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Sicut ,!iiiil|tr .lciliiiici WOCHENENDE Samstag/Sonntag, 2I./22. Mai 1983 Nr. 117 73 Blick vom 17. Stockwerk über das Hirzenbach-Quartier in Richtung Westen. Zürich und seine Quartiere XIV (Schluss) Schwamendingen: aus der (Wohnungs -)Not geboren Von Nikolaus Wyss (Text) und Dorothee Hess (Fotos) Wer von sich sagen kann, er wohne an der Restelbergstrasse oder in Zollikon, darf mit einer gewissen Anerkennung rechnen, welchen Geschäften er auch immer nachgehen mag. Sein Wohn- ort verleiht ihm hohes Sozialprestige. Verrät er ihn einer bunt zusammengewürfelten Gruppe, tut er sogar gut daran, seine Mit- teilung mit einem neidvermeidenden Einschub zu versehen, in- dem er zum Beispiel den Lärm an seiner Strasse erwähnt oder die bösen Nachbarn oder dass er «nicht zu den ganz Gestopf- ten» gehöre. Wer hingegen von sich sagt, er wohne in Schwa- mendingen, befindet sich in einer gänzlich anderen Lage. Er hat mit abfälligen oder mitleidigen Kommentaren zu rechnen, und je nachdem, wie er selber zu seinem Wohnort steht, gerät er ent- weder in eine Verteidigungsposition, indem er Vorzüge seines Quartiers aufzuzählen versucht, oder er bestätigt unter dem Hin- weis, keine andere Wohnmöglichkeit gefunden zu haben, die Würdelosigkeit dieser Wohnlage. Schwamendingen figuriert auf der Prestigeskala der Zürcher Stadtkreise ganz am Schluss: der Kreis 12 ist der letzte! Mit der Realität haben diese Einschätzungen höchstens am Rande zu tun; gleichwohl existieren sie, werden als Mythos täg- lich reproduziert und bestimmen so das Selbstgefühl der Ein- wohner. Wie klingt zum Beispiel die Schlagzeile «Mord in Schwamendingen» im Vergleich zu «Mord am Zürichberg»? Nehmen wir die erste Ueberschrift emotional nicht gelassener und selbstverständlicher hin als die zweite, bei der in uns viel- leicht noch etwas Sensationslust mitschwingt? Sensationelles aber ereignet sich nur dort, wo Ueberrascmjng und Unerwartetes im Spiel sind: Wir nehmen a priori nicht an, dass zum Alltag des Zürichbergs Mord zähle; gleichzeitig ertappen wir uns aber da- bei, mit welcher Gleichgültigkeit wir solche Geschehnisse aus der Vorstadt wahrnehmen. Wohl nicht zuletzt deshalb, weil wir sie ihr zutrauen. Tummelplatz genossenschaftlichen Bauwesens Schwamendingens schlechtes Prestige fusst vermutlich auf ei- nem sozialen Vorgang, der zwar seit gut zwanzig Jahren abge- schlossen ist, damals aber, in den 50er Jahren, viel zu reden gab und noch heute seine Auswirkungen zeitigt. In Zürich machte nämlich der arrogante Spruch die Runde, in Schwamendingen sammle sich der Triebsand der Schweiz. Gemeint waren die vie- len Arbeiter und kleinen Angestellten, die von überall her in den soeben fertig erstellten Häusern Einzug hielten. Die meisten die- ser Wohungen waren zwischen 1945 und 1960 entstanden auf Grund baugenossenschaftlicher Initiativen und wurden mit städ- tischen Geldern subventioniert. Sie waren für elrikorhiWens- schwächere Bevölkerungsschichten bestimmt, für die in Zürich zwar Arbeitsplätze vorhanden, aber vordem keine Wohnungen zu finden waren. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg nämlich war der private Wohnungsbau fast vollständig zum Erliegen gekom- men. Baustoffe wie Zement und Eisen waren so teuer, dass es vielen privaten Bauherren unattraktiv erschien, sich im Woh- nungsbau zu engagieren. Es waren Gewerkschaften und in der Arbeiterbewegung verwurzelte Sozialdemokraten, die sich zu verschiedenen Baugenossenschaften zusammenschlossen, um An der Herzogenmühlestrasse konnte sich ein Acker gegen den Bauboom behaupten. Neue Zürcher Zeitung vom 21.05.1983

