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769 © Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin · Bautechnik 85 (2008), Heft 11 Einleitung Für den Bauhistoriker gehört es mit zu den interessantesten Aufgaben, dem Beginn eines neuen Baustils oder den Anfängen einer neuen Bautechnik nachzuspüren. Was waren Anlass und Auslöser für das Neue? Warum ent- stand etwas an diesem Ort und nicht an einem anderen? Wer waren die Protagonisten und welches ihre Ziele? Die Frage, die uns hier beschäftigen soll, lautet: Warum wurde in den zwei Jahrzehnten vor dem Ersten Welt- krieg München zum Zentrum des Stahlbetonbaus und nicht Berlin, die Stadt, die nach 1871 zur Reichshaupt- stadt wurde und deren Bauvolumen das von München bei weitem über- stieg [1]? Fast genau ein Jahrhundert hatte die Suche nach einem wasserfesten Bindemittel gedauert – von 1755, be- ginnend mit den ersten Versuchen John Smeatons (1724–1792) bis zu den Experimenten John Aspdins (1778–1855) und dessen Erfindung des „Portland-Cements“. Die erste deut- wissenschaftlichen Grundlagen des Stahlbetonbaus gelegt. Von großer Wichtigkeit für den Beginn des Stahl- betonbaus in Deutschland und Öster- reich/Ungarn waren die verschiedenen Patente Joseph Moniers (1823–1906), die er in Frankreich seit 1867 für die Herstellung beweglicher Kübel und Behälter aus Eisengeflecht und Ze- mentmörtel erhalten hatte und die er in den folgenden Jahren durch Zu- satzpatente auf den Bau von Gewöl- ben, Brücken, Eisenbahnschwellen, Geschossdecken und Wänden aus- weitete. Frühe Monier-Konstruktionen wie die Brücke im Schlosspark von Chazelet (1875) oder die großen Was- serbehälter, die er für die französi- schen Eisenbahngesellschaften errich- tete, finden sich in der „Monierbro- schüre“ abgebildet. Hartwig Schmidt Vom Hofbräuhaus zum Deutschen Museum Münchner Bauten aus Eisenbeton 1890 bis 1914 (1) In diesem Jahr (2008) feiert München sein 850-jähriges Stadtjubiläum, und in den dazu erscheinenden Publikationen bemühen sich die Autoren, das speziell Münchnerische herauszuarbeiten. Wenig Beachtung findet dabei ein besonderes Kapitel der Münchner Baugeschichte – der Beginn des Bauens mit Eisenbeton um 1900. München kann für sich in Anspruch nehmen, diejenige Stadt gewesen zu sein, in der die neue Bautechnik erprobt wurde und schon früh bedeutende Bauten in Eisenbeton entstanden. Leider ist diese außergewöhnliche architektonische und bautechnische Entwicklung heute weit- gehend in Vergessenheit geraten. From Hofbräuhaus to the German Museum – reinforced concrete buildings in Munich from 1890 to 1914. This year (2008) Munich celebrates its 850-year anniversary and in appropriate publications the authors try to work out the special Munich style. Little atten- tion will be paid to a special chapter of Munich’s history – the beginning of construction with reinforced concrete about 1900. Munich can claim that city to have been first in the new building technology and important buildings in reinforced concrete were designed and erected. Unfortunately, today this extraordinary architectural and engineering deve- lopment is widely forgotten. Fachthemen DOI: 10.1002/bate.200810058 Bild 1. Anzeige der Portland-Cement- Fabrik in Karlstadt/Main in der Süd- deutschen Bauzeitung 1908, H. 12 sche Portland-Cement-Fabrik wurde 1855 in Züllchow bei Stettin gegrün- det. 1877 waren es bereits 29 Werke, die „Portland-Cement“ herstellten (Bild 1). Dagegen dauerte es nur ein halbes Jahrhundert, bis der Beton sich als Baumaterial durchsetzte – von 1847, als François Coignet (1814–1888) die Verbundbauweise entwickelte, bis zur „Monierbroschüre“ Mathias Koe- nens (1849–1924), die 1886 von G. A. Wayss herausgegeben wurde. Am Be- ginn dieser Entwicklung stand das Be- mühen, die vergänglichen und feuer- gefährlichen Baumaterialien (Holz, Walzeisen) zu ersetzen, am Ende war eine ganz neue Bauweise entstanden, die derArchitektur und dem Ingenieur- bau ungeahnte gestalterische und kon- struktive Möglichkeiten eröffnete. Die einzelnen europäischen Län- der waren an dieser Entwicklung in unterschiedlicher Weise beteiligt: In England wurde der Portlandzement erfunden, in Frankreich die Beton- bauweise, und in Deutschland wur- den durch weitere Forschung und praktische Versuche die ingenieur-

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769© Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin · Bautechnik 85 (2008), Heft 11

Einleitung

Für den Bauhistoriker gehört es mitzu den interessantesten Aufgaben, demBeginn eines neuen Baustils oder denAnfängen einer neuen Bautechniknachzuspüren. Was waren Anlass undAuslöser für das Neue? Warum ent-stand etwas an diesem Ort und nichtan einem anderen? Wer waren dieProtagonisten und welches ihre Ziele?Die Frage, die uns hier beschäftigensoll, lautet: Warum wurde in den zweiJahrzehnten vor dem Ersten Welt-krieg München zum Zentrum desStahlbetonbaus und nicht Berlin, dieStadt, die nach 1871 zur Reichshaupt-stadt wurde und deren Bauvolumendas von München bei weitem über-stieg [1]?

Fast genau ein Jahrhundert hattedie Suche nach einem wasserfestenBindemittel gedauert – von 1755, be-ginnend mit den ersten VersuchenJohn Smeatons (1724–1792) bis zuden Experimenten John Aspdins(1778–1855) und dessen Erfindung des„Portland-Cements“. Die erste deut-

wissenschaftlichen Grundlagen desStahlbetonbaus gelegt. Von großerWichtigkeit für den Beginn des Stahl-betonbaus in Deutschland und Öster-reich/Ungarn waren die verschiedenenPatente Joseph Moniers (1823–1906),die er in Frankreich seit 1867 für dieHerstellung beweglicher Kübel undBehälter aus Eisengeflecht und Ze-mentmörtel erhalten hatte und die erin den folgenden Jahren durch Zu-satzpatente auf den Bau von Gewöl-ben, Brücken, Eisenbahnschwellen,Geschossdecken und Wänden aus-weitete. Frühe Monier-Konstruktionenwie die Brücke im Schlosspark vonChazelet (1875) oder die großen Was-serbehälter, die er für die französi-schen Eisenbahngesellschaften errich-tete, finden sich in der „Monierbro-schüre“ abgebildet.

Hartwig Schmidt

Vom Hofbräuhaus zum Deutschen MuseumMünchner Bauten aus Eisenbeton 1890 bis 1914 (1)

In diesem Jahr (2008) feiert München sein 850-jähriges Stadtjubiläum, und in den dazuerscheinenden Publikationen bemühen sich die Autoren, das speziell Münchnerischeherauszuarbeiten. Wenig Beachtung findet dabei ein besonderes Kapitel der MünchnerBaugeschichte – der Beginn des Bauens mit Eisenbeton um 1900. München kann fürsich in Anspruch nehmen, diejenige Stadt gewesen zu sein, in der die neue Bautechnikerprobt wurde und schon früh bedeutende Bauten in Eisenbeton entstanden. Leider istdiese außergewöhnliche architektonische und bautechnische Entwicklung heute weit-gehend in Vergessenheit geraten.

From Hofbräuhaus to the German Museum – reinforced concrete buildings in Munichfrom 1890 to 1914. This year (2008) Munich celebrates its 850-year anniversary and inappropriate publications the authors try to work out the special Munich style. Little atten-tion will be paid to a special chapter of Munich’s history – the beginning of constructionwith reinforced concrete about 1900. Munich can claim that city to have been first in thenew building technology and important buildings in reinforced concrete were designedand erected. Unfortunately, today this extraordinary architectural and engineering deve-lopment is widely forgotten.

