18
I. Zu allgemeinen Sprachproblemen I. 1 Lateinisches Mittelalter Mit der Erörterung eines grundsätzlichen Problems mag das Ausleuchten des thematischen Hintergrunds begonnen werden. Dabei sollen Wiederholungen möglichst vermieden, aber der Problemzusammenhang herausgearbeitet wer- den. Als sehr große Schwierigkeit wird sich erweisen, daß die einschlägigen Zeugnisse sehr verstreut sind und ihre Disparität verallgemeinernde Beurtei- lungsansätze erschwert. Gleichwohl werden sich Schlußfolgerungen, Erkennt- nisschritte und Einsichten ergeben, die aber stets mit Zurückhaltung und me- thodischer Vorsicht geäußert und verstanden werden sollten. Da Historiker über weite Strecken der mittelalterlichen Geschichte domi- nant bzw. fast ausnahmslos mit einer Überlieferung in lateinischer Sprache kon- frontiert sind und sich gleichwohl in der Lage sehen, eingehende und zeitlich wie räumlich differenzierende Untersuchungen durchführen zu können, ent- steht vielfach bei ihnen wie bei ihrem Publikum der Eindruck, die mittelalterli- che Welt sei eine lateinische gewesen. Allzu leicht kann man nämlich übersehen, daß sich sozusagen hinter einer lateinischen Fassade eine Vielzahl von Sprachen und Dialekten verbirgt, von denen sehr viele fast unbekannt sind. Gravierend mag die kaum überschaubare Anzahl sein, und eine Vorstellung von der Dimen- sion dieses Problems könnte der Hinweis geben, daß in der heutigen Europä- ischen Union (EU) „mittlerweile dreiundzwanzig offizielle Sprachen und vier- undsechzig inoffizielle, die Dialekte nicht eingerechnet“, existieren. 6 Selbstver- ständlich werden die mittelalterlichen Zahlenverhältnisse nicht identisch gewe- sen sein, doch die allgemeine Größenordnung könnte zutreffen. Hinter solchen Zahlen verbergen sich große Probleme, da sie einerseits Ausdruck eines beacht- lichen kulturellen und nicht nur sprachlichen Reichtums sind, andererseits bei einer dominanten Vorstellung von einem lateinischen Mittelalter unterbewertet und sogar übersehen werden können. Daher soll die Frage des „lateinischen Mittelalters“ am Anfang der um Systematisierung bemühten Darstellung knapp erörtert werden. Auch wer das Mißverständnis nicht teilt, daß die Welt des Mittelalters eine fast ausschließlich lateinisch geprägte Welt ist und daß die Vorstellung „Mittel- alter“ zwangsläufig mit dem Attribut „lateinisch“ gekoppelt ist, wird die (oft erdrückende) Dominanz lateinischen Schriftgutes in der Überlieferung des Mit- telalters nicht leugnen können. Diese Feststellung gilt für den Bereich admini- Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library Authenticated Download Date | 10/9/14 3:28 PM

Vom Dolmetschen im Mittelalter (Sprachliche Vermittlung in weltlichen und kirchlichen Zusammenhängen) || I. Zu allgemeinen Sprachproblemen

Embed Size (px)

Citation preview

I. Zu allgemeinen Sprachproblemen

I. 1 Lateinisches Mittelalter

Mit der Erörterung eines grundsätzlichen Problems mag das Ausleuchten des

thematischen Hintergrunds begonnen werden. Dabei sollen Wiederholungen

möglichst vermieden, aber der Problemzusammenhang herausgearbeitet wer-

den. Als sehr große Schwierigkeit wird sich erweisen, daß die einschlägigen

Zeugnisse sehr verstreut sind und ihre Disparität verallgemeinernde Beurtei-

lungsansätze erschwert. Gleichwohl werden sich Schlußfolgerungen, Erkennt-

nisschritte und Einsichten ergeben, die aber stets mit Zurückhaltung und me-

thodischer Vorsicht geäußert und verstanden werden sollten.

Da Historiker über weite Strecken der mittelalterlichen Geschichte domi-

nant bzw. fast ausnahmslos mit einer Überlieferung in lateinischer Sprache kon-

frontiert sind und sich gleichwohl in der Lage sehen, eingehende und zeitlich

wie räumlich diff erenzierende Untersuchungen durchführen zu können, ent-

steht vielfach bei ihnen wie bei ihrem Publikum der Eindruck, die mittelalterli-

che Welt sei eine lateinische gewesen. Allzu leicht kann man nämlich übersehen,

daß sich sozusagen hinter einer lateinischen Fassade eine Vielzahl von Sprachen

und Dialekten verbirgt, von denen sehr viele fast unbekannt sind. Gravierend

mag die kaum überschaubare Anzahl sein, und eine Vorstellung von der Dimen-

sion dieses Problems könnte der Hinweis geben, daß in der heutigen Europä-

ischen Union (EU) „mittlerweile dreiundzwanzig offi zielle Sprachen und vier-

undsechzig inoffi zielle, die Dialekte nicht eingerechnet“, existieren.6 Selbstver-

ständlich werden die mittelalterlichen Zahlenverhältnisse nicht identisch gewe-

sen sein, doch die allgemeine Größenordnung könnte zutreff en. Hinter solchen

Zahlen verbergen sich große Probleme, da sie einerseits Ausdruck eines beacht-

lichen kulturellen und nicht nur sprachlichen Reichtums sind, andererseits bei

einer dominanten Vorstellung von einem lateinischen Mittelalter unterbewertet

und sogar übersehen werden können. Daher soll die Frage des „lateinischen

Mittelalters“ am Anfang der um Systematisierung bemühten Darstellung knapp

erörtert werden.

Auch wer das Mißverständnis nicht teilt, daß die Welt des Mittelalters eine

fast ausschließlich lateinisch geprägte Welt ist und daß die Vorstellung „Mittel-

alter“ zwangsläufi g mit dem Attribut „lateinisch“ gekoppelt ist, wird die (oft

erdrückende) Dominanz lateinischen Schriftgutes in der Überlieferung des Mit-

telalters nicht leugnen können. Diese Feststellung gilt für den Bereich admini-

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/9/14 3:28 PM

12 Zu allgemeinen Sprachproblemen

strativer wie literarischer Quellen in so hohem Maße, daß manchem die Vorstel-

lung von einem schlechthin „lateinischen Mittelalter“ überdies zu suggerieren

scheint, es sei das Latein nicht nur die Europa einigende Schriftsprache gewe-

sen, sondern darüber hinaus – vor allem über das Medium der katholischen

bzw. lateinischen Kirche – auch die Umgangs-, mindestens die Verkehrssprache

des Okzidents gewesen. Gemeingut aller Kleriker, wohl auch der Herrschenden

und Verwaltenden wie ihrer großen Helferscharen sei dieses Latein gewesen, das

zum Kommunikationsmittel über volkssprachliche Grenzen hinweg vorzüglich

gedieh. Selbst für die nationalen Literaturen als Zweige eines Baumes, „dessen

Stamm die lateinische Literatur des europäischen Mittelalters“ war,7 bleibt der

einigende und verklammernde Charakter des mittelalterlichen Lateins unver-

kennbar, einer Sprache freilich, die man mitunter auch als „barbarisch“ qualifi -

ziert, vor allem um sie von der klassischen Höhe der Antike abzugrenzen, die

erst seit dem 14. Jahrhundert in Humanismus und Renaissance allmählich wie-

der erreicht wurde.

