel behauptet,Graßmanns mathematische Ideen seien „außer allem Zusammenhangmit der geschichtlichen Entwicklung der Wissenschaft“15 aufgetaucht,so drückt sich darin eine überaus vereinseitigende Sicht auf die Mathe-matikgeschichte aus, der man nur zugute halten kann, daß sie vermutlichdie Bedeutung und die wissenschaftliche Leistung Graßmanns zusätzlicherhöhen sollte.

    Die in anderen Schriften Schlegels und Engels hervortretenden Ein-seitigkeiten hinsichtlich einer philosophischen Verortung der Mathema-tik schlagen sich auch in den genannten Biographien nieder. Ist dieBiographie Schlegels von überschwenglichen Wertungen getragen, denensich ein objektiver Blick auf den Platz Graßmanns in der Mathematikge-schichte verschließt, so finden wir in der Biographie Engels eine minutiöseSchilderung des Graßmannschen Wirkens, die sich jeglicher Wertungenenthält.

    Im Gegensatz dazu verfolgt die vorliegende Arbeit das wissenschafts-historische Ziel herauszufinden, ob – und wenn ja, in welchem Umfangund in welcher Hinsicht – die individuell erzielten wissenschaftlichenGlanzleistungen Graßmanns, die genialisch singulär erscheinen, gleich-wohl eine gesellschaftliche Determination der Mathematik zum Aus-druck bringen.

    Bei einem derartigen Versuch muß man sich jedoch davor hüten,eine gradlinige und unvermittelte Einwirkung der ideologischen, kultu-rellen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse auf die Wissenschaft zusuchen, eine, wie selbst Friedrich Engels meinte, „absurde“ Auffassung,die „die Anwendung der Theorie auf eine beliebige Geschichtsperiode jaleichter als die Lösung einer einfachen Gleichung ersten Grades . . .“16

    erscheinen ließe. Orientierungspunkt soll vielmehr der Standpunkt vonS. R. Mikulinskij sein, den er auf dem 15. Internationalen Kongreßfür Geschichte der Naturwissenschaft und Technik im August 1977 inEdinburgh formulierte: „Der Weg zur Aufdeckung der Mechanismen undGesetzmäßigkeiten der Wissenschaftsentwicklung [besteht] im Erkennender Wechselwirkung des gegenständlichen Inhalts der Wissenschaft, der

  • Einleitung XVII

    sozialökonomischen und kulturhistorischen Bedingungen sowie der Per-sönlichkeitsfaktoren, wobei die sozialhistorische Praxis diese Wechsel-wirkung entscheidend beeinflußt [Übers. – H.-J. P.].“17

    Unter Berücksichtigung dieser Grundstrategie zur Aufdeckung des kon-kreten Mechanismus der Entstehung neuen wissenschaftlichen Wissensergibt sich, wie in der vorliegenden Schrift gezeigt wird, für die De-termination des mathematischen Schaffens Graßmanns folgendes Bild:Entstehung, Struktur und Charakter des mathematischen HauptwerkesHermann Graßmanns, der Ausdehnungslehre von 1844, sind minde-stens von sieben wesentlichen, historisch belegbaren Faktorengruppengeprägt.

    Erstens läßt sich hier auf die Familientraditionen verweisen. Graß-mann stammte aus einer alteingesessenen pommerschen Pastorenfamiliemit ausgeprägten innerfamiliären Bindungen. Unter dem Einfluß desPietismus und der Aufklärung, den der Großvater Hermann Graßmannswährend seines Hallenser Theologiestudiums erfuhr, setzte jener schritt-weise und widerspruchsvolle Prozeß der Abwendung von der Religionund der Zuwendung zur Wissenschaft ein, der, sich von Generation zuGeneration verstärkend, mit den Söhnen Hermann Graßmanns – alle hat-ten sie ein naturwissenschaftliches bzw. technisches Studium absolviert– seinen relativen Abschluß fand. Im Pietismus und in der Aufklärungbegann sich das deutsche Bürgertum auf seine eigenen praktischen undgeistigen Fähigkeiten zu besinnen. Die familiäre Aufbewahrung und Wei-tergabe dieser wissenschaftsbejahenden Denkhaltung wurde unter denrückständigen Verhältnissen Pommerns zu einem Fundament, welchesHermann Graßmann überhaupt erst ermöglichte, sich von der Theologieab- und der Mathematik zuzuwenden.

    Zweitens muß auf den Einfluß verwiesen werden, den Justus Graß-mann, der Vater Hermann Graßmanns, auf seinen Sohn ausübte. Wiewohl selten in der Geschichte der Wissenschaften befruchteten die Ideen,Anschauungen und die Denkhaltung des Vaters das wissenschaftlicheSchöpfertum des Sohnes.Justus Graßmann wiederum, der durch eigene wissenschaftliche Lei-stungen kaum hervortrat, zeichnete sich durch eine gediegene, an Leib-niz, Kant und die romantische Naturphilosophie anknüpfende philoso-phische Bildung aus. Als Anhänger der Pädagogik Pestalozzis griff erAnsätze des Pestalozzischülers J. Schmid (1809) zur Entwicklung einerElementar- und Volksschulmathematik auf. Aus der Synthese der hiervorgefundenen Geometrieansichten mit der Leibnizschen Kombinatorik,dem Kantschen Mathematikverständnis, den dialektischen Positionender klassischen deutschen bürgerlichen Philosophie und der Romantikerwuchs jenes Gedankengebäude, dessen geniale Realisierung die Aus-dehnungslehre Hermann Graßmanns ist. Den komplexen Charakter der

  • XVIII Einleitung

    Verwobenheit der Ideen Hermann Graßmanns mit denen seines Vatersdarzustellen, wird ein Schwerpunkt dieser Schrift sein.