Fachthemen

DOI: 10.1002/bate.200810058

Bild 1. Anzeige der Portland-Cement-Fabrik in Karlstadt/Main in der Süd-deutschen Bauzeitung 1908, H. 12

sche Portland-Cement-Fabrik wurde1855 in Züllchow bei Stettin gegrün-det. 1877 waren es bereits 29 Werke,die „Portland-Cement“ herstellten(Bild 1). Dagegen dauerte es nur einhalbes Jahrhundert, bis der Beton sichals Baumaterial durchsetzte – von1847, als François Coignet (1814–1888)die Verbundbauweise entwickelte, biszur „Monierbroschüre“ Mathias Koe-nens (1849–1924), die 1886 von G. A.Wayss herausgegeben wurde. Am Be-ginn dieser Entwicklung stand das Be-mühen, die vergänglichen und feuer-gefährlichen Baumaterialien (Holz,Walzeisen) zu ersetzen, am Ende wareine ganz neue Bauweise entstanden,die derArchitektur und dem Ingenieur-bau ungeahnte gestalterische und kon-struktive Möglichkeiten eröffnete.

Die einzelnen europäischen Län-der waren an dieser Entwicklung inunterschiedlicher Weise beteiligt: InEngland wurde der Portlandzementerfunden, in Frankreich die Beton-bauweise, und in Deutschland wur-den durch weitere Forschung undpraktische Versuche die ingenieur-

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Als einer der ersten Bauunter-nehmer im deutschsprachigen Raumübernahm 1880 Rudolf Schuster inWien das Monierpatent für Öster-reich und Ungarn. Vier Jahre später,1884, erwarb die Firma Freytag &Heidschuch in Neustadt/Pfalz diePatentrechte für Süddeutschland unddas Vorkaufsrecht für Norddeutsch-land und Martenstein & Josseaux inOffenbach/Main die Rechte für dasGebiet Frankfurt und 30 km im Um-kreis. Als erstes deutsches „Beton-Bauwerk“ entstand in Neustadt einekleine Hundehütte, die sich heute imDeutschen Museum in München be-findet.

Das Verdienst, die neue Bau-weise bekannt gemacht zu haben, ge-bührt jedoch Gustav Adolf Wayss(1851–1917), der 1886 die Patent-rechte für Norddeutschland von Frey-tag & Heidschuch übernahm und inBerlin ein Unternehmen für Beton-und Monierbau gründete, die Bau-firma „G. A. Wayss & Co“. In der auf-strebenden Hauptstadt des neuenDeutschen Reiches lernte er auf derBaustelle des Reichstages MathiasKoenen (1849–1924) kennen, der alspreußischer Regierungsbaumeister dieRohbauarbeiten leitete und es Wayssermöglichte, statt der üblichen „Preu-ßischen Kappen“ 1500 m2 Betondeckeauf Trägerunterflansch nach dem Sys-tem Monier in den Fluren des obers-ten Stockwerks einzubauen (1888).Um von der Baupolizei die Genehmi-gung für die neue Bauweise zu be-kommen, führten G. A. Wayss und C. Freytag im Winter 1886/87 eineReihe von Versuchen an unterschied-lichen Bauteilen durch, die sie aufihre Tragfähigkeit, Feuerfestigkeit undWiderstandsfähigkeit gegen Stoß un-tersuchten. Das Ziel dieser aufwendi-gen Maßnahme, zu der sie das Berli-ner Kgl. Polizei-Präsidium und inter-essierte Architekten und Ingenieureeingeladen hatten, war, eine baupoli-zeiliche Genehmigung für die Monier-Bauweise zu erhalten. Die Ergebnissepublizierte Wayss 1887 in der sog.„Monierbroschüre“ mit dem Titel:„Das System Monier (Eisengerippemit Cementumhüllung) in seiner An-wendung auf das gesammte Bauwe-sen“ [2]. In dieser Broschüre, die einfest eingebundenes Buch mit 128 Sei-ten und vielen Abbildungen ist, ver-öffentlichte Koenen auch einen Vor-schlag für die statische Berechnung

von Monier-Konstruktionen – ein Vor-schlag, den er bereits in einem kurzenArtikel im „Centralblatt der Bauver-waltung“ im November 1886 veröffent-licht hatte.

Der Erfolg des Wayssschen Bau-unternehmens war groß, doch leidernur gering auf dem Gebiet, dem Waysssein besonderes Interesse zugewandthatte, dem „Eisenbetonbau“ [3]. DieHoffnung auf einen schnellen Sieges-zug des neuen Baumaterials erfülltesich nicht. Naturstein, Ziegel und die„modernen“ Eisenkonstruktionen be-hielten auch weiterhin die Oberhand.Der Umgang mit Eisenbeton war außerder Baupolizei auch Architekten undBauingenieuren noch zu fremd. Esfehlte die Erfahrung und – ohne bau-polizeiliche Erlaubnis – entstandenauch keine richtungweisenden Bau-werke. Deshalb verließ Wayss Berlinbereits wieder 1892. Mathias Koenen,der 1888, nach Abschluss der Arbei-ten am Reichstag, als Kompagnon indie Firma eingestiegen war, wurde de-ren Direktor. Die Firma nannte sichjetzt „Actien-Gesellschaft für Monier-bauten, vorm. G. A. Wayss & Co“.Wayss wandte sich wieder dem SüdenDeutschlands zu und gründete 1893zusammen mit Conrad Freytag(1846–1921) das Baugeschäft „Wayss& Freytag“, mit Sitz in Neustadt/Pfalz,das 1901 in eine Aktiengesellschaftumgewandelt wurde. Im gleichen Jahrwurde Emil Mörsch (1872–1950) Lei-ter des technischen Büros der Firma.Im folgenden Jahr, 1902, erschien dasvon ihm bearbeitete und von Wayss &Freytag herausgegebene erste Hand-buch des Eisenbetonbaus: „Der Beton-eisenbau, seine Anwendung und Theo-rie“ [4], ein Standardwerk des Eisen-betonbaus, das zuletzt vier Bändeumfasste und bis 1929 sechs Auflagenerlebte.

Die Prinzregentenzeit

Im Vergleich mit Berlin oder Wienwar München um 1870 eine ländlichebayerische Residenzstadt, die sich je-doch bis zur Jahrhundertwende auf-grund der rapiden Industrialisierungzu einer modernen Groß- und Indu-striestadt entwickelte. Gleichzeitignahm die Einwohnerzahl in bishernicht gekanntem Umfang zu: von170000 Einwohnern im Jahr 1870 zu350000 im Jahr 1890 und ca. 600000im Jahr 1910. Um die Jahrhundert-

wende war München die größte baye-rische Handels-, Verkehrs- und Indu-striestadt und viertgrößte Stadt imDeutschen Reich. Regiert wurdeBayern seit 1886 von Prinzregent Luit-pold (1821–1912), einem Sohn Lud-wig I., der nach dem Tod Ludwig II.für dessen geistig umnachteten unddamit nicht regierungsfähigen jünge-ren Bruder Otto I. die Regierungs-geschäfte führte. Im Gegensatz zuKaiser Wilhelm II., der sich in Berlindemonstrativ bemühte, die Autoritätdes Herrscherhauses nicht nur aufpolitischem, sondern auch auf künst-lerischem Gebiet herauszustellen, för-derte Prinzregent Luitpold die bil-dende Kunst, erteilte den KünstlernAufträge, mischte sich aber ansonstenwenig in die Aktivitäten seiner Haupt-stadt und Untertanen. Dieser zurück-haltende Umgang mit der Machtbrachte München den Ruf einer idea-len Heimstätte für Kunst und Bildungein, einer liberalen Kunst- und Frem-denverkehrsstadt, der sich das ganze19. Jahrhundert hielt. Die Prinzregen-tenzeit wird auch heute noch als eineder glücklichsten und harmonischstenZeiten für Bayern betrachtet. Dochbereits zu Beginn der 20. Jahrhun-derts wechselten viele junge Künstlervon München nach Berlin, und Mün-chen wurde zu der traditionell-kon-servativen Stadt, von der immer weni-ger künstlerische Impulse ausgingen.Die Gründung des „Deutschen Werk-bundes“ am 5./6. Oktober 1907 fandwohl in München statt, doch kamendie Ausschussmitglieder überwiegendvon auswärts: Theodor Fischer (Stutt-gart), Fritz Schumacher (Hamburg),Hermann Muthesius und FriedrichNaumann (Berlin), Karl Schmidt(Dresden).