Zweifellos ist es richtig, daß das Mittelalter „zum Teil eine lateinische Welt“

war, aber eben nur zum Teil. Denn längst „nicht alles lateinisch Geschriebene

war auch lateinisch gedacht“.8 Damit wird auf das sog. Übersetzungsproblem

angespielt. Dieses geht davon aus, daß beispielsweise mittelalterliche Rechts-

und Sozialverhältnisse ihrerseits in übersetzter Form wiedergegeben werden

mußten, und zwar in lateinischen Wortformen, im Grunde sogar in römischen

Begriff en und Denkschemata, ehe sie in der lateinischen Schriftsprache fi xiert

werden konnten. Es setzt sogar einen zumindest doppelten Übersetzungsvor-

gang voraus. Die angesprochene, notwendige „Latinisierung“ ist bereits ein so

weitreichender Verfremdungsvorgang, daß die Ermittlung der tatsächlichen Be-

schreibungsgegenstände eine „Rückübersetzung“ in die jeweilige Volkssprache

erfordert, ohne die sich wahres Verständnis oft kaum oder gar nicht erschließt.

Solche Rückübersetzungen sind freilich außerordentlich schwierig, doch jegli-

cher Verzicht darauf – also allein vom lateinischen Wortlaut ausgehende Inter-

pretationsbemühungen, die Philipp Heck warnend als „Latinismus“ gekenn-

zeichnet hat – wird beispielsweise den Rechtsquellen überhaupt nicht gerecht,9

für andere Bereiche gilt die Feststellung in ähnlicher Weise. Hecks Untersu-

chung bezog sich vornehmlich auf frühmittelalterliche Texte, doch haben schon

Karl Siegfried Bader und Hans Hattenhauer nachdrücklich betont, daß „Ph.

Hecks Ergebnisse auch für das Hoch- und Spätmittelalter gelten“.10

Wie sich das angedeutete Problem in der alltäglichen Praxis des Dolmet-

schens, also bei mündlicher Kommunikation auswirkte, dürfte kaum zu erhel-

len sein. Insofern wird auch der Dolmetscher üblicherweise das Problem der

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/9/14 3:28 PM

Lateinisches Mittelalter 13

letztlich doppelten Übersetzung kaum zufriedenstellend bewältigt haben, doch

stellten sich diese Probleme viel schärfer bei schriftlicher Kommunikation, kön-

nen bei unserer Th ematik mithin etwas vernachlässigt werden.

Mit diesen Bemerkungen soll der sozusagen weitere Horizont der Gesamtthe-

matik angedeutet, können gleichzeitig auch zusätzliche Th emen ausgegrenzt

werden. Dies gilt selbst für die Frage, wer im Mittelalter lesen und schreiben

konnte.11 Immerhin ist die Annahme gewiß richtig, daß zahlenmäßig nur sehr

geringe Bevölkerungsteile über diese Fähigkeiten verfügten. Bezogen auf die

Kenntnis des Lateinischen wird man zusätzliche Abstriche machen müssen.

Selbst die Annahme, daß alle Geistlichen lesen und schreiben konnten, ist be-

kanntlich in dieser kategorischen Form unzulässig. Dies gilt vorzugsweise für

den Niederklerus, aber mitunter selbst für Äbte und Bischöfe. Und doch läßt

sich mit einiger Berechtigung sagen, daß Latein im Mittelalter eine das westli-

che Europa übergreifende, im allgemeinen fast überall, doch längst nicht für

jedermann verständliche Sprache war. Von einer Verkehrssprache wird man al-

lerdings nicht reden, auch nicht im Bereich der westlichen katholischen Kirche,

obwohl innerhalb dieser Kirche die lateinische Sprache ein einigendes Band war.

Doch trüben sprachliche Unzulänglichkeiten, oft sogar entsprechendes Unver-

mögen das Gesamtbild, das allerdings nur selten in der Überlieferung angespro-

chen wird.

Ein Detail mag gelegentliche Probleme der mündlichen Kommunikation il-

lustrieren, denn bereits eine unterschiedliche Aussprache des Lateinischen

konnte die Verständigung hemmen. So berichtet Rudolf von Fulda um 838 in

seiner Vita Liobae, ein durch Gallien, Italien und Germanien reisender spani-

scher Mönch sei nach Fulda gekommen, im Kloster aber nicht verstanden wor-

den, bis ein Mönch aus Italien half.12 Dessen südeuropäisch-romanisch geschul-

tes Ohr verstand das Latein des Gastes und ermöglichte ihm, den Fuldaer

Brüdern, die nur sozusagen „germanisches“ Latein bzw. „germanisch“ akzentu-

ierte Ausspracheformen verstanden, zu dolmetschen.13 – Man weiß, daß man-

che solcher Klangfarben selbst unsere Moderne erreicht haben.

Mit drei Beispielen aus dem Urkundenbestand des Klosters Monte Amiata in

der Toskana sollen auch akute Probleme klerikaler Analphabeten angedeutet

werden. Die genannten Fälle stehen nicht ganz isoliert, sie mahnen aber zu ste-

ter Vorsicht bei generalisierenden Annahmen. Im Februar 793 ließ der Ausstel-

ler einer Schenkungsurkunde sein „Abzeichnen“ erläutern: Signum + manum Ursiperto clerici, litera nesciente, qui supra donatore […]. Ähnlich unkompliziert

zeichnen 798 ein Mitaussteller und 799 ein Einzelaussteller ihre Urkunden ab:

Signum + manus Teudiperto clerico, qui propter ignorantja licterarum manu sua

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/9/14 3:28 PM

14 Zu allgemeinen Sprachproblemen

minime iscripse, tamen signum croci manibus sue fecit […], und ein Jahr später

heißt es: Signu + manu Uualtifusi clerici, qui hanc cartula scrivere rogave, et prop-ter ignorantja litterarum signum sancte croci fi ce.14 Für sein Analphabetentum hat

sich keiner dieser clerici geschämt.

Die Versuchung liegt nahe, nordalpine Beispiele hinzuzufügen. Im Februar

1291 stellte St. Gallen eine Verleihungsurkunde aus, und Abt, Propst und neun

Mönche ließen den Notar ihre Zustimmung beifügen, „da wir der Kenntnis des

Schreibens ermangeln“.15 Auch in einer weiteren Urkunde ließ der Abt von St.

Gallen den Notar für sich unterschreiben, cum scribendi pericia careamus.16 Ein

weiterer Fall: Im April 1291 schlossen die elsässische Abtei Murbach und die

Propstei Luzern einen Kaufvertrag mit König Rudolf von Habsburg, und „der

Abt, der Propst und drei Mönche [ließen] durch den Urkundenschreiber ihre

Namen unterfertigen, da sie des Schreibens nicht kundig seien“.17

Die erwähnten Zeugnisse stehen nicht ganz vereinzelt, können aber auch

nicht verallgemeinert werden. Immerhin legen auch sie nahe, mit der Betonung

eines „lateinischen Mittelalters“ und auch einer lateinisch ausgebildeten Geist-

lichkeit behutsam umzugehen.