    Als ein dritter Bedingungskomplex, der Charakter und Entstehungder Graßmannschen Ausdehnungslehre beeinflußte, muß das soziale undkulturelle Klima seiner Heimat- und Wirkungsstadt Stettin gesehen wer-den. Im Gefolge der Befreiungskriege 1813/14 kam es in Stettin zu einerausgesprochen kleinbürgerlich-provinziellen Blüte, die erst Mitte der 50erJahre unter dem Einfluß der 1843 vollendeten Eisenbahnverbindung nachBerlin sowie der bürgerlichen Revolution von 1848 langsam endete. Indiesen vier Jahrzehnten lebten in den Mauern Stettins Romantik, Religionund Deutschtümelei auf, regte sich ein kleinbürgerlicher Bildungseifer,erhielt die Freimaurerloge Stettins einen nie gekannten Zulauf. Am Stet-tiner Gymnasium, dem wissenschaftlich-kulturellen Zentrum der Stadt,war ein Kollegium von Professoren vereint, das teils wissenschaftlich-ge-nial, teils lokal-borniert, keine wissenschaftliche Autorität anerkannte,die nicht den Maßstäben des eigenen Denkens standhielt, ein Kollegium,das in dem breiten Spektrum verschiedener Auffassungen nur durch dieromantische Grundhaltung geeint war. Dieses die individuelle geistigeSchöpferkraft bejahende Mikroklima bildete den Nährboden, auf demdas Zutrauen Graßmanns in die eigenen Fähigkeiten zu einer totalenUmarbeitung der gesamten Mathematik, beginnend mit der Begründungeines vollständig neuen mathematischen Zweiges, der Ausdehnungslehre,erwuchs. Andererseits ist es die gleiche kleinbürgerliche Atmosphäre, un-ter deren Einfluß der Bruder Hermann Graßmanns, Robert Graßmann,ein groteskes, 10-bändiges „Gebäude des Wissens“ (1882–90) verfaßte,das die Gesamtheit der menschlichen Erkenntnis in völlig neuer, angeb-lich erstmals „wissenschaftlicher“ Weise darstellen sollte und verständli-cherweise an diesem Anspruch vollständig scheiterte.

    Auf dem schmalen Grat zwischen Provinzialismus und Deutschtü-melei einerseits und wissenschaftlicher Schöpferkraft und Genialität an-dererseits sich bewegend, bringt somit die Graßmannsche Ausdehnungs-lehre die Zwiespältigkeit des Graßmann umgebenden geistigen Milieuszum Ausdruck.

    Viertens ist auf den Einfluß des Bruders, Robert Graßmann, zu ver-weisen. Robert war für Hermann Graßmann, der als Lehrer in Stettin,fernab der Universitäten und wissenschaftlichen Zentren seine wissen-schaftlichen Ideen entwickelte, der einzige Partner, Kritiker und Mitstrei-ter. Er war dies in einem solchen Maß, daß es vielfach unmöglich ist, zusondern, was von dem einen oder dem anderen Bruder an theoretischenKonzepten eingebracht wurde. Über Jahre arbeiteten sie täglich stun-denlang gemeinsam an ihren wissenschaftlichen Projekten. Sie erörtertenSchleiermachers Dialektik, sie diskutierten das Konzept der ersten undder zweiten Fassung der Ausdehnungslehre und gingen die Beweise durch.

  • Einleitung XIX

    Gemeinsam verständigten sie sich über ihre Arbeitsfelder bei der Revisionder Grundlagen der Mathematik: Hermann übernahm Ausdehnungsleh-re und Zahlenlehre, Robert Kombinationslehre und Logik. Die Brüderwaren charakterlich sehr unterschiedlich und in der wissenschaftlichenAusrichtung nicht deckungsgleich. Es wundert daher nicht, daß dieseZusammenarbeit für Hermann, sieht man vom Briefwechsel mit Möbiusab, nicht zuletzt aufgrund des Fehlens wissenschaftlicher Kontakte zurFachwelt, sowohl ihre Licht- als auch Schattenseiten hatte und zwei-felsohne zum Ignorieren seiner Ausdehnungslehre in der mathematischenFachwelt, sowohl in der ersten wie in der zweiten Fassung, mit beitrug.

    Als fünfte Komponente, die auf Inhalt und Anlage der Ausdeh-nungslehre einen maßgeblichen, ja, neben den Ideen und Ansätzen desVaters den entscheidenden Einfluß ausübte, ist die Dialektik FriedrichSchleiermachers anzuführen. Der Religionsphilosoph Schleiermacher,dem Graßmann an der Berliner Universität begegnete und dem er nacheigenen Worten für sein wissenschaftliches Denken „so unendlich viel zudanken“18 hatte, führte Graßmann in die Schatzkammer der vorhegel-schen Dialektik ein. Selbst aus den Quellen Platons, Spinozas, Kants,Schellings, der romantischen Naturphilosophie und eigener naturwis-senschaftlicher Studien schöpfend, gleichzeitig mitten in den politischenParteikämpfen seiner Zeit stehend, war es Schleiermacher, der Graßmanndie Notwendigkeit und die Bedeutung der Dialektik für das Aufspürenmathematischer und einzelwissenschaftlicher Theorieansätze sowie fürderen systematische Entfaltung zu einem methodenbewußt komponier-ten theoretischen Ganzen vor Augen führte.

