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  • »Dies ist eine zusammenfassende historische Darstellung dervon der lateinischen Kultur des Mittelalters vom 6. bis zum15. Jahrhundert erarbeiteten ästhetischen Theorien«, so derAutor. Darüber hinaus spürt das Buch hinter den philosophi-schen Diskursen und Traktaten die reiche Geschichten- undBilderwelt auf und findet dahinter wiederum die theologischeLehre und die philosophischen Maximen der Scholastik, diereligiösen Anschauungen und die Denkweisen der mittelalter-lichen Menschen. Es entsteht ein überraschend lebendiges undeindrückliches Bild von der uns Nachgeborenen oft so fremd,widersprüchlich und naiv erscheinenden Kultur und Vorstel-lungswelt des Mittelalters.

    Umberto Eco, geb. 1932 in Alessandria, ist Professor für Semio-tik an der Universität Bologna. Von seinen wissenschaftlichenWerken sind u. a. auf deutsch erschienen: >Das offene Kunst-werk< (1978); >Lector in fabula< (dtv 4531); >Die Grenzen derInterpretation< (dtv 4644); >Zwischen Autor und Texte< (dtv4682); >Einführung in die Semiotik> (7. Aufl. 1991); >Zeichen.Einführung in einen philosophischen Begriff< (1977); >Semiotikund Philosophie der Sprache< (1985) — außerdem seine großenRomane >Der Name der RoseDas Foucaultsche Pendel< und>Die Insel des vorigen Tages< sowie mehrere Bände mit Essaysund Betrachtungen.

  • Umberto Eco

    Kunst und Schönheitim Mittelalter

    Deutscher Taschenbuch Verlag

  • Die Originalausgabe erschien 1987 unter dem Titel>Arte e bellezza nell'estetica medievale< bei Bompiani, Mailand.

    Aus dem Italienischen übersetzt von Günter Memmert.

    August 19937. Auflage April 2007

    Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, Münchenwww.dtv.de

    Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.Sämtliche, auch auszugsweise Verwertungen bleiben vorbehalten.

    für die deutsche Ausgabe: Carl Hanser Verlag, München,Wien 1991

    ISBN 3-446-15310-1Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen

    Umschlagbild: Ausschnitt des Gemäldes >Lukas-Madonna<von Rogier van der Weyden (1400-1464)

    Druck und Bindung: Druckerei C. H. Beck, NördlingenGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

    Printed in Germany • ISBN 978-3-423-30128-2

  • Inhalt

    1 Einleitung 9

    2 Die ästhetische Sensibilität im Mittelalter

    2.1 Die ästhetischen Interessen des Mittelalters 162.2 Die Mystiker 192.3 Die Sammelleidenschaft 272.4 Nützlichkeit und Schönheit 32

    3 Das Schöne als Transzendentalium

    3.1 Die ästhetische Betrachtungsweise der Welt 343.2 Die Transzendentalien. Philipp der Kanzler 373.3 Die Kommentare zum Pseudo-Dionysius Areopagita 393.4 Wilhelm von Auvergne und Robert Grosseteste 413.5 Die »Summa fratris Alexandri« und Bonaventura 423.6 Albertus Magnus 45

    4 Die Ästhetiken der Proportion

    4.1 Die antike Tradition 494.2 Die Musikästhetik 514.3 Die Schule von Chartres 554.4 Der »homo quadratus« 584.5 Die Proportion als Kunstregel 60

    5 Die Ästhetiken des Lichtes

    5.1 Die Freude an Farbe und Licht 675.2 Optik und Perspektive 72

  • 5.3 Die Metaphysik des Lichtes: Grosseteste 745.4 Bonaventura 76

    6 Symbol und Allegorie

    6.1 Das symbolische Universum 796.2 Die Nichtunterscheidung zwischen Symbolik

    und Allegorik 856.3 Die metaphysische Pansemiosis 886.4 Die biblische Allegorik 926.5 Dieenzyklopädische Allegorik 976.6 Die universelle Allegorik 1026.7 Die :künstlerische Allegorik 1046.8 Thomas von Aquin und die Auflösung des

    allegorischen Universums 109

    7 Psychologie und Erkenntnistheorie derästhetischen Betrachtungsweise

    7.1 Subjekt und Objekt 1167.2 Die ästhetische Emotion 1177.3 Psychologie des Sehens 1207.4 Das ästhetische Betrachten bei Thomas von Aquin 122