I. 2 Latein als verbindliche Kirchensprache

In der westlichen Christenheit war im Bereich der Kirche Latein die gültige und

auch akzeptierte Gemeinsprache während des Mittelalters. An seiner Verbind-

lichkeit kann es keinen Zweifel geben. Die Umsetzung der Norm ist auch ge-

glückt, wenngleich gelegentliche Schwierigkeiten sichtbar werden, die für un-

sere Gesamtthematik nicht uninteressant sind. So sollen einige Details berührt

werden, die Aufmerksamkeit verdienen. Es beginnt mit dem Hinweis auf Pre-

digten, deren lateinische Sprache im allgemeinen der Gemeinde unzugänglich

war und günstigenfalls durch Dolmetscher wiedergegeben wurde. Letztlich

zwangen Notwendigkeiten auch des kirchlichen Alltags zum Rückgriff auf die

Volkssprache bereits durch den Prediger selbst.18 Für solches volkssprachliche

Predigen gibt es zahlreiche Zeugnisse. Sie zwingen allerdings zur Diff erenzie-

rung. Wenn beispielsweise volkssprachige Predigttexte überliefert sind, ist damit

nicht unstrittig belegt, daß die entsprechende Predigt überhaupt gehalten wurde

und dann ggf. tatsächlich in der Volkssprache. Auch spätere Überlieferungsfor-

men, die dann allein tradiert sind, lassen sich nicht ausschließen. Ohnehin wird

man nur ganz selten erkennen können, ob ein überlieferter Predigttext bereits

zum Gottesdienst fertig verfaßt war und dann auch verlesen wurde. Predigten in

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/9/14 3:28 PM

Latein als verbindliche Kirchensprache 15

didaktischer Absicht schriftlich für Ausbildungszwecke zu verfertigen, dürfte die

Regel gewesen sein.

Ein Zeugnis aus den Gesta Alberonis, verfaßt von Balderich zwischen 1152

und 1157/1158, mag eine solche Konstellation exemplarisch verdeutlichen. Der

Verfasser notiert den Text einer langen, letzten Ansprache seines Erzbischofs

Albero von Trier und fügt unmittelbar anschließend hinzu: „Wisse aber, lieber

Leser: das hat er vielleicht nicht wortwörtlich, jedenfalls aber dem Sinn und

Inhalt nach so gesagt.“19

Interessant ist eine Forderung der Mainzer Synode von 847. Nachdem für

den Inhalt der Predigten Leitlinien formuliert worden waren, heißt es, die Prie-

ster wie auch Bischöfe sollten jeder ihre Predigten ‚off en‘ übertragen (aperte transferre studeat) in die romanische Volkssprache oder in die theodiske, „damit

alle leichter verstehen könnten, was gesagt werde“ (quo facilius cuncti possint intellegere, quae dicuntur).20 Damit ist letztlich die zweisprachige Predigt gefor-

dert, was sich zeitlich sogar bis zu Karls des Großen Reformsynoden von 813 in

Chalon und in Tours zurückverfolgen läßt. Vor Wiederholungen besteht keine

Scheu, aber im Volke müsse gepredigt werden und ganz off enbar verständlich

und volksnah (in populo praedicetur).21

Schwierig ist die Beurteilung liturgischer Fragen außerhalb des eigentlichen

Predigens. Daß aus Anlaß eines Herrscheradventus im gallofränkischen Orléans

585 neben lateinischen Laudes solche auch von Juden und Syrern in ihrer eige-

nen Sprache gesungen wurden, ist beachtlich.22 Doch handelt es sich bei dem

liturgischen Gesang der Laudes eher um Ausnahmen. Einen solchen Charakter

könnte man eventuell auch dem volkssprachlich abgefaßten knappen Katalog

von Fragen und Antworten bei der Taufe zusprechen, der aus dem 8. Jahrhun-

dert datiert und aus Sachsen zu stammen scheint.23 Aber dieser berühmte volks-

sprachliche Fragen- und Antwortkatalog entsprach realen Erfordernissen. Der

technisch und personell vielleicht ebenfalls noch vorstellbare Rückgriff auf Dol-

metscher konnte beim Verwenden solcher Fragen und Antworten entfallen. Zu

beachten wäre ohnehin, daß Papst Gregor III. in seinem Brief an Bonifatius aus

dem Jahre 739 ausdrücklich erklärt hatte, die Taufe in einer heidnischen Spra-

che sei gültig, wenn sie im Namen der Trinität erfolgte: „Wer in einer verschie-

denen und abweichenden Sprache des Heidentums getauft ist, soll doch, weil er

im Namen der Dreieinigkeit getauft ist, durch Handaufl egung und Salbung mit

dem heiligen Öl gefi rmt werden.“24

Gleichwohl scheinen Probleme geblieben zu sein, wenn bei Neugetauften der

Eindruck einer nur äußerlichen Bekehrung vorherrschte. So regelte etwa das

Baseler Konzil im Mai 1435 „auf Antrag Bischof Michaels von Samland die

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/9/14 3:28 PM

16 Zu allgemeinen Sprachproblemen

geistliche Betreuung der Neugetauften jeweils in ihrer Sprache“. Der Bischof

solle die Pfarrstellen an der Grenze von Samaiten mit Personen besetzen, „die

die Sprache der Pfarrkinder intelligenter sprechen und die Beichte ohne Dol-

metscher abnehmen können“.25

Mißlich war es für Bischöfe und päpstliche Legaten, wenn ihre Kirchenpre-

digt in lateinischer Sprache überhaupt nicht verstanden wurde und sie selbst der

jeweiligen Volkssprache nicht mächtig waren. Hier war Dolmetschereinsatz

vonnöten, was Menschen im Mittelalter ggf. weniger träge bis zeitraubend er-

schienen sein mochte, als es uns vorkäme. Das Beispiel gedolmetschter Kreuz-

zugspredigten Bernhards von Clairvaux kündet sogar von großer Wirkung bei

den Zuhörern. Aufschlußreich ist eine Angabe in der Vita des Johannes von

Capestrano, die sich auf seine Predigtreise 1451–54 nördlich der Alpen zu be-

ziehen scheint. Die lateinische Predigt des Johannes habe sich sehr in die Länge

gezogen, und dennoch hätten die Leute oft im Winter auf öff entlichen Plätzen

bzw. unter freiem Himmel ausgeharrt, weil sie alle ihn sehen und ihm eifrig

zuhören wollten: „Vier und fünf Stunden standen sie auch in Schnee und Kälte

sehr gern, solange bis ein Dolmetscher erklärt hatte, was Johannes zuvor in la-

teinischer Sprache gepredigt hatte.“26 Johannes scheint oft einen Dolmetscher

bei sich gehabt zu haben, wie beispielsweise auf seiner Deutschlandreise, als er

in Villach über 20 Kranke heilte, nachdem ein Dolmetscher seine lateinische

Ansprache übertragen hatte.27

Nicht von Dolmetschern allzu abhängig zu sein, war der erkennbare Wille

der polnischen Kirche. Im Jahre 1285 verfügte die polnische Synode von Lent-

schütz, „daß deutsche Kleriker nur dann in polnischen Diözesen angestellt wer-

den dürften, wenn sie die polnische Sprache beherrschten“.28 Diese für sich

plausible Maßnahme gehört aber auch in den Zusammenhang „der Synodalsta-

tuten des Gnesener Erzbischofs […] gegen das Vordringen der deutschen Spra-

che“ aus dem Jahre 1257.29

Dolmetscher bei der Beichte, wenn der Beichtvater der Sprache des Büßers

nicht kundig war, sind im angeschnittenen Zusammenhang zu erwähnen, weil

Dolmetscher seit jeher und bis heute anhaltend auch im säkularen Bereich als

Instrumente galten und gelten, ihr Einsatz demgemäß kirchenrechtlich unpro-

blematisch war. Das gilt hier vor allem für die „off ene Beichte“, denn der „orts-