    Zwei Jahre vor dem Beginn der Arbeit Graßmanns an der Ausdeh-nungslehre erschienen aus dem Nachlaß Schleiermachers Vorlesungenzur Dialektik (DIAL). Sofort stürzte sich Hermann Graßmann, gemein-sam mit seinem Bruder, in ihr Studium. Somit begann die Arbeit an derAusdehnungslehre, ihre systematische Entwicklung, unter dem unmittel-baren Einfluß dieser philosophischen Studien. Das lange Ringen um dieendgültige Form der Ausdehnungslehre, von dem Graßmann im Vorwortder Schrift Zeugnis ablegt, sowie seine Darlegungen zur Notwendigkeitund zum Wesen der Anwendung der Philosophie auf die Mathematik ineben dieser Schrift weisen aus, daß Graßmann bewußt die dialektischeMethode Schleiermachers zum Aufbau seines mathematischen Gebäudesnutzte, ja, daß er dem Leser in der Einleitung des Werkes vorsätzlich diesedialektische Verfahrensweise bewußt zu machen suchte. Aus dem intimenVerhältnis von Mathematik und dialektischer Methode schöpft das WerkGraßmanns seine Genialität.

    Damit soll zu einem sechsten Aspekt, der mathematikgeschichtlichenDetermination der Graßmannschen Ausdehnungslehre, hinübergeleitetwerden. In der Überwindung des begrenzten antiken Mathematikver-

  • XX Einleitung

    ständnisses war die Geometrie seit dem 16. und 17. Jh. hinter der Ent-wicklung der Algebra und der Analysis zurückgeblieben. Die revolu-tionären Umwälzungen des mathematischen Geometrieverständnisseswurden erst mit der Begründung der analytischen Geometrie Descartes’,einer ganz spezifischen Verknüpfung der Geometrie mit algebraischenund analytischen Methoden, eingeleitet. Diese nun erst einmal vollzo-gene, besondere, relativ einseitige Verzahnung algebraischer und geo-metrischer Methoden, bei der gleichzeitig die Rechnung gegenüber dergeometrischen Betrachtung mehr oder weniger äußerlich war, stelltegegenüber der objektiv möglichen Vielzahl von Verkopplungen von Geo-metrie und Algebra einen dialektischen, die Entwicklung der Mathematikvorwärtstreibenden Widerspruch dar. Er wurde zum einen, durch prak-tische Bedürfnisse veranlaßt, gelöst durch die analytische Behandlungder projektiven Geometrie, die zu Punkt-, Linien-, Ebenenkoordinatenusw. führte, und wurde zum anderen gelöst durch die Suche nach dergeometrischen Interpretation von komplexen und hyperkomplexen Zah-len, eine Suche, die, stimuliert durch Bedürfnisse der Mechanik, zurVektoralgebra führte. Ein dritter Lösungsansatz ergab sich, ebenfallsbeeinflußt durch Bedürfnisse der mathematischen Mechanik, aus denBemühungen, eine neue, unmittelbarere Verbindung von Algebra undGeometrie zu begründen. In dieser Richtung versuchte sich Leibniz,in eben diesem Herangehen gelangte Graßmann durch seinen Ansatzeiner Begründung der Vektor- und Tensorrechnung zum Erfolg, wobei ergleichzeitig alle die Grundprobleme mit in Angriff nahm – gemeint sindhier die Aufhebung der absoluten Koppelung von Geometrie und Metrik,die Verallgemeinerung des Dimensionsbegriffs auf n Dimensionen, dieweitgehende Auflösung des Koordinatenbegriffs und die Untersuchunggeometrischer Verwandtschaften – wobei er mithin alle die Grundpro-bleme in Angriff nahm, deren Bearbeitung im 19. Jh. zu einem neuen,abstrakteren Geometrieverständnis führte, das in F. Kleins „ErlangerProgramm“ Ausdruck fand.

    Somit löste Graßmann auf eigenständigen Wegen mathematischeGrundfragen seiner Zeit – und zwar dank seinem dialektischen Denken– auf hervorragende Weise.

    Siebentens und letztens sei auf individuelle Momente im SchaffenGraßmanns hingewiesen, die auf die Ausgestaltung seiner mathemati-schen Ideen von nachhaltigem Einfluß waren. Zu nennen wäre hier dieautodidaktische Wissensaneignung, die Graßmann davor bewahrte, aus-getretene Wege des wissenschaftlichen Denkens zu beschreiten und sichzu sehr von den mathematischen Moderichtungen beeinflussen zu lassen.Anzuführen ist ferner die relativ späte Zuwendung zur Mathematik, diedem nachhaltigen Einfluß philosophischen Denkens erst Raum ließ, undzu nennen ist schließlich die ursprüngliche Studienweise Graßmanns, bei

  • Einleitung XXI

    Abb. 1. Einflußfaktoren auf Darstellungsweise und Inhalt der Graßmannschen Aus-dehnungslehre von 1844.

    welcher er, ausgehend von der ganzen Breite des damaligen Gymnasi-alstoffes, möglichst tief in die elementaren Zusammenhänge und in dieGrundlagen der Wissenschaften einzudringen versuchte und somit einumfassendes und gediegenes Allgemeinwissen erwarb. Die Bedeutung,die ein derart solides Allgemeinwissen für den wissenschaftlichen Erfolgauf einem Spezialgebiet spielt, sollte als Fingerzeig der deutschen Ge-schichte die deutsche Gegenwart beunruhigen.

    In der Vielzahl der hier aufgeführten Faktoren nimmt der Mecha-nismus der sozial-ökonomischen, kulturell-historischen und individu-alspezifischen Determination des mathematischen Schaffens HermannGraßmanns konkrete Gestalt an.

    Es tritt jener Rahmen inner- und außerlogischer Bedingungen hervor,der Graßmann den Spielraum für die Ausgestaltung der Ausdehnungs-lehre bot.