    8 Thomas von Aquin und die Ästhetikdes Organismus

    8.1 Form und Substanz 1288.2 »Prcaportio« und »Integritas« 1308.3 »Claritas« 137

    9 Entwicklungen und Krise einer Asthetikdes Organismus

    9.1 Ulrich von Straßburg, Bonaventura und Lullus 1409.2 Duns Scotus, Ockham und das Individuum 1429.3 Die deutschen Mystiker 147

  • 10 Theorie der Kunst

    10.1 Die Theorie der »ars« 150

    10.2 Ontologie der künstlerischen Form 153

    10.3 Freie und dienende Künste 156

    10.4 Die schönen Künste 15810.5 Die Poetiken 162

    11 Die Erfindung in der Kunst und die Würdedes Künstlers

    11.1 Die »infima doctrina« 16511.2 Der »poeta theologus« 16711.3 Die Vorbild Vorstellung 16811.4 Intuition und Gefühl 17311.5 Die neue Würde der Kunst 17611.6 Dante und die neue Auffassung vom Dichter 179

    12 Nach der Scholastik

    12.1 Der Praxis-Dualismus des Mittelalters 18712.2 Die Strukturen des mittelalterlichen Denkens 18912.3 Die Ästhetik des Nikolaus von Kues 19512.4 Der neuplatonische Hermetismus 20112.5 Astrologie versus Vorsehung 20712.6 Sympathie versus »proportio« 20912.7 Talisman versus Gebet 21312.8 Die Ästhetik als Lebensnorm 21512.9 Der Künstler und die neue Interpretation der

    Texte und der Welt 21812.10 Zum Abschluß 220

    Anmerkungen 225Bibliographie 232

  • Einleitung

    Dies ist eine zusammenfassende historische Darstellung der vonder lateinischen Kultur des Mittelalters vom 6. bis zum i 5. Jahr-hundert erarbeiteten ästhetischen Theorien. Freilich bedürfendie in dieser Feststellung verwendeten Begriffe erst einer Defini-

    tion.

    Zusammenfassende Darstellung. Es soll hier nichts Neues ent-deckt, sondern versucht werden, frühere Untersuchungen — zudenen auch die des Verfassers über das ästhetische Problem beiThomas von Aquin (1956) gehört — zusammenzufassen und inein System zu bringen. Ich hätte diese Arbeit nicht in Angriffnehmen können, wenn nicht 1946 zwei grundlegende Werkeerschienen wären, die Etudes d'esthétique médiévale von Edgardde Bruyne und die von D. H. Pouillon zusammengestellteSammlung von Texten über die Metaphysik des Schönen. Mankann wohl unbedenklich sagen, daß alles, was vor diesen beidenBüchern geschrieben wurde, unvollständig und alles nach ihnenGeschriebene von ihnen abhängig ist.'

    Da es sich um eine zusammenfassende Darstellung handelt,möchte dieses Buch auch jenen zugänglich sein, die keine Exper-ten für mittelalterliche Philosophie oder Geschichte der Ästhetiksind. Alle lateinischen Zitate — die sehr zahlreich sind — werdendeshalb entweder (wenn es sich um kurze handelt) sofort para-phrasiert, oder es folgt (wenn sie länger sind) die deutsche Über-setzung.