feste Beichtstuhl mit einem Gitter oder einer Trennwand zwischen Priester und

Pönitent“ wird erst nach dem Tridentinum üblich. Insofern ist „der dreiteilige

Beichtstuhl […] erst eine Erfi ndung des 17. Jahrhunderts“.30 Die dolmet-

schende Hilfe bei der Beichte war im Neusiedelland kein unerhebliches Phäno-

men, zumal der in der Regel eingewanderte Klerus auf seine seelsorgerischen

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/9/14 3:28 PM

Latein als verbindliche Kirchensprache 17

Pfl ichten beispielsweise bei den Prußen schlecht vorbereitet war. So brauchte

man zumeist einen Dolmetscher, aber es war verboten, für diesen Dienst Schul-

kinder heranzuziehen.31

Selbst bei den Zisterziensern, dem berühmten Reformorden des 12. und 13.

Jahrhunderts, gab es Schwierigkeiten, den lateinischen Sprachgebrauch wenig-

stens im Beichtwesen durchzusetzen. Als Stephan Lexington 1228 die irische

Abtei Mellifont im Auftrag des Generalkapitels der Zisterzienser visitierte,

mußte er von den bislang notorisch einsprachigen irischen Mönchen verlangen,

daß als Mönch nur aufgenommen werden dürfe, wer sein Schuldbekenntnis

französisch oder (!) lateinisch ablegen könne (nisi qui culpam suam confi teri nou-erit gallice uel latine).32

Mit einer Nachricht aus der Reinhardsbrunner Chronik, die um 1340/49 in

der Nähe von Gotha in Th üringen verfaßt wurde, läßt sich belegen, daß nach

Auff assung von Zeitgenossen der Anspruch auf Ausschließlichkeit der lateini-

schen Kirchensprache nicht überbewertet wurde. In der Chronik heißt es: Ei-

nem Priester begegnete auf dem Versehgang eine reuige Prostituierte und fl ehte

den Herrn an, dessen corpus der Priester in seiner pixis trug. Und der in der

Hostie gegenwärtige Jesus antwortete der Büßerin zunächst lateinisch und ver-

dolmetschte dann auf ihre Bitte hin seine eigenen Worte in deutscher Sprache,

weil die Frau kein Latein verstand.33 Sollte man sagen, daß Christus als sein ei-

gener Dolmetscher sprach? Oder genügt der Hinweis, daß der thüringische

Chronist und sein mutmaßliches Lesepublikum den Zwang zur Anwendung

der heiligen Sprache nicht ganz so eng sahen?

Auch an der Kurie wurde die Funktion des Lateinischen als alleiniger und

verbindlicher Sprache mitunter vernachlässigt, mindestens gilt dies für die Phase

des Kurienaufenthaltes in Avignon. Beispielsweise heißt es von Karl von Trier,

dem Hochmeister des Deutschen Ordens, Papst Johannes XXII. habe ihn im

Jahre 1318 herbeigerufen, und er habe sich ein Jahr an der Kurie aufgehalten:

„Die französische Sprache beherrschte er wie die eigene, und vor Papst und

Kardinälen sprach er ohne Dolmetscher“, stand also Rede und Antwort.34

So ganz verwundern muß das Beispiel aus der Kurie in Avignon nicht, denn

auch in Domkapiteln wird man häufi g bis regelmäßig in der jeweiligen Landes-

sprache verhandelt haben, wie es beispielsweise im Protokoll einer Sitzung des

Trierer Domkapitels am 24.3.1445 belegt ist. Hier heißt es nach einleitenden

Sätzen in lateinischer Sprache, Erzbischof Jakob von Sierck ligwa wlgari locutus est in hac verba sermonem suum dirigens ad praefatos dominos protunc capitulum representantes […]. Es folgt dann ein sehr umfangreiches Protokoll in deutscher

Sprache.35

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/9/14 3:28 PM

18 Zu allgemeinen Sprachproblemen

Alle genannten Beispiele, die sich vermehren ließen, rütteln nicht an der

Norm, daß im Mittelalter Latein die verbindliche Kirchensprache in der westli-

chen Christenheit ist. Sie weisen aber darauf hin, daß sich hinter diesem Kir-

chenlatein auch volkssprachliches Kirchenleben verborgen hat. Insofern waren

Dolmetscher gewiß vonnöten, doch reichte ihr Einsatz nicht aus, die Kluft zwi-

schen lateinischer Sprache und volkssprachlicher Umwelt durchgängig zu über-

brücken.

I. 3 Das Verkehrssprachenproblem

Es ist ein altbekanntes Phänomen, daß im Neben- und Miteinander verschiede-

ner Sprachen und Sprachträger nach Behelfen gesucht wird und solche auch

gefunden werden. Oft dient eine in Teilbereichen verbreitete Sprache in dann

reduzierter Form als solcher allgemeiner Behelf bzw. als Verkehrssprache. Im

Alten Orient war im 2. Jahrtausend vor Christus „das Babylonische in seinem

Medium der Keilschrift die Verkehrssprache ganz Vorderasiens einschließlich

Ägyptens“,36 also eher eine schriftliche als mündliche Form. Dies wurde im 1.

Jahrhundert anders, als das Aramäische als eine Art „lingua franca“ fungierte

und gewiß in verschiedenen Dialekten „die weitestverbreitete Sprache im Vor-

deren Orient war“.37 Im Römischen Weltreich war Latein die allenthalben ver-

bindliche Amtssprache, so daß es keiner eigentlichen Verkehrssprache bedurfte.

Auch im europäischen Mittelalter gab es keine allgemeine Verkehrssprache,

aber immerhin sogenannte Behelfssprachen. Darunter zu verstehen sind mittel-

alterliche Entsprechungen etwa zum neuzeitlichen Russennorwegisch bzw. Rus-

senorsk, das saisonal (im Sommer) bis ca. 4–5 Generationen vor dem Umbruch

von 1917 gesprochen wurde, oder zu den Pidgin-Sprachen (Pidgin-Englisch

Chinas seit dem 17. Jahrhundert und Melanesiens seit ca. 1820), dem Chinook-

Jargon der Pelzjäger und Waldläufer Nordamerikas seit ca. 1850.38

Das klassische Beispiel einer Behelfssprache ist die Lingua Franca Nordafri-

kas, die seit dem Mittelalter durch romanischsprechende Seefahrer verbreitet

und im Kontakt mit Arabern und Türken verwendet wurde. Kennzeichnend für

solche Behelfssprachen, die keine eigentlichen „Geschäftssprachen“ waren und

nie mit Muttersprachen verwechselt werden dürfen, ist ein sehr schmaler Wort-

schatz, der zwischen 500 und maximal 2000 Einheiten umfaßt.39

Erheblich umfangreicher war der Wortschatz des Französischen, insoweit

dieses in der Neuzeit bis etwa 1919 zumindest in Europa als „lingua franca“

fungierte, bis dann von 1919 bis 1945 das Englische hinzukam, das besonders

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/9/14 3:28 PM

Das Verkehrssprachenproblem 19

im Völkerbund als Verkehrssprache Geltung gewann. Dabei ist es in beachtli-

chem Maße geblieben, wenngleich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges

grundsätzlich das Prinzip der Vielsprachigkeit an Boden gewann.