In den letzten drei Jahrzehntendes 19. Jahrhunderts veränderte sichdas Münchner Stadtbild ganz ent-scheidend durch Stadterweiterung undUmbau der Innenstadt, ohne jedochsichtbar „modern“ zu werden, dennvon den Bauaufsichtsbehörden wur-den für die neuen Bauten Fassaden in„heimischer Bauweise“ gefordert, ma-lerisch und zugleich traditionell. ImStadtbild dominierten die städtischenund staatlichen Großbauten, die vonden bekannten ansässigen Architek-ten errichtet wurden, von GottfriedNeureuther (1874–85, Akademie derbildenden Künste), Georg Hauber-risser (1888–93, 1899–1908 Neues

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Rathaus), Friedrich von Thiersch(1891–97, Justizpalast), Gabriel vonSeidl (1894–99 Bayerisches National-museum). Der Jugendstil, nach der1896 in München gegründeten illus-trierten Kulturzeitschrift „Die Jugend“benannt, war nur mit wenigen Bautenvertreten. Zu den wichtigsten – leiderzerstörten – Zeugnissen dieses neuenStils gehörte das von August Endellentworfen Fotoatelier Elvira (1897/98)mit seiner berühmten Inneneinrich-tung und Fassade.

Im Zuge der Reichseinigung 1871hatte das Königreich Bayern – wieauch alle anderen Länder – wichtigeBereiche seiner Souveränität aufge-ben müssen. Zu den verblieben staat-lichen Aufgaben gehörten Justiz, Fi-nanzen, Post und Verkehr, für derenMinisterien nun großartige Neubau-ten in prominenter Lage errichtet wur-den. Der Blick zurück in die eigene„ruhmreiche“ Vergangenheit dientedem Selbstbewusstseins wie demAutonomiebedürfnis: Das bayerischeHeer erhielt ein neues Armeemuseumin der Nähe der Residenz, die baye-rische Geschichte fand ihren Platz indem 1900 eröffneten neuen National-museum an der Prinzregentenstraße.1912, zur Tagung der deutschen Ar-chitekten- und Ingenieur-Vereine inMünchen, erschien eine Darstellungder Bauten des „neuen“ München –ein dicker Band mit dem Titel „Mün-chen und seine Bauten“, der beim Le-ser heute noch Erstaunen über dievielfältige Bautätigkeit dieser Jahr-zehnte hervorruft [5].

Von Berlin nach München

1887, ein Jahr nach den aufwendigenVersuchsreihen in Berlin, ließ G. A.Wayss ähnliche Versuche und Unter-suchungen durch Bauschinger inMünchen wiederholen. Johann Bau-schinger (1834–1893) war bei derGründung der Polytechnischen SchuleMünchen 1868 als Professor für „Tech-nische Mechanik und GraphischeStatik“ berufen worden. 1870 grün-dete er eine der Hochschule ange-schlossene Versuchsanstalt, die sichder Ermittlung der physikalischenund vornehmlich der Festigkeitseigen-schaften von Baustoffen widmete.Dieses „Mechanisch-technische Labo-ratorium“ entwickelte sich aus kleins-ten Anfängen zu einer der bekanntes-ten Materialprüfanstalten in Deutsch-

land. Um die noch immer bestehendenEinwände gegen den Eisenbetonbauauszuräumen, beauftragte Wayss Bau-schinger damit, einige grundsätzlicheFragen zu klären:– die Größe der Adhäsion des Be-tons am Eisen– das Verhalten beider Materialien beiwiederholten Temperaturwechseln– die Möglichkeit des Rostens desEisens im Beton und die dadurchherbeigeführte Zerstörung der Einla-gen oder deren Lockerung.

Neben diesen materialtechnisch-physikalischen Versuchen führte Bau-schinger auf einem städtischen Werk-platz in München auch Belastungs-versuche an verschiedenen Bauteilendurch, darunter einem Monier-brückenbogen von 10 m Spannweite(1/10 Stichhöhe), der auf dem be-kannten Foto (Bild 2) in belastetemZustand zu sehen ist. Im Hintergrunderkennt man das Bauschild mit derAufschrift „von G. A. Wayss/Mün-chen“. Die Versuche verliefen erfolg-reich, die Rostversuche ebenso wie dieAusziehversuche. Dass der Wärme-ausdehnungskoeffizient von Betonund Eisen fast gleich ist, hatte schonMathias Koenen herausgefunden. 1887erschien der Bericht Bauschingers inden von ihm herausgegebenen „Mit-teilungen aus dem Mechanisch-tech-nischen Laboratorium“ mit den über-aus positiven Ergebnissen [6].

Im Gegensatz zu Berlin, wo bis1905 keine bedeutenden Bauten ausEisenbeton entstanden, war es derBerliner „Actien-Gesellschaft für Mo-nierbauten“ gelungen, in München be-reits zwei Brücken zu erbauen, 1892eine Straßenbrücke über den Nym-phenburger Kanal (Bild 18a) und 1898die Brücke über die Kleine Isar zurPraterinsel, den „Kabelsteg“, nach demEntwurf des Leiters des MünchnerStadtbauamts Adolf Schwiening – zweiBögen mit jeweils 38,0 m Spannweiteaus Eisenbeton, die mit Muschelkalkverkleidet wurden (Bild 3). Das Stadt-bauamt hatte schon in den Jahren1889 beim Bau der Badeanstalt in derOhlmüllerstraße [7] und 1894 beimBau des Volksbrausebades, Bavaria-ring 5 [8] nach Entwurf des Stadt-baurats Hans Grässel Erfahrungenmit Monierkonstruktionen gesam-melt, waren diese Bauten doch voll-ständig aus Beton, die Fundamenteaus Stampfbeton und Kellerdecke,Wände, Schornstein und Bedachungaus „Cementmörtel mit Eiseneinla-gen“ (Bild 4).

Doch die Umsiedlung nach Mün-chen war mit Schwierigkeiten verbun-den, denn der Münchner Baumarktwurde von den einheimischen Firmenbeherrscht, was es Wayss ungemeinerschwerte, an weitere Aufträge zukommen. Eine Kooperation mit einerin München ansässigen Baufirma

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Bild 2. Belastungsversuch eines Moniergewölbes von 10 m Spannweite, 1/10Stichhöhe und 10,7 cm mittlerer Stärke der Firma G. A. Wayss durch ProfessorBauschinger in München 1887. (HfE I (1912) S. 154)

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schien unumgänglich. Wayss wählteals Partner das renommierte Münch-ner Baugeschäft Heilmann & Litt-mann. Jacob Heilmann (1846–1927)hatte an der Baugewerkschule inMünchen und der PolytechnischenSchule in Zürich Architektur studiertund in Berlin im Atelier von MartinGropius gearbeitet. Mit 25 Jahren,am 20. August 1871, gründete er dasMünchner Baugeschäft, das sich zu-erst beim Eisenbahnbau betätigte undnach Fertigstellung der Hauptliniensich auf den Hoch- und Siedlungsbauin München konzentrierte. 1892 tratMax Littmann (1862–1931) als künst-lerischer Leiter in die Firma seinesSchwiegervaters Jacob Heilmann ein,die 1897–1908 unter der Bezeichnung„Heilmann & Littmann“ geführt

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wurde und sich zu einem der größtenMünchner Baugeschäft entwickelte.Erste Erfahrungen mit Monier-Kon-struktionen – die PatentansprücheMoniers waren 1894 in Deutschlanderloschen – hatte die Firma 1896/97beim Neubau des Hofbräuhauses [9]am Platzl, gesammelt, wo die Deckedes große Festsaals im Obergeschossmit einem dünnen Monier-Gewölbe(41,30 ¥ 17,45 m) überwölbt wordenwar (Bild 5). Eine gleiche Konstruk-tion verwendete man für den 20,80 mbreiten Festsaal der neuen Mathäser-Bierhallen in der Bayerstraße (1899/1900).