vom das Schwamendingen: aus der (Wohnungs-)Not geboren...die bösen Nachbarn oder dass er «nicht zu den ganz Gestopf-ten» gehöre. Wer hingegen von sich sagt, er wohne in Schwa-mendingen,

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Page 1: vom das Schwamendingen: aus der (Wohnungs-)Not geboren...die bösen Nachbarn oder dass er «nicht zu den ganz Gestopf-ten» gehöre. Wer hingegen von sich sagt, er wohne in Schwa-mendingen,

Sicut ,!iiiil|tr.lciliiiici WOCHENENDE Samstag/Sonntag, 2I./22. Mai 1983 Nr. 117 73

Blick vom 17. Stockwerk über das Hirzenbach-Quartier in Richtung Westen.

Zürich und seine Quartiere XIV (Schluss)

Schwamendingen: aus der (Wohnungs -)Not geborenVon Nikolaus Wyss (Text) und Dorothee Hess (Fotos)

Wer von sich sagen kann, er wohne an der Restelbergstrasse

oder in Zollikon, darf mit einer gewissen Anerkennung rechnen,

welchen Geschäften er auch immer nachgehen mag. Sein Wohn-ort verleiht ihm hohes Sozialprestige. Verrät er ihn einer buntzusammengewürfelten Gruppe, tut er sogar gut daran, seine Mit-teilung mit einem neidvermeidenden Einschub zu versehen, in-dem er zum Beispiel den Lärm an seiner Strasse erwähnt oderdie bösen Nachbarn oder dass er «nicht zu den ganz Gestopf-

ten» gehöre. Wer hingegen von sich sagt, er wohne in Schwa-mendingen, befindet sich in einer gänzlich anderen Lage. Er hatmit abfälligen oder mitleidigen Kommentaren zu rechnen, undje nachdem, wie er selber zu seinem Wohnort steht, gerät er ent-weder in eine Verteidigungsposition, indem er Vorzüge seines

Quartiers aufzuzählen versucht, oder er bestätigt unter dem Hin-weis, keine andere Wohnmöglichkeit gefunden zu haben, dieWürdelosigkeit dieser Wohnlage. Schwamendingen figuriert aufder Prestigeskala der Zürcher Stadtkreise ganz am Schluss: derKreis 12 ist der letzte!

Mit der Realität haben diese Einschätzungen höchstens amRande zu tun; gleichwohl existieren sie, werden als Mythos täg-

lich reproduziert und bestimmen so das Selbstgefühl der Ein-wohner. Wie klingt zum Beispiel die Schlagzeile «Mord inSchwamendingen» im Vergleich zu «Mord am Zürichberg»?

Nehmen wir die erste Ueberschrift emotional nicht gelassener

und selbstverständlicher hin als die zweite, bei der in uns viel-leicht noch etwas Sensationslust mitschwingt? Sensationellesaber ereignet sich nur dort, wo Ueberrascmjng und Unerwartetesim Spiel sind: Wir nehmen a priori nicht an, dass zum Alltag desZürichbergs Mord zähle; gleichzeitig ertappen wir uns aber da-bei, mit welcher Gleichgültigkeit wir solche Geschehnisse ausder Vorstadt wahrnehmen. Wohl nicht zuletzt deshalb, weil wirsie ihr zutrauen.