Ähnliche Bedeutung besaßen mittelalterliche Geschäfts- und Verkehrsspra-

chen nicht, wohl aber gab es tendenzielle Entwicklungen solcher Art, die es vor

allem den Kauf- und Geschäftsleuten ermöglichten, notwendigste mündliche

Verständigung ohne Dolmetscher zu erzielen. So war in der byzantinisch-vene-

zianischen Kontaktzone bzw. dem ganzen östlichen Mittelmeerraum eine Art

lingua franca verbreitet, die sich aus einem oberitalienischen Idiom, besonders

der venezianischen Umgangssprache, und anderen Sprachelementen speiste.40

Wer aber beispielsweise im nordeuropäischen Raum tätig war, konnte mit Ver-

ständnis rechnen, wenn er niederdeutsch sprach.41 Anderenfalls stand ihm das

sogenannte „Undeutsch“ zur Verfügung. Man sprach es im Baltikum, etwa in

den Hansestädten Reval und Riga, und es wurde den notwendigsten Erforder-

nissen des Arbeitsalltags gerecht: Eine notdürftige, minimalsprachliche Verstän-

digungsform, die sich auf primitive Beherrschung des kaufmännischen Wort-

schatzes einschließlich simpelster Instruktion beschränkte, letztlich aber ein

„fürchterliches Kauderwelsch“ war. Falls der Fremde das „Undeutsche“ nicht

beherrschte, mußte er im Umgang mit Esten, Russen, Deutschen und Gästen

regelmäßig Dolmetscher (tolke, tolcke, tulcke) heranziehen.42

Kaufl eute, die unbedingt selbst das Undeutsche lernen bzw. sich mit der „un-

deutschen“ Sprache begnügen wollten, lernten schon binnen 17 Wochen (oder

vier Monaten) das Undeutsche. So ist es vor allem aus Reval bezeugt, wo ein

Kaufmann 1460 von 17 Wochen sprach, dat ik, Gad hebbe dank, gut Undusch kan.43 Das Deutsche bzw. besser Niederdeutsche andererseits erreichte im Han-

seraum den Rang einer Verkehrssprache vielleicht nicht ganz, so daß im Un-

deutschen eine Art Ergänzung, ggf. ein sprachlicher Ersatz existierte. Die Be-

herrschung des Niederdeutschen war jedoch im Bereich der Ost- und Nordsee

von großem Vorteil. Diese Bedeutung kontrastiert mit den übrigen Sprachen

des Hanseraumes. So ist etwa ein „merkwürdiges Desinteresse“ am Englischen,

Französischen und gar am Flämischen oder Dänischen konstatiert worden.44

Nur die Russen verlangten in ihren Handelszentren Berücksichtigung ihrer ei-

genen Sprache und nahmen, seit 1268 erkennbar, entsprechende Klauseln in

ihre Handelsverträge mit der Hanse auf. Für den Ostseeraum ist gleichwohl eine

gewisse Diff erenzierung nötig, denn im diplomatischen Verkehr etwa mit Däne-

mark oder England wurde „das Latein als traditionelle Verhandlungssprache“

geschätzt. Noch im ausgehenden 15. Jahrhundert verstand man es „als über den

einzelnen Volkssprachen stehende middelsprake“.45

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/9/14 3:28 PM

20 Zu allgemeinen Sprachproblemen

Das Erscheinungsbild war aber nicht einheitlich. Noch im Jahre 1375 war in

einem Hanserezeß ein Dolmetscher für Verhandlungen in England gefordert

worden, der französisch sprechen könne (enen wisen taleman, dey wol fransos kunne spreken).46 Der Rückgriff auf das Französische, wie auch auf das Englische

und sogar das Deutsche als hansische Verhandlungssprache erfolgte jedoch sel-

ten, während das Latein noch lange bedeutungsvoll blieb. So forderten bei-

spielsweise englische Unterhändler bei ihrem Auftreten in Hamburg 1465 ene middelsprake twisschen Engelscher unde Dudescher sprake [...], unde dat moste La-tinsche wesen.47 Gerade dieses Beispiel macht deutlich, daß bei dem Rückgriff

auf Latein üblicherweise Dolmetscher nicht unbedingt benötigt wurden, denn

in wichtigen Angelegenheiten des Handels waren im Spätmittelalter die Unter-

händler fast durchweg studierte Leute, die Latein verstanden, sprachen, lasen

und schrieben.

Besonderes Interesse können vertragliche Regelungen im deutsch-russischen

Handelsverkehr beanspruchen.48 Die deutschen Hansekaufl eute waren im Ver-

kehr mit russischen Zentren auf russische Sprachkenntnisse zwingend angewie-

sen, deren Erwerb in Rußland selbst zugesichert wurde. Dabei handelte es sich

um ein besonderes Privileg der Hansen, das sie gegenüber Dritten zu behaupten

suchten. „Im allgemeinen sollten die sprakelerer (Sprachlernenden) nicht über

20 Jahre alt sein, so lautete die hansische Verfügung für Nowgorod, wo die jun-

gen Kaufl eute auf die Bojarenhöfe der Nachbarschaft zwecks Erlernung des

Russischen geschickt wurden.“49 Bemerkenswert mag für heutige Didaktiker

sein, daß die Überzeugung durchschimmert, ein Aufenthalt im fremden Lande

bei sprachfremden Menschen genüge, um deren Sprache hinreichend zu erler-

nen. Von besonderen Unterrichtsformen oder ähnlichen Maßnahmen ist kei-

nerlei Rede.

Off enbar wurden solche Sprachschüler auch in beachtlicher Zahl nach Ruß-

land geschickt, was allerdings nicht immer gefahrlos war.50 Es scheint, als seien

erfolgreiche Sprachschüler künftig auch als berufsmäßige Dolmetscher einge-

setzt worden, wobei ihnen besonderer Schutz zugesichert wurde, gewiß auch ein

Indiz, daß ihre Verfügbarkeit knapp war. Im Vertragsentwurf von 1191/92

nr.15 sind als privilegierte Personen tolk und Priester herausgestellt, deren Tö-

tung mit doppelter Tötungsbuße bestraft wurde.51 Diese Schutzvorschrift galt

für „Novgoroder oder einen Deutschen in Novgorod“, sie könnte einigermaßen

wirkungsvoll gewesen sein.52 Zu beachten ist angesichts der herausgehobenen

Stellung der Tolken bzw. Dolmetscher, daß sie mindestens in den baltischen

Hafenstädten im Handel zugleich als Makler fungierten.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/9/14 3:28 PM