    Historisch. Es handelt sich um eine geschichtliche, nicht um einetheoretische Darstellung. Wie ich auch am Schluß darlege,möchte dieses Buch nicht einen philosophischen Beitrag zurgegenwärtigen Definition der Ästhetik, ihrer Probleme und Lö-

  • sungen leisten, sondern das Bild einer Epoche zeichnen. DiesePräzisierung würde genügen, wenn es sich hier um eine Ge-schichte der antiken oder der barocken Ästhetik handelte. Dajedoch die mittelalterliche Philosophie seit dem vergangenenJahrhundert Gegenstand einer Reaktualisierung gewesen ist, dieversuchte, sie als philosophia perennis darzustellen, muß jedeArbeit über sie stets die eigenen philosophischenGrundlagenklären. Damit es ganz klar ist: Diese Untersuchung der mittelal-terlichen Ästhetik strebt das gleiche Verständnis einer geschicht-lichen Epoche an, wie es eine Arbeit über die griechische oderbarocke .Ästhetik tun würde. Natürlich entscheidet man sich des-halb dafür, eine Epoche zu studieren, weil man sie für interessanthält und es der Mühe wert findet, sie besser verstehen zu wollen.

    Historische Darstellung der ästhetischen Theorien. Eben weil essich um eine historische Darstellung handelt, habe ich nicht dieAbsicht, in auch heute akzeptierbaren Begriffen wieder einmalzu definieren, was eine ästhetische Theorie ist. Es wird hier aus-gegangen von einer weiteren Auffassung des Begriffes, die alleFälle mit einschließt, in denen eine Theorie als Ästhetiktheorieauftrat oder anerkannt wurde. Als ästhetische Theorie werdenwir also jeden Diskurs bezeichnen, der sich einigermaßen syste-matisch und unter Verwendung philosophischer Begriffe mitPhänomenen befaßt, die in Zusammenhang stehen mit derSchönheit, der Kunst und den Bedingungen für das Hervorbrin-gen und Beurteilen von Kunstwerken, den Beziehungen zwi-schen Kunst und anderen Aktivitäten sowie zwischen Kunst undMoral, der Funktion des Künstlers, den Begriffen des Angeneh-men, des: Ornamentalen, des Stils, den Geschmacksurteilen wieauch der Kritik dieser Urteile und mit den Theorien und Prakti-ken der Interpretation von verbalen oder nichtverbalen Texten,also mit der hermeneutischen Frage — in Anbetracht dessen, daßdiese die aufgezählten Probleme auch dann betrifft, wenn siesich, wie das im Mittelalter besonders der Fall war, nicht alleinauf die sogenannten ästhetischen Phänomene bezieht.

    Anstatt von einer modernen Definition der Ästhetik auszuge-

    Z

  • gehen und dann zu prüfen, ob sie für eine vergangene Epocheanwendbar ist (was zu sehr schlechten Werken über die Ge-schichte der Ästhetik geführt hat), geht man besser von einermöglichst synkretistischen und toleranten Definition aus undsieht dann zu, wie weit man mit ihr kommt. Mit dieser Einstel-lung habe ich, wie schon andere vor mir, mich bemüht, soweitwie möglich die ausgeprägt theoretischen Arbeiten mit jenennTex-ten zusammenzusehen, die, obgleich sie ohne systematische In-tentionen geschrieben wurden (wie zum Beispiel die Beobach-tungen der Rhetorik Theoretiker, die Schriften der Mystiker, derKunstsammler, der Pädagogen, der Enzyklopädisten oder derInterpreten der Heiligen Schriften), die philosophischen Ideenihrer Zeit widerspiegeln oder beeinflussen. Und ich habe ver-sucht, in den Grenzen des Möglichen und ohne Anspruch aufVollständigkeit aus den Aspekten des Alltagslebens und der Ent-wicklung der künstlerischen Formen und Techniken die zu-grunde liegenden ästhetischen Vorstellungen zu extrapolieren.

    Lateinisches Mittelalter. Theoretische — philosophische odertheologische — Abhandlungen bedienen sich im Mittelalter desLateinischen; die mittelalterliche Scholastik spricht lateinisch.Stößt man auf theoretische Texte in den Volkssprachen, so befin -det man sich, unabhängig vom Datum, bereits weitgehend außer-halb des Mittelalters. Unsere Darstellung befaßt sich mit denvom lateinischen Mittelalter formulierten ästhetischen Konzep-tionen und berührt die Vorstellungen der Troubadour-Poesie,der Stilnovisten, Dantes (auch wenn bei Dante wichtige Ausnah-men gemacht wurden, insbesondere im letzten Kapitel) undnatürlich der auf ihn folgenden Schriftsteller höchstens am Rand.Hinzuweisen ist noch darauf, daß man in Italien die vor der Ent-deckung Amerikas lebenden Dichter Dante, Petrarca und Boc-caccio noch dem Mittelalter zuzurechnen pflegt, während mansie in vielen Ländern bereits dem Beginn der Renaissance zu-weist. Das wird wiederum dadurch ausgeglichen, daß diejenigen,für die Petrarca zur Renaissance gehört, beim burgundischen, flä-mischen und deutschen Quattrocento, also bei den Zeitgenossen