Tummelplatz genossenschaftlichen BauwesensSchwamendingens schlechtes Prestige fusst vermutlich auf ei-

nem sozialen Vorgang, der zwar seit gut zwanzig Jahren abge-

schlossen ist, damals aber, in den 50er Jahren, viel zu reden gab

und noch heute seine Auswirkungen zeitigt. In Zürich machtenämlich der arrogante Spruch die Runde, in Schwamendingen

sammle sich der Triebsand der Schweiz. Gemeint waren die vie-len Arbeiter und kleinen Angestellten, die von überall her in densoeben fertig erstellten Häusern Einzug hielten. Die meisten die-ser Wohungen waren zwischen 1945 und 1960 entstanden aufGrund baugenossenschaftlicher Initiativen und wurden mit städ-tischen Geldern subventioniert. Sie waren für elrikorhiWens-schwächere Bevölkerungsschichten bestimmt, für die in Zürichzwar Arbeitsplätze vorhanden, aber vordem keine Wohnungen

zu finden waren. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg nämlich warder private Wohnungsbau fast vollständig zum Erliegen gekom-

men. Baustoffe wie Zement und Eisen waren so teuer, dass esvielen privaten Bauherren unattraktiv erschien, sich im Woh-nungsbau zu engagieren. Es waren Gewerkschaften und in derArbeiterbewegung verwurzelte Sozialdemokraten, die sich zuverschiedenen Baugenossenschaften zusammenschlossen, um

An der Herzogenmühlestrasse konnte sich ein Acker gegen den Bauboom behaupten.

Neue Zürcher Zeitung vom 21.05.1983

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74 Samitag/Sonntag, 2I./22. Mai 1983 Nr. 117 WOCHENENDE 9!ciic.3iiirf|ti\.tolitii!!

zunächst für ihre Genossen und Arbeitskollegen, spüter für allein ähnlichen Einkommensverhältnissen, die Wohnungsnot zulindern. Günstige öffentliche Gelder standen i h n en dabei zurVerfügung.

Schwamendingen verfügte damals, wie die anderen Stadt-randgebiete, zum Beispiel Seebach, Neu-Affoltern, Albisriedenund Altstetten, noch über grosse Landreserven. Diese f r e i en Flä-chen waren aus der Sicht der sich ausdehnenden Stadt auch derGrund, weshalb diese ehemals selbständigen Gemeinden 1934zur Stadt geschlagen werden sollten. Aber in keinem anderenStadtteil blühte der soziale Wohnungsbau so stark und so aus-schliesslich wie in jenen Nachkriegsjahren in Schwamendingen.

Die Veränderungen waren denn auch für jeden sichtbar, der mitdem A u to von Zürich nach Winterthur fuhr. War aber nichtgerade das A u to zu jener Zeit gutverdienenden Schichten vorbe-halten? Dieser Umstand verstärkte die Distanz zu den Siedlun-gen am Stadtrand draussen, welche von Menschen bewohntwurden, die sich noch kein A u to leisten konnten.

Aus der Sicht der jungen Siedler jedoch waren die Überbau-ungen Manifestationen genossenschaftlichen Pioniergeistes,

Ausdruck dafür, dass man mit Zähigkeit, Willen und gemein-

schaftlichem Bestreben etwas zustande gebracht hatte. Denn dieindividuellen Voraussetzungen jedes Einzelnen waren ja denk-bar schlecht: Viele von ihnen waren in den Krisenjahren aufge-wachsen, konnten oft nicht das lernen, wozu sie sich eigentlich

berufen fühlten. Dann kam der Zweite Weltkrieg, der manchenLebensweg schicksalhaft beeinflusste. So standen der Wunsch,die eigenen Kinder sollten es einmal besser haben, und dasBedürfnis nach sozialer Sicherheit und nach unkündbaren Woh-nungen bestimmt Pate beim Aufbau des heutigen Schwamendin-gen. Entsprechend aktiv waren auch die Kolonie-Kommissio-nen, die Bildungsvorträge organisierten, Ausflüge veranstalte-ten, gemeinsam Feste des Jahreslaufes vorbereiteten, aber auchdas Spritzen der Bäume auf den weiten Grünflächen hinter denHäusern veranlassten und so dafür sorgten, dass ein genossen-

schaftlicher Geist herrschte, der bei den Bewohnern die Rand-lage etwas vergessen machte.