Kommunikationsprobleme 21

Nicht identisch, wohl aber in gewissem Umfang den Verkehrssprachen ähn-

lich, sind Amts- oder Geschäftssprachen. Im Deutschen Orden, dessen Mitglie-

der aus „vielen Zungen“ bzw. den unterschiedlichsten Regionen des Reiches

stammten, bediente man sich mindestens innerhalb der Ordensadministration

eines Idioms, das auf mitteldeutscher Grundlage aufruhte und der heterogenen

Herkunft der Ordensbrüder Rechnung trug, also als Amtssprache bei Bedarf

verfügbar war. Für den livländischen Ordenszweig, dessen Mitglieder im we-

sentlichen aus dem Nordwesten des Reiches stammten, diente dem Orden hin-

gegen das Niederdeutsche als Verkehrssprache. Genügte all dies nicht, so wur-

den vom Deutschen Orden gezielt und konsequent Tolken herangezogen.53

I. 4 Kommunikationsprobleme zwischen Angehörigen

verschiedener Stämme

Es ist bekannt, daß Sprachprobleme bei größeren Menschengruppen auch zu

off enem Streit führen konnten. So berichtet Richer von Reims im späten

10. Jahrhundert von einer bösen Prügelei zwischen jungen Germani und Galli, die sich über die jeweilige andere Sprache aufregten, wie es ihre Angewohnheit

sei (ut eorum mos est). Mit großer Animosität begannen sie, sich mit Beschimp-

fungen zu verletzen. Solche verbalen Ausfälle schien man immerhin zu verste-

hen! Es kam aber zum Tumult, Schwerter wurden gezogen und ein Graf, der

sich um Streitschlichtung mühte, erschlagen.54

Ob es gravierende sprachliche Verständigungsprobleme auch zwischen Ange-

hörigen verschiedener Stämme beispielsweise rechts des Rheins gab, ist schwer

zu ermitteln. Aus grauer Vorzeit datiert ein Hinweis, daß zwischen einem ein-

zelnen Th üringer und einem einzelnen Sachsen selbst über einen Fluß hinweg

eine qualifi zierte Verständigung möglich war, wie Widukind von Corvey be-

zeugt.55 Das Beispiel steht isoliert und ist vermutlich auch nicht allzu aussage-

kräftig für die angeschnittene Verständigungsproblematik, da der sächsische

und der thüringische Dialekt miteinander verwandt waren. Etwas anders ist die

Unterredung zwischen Markgraf Gero und dem Fürsten der Barbaren bzw.

Abodriten namens Stoinef „über den Sumpf und den Fluß hin, der an den

Sumpf stößt“.56 Beide waren off enbar gut bei Stimme, verstanden sich aber auch

inhaltlich. Nicht ausgeschlossen sind slawische Sprachkenntnisse bei Gero (gest.

965), dessen Eloquenz und großes Wissen Widukind ohnehin rühmt.

Nach diesen Beispielen sei ein anderer thematischer Zugang gesucht. In

mancher Hinsicht ist die deutsche Geschichte durch einen Nord-Süd-Gegen-

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/9/14 3:28 PM

22 Zu allgemeinen Sprachproblemen

satz geprägt. Für Aenea Silvio, den späteren Papst Pius II. (1458–1464), war

denn auch der Main die Trennungslinie zwischen Ober- und Niederdeutsch-

land, was nur in geographischer Hinsicht angehen mag, während die sprachli-

che Trennung zwischen dem Oberdeutsch und Niederdeutsch nicht deckungs-

gleich ist. Illustriert wird die Situation beispielsweise von Berthold von

Regensburg, dem bedeutenden franziskanischen Prediger, der 1272 verstarb. Er

schrieb: Ir wizzet wol, daz die Niderlender und die Oberlender gar unglich sint an der sprache und an den siten. die von oberlant, dort her von Zürich, die redent vil anders danne die von Niderlande,von Sahsen. die sint unglich an der sprache: man bekennet sie gar wol von einander die von Sahsenlande unde die von dem Bodensewe von dem Oberlande, unde sint ouch an den siten unglich und an den cleidern […].

Also stet ez umbe die niderlender und umbe oberlender, daz manic niderlender ist, der sich der oberlender sprache an nimet.57

Ein allmählich wachsender Einfl uß der hochdeutschen Mundarten (Ober-

lender) auf die niederdeutschen Dialekte (Niderlender) beseitigte aber nicht die

Verständigungsschwierig keiten. So soll noch Martin Luther in einem Tischge-

spräch geäußert haben: Deutschland hat mancherley Dialectos, Art zu reden, also, daß die Leute in 30 Meilen Weges einander nicht wol können verstehen. Die Oester-reicher und Bayern verstehen die Th üringer und Sachsen nicht, sonderlich die Nie-derländer. Daher bediene er sich, äußerte Luther, der gemeinen deutschen sprache; das mich beide, Ober- und Niderlender verstehen mögen.58 Im allgemeinen aber

dominierten die Unterschiede zwischen den einzelnen Stammessprachen, be-

haupteten die zahlreichen Dialekte das Feld. So konnten sich Angehörige ver-

schiedener Stämme oder Volksgruppen im Alltag kaum miteinander verständi-

gen, sofern weder verkehrssprachliche, noch hochsprachliche oder lateinische

Kenntnisse vorhanden waren – es sei denn, spezifi sche Dolmetscher oder dol-

metschende Personen standen zur Verfügung.

Als Reaktion auf die mundartliche Vielfalt verlangte ein Kölner Traktat aus

dem Jahre 1527, ein Deutscher solle möglichst viele deutsche Dialekte minde-

stens partiell verstehen lernen, anderenfalls brauche man etwa zur Verständi-

gung zwischen einem Bayern und einem Sachsen einen Dolmetscher. In diesem

Formulare vnn duytsche Rhetorica heißt es: Eyn schriuer wilcher land art der in duytzscher nacioin geboren is/ sal sich zu vur vyß fl yssigen/ dat he ouch ander duitsch/ dan als men in synk land synget/ schriuen lesen und vur nemen moeg. Als is he eynn Franck/ Swob/ Beyer/ Rynlender etc. sall he ouch sassenscher/ merkysscher spraiche eyns deyls verstandt hauen Des gelichen wederumb/ ist einer eyn Saß/ Merker etc. he sal sich des hochduytzschen myt fl issigen. dan eynem berömden schriuer kumpt men-cher leye volck zu hant/ vnd wan als dan eynn ytlicher wulde ader sülde syngen als

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/9/14 3:28 PM

Kommunikationsprobleme 23

ym der snauel gewassen were/ so bedoerff t men wail tussen eynem Beyern und Sassen eyn tolmetsch.59

Bei dieser präzisen Akzentuierung der „kommunikativen Verstehensgrenzen

innerhalb Deutschlands“ und der Zuspitzung auf den bayerischen und den

sächsischen Dialekt fühlt man sich erinnert an den Zisterzienser Peter von Zit-

tau (gest. 1339), der in seiner Königssaaler Chronik mit einem fast realistischen

Anspruch die Dialektsituation keineswegs dramatisierte, sondern eher um Ent-

schärfung bemüht war: „Der Sachse hat seinen Mund unter Kontrolle, der

Bayer brüllt beim Reden wie ein Ochse, indem er eine allzu laute und wilde

Stimme erhebt. Deshalb hat deine Sprache, Sachse, mit der des Bayern soviel

gemeinsam wie ein Fels mit einem Wassertropfen. Jener nämlich versteht die

sächsische Sprache ebensowenig wie ein Käuzchen die Elster. Und wie im Schlaf

versteht kein Bayer die Worte Sachsens, seien sie süß oder hart. Und doch kön-

nen beide mit Recht Deutsche genannt werden.“60

Ein Exkurs soll den Faden aufgreifen, denn es ist auff ällig, daß off enbar vor-

nehmlich für den „sächsischen“ Dialekt eine lateinische Bezeichnung überliefert

ist. So soll nach Liudprand von Cremona Kaiser Otto I. 963 auf der Synode in

der Peterskirche ihm selbst befohlen haben, seine Rede allen Römern in lateini-

scher Sprache vorzutragen, „weil die Römer seine eigene Sprache, d. h. die säch-

sische, nicht verstehen konnten“ (quia Romani eius loquelam propriam, hoc est Saxonicam, intellegere nequibant).61 Der loquela propria entsprach es, wenn Otto