  • XXII Einleitung

    Unter der Fülle dieser einzelnen Einflüsse tritt als generelle Tendenzder gesellschaftlichen Bedingtheit des mathematischen Schaffens Graß-manns die Aufnahme dialektischen Denkens zur Bewältigung mathema-tischer Problemstellungen hervor. Somit vollzieht sich im Falle Graß-manns die gesellschaftliche Determination des einzelwissenschaftlichenSchaffens in erster Linie unter dem Einfluß des Gedankengutes vonLeibniz, Kant, Schelling und Schleiermacher, d. h. auf philosophischerEbene, auf der Ebene des dialektischen Denkens. Die Dialektik entstandzu dieser Zeit jedoch nicht zufällig in der klassischen bürgerlichen deut-schen Philosophie. Sie war unmittelbarer Reflex der ökonomischen undpolitischen Machtergreifung des Bürgertums als ein innereuropäischerProzeß, war der ideelle Reflex der sich seit der Renaissance vollziehen-den revolutionären Veränderungen in Gesellschaft, Naturwissenschaftund Technik. Graßmanns Ausdehnungslehre ist Moment und Ausdruckdieses Umwälzungsprozesses.

  • 1 Graßmanns Leben

    1.1 Zeitverhältnisse

    Seit Jahrhunderten war die Familie Graßmann fest in Pommern ansässig.Wie schon sein Vater wirkte Hermann Graßmann – bis auf ein dreijäh-riges Berliner Studium und eine einjährige Anstellung an der BerlinerGewerbeschule – ausschließlich in Stettin, wo er auf vielfältige Weise mitdem Leben seiner Heimatstadt verbunden war. Die spezifisch lokale Aus-prägung, die die deutschen Verhältnisse in Stettin fanden, war daher fürdie Herausbildung der weltanschaulichen und politischen AuffassungenHermann Graßmanns von nachhaltigem Einfluß.

    Pommern, in dem Graßmanns Geburts- und lebenslange Wirkungs-stätte Stettin lag, gehörte in den ersten Jahrzehnten des 19. Jhs. zuden rückständigsten Gebieten Deutschlands. Durch seine ökonomischeSchwäche und durch die strategisch bedeutsame Lage an der Ostseewar es in den vorhergehenden Jahrhunderten mehrfach zum Spielballdynastischer Auseinandersetzungen geworden.

    Der nordische siebenjährige Krieg (1563–1570), der dreißigjährigeKrieg (1618–1648), der schwedisch-polnische Krieg (1655–1660), dernordische Krieg (1700–1721) – um nur einige Kriege zu nennen – verwüs-teten das Land, brachten der arbeitenden Bevölkerung unsägliches Leidund Elend und warfen die Städte in ihrer wirtschaftlichen Entwicklungzurück.

    1677 wurde Vorpommern mit Stettin, das sich in der Hand der Schwe-den befand, vom Brandenburgischen Kurfürsten erobert. Nach fünfmo-natiger Belagerung (23. 7.–27. 12. 1677), die die Stadt stark zerstörte, fielStettin in die Hände der Brandenburger, mußte jedoch nach dem Friedenvon St. Germain (1678) auf Betreiben Frankreichs wieder an Schwedenabgetreten werden. Von den angerichteten Zerstörungen erholte sich dieHafenstadt lange Zeit nicht.

    Erst im Gefolge des nordischen Krieges (1700–1721) erreichte Fried-rich Wilhelm I. (1713–1740) das alte Ziel Brandenburgs, mit Stettin „einenFuß am Meer“ zu haben „und an dem Commercio der ganzen Welt teil-nehmen“19 zu können. Die in den Stettiner Hafen gesetzten Erwartungenerfüllten sich – trotz zahlreicher Ausbau- und Verbesserungsarbeiten –indes nicht. Unter Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. (1740–1786)wurde die Verwaltungsstruktur Pommerns ganz auf die Ansprüche des

  • 2 1 Graßmanns Leben

    militanten Feudalabsolutismus umgestellt. Die Unabhängigkeit der Stadtwurde vollends gebrochen. Von 1724 bis 1740 wurde sie zu einer dergrößten Festungen des Landes ausgebaut (43 Millionen Steine wurdenhierbei für die Festungsanlagen verbraucht!).20

    Entsprechend der Politik des militanten Feudalabsolutismus derPreußenkönige wurde nunmehr das Manufakturwesen staatlich regle-mentiert, durch Konzessionen, Privilegien und Monopole gestützt, ent-wickelt und auf die Bedürfnisse von Armee und Hof ausgerichtet. Klein-und Mittelbürger wurden hierdurch wirtschaftlich an Adel und Armee ge-bunden. Das Seehandelsgeschäft führte bei den Kaufleuten einerseits zuengen wirtschaftlichen Verbindungen mit den umliegenden Großgrund-besitzern, andererseits zu festen Wirtschaftsbeziehungen mit Hof undArmee, da fast ausschließlich landwirtschaftliche Rohstoffe zur Ausfuhrund hochwertige Manufakturgüter zur Einfuhr gelangten.

    Die sich aus dem absolutistischen Zentralismus und der ökonomi-schen Rückständigkeit ergebenden Widersprüche und Disproportionenin der Entwicklung Stettins bescherten vielen der neu gegründeten Gewer-be und Unternehmungen nur ein kurzes Leben. Die freie Entfaltung derGewerbe wurde durch bürokratische und dirigistische Maßnahmen starkgehemmt, das Bürgertum an das Feudalsystem gekettet, die Entwicklungder Produktivkräfte deformiert.

    Abb. 2. Stettin zur Zeit des Ausbaus zu einer der größten Festungsstädte Preußens

  • 1.1 Zeitverhältnisse 3

    Nicht „eigene Kraft und Selbständigkeit“ wurden erweckt, nicht„freie Bürger, sondern Untertanen“21 wurden durch die absolutistischenReformen und Regulationen geschaffen. Das Aufblühen des Protektio-nismus führte zu kleinbürgerlich-spießerhaftem Konservativismus, zujener „trägen Gleichgültigkeit“ und „schlaffen und zähen Ermattung“des Nordens22, die F. Engels geißelte.