Um die Möglichkeiten des Eisen-betonbaus weiter auszuschöpfen, grün-deten die Firmen Wayss & Freytag undHeilmann & Littmann am 15. Mai

1903 die „Eisenbeton-Gesellschaftm. b. H. – Unternehmung zur Aus-führung von Beton- und Eisenbeton-Bauten des Hoch- und Tiefbaues inMünchen“. Der Tätigkeitsbereich derFirma sollte sich auf München undeinen Umkreis von 30 km um Mün-chen beschränken, um den eigenenFirmen keine Konkurrenz zu machen.Direktor wurde Ludwig Zöllner, derfür Wayss & Freytag 1899 den Baudes achtgeschossigen Lagerhauses imStraßburger Hafen ausgeführt hatte,eine der frühen monolithischen Stahl-betonkonstruktionen der Firma, undseit 1900 die Münchner Niederlas-sung von Wayss & Freytag leitete.

Die „Eisenbeton-Gesellschaft m. b. H.“

Mit der Gründung der neuen Firmahatte Wayss die Voraussetzung ge-schaffen, Erfahrung, Kenntnisse undWissen der eigenen Firma im Eisen-betonbau mit den geschäftlichen Ver-bindungen eines einheimischen Bau-betriebes zu verbinden.

Eine der ersten Arbeiten der neugegründeten Eisenbeton-Gesellschaftwar 1903 der Bau der Tambourkuppelüber dem Mittelbau des Kgl. bayeri-schen Armeemuseums [10]. Der Ent-wurf des Architekten Ludwig Mel-linger, Geh. Baurat im BayerischenKriegsministerium, war in den For-men der Neorenaissance gehalten undsah eine massive Steinkuppel vor. Stattdieser schlug Ludwig Zöllner zweidünne Stahlbetonkuppeln vor, eine

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Bild 5. Hofbräuhaus, am Platzl. Erste Erfahrungen mit Mo-nierkonstruktionen sammelte die Baufirma „Heilmann &Littmann“ 1896/97 beim Neubau des Hofbräuhauses, wodie Decke des großen Festsaals im Obergeschoss mit einemdünnen Moniergewölbe (41,30 ¥ 17,45 m) überwölbt wordenwar. (Heilmann (1911), Abb. 7)

Bild 4. Volksbrausebad Bavariaring 5. Die vom Stadtbau-amt 1889 und 1894 erbauten öffentlichen Brausebäder wa-ren vollständig aus Beton, die Fundamente aus Stampfbetonund Kellerdecke, Wände, Schornstein und Bedachung alsMonier-Konstruktionen aus „Cementmörtel mit Eiseneinla-gen.“ (MusB (1912) S. 656)

Bild 3. Brücke über die Kleine Isar zur Praterinsel (heute „Kabelsteg“).1898 er-baut als Monier-Konstruktion durch die Berliner „Actien-Gesellschaft für Monier-bauten“ – zwei Bögen mit jeweils 38,0 m Spannweite aus Eisenbeton, die mitMuschelkalk verkleidet wurden. (50 Jahre Wayss & Freytag (1925), S. 17)

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innere halbkugelförmige Kuppel mit16 m Durchmesser und eine gestelzteäußere Schutzkuppel mit einer 9 mhohen Laterne. Zöllner konstruiertedie Kuppel aus einem selbsttragen-den, netzförmigen Stahlgerüst ausWinkel- und T-Profil-Eisen, verzich-tete jedoch auf die Diagonalverstre-bungen der „Schwedlerkuppeln“ inder Annahme, dass die 5 bis 6 cmdicke Betonschicht ausreichen würde,um eine Schalentragwirkung zu er-zielen. Der Erfolg gab ihm Recht, dieKuppel hat die Luftangriffe undBombardierung des letzten Kriegesüberstanden und wurde in den Neu-bau der Bayerischen Staatskanzlei(1989–1993) mit einbezogen (Bil-der 6 und 7).

Im gleichen Jahr begann dieFirma mit dem Bau der weitgespann-ten Bogenbrücke über die Isar beiGrünwald, die 1904 fertiggestelltwurde. Die konstruktive Bearbeitungder 220 m langen Straßenbrücke, dieden Fluss mit zwei großen Haupt-bögen von jeweils 70 m überspannte,lag in Händen von Emil Mörsch, demtechnischen Leiter des StuttgarterBüros von Wayss & Freytag [11].

1904 erhielt die Eisenbeton-Gesellschaft einen weiteren Großauf-trag – den Neubau von zwei großenWarenhäusern in der Nähe desMünchner Hauptbahnhofs. Waren-häuser waren ein neuer Bautyp, dererstmals im 19. Jahrhundert auftauchteund die Anfang des 20. Jahrhundertsvon ihren Betreibern zu opulenten„Verkaufspalästen“ ausgestaltet wur-den, in denen Waren jeglicher Artzum Verkauf angeboten wurden. DieLage in der Nähe des Bahnhofs undam Eingang der Stadt zielte auf dienach München kommende Landbe-völkerung als Kunden. Die für diesenBautyp erforderliche hohe Tragfähig-keit und absolute Feuersicherheit führ-ten dazu, dass beim Warenhaus Tietz(heute Hertie) zum ersten Mal inMünchen das tragende Gerüst auseinem monolithischen Eisenbeton-Stützenraster bestand [12], währenddas Kaufhaus Oberpollinger (heuteKarstadt) als Stahlkonstruktion er-richtet wurde, deren Stützen mit Be-ton ummantelt wurden (Bilder 8 und9). Die beiden Gebäude, jeweils inder Größe eines ganzen Baublocks,hatten große Lichthöfe mit opulentenTreppenanlagen, um die herum aufden einzelnen Geschossen die Ver-

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Bild 6. Ehem. Kgl. bayerisches Armeemuseum. Eine der ersten Arbeiten der 1903gegründeten Eisenbeton-Gesellschaft war der Bau der Kuppel über dem Mittelbaudes Kgl. bayerischen Armeemuseum. Die Kuppel hat die Luftangriffe und Bom-bardierung des letzten Krieges überstanden und wurde in den Neubau der Baye-rischen Staatskanzlei (1989–1993) mit einbezogen

Bild 7. Ehem. Kgl. bayerisches Armeemuseum. Die Konstruktion der Kuppelbesteht aus zwei selbsttragenden, netzförmigen Stahlgerüsten aus Winkel- und T-Profil-Eisen und einer 5 bis 6 cm dicken Betonschicht, um eine Schalentrag-wirkung zu erzielen. (DBZ (1906) S. 61)

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Bild 8b. Warenhaus Tietz, Bahnhofsplatz. Das Innere desKaufhauses – eine weitgehend undekorierte Eisenbetonkon-struktion. (Petry (1923) S. 287)