Was heute beinahe nach dörflicher Idylle und heiler Weltklingt, war es damals wohl kaum. Schwamendingen wuchs ein-fach zu schnell. Von einem Tag auf den anderen standen plötz-lich wieder hundert Wohnungen bezugsbereit, und ehe man sichan die neuen Leute gewöhnen konnte, waren weitere hundertBehausungen fertiggestellt. So verdoppelte sich der Wohnungs-

bestand zwischen 1950 und 1954 von 3300 auf 6600 Einheiten,und die Bevölkerung wuchs im gleichen Zeitraum auf 24 000Menschen an. Zehn Jahre vorher waren es noch 3785 Einwohnergewesen! Und just in jener Zeit, da es am neuen Ort Wurzeln zuschlagen gegolten hätte, setzten die Stadtplaner alles daran, dieletzten Reste des dörflichen Schwamendingen zum Zwecke bes-serer verkehrstechnischer Erschliessung auszuräumen. Städte-baulich am meisten gelitten hat wohl der Platz rund um denGasthof Hirschen, den man auf alten Photographien als klein-

Die Autobahnschneise trennt das Quartier in zwei Hälften. Am Hirschenplatz.

Hinterhöfe ein Eldorado für die Kinder.

räumige Einheit mit in der Tiefe gestaffelten Fronten von Bau-ernhäusern erkennen kann. An seiner Stelle zieht sich heute einefade Häuserreihe hin, die in ihrer Geradlinigkeit den Durch-gangsverkehr eher noch zu beschleunigen scheint, statt ihn zubändigen.

Aber es waren nicht nur planerische Entscheide, die das Bau-erndörfchen bis auf wenige Erinnerungsstücke an der Hütten-kopf-/ Bocklerstrasse und bei der alten Kirche zusammenge-

staucht hatten. Mit wenigen Ausnahmen leisteten die einstigen

Landbesitzer, und das waren fast alles Bauern, durchaus ihrenBeitrag zum Wandel des Ortes zur Zürcher Vorstadt. Dass sie estaten, ist ihnen, aus ihrer Sicht, nicht zu verargen. Was war dennSchwamendingen vor diesem Bauboom? Wie sah der Alltag hin-ter dem Zürichberg aus?

Armes Bauernland

Es ist keine unziemliche Vereinfachung, wenn man hier dasStichwort Armut nennt. Es gab bis nach dem Zweiten Weltkrieg

wohl keine Periode, in der auf diesem Flecklein Erde nicht derMangel an allem eine zentrale Rolle gespielt hätte. Alteingeses-

sene berichten mit gemischten Gefühlen von ihrer Jugendzeit,

als sie, neben der Schulzeit wohlverstanden, allerhand Nebenbe-schäftigungen nachgehen mussten, um das Überleben der Fami-lie sichern zu helfen. Falls der Vater einen Hof sein eigen nann-te, konnte er nur in den wenigsten Fällen vom Ertrag der Ernteleben. Meist musste er seine Arbeitskraft zweiteilen, waltete ineiner Fuhrhalterei (beim «Hirschen» wurden früher zur Über-windung des Milchbucks den Fuhrwerken noch zwei Pferde zu-gespannt), übernahm Pflich;en bei der Gemeinde oder musstegar über den Winter in die Fabrik nach Oerlikon. Dass zumPflügen der Äcker, deren Fruchtbarkeit einiges zu wünschen üb-rigliess, Milchkühe eingesetzt werden mussten, mag die strengenArbeitsbedingungen jener Bauern deutlich illustrieren. Für dieAnschaffung eines Pferdes reichte das Geld nicht. Und der Bo-den selbst, auf dem noch bis in unser Jahrhundert hinein zuHeizzwecken Torf gestochen wurde, galt als übles Sumpfland,

Neue Zürcher Zeitung vom 21.05.1983

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Sicut ,3iirri)cr teilung WOCHENENDE Samstag/Sonntag, 21./22. Mai 1983 Nr. 117 75

Typische Wohnlage im Block.

das vor den Meliorationen (1909 und 1922) oft genug unter Was-ser stand.