    m

  • von Pico della Mirandola, Leon Battista Alberti und .Aldo Manu-zio, vom Herbst des Mittelalters reden.

    Andrerseits läßt sich ebendieser Begriff »Mittelalter« nur sehrschwer definieren; und allein schon die eindeutige Etymologiedieses Wortes sagt uns, daß es erfunden wurde, um ein Jahrtau-send unterzubringen, von dem niemand recht wußte, wie es einzuordnen sei angesichts der Tatsache, daß es zwischen zwei »her-

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    vorragenden« Epochen lag, auf deren eine man bereits sehr stolzwar, während man der anderen mit großer Nostalgie gedachte.

    Zu den zahlreichen Vorwürfen, die man gegen diese identitäts-lose Epoche erhob (deren einzige Identität darin bestand, »in derMitte« zu sein), gehörte gerade auch der, sie habe der ästheti-schen Sensibilität ermangelt. Wir werden auf diesen Punkt jetztnicht eingehen, weil die folgenden Kapitel ebendiesen falschenEindruck korrigieren sollen — und das Schlußkapitel 'wird zeigen,daß sich etwa im i. Jahrhundert die ästhetische Sensibilitätbereits so radikal verändert hatte, daß der Vorhang, der überdie mittelalterliche Asthetik heruntergegangen war, wenn nichtgerechtfertigt, so doch erklärbar wird. Es gibt indes auch an-dere Gründe, weshalb der Begriff »Mittelalter« Schwierigkeitenmacht.

    Tatsächlich fällt es nicht leicht, so unterschiedliche Jahrhun-derte unter einem Etikett zusammenzufassen, nämlich einerseitsdie Zeit zwischen dem Fall des Römischen Reiches und demkarolingischen Wiederaufbau, in der Europa durch die schlimm-ste politische, religiöse, demographische, agrikulturelle, urbane,sprachliche Krise (die Liste ließe sich verlängern) seiner ganzenGeschichte geht, und andrerseits die Jahrhunderte der Wiederge-burt nach dem Jahr Tausend, in denen man die erste industrielleRevolution angesetzt hat, die Jahrhunderte, in denen die moder-nen Sprachen und Nationen entstehen, die kommunale Demo-kratie, die Bank, der Wechsel und die doppelte Buchführung, indenen das Transportwesen zu Land und zur See, die landwirt-schaftlichen und handwerklichen Techniken revolutioniert wur-den, in denen man den Kompaß, den Spitzbogen und zuletzt dasSchießpulver und den Buchdruck erfand. Es fällt schwer, eine

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  • Zeit als einheitliche Epoche zu sehen, in der die Araber Aristote-les übersetzen und sich mit Medizin und Astronomie befassen,während das Europa östlich von Spanien zwar die »barbari-schen« Jahrhunderte überwunden hat, aber auf die eigene Kulturnoch keineswegs stolz sein kann.

    Doch liegt die Schuld dafür, daß man zehn Jahrhunderte ohneRücksicht auf ihre Verschiedenheit in eine Schublade wirft, wohlauch ein bißchen an der mittelalterlichen Kultur selbst, die, nach-dem sie sich dafür entschieden hatte oder gezwungen sah, dasLateinische als lingua franca, den Bibeltext als grundlegendesBuch und die patristische Tradition als einziges Zeugnis der anti-ken Kultur zu erwählen, ständig Kommentare kommentiert undAutoritäten zitiert und dabei nie den Eindruck erweckt, sie habeetwas Neues zu sagen. Der Eindruck trügt, denn die mittelalter-liche Kultur bringt durchaus Neues hervor, wenngleich sie sichbemüht, es unter den Überresten der Wiederholung zu verstek-ken (im Gegensatz zur modernen Kultur, die auch dann vorgibt,Neues zu produzieren, wenn sie nur Altes wiederholt).