    Neben seiner Rolle als Hafen- und Militärstadt war Stettin gleich-zeitig Sitz der pommerschen Landesregierung. Die Mehrzahl der Be-amten stammte aus Stettin selbst und war am Stettiner akademischenGymnasium aufgewachsen, das, 1662 aus dem Stettiner Pädagogikumhervorgegangen, das bedeutendste der drei zur Zeit Friedrich II. impreußischen Teil Pommerns befindlichen Gymnasien – zwei in Stettinund eins in Stargard – war.23 Trotz der Ausstattung mit einem gewissenakademischen Zierrat, wie wechselnden Rektoraten, bedingter Vorle-sungswahl u. dgl. m. war es in einem äußerst schlechten Zustand. Erstdie 1805 vollzogene Vereinigung der beiden Stettiner Gymnasien, desRats-Lyceums und des akademischen Gymnasiums, zum VereinigtenKöniglichen und Stadtgymnasium leitete eine Besserung ein. In der Mittedes 19. Jhs. erlebte das Gymnasium dann seine Blütezeit.24

    Patriarchalische Zustände, eine strenge Trennung zwischen Adel undBürgertum, Zivil und Militär, Beamten und Bürgern, blieben noch bisin die Mitte des 19. Jhs. bestimmend für den Charakter der Stadt.25

    Die verhaltene wirtschaftliche Entwicklung Stettins wurde jäh unter-brochen durch die 1806 beginnende 7jährige Besetzung der Festungsstadtdurch Napoleonische Truppen. Unter dem lastenden Druck der Besat-zerarmee, die im Interesse der französischen Großbourgeoisie Stettinwirtschaftlich auspreßte, ging die Stadt dem Ruin entgegen. Ihr Gesamt-verlust wurde damals auf mehr als 5 1/2 Millionen Taler geschätzt.26

    Der Neubeginn Stettins vollzog sich unter dem Einfluß des erwach-ten Nationalbewußtseins und der durch die bürgerlichen „Halb-und-halb-Reformer“27 hervorgerufenen Lockerung des Absolutismus in derstädtischen Verwaltung und im Gewerbe. Das Interesse der Klein- undMittelbürger an den städtischen Angelegenheiten entwickelte sich nurlangsam, so daß das Beamtentum weiterhin als Mittler zwischen Adelund Bürger auftrat. Besonders die Gymnasialintelligenz wurde politischaktiv (Bartholdy, Sell, Koch, J. Graßmann).

    Von 1816 bis 1831 wirkte August Sack als Oberpräsident in Pom-mern. Er war ein enger Vertrauter und Schüler Steins und aktiv ander Abschüttelung des Napoleonischen Jochs beteiligt. Zunächst hatteer im Rheinland versucht, die angeschobenen Reformen zu verteidigenund fortzuführen. 1814 übernahm er das Generalgouvernement vomNiederrhein und erließ u. a. einen Aufruf, in dem er eine grundlegendeReform des gesamten Schulwesens ankündigte, „die Primärschulen als

  • 4 1 Graßmanns Leben

    Abb. 3. Titelseite der „Stettiner Zeitung“ aus der Zeit der Besetzung Stettinsdurch Napoleonische Truppen

    die ‚Urquelle aller Volksbildung und moralischen Volkskraft‘ bezeich-nete und ‚jeden Schulmann, jeden Gelehrten, jeden Menschenfreund,welchem diese heiligste Angelegenheit der Menschheit am Herzen liegt‘,zur Mitarbeit aufforderte.“28 Aber sein Betätigungsfeld wurde von derwiedererstarkenden feudalen Reaktion zunehmend eingeengt. 1816 wur-de Sack nach Pommern abgeschoben, blieb aber, in seinem Wirken starkeingeschränkt, seinen Idealen treu. Unter seiner Leitung setzte eine lang-same Belebung des Wirtschaftslebens ein. Auf seine Initiative hin kames zur Aufhebung der bisherigen kaufmännischen Zünfte, Gilden undInnungen und zur Bildung einer „Korporation der Kaufmannschaft“

  • 1.1 Zeitverhältnisse 5

    (1821)29, welche, obwohl durch Mitgliedszwang der Verordnung über dieGewerbefreiheit widersprechend, nachhaltigen Einfluß auf die Entwick-lung der Hafenstadt Stettin hatte.30 Als er am 28. Juni 1831 starb, setzteihm die Stettiner Kaufmannschaft ein Denkmal (1833).31

    Obgleich in der Zeit von 1817 bis 1829 zwei neue Molen angelegtund das Fahrwasser von Oder und Swine vertieft wurde, blieb Stettin,die größte preußische Hafenstadt, für das Hinterland weitgehend unbe-deutend. Gegen die Vormacht Bremens, Lübecks und Hamburgs konntesich Stettin nur schwer behaupten. Der eigentliche Großhandel Stettinserhielt erst ab etwa 1839 einen merklichen Aufschwung.32 Bis in die Mittedes 19. Jhs. dominierte der Eigenhandel gegenüber der Spedition.

    Die weiterhin engen wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Groß-grundbesitzern und Kaufleuten kamen u. a. in der 1823 erfolgten Grün-dung der „Ritterschaftlichen Privatbank von Pommern“ zum Ausdruck,die als eine Vereinigung konservativer Großgrundbesitzer und wohlha-bender Kaufleute bis 1846 die führende Geldmacht in Stettin darstellteund als erste deutsche Privatbank von der Preußischen Regierung dieErlaubnis erhielt, eigene Banknoten herauszugeben.33

    Die Gründung neuer Betriebe verlief relativ langsam. Der Inbegriffeiner modernen Fabrik, ja, die Fabrik Stettins überhaupt, blieb langeZeit die 1817 gegründete „Pommersche Provinzial-Zuckersiederei“, ihrerForm nach eine Aktiengesellschaft.