Umgekehrt hegten die «Fabrikler», wie die Arbeiter genanntwurden, rund ums Haus ihre Kaninchen- und Hühnerställe, hiel-ten sich ein paar Ziegen, bebauten einen Gemüsegarten, um sodie Bargeldauslagen möglichst gering zu halten. Was sie poli-tisch auch immer von den Bauern trennen mochte, das gemein-

same ärmliche Schicksal des Dorfes abseits der grossen Entwick-lungen brachte sie wieder zusammen. Mit weichen Gefühlenwohl beobachteten sie das Prosperieren Oerlikons, das einst, alskleiner Weiler, zu Schwamendingen gehört hatte? Die Kinderaus Oerlikon mussten noch bis ins 19. Jahrhundert nach Schwa-mendingen herüber zur Schule! Oerlikon verdankte seinen Auf-stieg schliesslich allein der trotzigen Haltung Schwamendingens

in einer Angelegenheit, die mit der Auflösung des Grossmünster-stiftes 1832 in Zusammenhang gebracht wird. Die Waldungen

oberhalb Schwamendingens bis zum Zürichberg hinauf warennämlich kirchlicher Besitz, der veräussert werden sollte. In der

Zur Diskussion gestellt: die Neugestaltung des «Hirschen» Schwamendingen.

Wohnidyll im Mattenhof.

Folge entstand ein langer Rechtsstreit zwischen Staat und Ge-meinde bzw. deren Waldkorporation, der Huben-Genossen-schaft, um die Aufteilung des Bodens, der vor Bundesgericht miteinem von den Schwamendingern aU nachteilig empfundenenVergleich endete. Jetzt wollten die wackeren Dörfler von grösse-

ren Projekten, bei denen der Kanton die Hände im Spiel hatte,nur noch wenig wissen, und liessen beispielsweise die Eisen-bahnlinie Zürich Winterthur von Oerlikon aus direkt nachWallisellen führen, unter Umgehung ihres eigenen Dorfes. Die-ser Entscheid bewirkte nicht nur ein rasches Wachstum des ver-kehrstechnisch günstiger gelegenen Fleckens Oerlikon, dessenEinwohner schon bald den Wunsch nach Bildung einer selbstän-digen Gemeinde äusserten (was, nach längerem Tauziehen, imJahre 1872 dann auch erfolgte), sondern bewirkte zugunstender Eisenbahn den Verlust des Postkutschenverkehrs, der bisdahin eine wichtige Einnahmequelle gebildet hatte.

Schwamendingen wurde jetzt mehr und mehr zu einem «Auf-marschraum» für Arbeitskräfte, die nach Oerlikon in die Fabrikfuhren (von 1906 bis 1932 verkehrte zwischen Oerlikon undSchwamendingen eine Zweiglinie der elektrischen Strassenbahn«Zürich Oerlikon Seebach»). Es war gut, wenigstens in Sicht-weite einen Arbeitsplatz zu wissen. Das Dorf Schwamendingen

selbst blieb bäurisch und arm. Immerhin nahm die Einwohner-zahl merklich zu, aber die Zuzüger waren vor allem schlecht ver-dienende Arbeiter mit ihren Kindern. Im Dorf sah man dasWachstum kaum, denn neue Häuser wurden nicht in grosserZahl erstellt; man baute viel eher Ställe aus, fügte dort nochetwas an, belegte die einzelnen Zimmer mit mehr Kindern. Na-türlich wurden die Klassenbestände in der Schule grösser; 70oder 80 Schüler in einem Schulzimmer waren keine Seltenheit.Als der Gemeinderat den Bau des dringend benötigten Fried-rich-Schulhauses beschloss (erstellt 1930), schaufelte er sichgleichsam sein eigenes Grab, denn jetzt dräuten Verschuldung

und Steuerlast einem Damoklesschwert gleich über der Gemein-de, das niederzusausen drohte, wenn nicht bald von aussen Hilfekam. So fand sich in Schwamendingen eine Mehrheit (290 Ja-gegen 214 Nein-Stimmen), als es um die Frage ging, ob das Dorf