I. auch sonst sächsisch sprach oder ihm der Sohn als getreuer Dolmetscher einen

Brief Saxonice übersetzte.62 Ob allerdings mit dem ebenfalls überlieferten saxo-nizans, das Arnold von St. Emmeram erwähnt, auch ein spezifi sches „Sächseln“

gemeint ist, könnte dahingestellt bleiben, doch heißt es von Otto, er habe in

Regensburg mit angenehmer Stimme sächsisch/sächselnd gesprochen (impera-tor ore iucundo saxonizans dicit).63

An sächsischen Schulen scheint man recht stolz auf die eigene Mundart ge-

wesen zu sein. In der Hildesheimer Briefsammlung fi ndet sich zu etwa 1054 die

bewegte Klage eines vermutlich älteren Scholaren, daß seine sächsischen Mit-

schüler ihn, der off enbar aus Süddeutschland kam, hänselten, weil er an seiner

eigenen naturalis lingua festhalte, statt sie mit dem Sächsischen zu vertauschen.64

Der Sachverhalt scheint typisches Schülerverhalten zu spiegeln, er kann aber

auch als „Beleg für ein Bewußtwerden der Dialektverschiedenheiten“ gelten.65

Die Entwicklung des Sächsischen seit dem Hochmittelalter ist etwas unklar.

Einerseits hat Karlheinz Blaschke betont, daß infolge der Siedlerbewegung viele

Mundartsprecher im sächsischen Raum zusammen lebten und daß sich die

Mundartenunterschiede im Verlauf des 13. und 14. Jahrhunderts zu einer Art

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/9/14 3:28 PM

24 Zu allgemeinen Sprachproblemen

Ausgleichsmundart abschliff en, die dann „auch von Angehörigen anderer deut-

scher Stämme verstanden werden konnte“ und damit zur Grundlage des „meiß-

nischen Deutsch“ führte und im Zusammenhang von Reformation und Luthers

Bibelübersetzung später „zur Schriftsprache aller Deutschen werden sollte“.66

Nicht ganz in dieses Bild paßt das Beispiel Alberts von Sternberg. Von diesem

Magdeburger Erzbischof heißt es, daß er sich angeblich „ohne Dolmetscher mit

seinen Diözesanen nicht habe verständigen können. Off enbar war er des sächsi-

schen Dialekts nicht mächtig“.67 Die Angabe ist aussagekräftig, das Beispiel aber

vielleicht etwas untypisch, denn Albert von Sternberg (1333–1380) stammte

aus dem hohen Adel Mährens und mußte mit dem Sächsischen vor seiner Erhe-

bung zum Erzbischof nicht unbedingt vertraut gewesen sein.

Ein knapper Blick soll der Sprachsituation bei Reichstagen gelten, wo das

Lateinische zugunsten der deutschen Sprache zurückgedrängt worden war. Ge-

blieben aber waren Unterschiede in den Dialekten, ohne daß die entsprechen-

den Auswirkungen in der Überlieferung sichtbar würden. Besondere Aufmerk-

samkeit ist dieser Frage bislang kaum gewidmet worden, doch hat Hartmut

Boockmann das Th ema berührt. Die Vertreter des Deutschen Ordens hätten

sich ohne Schwierigkeiten in die Reichstage einfügen können, ohne sprachliche

oder mundartliche Verständigungsprobleme. „Auch wenn der Orden sich auf

einem Frankfurter oder Nürnberger Reichstag durch einen seiner Gelehrten

vertreten ließ, der wie die meisten geistlichen Ordensbrüder im Gegensatz zu

den Rittern aus Preußen gebürtig war, bestand doch keine Gefahr, daß sich

dieser Gesandte etwa niederdeutsch ausgedrückt hätte. Er sprach vielmehr jene

Sprache, der er sich auch innerhalb der Ordensadministration bediente, näm-

lich die Amtssprache des Deutschen Ordens, ein auf mitteldeutscher Grundlage

aufruhendes Idiom, das in Preußen angesichts der heterogenen Herkunft der

Ordensbrüder ausgebildet worden war.“68

Verständigungsschwierigkeiten zwischen unterschiedlichen Dialektsprechern

konnten angedeutet werden, und es bleibt zu beachten, daß hiermit Kommuni-

kationsprobleme, die sich innerhalb des Reiches ergaben, belegbar sind. In an-

deren Reichen oder Staaten dürften ähnliche Probleme bestanden haben, wie

beispielsweise aus kritischen Äußerungen Bernhards von Clairvaux hervorgeht.

Der berühmte Zisterzienser war ein glänzender Prediger, ärgerte sich aber, wenn

er „Laienbrüdern seines Ordens wohl oder übel in romanischer Sprache predi-

gen [mußte], weil sie sonst nichts verstanden und sich nicht besserten“. Dabei

ärgerte sich Bernhard zusätzlich über die verschiedenen Dialektgrenzen inner-

halb Frankreichs: diversis provinciis et dissimilibus linguis ad invicem distamus.69 Zusätzlich zu Dialektgrenzen sollten auch die Unterschiede zwischen eng ver-

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/9/14 3:28 PM

wandten Sprachen nicht vernachlässigt werden, wie sie hier aber nur angedeutet

werden können. Als Otto von Bamberg (um 1065–1139) bei den Westslawen

missionierte, sprach er das „Barbarische“ bzw. Polnische wie ein Einheimischer,

so daß man ihn nicht für einen Deutschen hielt. Das dem Polnischen verwandte

westslawische Wendisch oder Sorbische aber blieb ihm (angeblich) verschlossen;

er sei auf Dolmetscher angewiesen gewesen.70

Es bleibt als eine Art Zwischenergebnis, daß zwischen Angehörigen verschie-

dener Stämme, selbst wenn diese zu einer großen Sprachfamilie gehörten, Ver-

ständigungsschwierigkeiten bezeugt sind, teils sogar gravierender Art, etwa

wenn völliges Nichtverstehen blieb. Über solche Probleme verlautet in den

überlieferten Quellen fast nichts, doch wäre es leichtfertig, aus dem Schweigen

auf nicht vorhandene Verständigungsprobleme schließen zu wollen.