    Ihre besondere Aufmerksamkeit wandte die pommersche Landesre-gierung der Entwicklung des Schiffbaus zu. Mit dem Bau der ersten preu-ßischen Kanonenboote legte der konservative Vorsitzende des Gewerkes,der Schiffbaumeister A. E. Nüscke (1817–1891), nach 1848 in seiner Werftden Grundstein für die spätere preußische Kriegsmarine.34

    1825 trat der Stettiner Wollmarkt ins Leben, der lange Jahre eine großeBedeutung für Norddeutschland besaß. 430 Produzenten beschickten ihndamals mit 10 000 Zentnern.35

    Erst mit dem Ausbau des Straßen- und Chausseenetzes in denJahren 1822 bis 1829, vor allem aber durch die Fertigstellung einerEisenbahnlinie nach Berlin im Jahre 1843, wurde das Stettiner Gewerbemit einer langsam wachsenden Konkurrenz, besonders seitens Berlins,vertraut. Die „große Industrie“ stand in den 50er Jahren noch in denersten Anfängen. Die Zurückdrängung der handwerklichen Produktiondurch die kapitalistische war selbst gegen Ende des 19. Jhs. hier noch nichtso weit wie im sonstigen Deutschland. Kapitalistische Unternehmungenwie Schiffbau-, Eisen- und Ziegelfabriken siedelten sich vorrangig an denOderufern an.

    Unter der Protektion der Hohenzollern hatte Stettin eine ausge-prägt kleinbürgerliche und provinzielle Entwicklung durchlaufen. „DerKleinbürger“, schreibt Engels 1847, wie auf die Stettiner Verhältnisse

  • 6 1 Graßmanns Leben

    zugeschnitten, „repräsentiert den binnenländischen und Küstenhandel,das Handwerk, die auf der Handarbeit beruhende Manufaktur – Er-werbszweige, die sich auf einem beschränkten Terrain bewegen, geringeKapitalien erfordern, diese Kapitalien langsam umschlagen und nur einelokale und schläfrige Konkurrenz erzeugen.“36

    Die politische Haltung des Kleinbürgers entsprach historisch seinenökonomischen Verhältnissen: „Die Kleinbürgerschaft . . . mit ihren klein-lichen Lokalinteressen . . . [brachte] es in ihrer glorreichsten Zeit, imspäten Mittelalter, nur zu lokalen Organisationen, lokalen Kämpfen undlokalen Fortschritten . . .“37. Es verwundert daher nicht, daß am Vorabendder bürgerlichen Revolution in Deutschland die Stettiner Bürger bei den1848 stattfindenden Wahlen zur preußischen Nationalversammlung fürkonservative Abgeordnete stimmten.38

    Dieser kleinbürgerliche Charakter der städtischen Verhältnisse unddie rückständige Wirtschaftsstruktur fanden ihren Niederschlag auch imAuftreten der Gymnasialintelligenz, stellte doch in der ersten Hälfte des19. Jhs. das Stettiner Gymnasium das ideologische, wissenschaftliche undkulturelle Zentrum Stettins dar. Hatte die Aufklärung erst gegen Endedes 18. Jhs. in Stettin Fuß fassen können, und sich in freimaurerischenund enzyklopädischen Bestrebungen artikuliert, so wurde die höhereLehrerschaft im Gefolge der kurz darauf hereinbrechenden Napoleo-nischen Fremdherrschaft und der Befreiungskriege von 1813 bis 1815um so stärker von der Woge des Nationalismus, der Ablehnung allesFranzösischen und der Rückbesinnung auf die deutsche Geschichte er-faßt. Bei der streng monarchischen Gesinnung der Schulbeamten konntesich diese Haltung nur in konservativer, höchstens aber liberaler Ge-stalt äußern. Gemeinsame Plattform der unterschiedlichen Bestrebungenwurde die Romantik, die unter den rückständigen, kleinbürgerlichen,ja patriarchalischen Stettiner Verhältnissen die unausbleibliche Tendenzzur politischen Reaktion und zum wissenschaftlichen Provinzialismushatte.

    Als aufkeimendes bürgerliches Krisenbewußtsein trug die Romantikdurch ihre konsequente, aber hoffnungslose Kritik sowohl an den be-stehenden feudalen als auch an den sich ankündigenden bürgerlichenVerhältnissen sowie durch ihre Hinwendung zu Altertum und Mittelaltergleichzeitig progressive und reaktionäre Züge.Erweckte die Romantik in ihrer Ambitendenz mit der Hinwendung zumMittelalter nationale Ideale und begeisterte sie das Volk für heroischeBefreiungstaten durch die Wiederentdeckung der Volksdichtung unddes Volksliedschaffens (Gebrüder Grimm, C. Brentano, E. M. Arndt,Th. Körner, H. v. Kleist u. v. a.), so brachte diese Orientierung am Mit-telalter gleichzeitig die Glorifizierung der „ausgeprägtesten Klassenherr-schaft der Junker und Pfaffen“39 mit sich. Letztere Tendenz wurde von der

  • 1.1 Zeitverhältnisse 7

    Abb. 4. Carl Loewe (1796–1869)

    Carl Loewe (1796–1869), der bedeutende Balladenkomponist, wird als einer derletzten großen Meister der Neuromantik in der Musik gewürdigt.40