Bild 8a. Warenhaus Tietz, Bahnhofsplatz. Längsschnitt undErdgeschossgrundriss. (MusB (1912) S. 315)

Bild 8. Warenhaus Tietz, Bahnhofsplatz. Das Warenhauswurde 1904/05 auf dem Areal des ehem. Sterngartens durchdie Baufirma Heilmann & Littmann (Entwurf Max Litt-mann) als Eisenbeton-Rasterbau errichtet. Die Fassade „ineinheimischer Formensprache“ aus Muschelkalk. (MusB(1912) S. 314)

kaufsflächen angeordnet waren(Bild 8a). Die Entwürfe stammten vonMax Littmann, der das KaufhausOberpollinger in Anlehnung an dieBerliner Kaufhäuser Alfred Messelsmit großen Glasfassaden und in einerPfeilerarchitektur entworfen hatte.Doch der Entwurf wurde von der vomMünchner Magistrat eingesetzten„Künstlerkommission“, die die Münch-ner Baugenehmigungsbehörde, die„Lokalbaukommission“, in städtebau-lichen und ästhetischen Fragen be-riet, mit der Begründung abgelehnt,dass an diese Stelle ein Bau gehöre,der sich dem Stadtbild der Neuhauser-straße anpassen müsse. Und so wur-den aus der geplanten Pfeilerfront dreiGiebelhäuser mit großen Schaufens-tern im Erdgeschoss, waagerechtenBrüstungen und kleinteiligen Fensternin den Obergeschossen. Vergleichtman hiermit den Grundriss, so wirdder Kontrast zwischen dem innerenStützenraster und dem Äußeren be-

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sonders deutlich. „Das Haus ist denmodernsten technischen Ansprüchenentsprechend erbaut“, liest man in„München und seine Bauten“ [13].„Die Konstruktion ist in Eisen mitBetonumhüllung als Feuerschutz her-gestellt, während die Fassaden in ihrenHauptteilen in Muschelkalk ausge-führt sind. Bei der Gestaltung desÄußeren wurde Wert auf Anpassungan das alte Straßenbild der Neu-hauserstraße gelegt und deshalb allzugroße Fensterflächen zwischen schma-len Pfeilern vermieden.“ Auch dasÄußere des Warenhauses Tietz hattesich dem Münchner Altstadtbild un-terzuordnen. Die Fassaden waren ver-kleidet mit Kalk- und Tuffstein, undder ganze Komplex war kleinteiligdurch Türmchen und Giebel geglie-dert. Im Inneren blieb die Stahlbe-tonkonstruktion – quadratische Stüt-zen, Unterzüge und voutenförmigeAnschlüsse der Unterzüge an die Stüt-zen – undekoriert, nur durch Anstrichund einige schmückende Elementebelebt, sollten doch hier ausschließ-lich die ausgestellten Waren den Kun-den ansprechen (Bild 8b). Ganz imGegensatz hierzu waren Säulen undBrüstungen des ovalen Lichthofs auf-wendig mit Marmor und Glasmosaikverziert.

Die geforderte Anpassung an die„heimische Formensprache“ führte bei

den Neubauten, die in diesen Jahr-zehnten in der Münchner Innenstadtentstanden, dazu, dass der Eisenbetonaufgrund seiner großen Vorteile –Feuersicherheit und hohe Tragfähig-keit – die traditionellen Baumateria-lien im Inneren der Bauten langsamverdrängte, jedoch die Fassaden inheimischem Naturstein – überwie-gend Muschelkalk – ausgeführt wur-den. Das Eisenbahnnetz machte esmöglich, Natursteine in großen Men-gen in die bisherige „Backsteinstadt“München zu transportieren. Die zudieser Zeit bereits aufkommende Kri-tik am historistischen Formenvokabu-lar und die Forderungen nach Funk-tionalität und Materialgerechtigkeitfanden noch wenig Anklang.

Eine Ausnahme bildete der Neu-bau des Anatomiegebäudes in der Pet-tenkoferstraße in den Jahren 1905–07nach dem Entwurf von Max Litt-mann (1862–1931) (Bild 10) [14]. ImZuge des Ausbaus des Klinikviertelszwischen Lindwurm- und Landwehr-straße hatte die Firma Heilmann &Littmann die Aufträge zur Erbauungder Psychiatrischen Klinik und derNeuen Anatomie erhalten. Die Psy-chiatrische Klinik war ein ganz kon-ventioneller Bau, doch konnte hierMax Littmann beim amphitheatra-lischen Auditorium zum ersten Maldie konstruktiven Möglichkeiten des

Eisenbetons ausprobieren. Beim Bauder neuen Anatomie, einem der groß-artigsten Münchner Bauten dieserZeit,benutzte er den Eisenbeton nicht nurals Tragkonstruktion, sondern mate-rialsichtig auch im Fassadenbereich.Das Gebäude besteht aus zwei Sei-tenflügeln, die gegeneinander versetzt,doch durch einen langen Korridormiteinander verbunden sind. DerSeitenflügel zur Pettenkoferstraße istEingang, Vestibül und Verteilerraum,der Seitenflügel zur Schillerstraße be-herbergt die Büro- und Verwaltungs-räume (Bilder 11 und 12). Zwischenbeiden Flügeln, und durch einen Gar-ten vom Straßenverkehr abgeschirmt,liegt das Kernstück der Anlage: imErdgeschoss der halbkreisförmigePräpariersaal mit fünf apsidenartigenAnbauten (Bild 11a) und darüber derMikroskopiersaal. Auf der Hofseite,auf der anderen Seite des Ganges, be-findet sich der zweigeschossige Hör-saal für 350 Studenten. Gekrönt wirdder Mittelteil durch eine flache Kup-pel über einem Kranzgesims. Um denSeziersälen möglichst viel Tageslichtzukommen zu lassen, sind die Außen-wände auf schmale Fensterpfeilerzwischen hohen Fenstern reduziert.Alle Betonteile sind materialsichtig,doch steinmetzmäßig überarbeitet.Aus Sichtbeton sind auch der rusti-zierte Sockel, der Haupteingang, Gar-

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Bild 10. Max Littmann (1862–1931).Nach der Übersiedlung nach München1885 war er von 1891 bis 1908 als Ar-chitekt und Mitinhaber im Bauge-schäft seines Schwiegervaters JakobHeilmann tätig. Er wurde bekannt vorallem durch den Bau repräsentativerTheater, Wohn- und Geschäftshäuser.(Wolf (1931) S. 3)

Bild 9. Kaufhaus Oberpollinger, Neuhauser Straße. Das Warenhaus wurde1904/05 auf dem Gelände des früheren Hotels Oberpollinger durch die BaufirmaHeilmann & Littmann (Entwurf Max Littmann) als Stahlkonstruktion errichtet,die mit Beton ummantelt wurde. Die Fassade aus Muschelkalk. (MusB (1912)S. 316)

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tenbänke und Gartenmauern. Im Ge-gensatz zu der erkennbaren Beton-konstruktion des Mittelbaus sind diebeiden Seitenflügel aus verputztemMauerwerk und in einfachen neo-klassischen Formen. Doch trotz die-ses Widerspruchs ist die Neue Anato-mie ein bewundernswertes Bauwerk,das die große künstlerische QualitätMax Littmanns und die konstruktivenFähigkeiten der Eisenbeton-Gesell-schaft deutlich macht.

Ganz im Gegensatz zu der ruhi-gen, klassizistischen Architekturspra-che der Anatomie erhielt das Ge-schäftshaus der „Münchner NeuestenNachrichten“ (heute „Süddeutsche Zei-tung“) in der Sendlingerstraße (1905/06) eine reich gegliederte, mit Figu-ren und Ornamenten geschmückteFassade nach dem Entwurf von Mar-tin Dülfer, sollte doch „dem ganzenauch nach außen hin ein Zug vongediegener Repräsentation verliehenwerden“ [15]. Das Hauptgebäude unddie Druckerei sind Massivbauten,Zwischendecken, Treppen und Dach-stuhl sind aus Eisenbeton, die Fas-sade aus Betonstein. Die Kassenhallewird von einem neogotischen Kreuz-gratgewölbe aus Eisenbeton überdeckt(Bild 13).