S .... W*

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Dort, wo einst das* romantische Aubrüggli stand

Neue Zürcher Zeitung vom 21.05.1983

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sich doch bei diesem 29 000 Einwohner umfassenden Stadtkreisum eine Gegend, die sich von ihrem Aussehen her in nichtsBesonderem auszeichnet. Die meisten Häuser sind Durch-schnittsbauten, in ihren Abmessungen streng auf die seinerzeiti-gen Subventionsbestimmungen ausgerichtet. Die Mehrfamilien-häuser privater Bauherren schen meistens auch nicht anders aus,

weil für sie aus Ersparnisgründen oft immer wieder dieselbenKonstruktionspläne verwendet wurden. Natürlich gibt es Bau-ten, auf die man bei einem Quartierbummel hinweisen könnte,zum Beispiel die Saatlenkirche oder die eine oder andere Einfa-milienhaussiedlung, die von ihrer Konzeption her noch rechtgelungen scheinen, oder die Hochhäuser im Hirzenbach, die derGegend den Spitznamen «Klein-Manhattan» eintrugen. Der Ge-samteindruck jedoch bleibt: Das Erscheinungsbild Schwamen-dingens ist unsensationell. Damit teilt Schwamendingen seinSchicksal mit den meisten anderen Vorstädten, und für den Pas-santen wie für den nicht assimilierten Bewohner ist das Bild derGegend leicht verwechsel- und austauschbar. Manche Menschenmögen sich hier selber in hohem Masse ersetzbar vorkommen.Nicht zuletzt deshalb scheint es so wichtig, dass solche Agglome-

rationen zu ihrer individuellen Geschichte kommen, aus ihrersichtbaren Belanglosigkeit heraustreten, die es zum Beispiel Ver-kehrsplanern vor Jahren noch gestattete, respektlos und mittendurchs Quartier eine Schnellstrasse zu bauen. Offenbar herrschtebei den Bauherren die Ansicht, um Schwamendingen sei es

ohnehin nicht schade!

Für Strassen spricht allerdings die Tatsache, dass das Autobei den Leuten, auch den Schwamendingern, eine grosse Rollespielt. Es verleiht ihnen die als notwendig empfundene Mobilitätund dient gleichzeitig als wichtiges Prestige-Objekt: Mit einemWagen vor dem Haus kann man sehr wohl sozialen Aufstiegdokumentieren. Die Omnipräsenz des Autos war letztlich auchder Grund dafür, dass sich der Schwamendinger Stadtkreis bei

M*~Ä-vV3il*lEin Rest von All-Schwamendingen: die Bocklerstrasse. An der stadtauswärts jährenden Dübendorferstrasse. Hinter dem «Hirschen».

in die grosse Stadt eingemeindet werden sollte. 1934 war essoweit: Zusammen mit Oerlikon (das am wenigsten Grund ge-

habt hätte, seine Selbständigkeit zu verlieren), Seebach und Af-foltern bildete das Dörflein Schwamendingen zunächst den 11.Zürcher Stadtkreis; 1972 erhielt Schwamendingen schliesslichden Status des 12. Stadtkreises.

In der Zwischenzeit war einiges geschehen. Die Suche ver-schiedener Baugenossenschaften nach Bauland stellte kurz nachdem Zweiten Weltkrieg die Schwamendinger Bauern vor dieExistenzfrage. Zwar sah es zu Anfang danach aus, als ob derVerkauf einiger Aren Wiesland zur dringend benötigten Repara-

tur eines Scheunentors oder zur Anschaffung eines Traktors vonVorteil sei. Bald aber zeigte es sich auch, dass der Verkauf vonweiterem Bauland die ehemals armen Bauern recht wohlhabendmachte (die Bodenpreise zogen im Laufe des Baubooms gewaltigan) und dass das Pflügen der Äcker zwischen den Siedlungen