    Die mühsame Erfahrung, zu begreifen, wenn etwas Neuesgesagt wird — dort, wo das Mittelalter danach strebt, sich selbstdavon zu überzeugen, daß es lediglich bereits Gesagtes wieder-hole —, macht auch derjenige, der sich mit den ästhetischen Vor-stellungen dieser Zeit beschäftigt. Damit sie, wenigstens für denLeser, nicht zu mühsam wird, gliedert dieses Buch sich nichtnach einzelnen Autoren, sondern nach Problemen. Bei einerGliederung nach Autoren besteht die Gefahr, daß man den Ein-druck gewinnt, jeder Denker wiederhole, da er dieselben Terminiund Formulierungen wie seine Vorgänger benutzt, immer wiederdasselbe (und um zu begreifen, daß genau das Gegenteil der Fallist, müßte man je für sich die einzelnen Systeme rekonstruieren).Gliedert man hingegen nach Problemen, so ist es leichter, imRahmen eines raschen Durchgangs, dem für fast zehn Jahrhun-derte rund zweihundert Seiten zur Verfügung stehen, den Wegbestimmter Formulierungen zu verfolgen und zu entdecken, wiesie, häufig unmerklich, zuweilen aber sehr auffällig, einen Bedeu-tungswandel erfahren — wobei man schließlich erkennt, daß ein

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  • vielbenuitzter Ausdruck wie etwa Form anfänglich verwendetwurde, um das zu bezeichnen, was man an der Oberfläche sieht,während er zuletzt das bezeichnete, was sich in der Tiefe ver-birgt.

    Obwohl mir klar ist, daß bestimmte Probleme und Lösungenunverändert geblieben sind, habe ich es im allgemeinen vorgezo-gen, das CGewicht auf Entwicklung und Wandlung zu legen — mitdem Risiko, in jene Gewohnheit der Historiker (die zu kritisie-ren ich mir im folgenden erlauben werde) zu verfallen, die darinbesteht, daß man meint, das mittelalterliche Denken entwicklesich zu einem »Besseren« hin. Natürlich hat die mittelalterlicheÄsthetik einen Reifungsprozeß durchgemacht, denn sie begannmit ziemlich unkritischen Zitaten von mittelbar aus der antikenWelt empfangenen Vorstellungen und organisierte sich schließ-lich in jenen Meisterwerken systematischer Strenge, die die sum-mae des i3. Jahrhunderts darstellen. Doch wenn uns Isidor vonSevilla mit seinen fantastischen Etymologien zum Lächeln reizt,während Wilhelm von Ockham uns zwingt, ein dichtes Gedan-kengewebe aus formalen Subtilitäten zu interpretieren, die auchmoderne Logiker noch auf die Probe stellen, so heißt das nicht,daß Boethius weniger scharfsinnig ist als Duns Scotus, obwohl erdoch acht Jahrhunderte vor ihm gelebt hat.

    Die Geschichte, die ich jetzt nachzeichnen möchte, ist kom-plex; in ihr gibt es Kontinuität und Brüche. Sie ist weitgehendeine Geschichte der Kontinuität, denn zweifellos war das Mittel-alter eine Zeit der Autoren, die sich einer nach dem anderenkopierten, ohne sich zu zitieren, auch deshalb, weil in einerKultur der Handschrift — wobei die Handschriften schwerzugänglich waren — das Kopieren die einzige Möglichkeit dar-stellte, Ideen zirkulieren zu lassen. Niemand hatte ein schlechtesGewissen; von Abschrift zu Abschrift wußte oft niemand mehr,wer wirklich der Urheber einer Formulierung war, und letztlichwar man der Meinung, eine Idee gehöre, wenn sie wahr sei, allen.