    Als zwölftes Kind des Kantors Andreas Loewe wurde er am 30. November 1796in Löbejün (bei Halle) geboren. Er fiel bereits als Chorknabe in Köthen aufund besuchte das Gymnasium in Halle. 1817 wurde er Student der Theologie.Seine Bekanntschaft mit Weber in Dresden prägte seinen weiteren Lebensweg alsMusiker. 1820 kommt er als Musikdirektor nach Stettin. Dort wurde er zuerst inder Amtswohnung des Justus Graßmann im alten Gymnasium untergebracht.In den freien Abendstunden fand er liebevolle Aufnahme im Kreise der FamilieGraßmann.41

    Enge Freundschaft verband ihn mit Justus Graßmann und dem ProfessorGiesebrecht (alle drei gehörten der Stettiner Freimaurerloge an, in deren DienstCarl Loewe viele öffentliche Musikvorführungen gab). Gemeinsam mit JustusGraßmann führte er Studien zur Astronomie und Akustik durch. HermannGraßmann lernte bei ihm das Klavierspiel und den Generalbaß42.Er selbst berichtet über sein Verhältnis zu J. Graßmann: „Am 29. Mai Abendswar Polterabend bei Professor Graßmann, einem gelehrten und hochgebildetenManne. Seit meinem Hiersein sind wir unzertrennliche Freunde, durch eineMenge von Berührungspunkten, in jedem Momente zur Unterhaltung gesinnt.– An seinen physikalischen Vorlesungen nehmen viele gebildete Männer derStadt, auch Damen zahlreichen Antheil. Bei der Lehre vom Schall erfuhr ichNeues . . .“.43

  • 8 1 Graßmanns Leben

    feudalen Reaktion aufgegriffen und zur romantischen Staatstheorie, umderen Realisierung sich insbesondere Friedrich Wilhelm IV. „bemühte“,weiterentwickelt.Der Religion wurde wieder die ganze Aufmerksamkeit zugewandt. ImZusammenhang mit einem abstrakten Philantropismus, der in Armen-,Wohltätigkeits- und Bürgerrettungsvereinen Betätigung suchte, gewannsie bedeutend an Boden. Auch die Freimaurerloge, die sich von 35 Mitglie-dern im Jahre 1798 auf 117 Mitglieder im Jahre 1818 stark vergrößerte44

    und in der sich alle wissenschaftlichen und kulturellen Köpfe, die in Stet-tin einen Namen hatten, trafen, unterlag diesen Tendenzen. Neben demliberalen Justus Graßmann, wurden hier H. Hering und C. G. Scheibert,zwei konservative Anhänger der Hohenzollern, Meister vom Stuhle.

    Musikalisch etablierte sich die Romantik mit dem 1820 nach Stettinübersiedelnden Komponisten Carl Loewe. Künstlerische und historischeVereine erlebten eine Blüte.45

    Das Gymnasium, das noch lange Zeit akademische Züge behielt – sowurden zum Beispiel in der Prima fakultative Vorlesungen für Mediziner,Juristen, Philologen u. a. gehalten46 –, brachte es in lokaler Abgeschie-denheit zu einem wissenschaftlichen Aufschwung, der jedoch kaum ausden Mauern der Stadt herausdrang. Sieht man von den romantischenBestrebungen ab, so ist eine gemeinsame religiöse oder philosophischeGrundhaltung der Gymnasiallehrer nicht nachzuweisen. Vertreter derverschiedensten philosophischen Richtungen – von Platon über Ari-stoteles, Kant, Fichte, Hegel, Spinoza bis hin zu Schleiermacher47 –traten nebeneinander auf. Neben Hermann Graßmann, dem PhysikerRudolf Clausius und dem Dichter Robert Prutz gingen aus dem StettinerGymnasium während dieser seiner markantesten Entwicklungsetappevor allem konservative Politiker wie die Minister v. Hertzberg, v. Raumerund Graf Schwerin, die 1848/49 aktiv gegen die Revolution auftraten,weiterhin die Präsidenten des Preußischen Abgeordnetenhauses und desDeutschen Reichstages v. Levetzow und v. Köller, ebenfalls Konservative,u. v. a. hervor.48

    Mit der Entwicklung der Verkehrsverbindungen nach Berlin unddem Erstarken des Kapitalismus nach der 48er Revolution verlor dasGymnasium zunehmend an Bedeutung und Profil.

    Die eingangs erwähnte enge Bindung Graßmanns an Stettin liefert imKontext der oben skizzierten ökonomischen und ideologischen Zuständeden Schlüssel zum Verständnis wesentlicher Züge seiner weltanschauli-chen und politischen Haltung. Hatten sich andere in Pommern gebürtigeprogressive Persönlichkeiten wie der revolutionär-demokratische Dichterund Literaturhistoriker Robert Eduard Prutz (1816–1872), der PhysikerRudolf Clausius (1822–1888) und der Mediziner Rudolf Ludwig Virchow(1821–1902) später weitgehend von diesen rückständigen Verhältnissen

  • 1.2 Familientraditionen und Elternhaus 9

    H. Müller zur Eigentümlichkeit der wissenschaftlichen Blüte Stettins im zweitenDrittel des 19. Jahrhunderts

    „Stettin, zwar erster Platz für den deutschen Ostseehandel, nebenbei Sitz vonallerhand Provinzialbehörden und garnisonreiche Festung, bot eigentlich wenigRaum für die Entwicklung einer wissenschaftlichen Atmosphäre . . . und soverhallte gar manches in den beschaulichen Bürgerkreisen, anderes zerschellte anden dicken Mauern der Stadt oder konnte die hohen Wälle nicht übersteigen. . . ..