doch recht konfliktreich war. Zwei Welten stiessen hier aufein-

ander: Auf der einen Seite die Arbeiterfamilien, für die ihreWohnung mit Bad und Zentralheizung einen Aufstieg bedeutete,den sie mit standesgemässen Ansprüchen an ihre Wohnumge-bung auch dokumentierten (Abneigung gegenüber landwirt-schaftlichen Gerüchen und gegenüber Mähmaschincnlärm früh-morgens und sonntags); auf der anderen Seite die Bauern, diesich angesichts des Wohnkomforts und der geregelten Arbeits-zeit der Neuzuzüger ihrer eigenen Häuser schämten, die oft nichteinmal über fliessendes Wasser verfügten. Diese Gegensätze er-leichterten natürlich vielen Bauern den Entscheid, durch ent-sprechende Landverkäufe und Hausabbruch das ärmliche Lebenzugunsten eines bequemeren abzustreifen. Heute werden inSchwamendingen lediglich noch drei Bauernhöfe bewirtschaf-

Ein Quartier mit verschiedenen Gesichtern

Die Darstellung eines Quartiers wie Schwamendingen bringtfür den Journalisten spezifische Probleme mit sich, handelt es

zwei städtischen Abstimmungen über den Trambau mehrheitlichablehnend äusserte; denn längs der Strassen, auf denen dasTrassee zu liegen kommen sollte, mussten alle Parkplätze aufge-

hoben und teilweise durch weiter entfernte Parkhäuser und rück-wärtige Erschliessungswege in vormals ruhige und baumreicheHinterhöfe ersetzt werden. Da aber die Mehrheit der ZürcherStimmberechtigten das Trambauprojekt befürwortete, sind jetzt

im ganzen Quartier dennoch die schweren Baumaschinen imEinsatz, um das Bauvorhaben bis 1986 zu realisieren. Ein weite-res Argument gegen den Trambau, das in der Abstimmung zwarkeine grosse Rolle gespielt hatte, aber gleichwohl bedenkenswertist, liegt in der Befürchtung, dass jeder Ausbau des Verkehrs, obprivat oder öffentlich, die Entmischung der Stadt in Wohn- undArbeitsbereich noch weiter vorantreibt. Schon jetzt kommen auf100 Schwamendinger Einwohner nur 17 Erwerbstätige im Quar-tier. Alle anderen verlassen frühmorgens ihr Haus, um in einemanderen Stadtteil, hauptsächlich im Zentrum (wo auf 100 Ein-

Beim Schulhaus Stettbach, im Volksmund Akropolis genannt.

Schach vor dem Schwamendingens.

wohner über 800 Beschäftigte kommen!), ihrer Arbeit nachzuge-

hen. Tagsüber trifft man in Schwamendingen hauptsächlich

Frauen und Kinder, aber auch viele ältere Menschen, die in denAlterssiedlungen des Quartiers ihren Lebensabend verbringen.

Die zahlreichen Aktivitäten der verschiedenen Kirchgemein-

den und Vereine lassen immerhin den Willen vieler Leute erken-nen, Schwamendingen nicht zur blossen Schlafstadt werden zulassen. Immer wieder hört man von entsprechenden Initiativenverschiedener Eltern-, Mütter-, Spielplatz-, Freizeit- und andererGruppen. Der Fussballklub Schwamendingen ist mit seinen über20 Mannschaften der drittgrösste auf dem Platz Zürich. Undsämtliche Turnhallen der Quartierschulhäuser sind abends durchSporttreibende aller Disziplinen besetzt. Die Quartierrestau-rants, die tagsüber eher von Auswärtigen zu einem Bier oderzum Mittagessen aufgesucht werden, sind nach Feierabend mitAnwohnern oft gestossen voll.