Zu den innerstädtischen Ge-schäftshäusern, die die Firma Heil-mann & Littmann bis zur Auflösungder Eisenbeton-Gesellschaft ausführte,gehört auch der Neubau der DresdnerBank am Promenadenplatz in den Jah-ren 1906/07 [16]). Auch dieser Bauist bis zum Dachstuhl ein massiverEisenbetonbau, dessen Fassaden ausDonaukalkstein Max Littmann in neo-klassischen Formen gestaltete.

1908 wurde die Eisenbeton-Ge-sellschaft aufgelöst. Der Grund hier-für war, dass „die Firma Heilmann &Littmann die Verlängerung des Ver-trages von einer erheblichen Erweite-rung des Arbeitsgebietes abhängigmachte und die Firma Wayss & Frey-tag mit Rücksicht auf ihre übrige Ge-schäftsorganisation dieser nicht zu-stimmen konnte“ [17]. Auch Max Litt-mann verließ die Firma nach 17-jäh-riger Tätigkeit und widmete sich vonnun an ganz dem Theaterbau. Als neueFirma gründete Jacob Heilmann die„Tiefbau- und Eisenbeton-Gesellschaftm. b. H. München“, die allein von ihmund seinen Söhnen geleitet wurde, diejetzt als Geschäftsführer mit in dieneue Firma aufgenommen wurden.

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Bild 11. Neue Anatomie der Münchner Universität. Ansicht von der Pettenkofer-straße. Das Gebäude wurde in den Jahren 1905–07 nach dem Entwurf von MaxLittmann von der „Eisenbeton-Gesellschaft“ errichtet. Zwischen beiden Seiten-flügeln liegt das Kernstück der Anlage: im Erdgeschoss der halbkreisförmige Prä-pariersaal mit fünf apsidenartigen Anbauten und darüber der Mikroskopiersaal.(Süddeutsche Bauzeitung 1908, Beilage)

Bild 11a. Neue Anatomie der Münchner Universität. Blick in den Präpariersaalim Erdgeschoss. (Wolf (1931) Abbildungsteil)

Die Bauunternehmung „Gebrüder Rank“

Neben der Eisenbeton-Gesellschaftgab es ein München eine zweite Bau-firma, die sich schon früh auf denEisenbetonbau konzentriert hatte –die Bauunternehmung „Gebr. Rank“,die von drei Brüdern geleitet wurde:Josef (1868–1956), Franz (1870–1949)und Ludwig Rank (1873–1932), diesich am 15. Juni 1899 zusammen-getan hatten, um das väterliche Bau-geschäft gemeinsam weiterzuführen(Bild 14). Zwei Jahre zuvor hatte Josefden Baubetrieb um ein Architektur-büro erweitert. Um auch ingenieur-mäßige Aufgaben selbständig über-nehmen zu können, kamen späterAb-

teilungen für Fabrikbau, Eisenbeton-bau und Gaswerksbau hinzu [18].

Die Qualifikationen der drei Brü-der lagen auf unterschiedlichen Ebe-nen: Josef war der immer an Neueminteressierte Ingenieur, Franz der Ar-chitekt, der 1910 für seine künstleri-schen Aktivitäten zum Kgl. Bayeri-schen Professor ernannt wurde, undLudwig, der jüngste, war der Ge-schäftsmann, der seit 1911 auch eineFiliale der Firma in Sevilla (Spanien)leitete.

1901 hatte Josef Rank durch eineSchrift des Baseler Architekten Ru-dolf Linder über die Eisenbetonbau-weise nach dem System Hennebiqueerfahren und war von der neuen Bau-

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Bild 12. Neue Anatomie der Münchner Universität. Querschnitt mit Kennzeich-nung der Eisenbetonkonstruktionen (schwarz) und des Mauerwerks (schraffiert).(BuE (1908) S. 117)

Bild 12a. Neue Anatomie der Münchner Universität. Grundriss Erdgeschoss.(BuE (1908) S. 117)

Bild 12b. Neue Anatomie der Münchner Universität während des Baus. Blick aufdie eingeschalten Kuppeln des Erdgeschosses. (Huberti (1964) S. 58)

Bild 13. Geschäftshaus der „MünchnerNeuesten Nachrichten“ (heute „Süd-deutsche Zeitung“) in der Sendlinger-straße (1905/06). Die reich gegliederte,mit Figuren und Ornamente ge-schmückte Fassade nach dem Entwurfvon Martin Dülfer, sollte „dem ganzenauch nach außen hin einen Zug vongediegener Repräsentation verleihen.“(Heilmann (1911), Abb. 33)

Bild 14. Die Bauunternehmung „Gebr. Rank“ wurde die von dreiBrüdern geleitet: Josef (1868–1956),Franz (1870–1949) und Ludwig Rank(1873–1932), die sich am 15. Juni 1899zusammengetan hatten, um das Bau-geschäft ihres Vaters weiterzuführen.(50 Jahre Rank (1912))

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methode so begeistert, dass er nachParis fuhr und 1902 eine Konzessionerwarb. Im gleichen Jahr trat er inden 1898 gegründeten „DeutschenBeton-Verein“ ein und war seit 1904Mitglied des Vorstands. Die erstenErfahrungen mit Eisenbetondeckenmachte die Firma bei den Wohnhäu-sern in derWotanstraße 36–44 (heuteKemnatenstraße) (1902/03), das ersteBauwerk fast ganz aus Eisenbetonwar 1903 der Neubau des MünchnerVolkstheaters, Josephspitalstraße. Inden nächsten Jahren folgten eine grö-ßere Anzahl von Wohn- und Ge-schäftshäusern in der Münchner In-nenstadt, teilweise unverkleidet mitsteinmetzmäßig überarbeiteten Sicht-betonfassaden.

In den Jahren nach 1907 häuftensich die Aufträge für derartige Bau-werke. Es entstanden 1907 das Ge-schäftshaus und Fabrikgebäude derBuchdruckerei Gerber, Angertor-straße 2, mit einer gestockten Sicht-betonfassade, die Eingangsbauten zurMünchner Gewerbeausstellung 1908nach dem preisgekrönten Entwurf vonFranz Rank (Bild 15), 1908 das Ge-schäftshaus der Bürstenfabrik Pens-berger & Cie. in der Franziskaner-straße 16, die große Turnhalle desMünchner Männerturnvereins miteinem 41,40 m langen und 24,40 mbreiten zweigeschossigen Turnsaal, derauch als Festhalle genutzt werdenkonnte, 1910 das Gerstenlagerhausder Aktienbrauerei zum Löwenbräu,Nymphenburger Straße 4–7, ganz ausEisenbeton und mit einer Sichtbeton-fassade, und, als einer der größtenMünchner Aufträge, der Bau des„Lindwurmhofs“, Lindwurmstraße 88(1910/11), eines 6-geschossigen Lager-und Geschäftshauses mit einem gro-ßen Innenhof, in dem sich bis 1938auch die Geschäftsräume der Firma(Bild 16) befanden. Die Fassaden sindaus Betonwerkstein mit einem Vorsatz-beton aus feinem Kiesmaterial, gebro-chenem Muschelkalk, Dolomit undPorphyr [19]. 1910–12 baute die Firmaeinen Turn- und Festsaalsaal für dasNymphenburger Mädchenerziehungs-institut, 1911/12 die Kirche im Kran-kenhaus Nymphenburg mit einer Halb-kreistonne über den Emporen, 1914die Automobilgarage Lilienstraße 78.