    Doch gibt es auch Knalleffekte in dieser Geschichte, wenn-gleich keine Paukenschläge wie das cogito des Descartes. Mari-tain zufolge war Descartes der erste Denker, der sich als »Debü-

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  • tant im Absoluten« vorstellt, und nach Descartes wird jeder Den-ker versuchen, seinerseits auf einer bisher nie betretenen Bühnezu debütieren. Im Mittelalter hatte man diesen Sinn für Theatra-lik nicht; man hielt Originalität für eine Sünde des Hochmuts(obwohl man andrerseits damals auch — nicht nur akademische —Risiken einging, um die offizielle Tradition in Frage zu stellen).Doch auch im Mittelalter war man fähig zu geistigen Aufschwün-gen und Geniestreichen.

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  • Die ästhetische Sensibilität im Mittelalter

    2.1 Die ästhetischen Interessen des Mittelalters

    Einen Großteil seiner ästhetischen Probleme hat das Mittelalteraus der klassischen Antike übernommen: Doch hat es diesenThemen durch Einfügung in die für das christliche Weltbild cha-rakteristische Gefühlslage im Blick auf Mensch, Welt und Gott-heit einen neuen Sinn gegeben. Es hat weitere Kategorien aus derbiblischen und patristischen Tradition abgeleitet, war aber be-strebt, sie in den von einem neuen systematischen Bewußtseingesetzten Rahmen einzufügen. Seine ästhetische Spekulation hates darum auf einer Ebene unleugbarer Originalität entwickelt.Freilich :könnte man Themen, Probleme und Lösungen auch alsnur kraft der Tradition übernommenen Vorrat von Wörtern auf-fassen, die im Geist von Autoren und Lesern keinen wirklichenWiderhall fanden. Im Grunde, so hat man gesagt, hat die Antikebeim Reden über ästhetische Probleme und beim Aufstellen vonKanons für das künstlerische Schaffen auf die Natur geblickt,während das Mittelalter bei der Behandlung dieser Themen aufdie Antike blickte: Und in gewisser Hinsicht ist die mittelalterli-che Kultur in der Tat eher ein Kommentar zur kulturellen Tradi-tion als eine Auseinandersetzung mit der Realität.

    Doch ist damit die kritische Einstellung des mittelalterlichenMenschen nur unvollständig beschrieben: Neben dem Kult derals Schatz von Wahrheit und Weisheit überlieferten Begriffe,neben einer Sehweise, die die Natur als Widerschein der Trans-zendenz, als Hindernis und Verzögerung betrachtet, gibt es inder Sensibilität dieser Zeit durchaus ein lebhaftes Interesse an dersinnlich wahrnehmbaren Realität in allen ihren Aspekten, ein-schließlich des Aspekts ihrer Genießbarkeit unter ästhetischenGesichtspunkten.

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  • Ist das Vorhandensein dieser spontanen Reaktionsfähigkeitgegenüber der Schönheit von Natur und Kunst (die zwar mög-licherweise von doktrinären Stimuli gespeist wird, aber bei trok-kenem Buchwissen nicht stehenbleibt) einmal erkannt, dannweiß man auch, daß der mittelalterliche Philosoph, wenn er vonSchönheit redet, nicht nur einen abstrakten Begriff meint, son-dern sich auf konkrete Erfahrungen bezieht.

    Zwar gibt es im Mittelalter ein Konzept von einer rein intelligi-blen Schönheit, einer moralischen Harmonie, einem metaphysi-schen Glanz, und wir können diese Sehweise nur verstehen,wenn wir sehr liebevoll in Mentalität und Sensibilität dieser Zeiteindringen. Curtius (1948, 12.3) schreibt:

    Wenn die Scholastik von Schönheit spricht, so ist damit ein AttributGottes gemeint. Schönheitsmetaphysik (z. B. bei Plotin) und Kunst-theorie haben nicht das Geringste miteinander zu tun. Der »moderne«Mensch überschätzt die Kunst maßlos, weil er den Sinn für die intelligi-ble Schönheit verloren hat, den der Neuplatonismus und das Mittelalterbesaß [...] Hier ist eine Schönheit gemeint, von der die Aesthetik nichtsweiß.