Neue Zürcher Zeitung vom 21.05.1983

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Slfiit Äljcr&ilmt!) WOCHENENDE Samstag/Sonntag, 2I./22. Mai 1983 Nr. 117 77

Was von aussen als Einheit, eben als Kreis 12, als Schwamen-dingen, wahrgenommen wird, ist im Erlebnis der Anwohner eineVielzahl von kleineren Quartieren, die sich untereinander sehrunterschiedlich einschätzen. Am meisten benachteiligt fühlt sichwohl das Auzelg, das ennet der Bahnlinie, eingeklemmt zwi-schen Kehrichtverbrennungsanlage und Flughafenautobahn, einEigenleben führt, postalisch und vom Verkehr her Oerlikon zu-gewendet, administrativ aber zu Schwamendingen zählend.Diese Abseitslage führt indessen dazu, dass innerhalb der Sied-lung ein Gemeinschaftsgefühl herrscht wie sonst nirgends imKreis 12. Eine Quartiergruppe sorgt für Gemeinschaftlichkeitund schürt im übrigen Stadtkreis gerne das schlechte Gewissengegenüber dem benachteiligten Aussenposten. Das Saatlenquar-t ier, heute durch die Nl -Schneise vom übrigen Kreis 12 ge-trennt, beginnt sich mehr und mehr nach Oerlikon hin zu orien-tieren, während die Häuserreihen der Autobahn entlang zwi-schen Waldgarten und Aubrücke in den letzten paar Jahren einestarke Umschichtung der Bewohnerschaft erlebt haben. Anstellevon Schweizer Mietern und Genossenschaftern siedeln sichGastarbeiter an, was in den nahen Schulen den Anteil ausländi-scher Kinder sprunghaft ansteigen lässt. Während die Stettbach-strasse einen ausserordentlich guten Ruf als Wohngegend ge-niesst, heisst es vom Hirzenbach und Mattenhof-Quartier, mankönne «dort draussen» nicht leben, was natürlich dortige Ein-wohner glattweg bestreiten würden. Die soziale Topographie in-nerhalb eines Stadtkreises hat eben auch ihre Höhen undSenken, und je nach Erlebnissen, die der eine oder andere ambetreffenden Ort gemacht hat, je nach den Leuten, mit denen erverkehrt, und je nach dem visuellen Eindruck der Gegend bildensich für jeden Einzelnen die Konturen. Für Hausfrauen und Jun-gendliche gehören Oerlikon und das Einkaufszentrum Glattdurchaus noch zum quartierinternen Aktionsfeld. Gerade dieMofas der Jungen, die stets für Reklamationen und Diskussio-

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In der Erholungsanlage Mattenhof.

Reiche Apfelernte.

nen aller Art sorgen, gewährleisten jene Mobilität, mit der mansich der Beobachtung von Eltern und Nachbarn leichter entzie-hen kann. Welche Abenteuer sind denn sonst noch möglich indieser von Häusern und gepflegten Grünflächen überstelltenLandschaft? Bewährungsproben und Charakterwettkämpfescheinen in diesem Alter unvermeidlich, und so kommt esmanchmal zu Streichen, die einen ganzen Strassenzug durchausin Atem zu halten vermögen.

Die sicht- und hörbare Dominanz der Jugend lenkt aber abvon der Tatsache, dass auch Schwamendingen bereits an Überal-terung leidet. Die Kinder der ersten Siedlergeneration sindlängst ausgeflogen; der Nachwuchs ist spärlich, und in denWohnungen leben heute im Durchschnitt weniger Leute als vorzehn Jahren. Die Bevölkerungzahlen sind rückläufig. Das ruhi-ger gewordene Entwicklungstempo gibt dem Quartier vielleichtdie Chance, sich über seine Rolle im Stadtganzen k l ar zu wer-den, herauszutreten aber auch aus seiner Aschenputtelrolle, diees mit Bestimmtheit nicht verdient hat. Beliebtes Ausflugsziel: die Ziegelhütte.

Auf der Ziegelhöhe wird jeweils das auch in Wallisellen drüben sichtbare 1 .-August-Feuer abgebrannt.

Neue Zürcher Zeitung vom 21.05.1983