Mit Beginn des Krieges nahmenjedoch die privaten und öffentlichenAufträge ab, und die Firma bemühtesich – mit Erfolg – beim Militär um

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weitere Aufträge. Auf dem FlugplatzBerlin-Friedrichsfelde erbaute manvier Flugzeughallen und ein Werftge-bäude für die Instandsetzung beschä-digter Flugzeuge [20]. Für das Militär-bauamt München wurden auf demFlugplatz München-Schleißheim zwei90 m lange Flugzeughallen errichtet,für das Militärbauamt Fürth fünf Flug-zeughallen und ein Werftgebäude aufdem dortigen Flugplatz. In Münchenselbst baute man Kasernen. In dieseZeit fiel auch die Erfindung des „Rank-silos mit Querbelüftung“ für die Lage-rung von Getreide wie auch die An-wendung des Gussbetons für Groß-bauten, da in der Kriegszeit Arbeits-

kräfte knapp geworden waren. 1926wurde Josef Rank für seine Verdiensteals Ingenieur von der TH Münchenmit dem „Doktor E.h.“ geehrt.

Zu den öffentlichen Bauten, aufdie die Firma mit besonderem Stolzblickte, gehören der Bau des Deut-schen Museums (Turm und südlichesAusstellungsgebäude) und das neueHauptzollamt am Hauptbahnhof,Landsberger Straße 124, das in denJahren 1909–12 nach Entwurf desReg.-Bauassessor Kaiser entstand [21].Das 190 m lange, einschl. der Keller-räume neungeschossige Gebäude warwegen der geforderten Feuer- undSchwammsicherheit ganz aus Eisen-

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Bild 16. Der „Lindwurmhof“, Lindwurmstraße 88 (1910/11). In dem 6-geschossi-gen Lager- und Geschäftshaus mit einem großen Innenhof befanden sich bis 1938die Geschäftsräume der Firma Gebrüder Rank. Die Fassaden sind aus Beton-werkstein mit einer Oberfläche aus feinem Kiesmaterial, gebrochenem Muschel-kalk, Dolomit und Porphyr. (125 Jahre Rank (1987) S. 58)

Bild 15. Eingangsbauten zur Münchner Gewerbeausstellung 1908 nach dempreisgekrönten Entwurf von Franz Rank. (125 Jahre Rank (1987) S. 59)

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beton. Das große Lagerhaus mit einemhohen Satteldach hatte als einzigemSchmuck eine kleine Rippenkuppel(16,30 m ¥ 10,30 m), die die 7 m hoheErdgeschosshalle zusätzlich belichtet(Bild 17). Die Firma Gebr. Rank teiltesich diesen Auftrag mit der Tiefbau-und Eisenbetongesellschaft München,der Nachfolgefirma der Eisenbeton-Gesellschaft.

Brücken aus Eisenbeton

Der Eisenbetonbau in München hatte1892 mit dem Bau einer kleinenStraßenbrücke über den Nymphen-burger Kanal, der heutigen Ludwig-

Ferdinand-Brücke (Bild 18a), durchdie Berliner „Aktiengesellschaft fürMonierbauten (ehem. G. A. Wayss &Co.)“ begonnen [22]. Es ist eine ein-bogige Straßenbrücke mit einer Spann-weite von 17,30 m und einer Pfeilhöhevon 1,88 m. Der monumentale Ent-wurf stammte von August Thiersch,Professor an der TH München, „umden ästhetischen Anforderungen dernächsten Umgebung des KöniglichenSchlosses und den beiderseitigen Al-leestraßen in jeder Weise zu entspre-chen.“ Auftraggeber war das Kgl. Hof-bauamt. Der Längsschnitt (Bild 19)zeigt die Konstruktion, die aus denbeiden massiven Stampfbetonwider-

lagern besteht und dem dünnen, be-wehrten Brückenbogen. Die Brückeist eine Monier-Konstruktion mit obenund unten liegenden Bewehrungseisenund dichter Umschnürung. Wegen derStraßenbahnführung über die Brückewurde sie 1914 zur Schlossseite hinum 8,80 m verbreitert, wobei die Brüs-tungen, die Pylone, die Flügelmauernund die Bogenstirnverkleidung abge-nommen und anschließend wiederversetzt wurden. Betrachtet man dieBrücke heute genauer, so erkenntman, dass sie in der Zwischenzeitdurch Unterbetonieren eines Bogensnoch einmal verstärkt wurde.

Eine zweite Brücke, die zur Über-führung des Elektrokabels über dieKleine Isar von dem neuen Kraftwerkauf der Praterinsel in die Stadt diente,wurde 1898 von der „A.G. für Mo-nierbauten“ als Eisenbetonbrücke mitNatursteinverkleidung erbaut (Bild 3).Die Spannweite der beiden Bögen be-trägt jeweils 38,0 m.

Im September 1899 wurde Mün-chen durch eine Hochwasserkatastro-phe heimgesucht, bei der alle Isar-brücken im Stadtbereich beschädigtoder zerstört wurden. Für den Wie-deraufbau schrieb das Stadtbauamt

H. Schmidt · Vom Hofbräuhaus zum Deutschen Museum · Münchner Bauten aus Eisenbeton 1890 bis 1914 (1)

Bild 18a. Ludwig-Ferdinand-Brückeüber den Nymphenburger Kanal. DerEntwurf stammte von August Thiersch,Professor an der TH München, „umden ästhetischen Anforderungen dernächsten Umgebung des KöniglichenSchlosses und den beiderseitigen Allee-straßen in jeder Weise zu entsprechen.“(Foto 2008)

Bild 17. Hauptzollamt am Hauptbahnhof, Landsberger Straße 124 (1909–12).Das 190 m lange, einschl. der Kellerräume neungeschossige Gebäude war wegender geforderten Feuer- und Schwammsicherheit ganz aus Eisenbeton. Die FirmaGebr. Rank teilte sich diesen Auftrag mit der Tiefbau- und EisenbetongesellschaftMünchen, der Nachfolgefirma der Eisenbeton-Gesellschaft. (BuE 1913, S. 45)

Bild 18. Ludwig-Ferdinand-Brücke über den Nymphenburger Kanal. Diese Brückemit einer Spannweite von 17,30 m wurde 1892 von der Berliner „Actien-Gesellschaftfür Monierbauten“ als erste Betonbrücke in München errichtet, 1914 verbreitert undnach 1945 noch einmal verstärkt. (Foto 2008)

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1901 einen Wettbewerb aus, der vonder Aschaffenburger Baufirma Sager &Wörner gewonnen wurde, die vor-schlug, alle Brücken in der gleichenKonstruktionsart und mit möglichstgleichen Spannweiten neu zu errich-ten [23]. Die Idee war, die Schalungenmehrmals zu verwenden, um Kostenzu sparen. Sager & Wörner gewannden Wettbewerb und konnte 1901–05sechs der neun neu zu errichtendenBrücken als Bogenbrücken mit auf-geständerter Fahrbahn erbauen [24].Die architektonische Gestaltung lagin Händen der MünchnerArchitektenTheodor Fischer und Friedrich vonThiersch, die diese, je nach Lage undBedeutung der Brücken für das Stadt-bild, mit reichem plastischem Schmuckverzierten. Als erste Brücke, noch vordem Wettbewerb 1901, wurde 1900–01die Luitpold-Brücke (heute Prinz-regentenbrücke) in der Achse derPrinzregentenstraße wiedererrichtet,jetzt als Dreigelenk-Natursteinbogen(62,40 m) aus Muschelkalk nach demEntwurf von Theodor Fischer. Da dieBrücke vom Prinzregenten finanziertwurde, hatte die Kgl. Oberste Bau-behörde die Bauleitung; die Ausfüh-rung lag in Händen der Firma Sager &Woerner.