    Zum Ersatz aber streute ein gütiger Genius seine Gabe um so herrlicher aufdie Häupter einzelner Männer, die zum Teil, wie Robert Prutz, allenthalbenin Deutschland Beachtung und Anerkennung fanden, zum größeren Teil frei-lich von der Menge übersehen wurden, obwohl sie durch die ihnen und ihrenWerken innewohnende Idealität, sittliche Lauterkeit und Tiefe der Gedankenzum Besten unseres Volkes zu zählen sind. Erheben uns doch heute noch dieDichtungen eines Ludwig Giesebrecht . . . die Balladenkompositionen eines KarlLöwe, . . . die Quartette eines Ferd. Oelschläger . . . In die Reihe dieser geistigenKoryphäen jener klassischen Epoche Stettins gehören noch der Dichter Kugler,der Historiker Schmidt, Martin Plüggemann, den Wagner als den bedeutendstenSchüler Löwes bezeichnet, der originelle Pädagoge Calo, wie nicht zuletzt der alsMathematiker und Sanskritforscher gleich ausgezeichnete Hermann Graßmann.

    Sie alle und ihrer noch viele dazu sammelten sich in dem Bruderkreis der ‚Loge zuden 3 Zirkeln‘, entwickelten dort ihre hohe Originalität, bleiben aber freilich auchan diesen kleinen Raum gebannt, da sie weder dem Einflusse fremder Geistesrich-tung, noch demjenigen des umgebenden Lebens große Zugeständnisse machten.Sie alle aber standen mehr oder weniger den gleichzeitigen Bestrebungen imübrigen Deutschland fern und sind daher nicht annähernd so gekannt, wie esnach ihrer geistigen Bedeutung zu erwarten wäre.“49

    gelöst, so blieb Graßmann unter ihrem ständigen Einfluß. Seine Größeund seine Grenzen sind daher auch mit an diesen Verhältnissen zu messen.

    1.2 Familientraditionen und Elternhaus

    Hermann Günther Graßmann (1809–1877) war Abkomme einer altenprotestantischen Pastorenfamilie. Dies war von nachhaltiger Bedeutungfür den ganzen Entwicklungsweg Graßmanns.50

    Nicht rein zufällig traten die ersten wissenschaftlichen Interessen indieser seit Jahrhunderten fest im rückständigen Pommern verwurzeltenFamilie in der Mitte des 18. Jhs. auf. Es läßt sich dem Einfluß desPietismus und der deutschen Aufklärungsphilosophie zuschreiben, daßgerade mit Gottfried Ludolf Graßmann (1738–1798), dem GroßvaterHermann Graßmanns, ein Theologe die Familienszene betrat, der fürwissenschaftliche Arbeiten überaus aufgeschlossen war.

    Mit diesem Mann, der für seine Zeit maßgeblich zur Entwicklungder Agrarwissenschaften beitrug, setzte jene Tendenz der zunehmenden

  • 10 1 Graßmanns Leben

    Abb. 5. Gottfried Ludolf Graßmann (1733–1798), derGroßvater Hermann Graßmanns

    Loslösung von der Theologie und der Hinwendung zur Wissenschaft ein,welche sich bei den nachfolgenden Generationen der Graßmanns ihrenwidersprüchlichen Weg bahnte.

    Gottfried Ludolf Graßmann, der am 3. April 1738 in Landsberg a. d.Warthe geboren wurde, verlor früh seinen Vater und mußte von Kindheitan der alleinstehenden Mutter in der Landwirtschaft zur Hand gehen.Erst in Alter von 22 Jahren, nachdem er die nötigen finanziellen Mitteldurch Chorsingen aufgebracht hatte, konnte er ein Theologiestudiuman der Universität in Halle aufnehmen. Die Bedeutung des dreijährigenAufenthaltes an dieser Stätte ist nicht hoch genug einzuschätzen, wennman bedenkt, daß die Hallenser Universität seit ihrer Gründung imJahre 1694 die Hochburg der deutschen Aufklärung und des Pietismusin Deutschland war. August Hermann Francke, Christian Wolff undSigmund Jakob Baumgarten, um nur einige zu nennen, hatten hier einaufgeklärteres und freieres Religions- und Weltverständnis gegenüber derlutherischen Orthodoxie behauptet.

    Im Pietismus, als einer dem Weltverständnis des aufstrebenden deut-schen Bürgertums zusagenden Religionsform, die nicht mehr nur aufein himmlisches, sondern auch und in erster Linie auf ein irdisches Ziel

  • 1.2 Familientraditionen und Elternhaus 11

    orientierte, fand G. L. Graßmann eine Weltanschauung, die die Basis fürseine späteren landwirtschaftspraktischen und -theoretischen, wie auchfür seine seelsorgerischen Arbeiten abgab.

    Nach Abschluß des Studiums kehrte er nach Pommern, in dem dielutherische Orthodoxie noch vorherrschend war, zurück und übernahm1766 eine Landpfarre. Er gewann die Zuneigung seiner dörflichen Ge-meinde in einer Weise, die ihn bewog, trotz mehrfacher günstiger Gele-genheiten, nie einen anderen Wirkungskreis zu suchen.

    „Jeder der ihn kannte, liebte ihn wegen seines gegen Jedermannfreundlichen und gefälligen Betragens, und vorzüglich, wegen seiner ihmnatürlichen Herzensgüte“, beschreibt ihn Robert Graßmann 1876. „Erwar ein wahrer Verehrer der Religion, deren Diener er war und, wenn ervon ihr sprach, belebte ein sanftes Feuer sein ganzes Wesen; weshalb, undfast noch mehr wegen seines herablassenden, und Jedem verständlichenVortrages, er in der ganzen Gegend beliebt war. . . . Als man ihm dieSeparation seines Ackers anbot, die unstreitig sehr vorteilhaft für ihngewesen seyn würde, lehnte er sie bloß aus der Ursache ab, weil er

    Abb. 6. Preisschrift Gottfried Ludolf Graßmanns von 1776