    Doch wäre es völlig falsch, wenn wir aufgrund solcher Feststel-lungen das Interesse an diesen Spekulationen verlieren würden.Denn erstens konstituierte auch die Erfahrung der intelligiblenSchönheit für den mittelalterlichen Menschen eine geistige undpsychologische Realität, und die Kultur dieser Zeit bliebe unge-nügend erhellt, wenn man diesen Faktor vernachlässigen würde;zweitens hat das Mittelalter, indem es das ästhetische Interesseauf den Bereich der nicht sinnlich wahrnehmbaren Schönheitausdehnte, zugleich, auf dem Weg der Analogie, mittels explizi-ter und impliziter Parallelen, eine Reihe von Ansichten über dassinnlich wahrnehmbare Schöne, die Schönheit der Natur- undKunstgegenstände erarbeitet. Der Bereich des ästhetischen Inter-esses war im Mittelalter umfassender als heute, und die Aufinerk-samkeit für die Schönheit der Dinge wurde häufig stimuliert voneinem Bewußtsein der Schönheit als einer metaphysischen Gege-benheit; dennoch gab es auch den kraftvoll den sinnlich erfaßba-

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  • ren Dingen zugewandten Geschmack des gemeinen Mannes, desKünstlers und des Liebhabers von Kunstgegenständen. Diesen invielfacher Weise dokumentierten Geschmack suchten die Lehr-systeme zu rechtfertigen und so zu lenken, daß die Aufmerksam-keit für das sinnlich Erfaßbare nie die Oberhand über das Strebennach dein Spirituellen bekam. Alkuin räumt ein, daß es leichterist, »diewohlgestalteten Gegenstände, das Süßschmeckende, denWohlklang« und so weiter zu lieben, als Gott zu lieben (siehe Derhetorica, in Halm 1 863, S. 550). Erfreuen wir uns dieser Dingeaber, um Gott besser zu lieben, dann können wir uns auch dieNeigung; zum amor ornamenti, zu prächtigen Gotteshäusern,zum schönen Gesang und zur schönen Musik erlauben.

    Die Ansicht, das Mittelalter habe das sinnlich erfaßbareSchöne moralistisch abgelehnt, verrät außer einer oberflächli-chen Kenntnis der Texte ein fundamentales Unverständnis dermittelalterlichen Mentalität. Sehr deutlich sieht man das an derEinstellung der Mystiker und der Rigoristen zur Schönheit.Moralisten und Asketen gehören überall auf der Welt gewiß nichtzu den Menschen, die unempfindlich gegenüber den irdischenFreuden sind: Vielmehr verspüren sie deren Reize intensiver alsandere, und gerade dieser Gegensatz zwischen der Empfänglich-keit für das Irdische und der Anspannung zum Übernatürlichenhin bildet die Grundlage für das Drama der asketischen Diszi-plin. Hat diese Disziplin dann ihr Ziel erreicht, so finden Mysti-ker und Asket im Frieden der unter Kontrolle gebrachten Sinnedie Möglichkeit, mit heiterem Blick die Dinge dieser Welt anzu-schauen: Und sie können sie nun mit einer Nachsicht schätzen,die sie irn Fieber des asketischen Kampfes nicht aufzubringenvermochten. Rigorismus und Mystik des Mittelalters liefern unszahlreiche Beispiele für diese beiden Einstellungen und damiteine Reihe höchst interessanter Dokumente über die damaligeästhetische Sensibilität.

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  • 2.2 Die Mystiker

    Bekannt ist die Polemik, die Zisterzienser und Kartäuser insbe-sondere im 12. Jahrhundert gegen den Luxus und die Verwen-dung figurativer Mittel beim Ausschmücken der Kirchen führ-ten: Seide, Gold, Silber, farbiges Glas, Skulpturen, Malereienund Teppiche werden in der Satzung der Zisterzienser strenggeächtet (Guigo, Annales, Pl i S 3, c. 65 5 ff.). Bernhard von Clair-vaux, Alexander Neckam, Hugo von Fouilloi wettern gegendiese superfluitates, die die Gläubigen von der Frömmigkeit undder Konzentration im Gebet ablenken. Doch wird bei allen die-sen Verurteilungen niemals abgestritten, daß Ausschmückungenschön und angenehm sind: Man bekämpft sie vielmehr geradedeshalb, weil man sich über ihren unüberwindlichen, mit den Er-fordernissen des heiligen Ortes unvereinbaren Reiz im klaren ist.