Von 1901bis 1905wurden von Sager &Wörner fünf weitere Brücken erbaut:

1901–02Max-Joseph-Brücke (Tivolibrücke) –ein Dreigelenk-Natursteinbogen ausMuschelkalk (64 m). Aufständerungund Widerlager aus Stampfbeton.Entwurf Theodor Fischer

1901–03Corneliusbrücke – ein Dreigelenk-Natursteinbogen aus Muschelkalk(44,0 m) und zwei kleine Bögen (je-weils 38,5 m) aus Stampfbeton mitMuschelkalkverkleidung. EntwurfFriedrich v. Thiersch. Während derBauzeit brach der gemauerte Bogen

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über die große Isar ein, da das Lehr-gerüst nachgab.

1902–03Reichenbachbrücke – vier Bögen (1 ¥44 m, 3 ¥ 26–28 m). Bögen, Aufstän-derung und Pfeiler aus Stampfbetonmit Muschelkalkverkleidung. EntwurfFriedrich v. Thiersch

1903–05Maximiliansbrücke (äußere Brücke:zwei Dreigelenk-Natursteinbogen mitaufgeständerter Fahrbahn (je 45,87 m).Innere Brücke: drei kleine Stampf-betonbögen mit Muschelkalkverklei-dung, die bereits vorhanden waren).Entwurf Friedrich v. Thiersch. BeimBetonieren der Aufständerung undder Fahrbahn rutschten beide Bögenaus ihren Kämpfergelenken und ver-klemmten sich zwischen den Wider-lagern.

1904–05Wittelsbacherbrücke – vier Dreige-lenkbögen (1 ¥ 44 m, 3 ¥ 26–28 m)mit aufgeständerter Fahrbahn ausStampfbeton mit Muschelkalkver-kleidung. Entwurf Theodor Fischer

Die Brücken gehören von ihrer Ge-staltung her zum Besten und Elegan-testen, was in München an Brücken-bauten zu sehen ist.

Anmerkungen und Quellen

[1] Um auf die Bedeutung dieser Bautenaufmerksam zu machen, fand am6./7. Oktober 2006 im Deutschen Mu-seum in München die Tagung „Mün-chen 1900–1914. Heimliche Haupt-stadt des Stahlbetons“ statt mit Vor-trägen von Winfried Nerdinger, FlorianZimmermann, Dirk Bühler, MarcoPogacnik, Christian Kayser und demVerfasser. Veranstalterwaren das Deut-sche Museum und die Beton Marke-ting Süd GmbH. Leider ist es zu keinerVeröffentlichung der Vorträge gekom-men. Dieser Aufsatz bietet einen Über-blick über die behandelten Themen.

[2] Wayss, G. A.: Das System Monier(Eisengerippe mit Cementumhüllung)in seiner Anwendung auf das gesamteBauwesen. Unter Mitwirkung namhaf-terArchitekten und Ingenieure heraus-gegeben von G. A. Wayss, Ingenieur,Inhaber des Patents »Monier«. Berlin1887.

[3] Da bis um 1920 der Stahlbeton,„Eisenbeton“ genannt wurde, möchteich in diesen Aufsatz, der den Zeitraumbis 1914 behandelt, den zeitgemäßenBegriff benutzen.

[4] Bereits bei der 2. Auflage änderteMörsch den Titel in: „Der Eisenbeton-bau. Seine Theorie und Anwendung“.

[5] Bayer. Architekten- und Ingenieur-Verein (Hrsg.): München und seineBauten. München 1912. Dieser Bandbietet den besten Überblick über dieBautätigkeit in München bis 1912. Allein diesem Aufsatz behandelten Bautenfinden sich in diesem Band mit Fotound einer kurzen Beschreibung.

[6] Handbuch für Eisenbetonbau, Band I,S. 151–155. Berlin 1912 (2. Auflg.).

[7] Christoph, P.: Der Eisen-Beton undseine Anwendung im Bauwesen. Berlin1905, S. 105.

[8] München und seine Bauten (1912),S. 656.

[9] Heilmann, J.: Das königl. Hofbräu-haus in München. Entworfen und aus-geführt von Heilmann & Littmann.München 1897.

[10] Habel, H.: Das Bayerische Armee-museum in München. Arbeitshefte desBayer. Landesamtes f. Denkmalpflege,Heft 10. München 1982.

[11] Wetzk, V.: Vor 100 Jahren eröffnet –Die alte Isarbrücke bei Grünwald. In:Beton- und Stahlbetonbau 100 (2005),H. 3, S. 253–256. Leider wurde dieBrücke, ein bedeutendes Denkmal derBetongeschichte, 1999 durch einenNeubau ersetzt.

[12] Der Erfinder der monolithischenEisenbetonstruktur war François Hen-nebique (1842–1921), der in Frankreich1892 ein Patent darauf erhielt. Waysshatte sich mit Hennebique nicht aufdie Übernahme einer Linzenz verstän-digen können, so dass Wayss & Frey-tag durch eigene Versuche und Ver-besserung der Berechnungsmethode einähnliches, doch eigenes Konstruktions-system entwickelte. Bereits 1903 er-klärte man in Frankreich HennebiquesPatent für ungültig, um dem älterenPatent von Joseph Monier von 1878den Vorzug zu geben. Damit waren diePatentansprüche Hennebiques auch inDeutschland erloschen.

[13] München und seine Bauten (1912),S. 317.

[14] Beton und Eisen 1908, H. 5,S. 116–119; H. 6, S. 146–148.

H. Schmidt · Vom Hofbräuhaus zum Deutschen Museum · Münchner Bauten aus Eisenbeton 1890 bis 1914 (1)

Bild 19. Straßenbrücke über den Nymphenburger Kanal. Längsschnitt mit Ein-tragung der Eiseneinlagen. (HfE VI (1911) S. 346)

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[15] München und seine Bauten (1912),S. 329.

[16] München und seine Bauten (1912),S. 324–325.

[17] Festschrift aus Anlass des fünfzig-jährigen Bestehens der Wayss & Frey-tag A.G., Stuttgart 1925, S. 31.

[18] Die Geschichte und die Bauten derFirma Gebr. Rank sind in drei Fest-schriften (1912, 1962, 1987) ausführ-lich dokumentiert, so dass hier auf Li-teraturhinweise zu jedem Bau verzich-tet wird.

[19] Heute sind hier, wie auch bei ande-ren Sichtbetonbauten aus dieser Zeit,die Fassaden überstrichen, so dass die

Qualität des steinmetzmäßig überar-beiteten Vorsatzbetons nicht mehr zurWirkung kommt.

[20] Schmidt, H., Pichler, G.: Die Flug-zeughallen des ehemaligen Militärflug-hafens Berlin-Friedrichsfelde. In: Beton-und Stahlbetonbau 98 (2003), H. 12,S. 682–692.

[21] Beton & Eisen 1913, H. 3, S. 45–51. [22] Handbuch für Eisenbetonbau, Band

VI, S. 346. Berlin 1910 (2. Aufl.). 1893erbaute die Firma eine ähnliche Brückein Berlin-Köpenick. Zur Verbreiterung:Bosch, Brücke über den Nymphenbur-ger Kanal der Ludwig-Ferdinand-Straße.In: Beton und Eisen 1914, S. 253–254.

[23] Sager & Woerner 1864–1964. Ar-beit – Erfolg – Verluste. 1. Teil, Mün-chen 1964, S. 102–108.

[24] Hackelsberger, C.: München undseine Isar-Brücken. München 1981.

Abkürzungen in den Bildunterschriften:BuE Beton und EisenDBZ Deutsche BauzeitungHfE Handbuch für EisenbetonbauMusB München und seine Bauten

Autor dieses Beitrages:Prof. i. R. Dr.-Ing. Hartwig Schmidt,Kurfürstenstraße 3, 76137 Karlsruhe

(Fortsetzung im nächsten Heft)

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