Im Verlauf des Spätmittelalters dürfte sich allerdings manche Schwierigkeit

abgemildert haben. Dafür spricht beispielsweise das Selbstverständnis deutscher

Bruderschaften und Handwerkerbruderschaften im Rom der Renaissance. Ihre

Angehörigen kamen aus vielen Landen „deutscher Zunge“ und kannten zweifel-

los das Problem der Verständigung über die zahlreichen Dialektgrenzen hinweg,

wenngleich es sich im Arbeitsalltag nicht gravierend auswirken mochte.71 Ge-

rade deshalb ist aber aufschlußreich, daß ein Bruderschaftsstatut ausdrücklich

verlangte, Deutsch als sprachliches Kriterium müsse mindestens von einem ei-

genen Priester in guter Qualität gesprochen werden (der eyn gutt teutsche ußspra-chen hab).72 Eine Annäherung an das sich entwickelnde „Hochdeutsche“ ist

damit auch und gerade in der Fremde erleichtert worden. Eine beachtliche

Sprach- und Anpassungsfähigkeit war dabei ohnehin hilfreich.73

I. 5 Der rex illiteratus

Es soll noch versucht werden, anhand von insgesamt doch dürftigen Nachrich-

ten zu ermitteln, ob und welche Herrscher über Kenntnisse in mehreren Spra-

chen verfügten und ggf. in der Lage waren, auf sonst notwendige Dolmetscher-

dienste zu verzichten. Dieses in methodischer Hinsicht recht grobe Verfahren

bietet gewisse Einsichten, doch darf nie vergessen werden, daß die Quellen äu-

ßerst knapp fl ießen. Insonderheit sollte man sich hüten, bei Herrschern ohne

einschlägige Belege auf fremdsprachliche Ignoranz zu schließen. Es bleibt insge-

samt aber ein bestimmter Eindruck, der zur Abrundung unserer Th ematik ge-

hört. Freilich darf selbst sprachliche Versiertheit nicht unbedingt mit einem

beachtlichen Bildungsgrad gleichgesetzt werden, was gerade auch im umgekehr-

Der rex illiteratus 25

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/9/14 3:28 PM

26 Zu allgemeinen Sprachproblemen

ten Fall gilt. Achtet man sorgfältig auf diese Vorbehalte, dann mag es gerechtfer-

tigt sein, einen bestimmten thematischen Aspekt kurz zu berühren. Es handelt

sich um den Bildungsgrad mittelalterlicher Könige, dessen grundsätzliche Pro-

blematik mit einigen wenigen Angaben gestreift werden kann.

Berühmt ist das Sprichwort rex illiteratus est quasi asinus coronatus. Johann

von Salisbury hat es auch König Konrad III. einmal in den Mund gelegt: „Ein

ungebildeter König ist wie ein gekrönter Esel.“74 – Gemeint ist mit dem gekrön-

ten Vierbeiner wohl nicht der schreibunkundige, sondern eher und vor allem

der wahrhaft ungebildete König, denn fehlende Schreibfähigkeit ist nicht unbe-

dingt ein zwingendes Kriterium für einen defi zitären Bildungsstand. Zahlreiche

Beispiele unterstreichen diese Annahme in hinreichender Weise. Dies gilt vor

allem für Karl den Großen, der wie kaum ein anderer mittelalterlicher Herr-

scher um die Bedeutung und den Zusammenhang von Politik und Bildung

wußte und zum Motor der so beeindruckenden „Karolingischen Renaissance“

wurde – selbst aber noch im Alter nur mit Mühe das Schreiben zu erlernen

suchte.

Andererseits hatte das Bild vom gekrönten Esel durchaus prägende Wirkung

auch auf nichtkönigliche Herren. Im 12. Jahrhundert lobte beispielsweise der

Prämonstratenser Philipp von Harvengt den Grafen Heinrich von Champagne

für „seine Beherrschung der lateinischen Sprache, da jemand, der nur in der

Volkssprache gewandt sei, in der Dumpfheit eines Esels verbleibe“.75

Der verbalen Zuspitzung des zitierten Sprichwortes vom gekrönten Vierbei-

ner liegt die Überzeugung zugrunde, daß die Fähigkeit zum Lesen und Schrei-

ben, auch die Kenntnis der lateinischen Sprache zu den Grundanforderungen

an gekrönte Häupter oder Herrscher gehört. Bezogen auf die Lebenswirklich-

keit in mittelalterlichen Jahrhunderten ist der Anspruch hoch. Unsere knapp

gehaltene Übersicht wird noch zeigen, daß die Forderungen oft erfüllt wurden.

Aber es gab auch Unausweichlichkeiten, denen sich illiterati fügen mußten. Ein

Paradebeispiel bietet sich im Bereich der Königserhebung. In einer Aachener

Krönungsordnung aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts wird verlangt: Der

König tamquam illiteratus et laicus müsse rechtzeitig vor seiner Krönung eine

deutsche Übersetzung der auf Lateinisch an ihn zu richtenden Fragen sowie der

erforderlichen Antworten erhalten.76 Dies habe der Erzbischof von Köln per se vel per clericum unum cui faciendum zu tun verlangt. Er müsse domino regi in vulgari nostro, id est in teutonico die notwendigen Sachverhalte sehr deutlich

darlegen. Das war hilfreich, andererseits wäre es wohl unvorstellbar gewesen,

daß die lateinischen Formeln des Krönungsordo auch bei der Krönung in Ge-

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/9/14 3:28 PM

stalt einer Übersetzung einen verbindlichen Charakter hätten haben können.

Insofern war das Latein als Kultsprache nicht antastbar.

Diese Feststellung muß allerdings sofort relativiert werden. Denn ausgerechnet

in der Goldenen Bulle von 1356 gibt es eine Ausnahme. Bekanntlich verlangt

das Reichsgrundgesetz, daß die Söhne der Kurfürsten „von ihrem siebenten Le-

bensjahr an in der lateinischen, der italienischen und der tschechischen Sprache

unterrichtet werden, so daß sie bis zum vierzehnten Lebensjahr, je nach der ih-

nen von Gott verliehenen Begabung, damit vertraut seien“. Die Kenntnis der

angestammten deutschen Sprache (Th eutonicum ydioma sibi naturaliter indu-tum) wurde ohnehin vorausgesetzt.77 In Kapitel 2 über „die Wahl eines römi-

schen Königs“ heißt es nun, nach Erreichen der Stadt Frankfurt sollten die Kur-

fürsten eine Messe feiern, und anschließend sollten sie vor dem Altar selbst bzw.

ihre eventuellen Gesandten den Wahleid leisten. Der Erzbischof von Mainz

werde die (lateinische) Eidformel vorsprechen „und er zugleich mit ihnen und

sie […] zugleich mit ihm werden den Eid leisten in der Landessprache“ (vulga-riter), d. h. off ensichtlich in deutscher Sprache.78 Eine Art Parallele gab es in

England, wo es zugelassen war, „daß der König den Eid anstatt lateinisch auf

Französisch“ leistet.79

Von Interesse mag eine andere, etwas ältere Angabe sein. Im Kaiserordo von

Apamea (2. Hälfte des 12. Jahrhunderts) gibt es eine Bestimmung, wonach die

Deutschen nach Übergabe des Zepters und Krönung mit der Kaiserkrone sowie

Friedenskuß „in ihrer Sprache Laudes“ singen, ehe die Krönungsmesse beginnt

(Th eutonicis in sua lingua cantantibus laudes).80 Vorstellbar war demnach den

Verfassern des Ordo der Gebrauch der deutschen Sprache bei der Kaiserkrö-

nung in St. Peter, wenngleich das Deutsche hier nicht gesprochen, sondern ge-

sungen wurde. Doch erstaunlich ist schon der Gesang von laudes in deutscher

Sprache, aber es bleibt wie bei allen Ordines etwas off en, ob der Norm auch die

Realität entsprach.

Der rex illiteratus 27

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/9/14 3:28 PM

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/9/14 3:28 PM