    Hugo von Fouilloi spricht in diesem Zusammenhang von miraet perversa delectatio, also von einem wunderbaren und perver-sen Vergnügen. Das perverso hat, wie bei allen Rigoristen, mora-lische und soziale Gründe: Man sah nicht ein, weshalb eine Kir-che üppig ausgestattet sein sollte, wenn die Kinder Gottes imMangel lebten. Das mira aber offenbart eine unbezweifelte Aner-kennung der ästhetischen Qualitäten der Ausschmückungen.

    Bernhard bestätigt diese auf die Schönheiten der Welt insge-samt ausgedehnte Einstellung, als er erklärt, worauf die Möncheverzichtet haben, als sie der Welt entsagten:

    Nos vero qui iam de populo exivimus, qui mundi quaeque pretiosa acspeciosa pro Christo reliquimus, qui omniapulchre lucentia, canore mul-centia, suave olentia, dulce sapientia, tactu placentia, cuncta deniqueoblectamenta corporea arbitrati sumus ut stercora ..

    Wir Mönche, die wir nunmehr aus dem Volk herausgetreten sind, wir,die wir um Christi willen alle wertvollen und schönen Dinge der Weltaufgegeben haben, wir, die wir alle die Dinge, die in Schönheit glänzen,die das Ohr mit der Süße der Töne liebkosen, die duften, die angenehmschmecken, die dem Tastsinn wohltun, also alle, die dem Leib schmei-cheln, gleich Kot geachtet haben...(Apologia ad Guillelmum abbatem, PL 182, c. 9I4 - 9I 5)

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  • Unüberhörbar ist hier — gerade in der eifernden und herabsetzen-den Ablehnung — ein starkes Hingezogenwerden zu den abge-lehnten Dingen und auch ein Unterton des Bedauerns. Dochfindet man in derselben Apologia ad Guillelmum eine andereStelle, ar.L der die ästhetische Sensibilität noch besser ausgeprägtist. Bernhard wendet sich gegen die zu großen und zu sehr mitSkulpturen ausgeschmückten Gotteshäuser und liefert, indem erdies tut, eine Beschreibung der Kirche im Stil der Cluniazenserund der romanischen Skulptur, die ein Muster an beschreibenderKritik ist; in der Darstellung dessen, was er verurteilt, offenbarter, wie paradox die Ablehnung bei diesem Autor ist, der dieDinge, die er nicht sehen wollte, mit so großer Subtilität analysie-ren konnte. Zuerst richtet sich seine Polemik gegen die übermä-ßige Größe der Bauten:

    Omitto oratoriorum immensas altitudines, immoderatas longitudines,supervacs:as latitudines, somptuosas depolitiones, curiosas depictionesquae dum, orantium in se retorquent aspectun, impediunt et affectum, etmihi quodammodo repraesentant antiquum ritum Iudaeorum.

    Ich will gar nicht reden von der gewaltigen Höhe der Oratorien, ihrermaßlosen Länge, ihrer unverhältnismäßigen Breite, von der prächtigenPolitur und den Malereien, die den Blick der Betenden auf sich ziehen,die fromme Hingabe stören und in gewisser Weise an den Ritus derJuden erinnern.(PL 182, C. 914)

    Sollten diese Schätze etwa den Zweck haben, weitere anzuzie-hen und den Zufluß von Geschenken an die Kirchen zu för-dern?

    Auro tectis reliquiis signantur oculi, et loculi aperiuntur. Ostenditurpul-cherrima forma sancti vel sanctae alicuius, et eo creditur sanctior, quocoloratior.

    Die Augen werden geblendet von den vergoldeten Reliquien, unddie Geldbeutel gehen auf. Man stellt wunderschöne Bilder eines heili-gen Mannes oder einer heiligen Frau zur Schau, und je kräftiger dieFarben dieser Bildwerke sind, für desto heiliger hält man die Darge-stellten.(PL 18 2, c.. 915)

    wo

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