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Adrian Kuhl Vom Vaudeville zum Spektakel. Die Finalfassungen von Carl David Stegmanns Der Kaufmann von Smyrna Beitrag zur Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung Halle/Saale 2015 – »Musikwissenschaft: die Teildisziplinen im Dialog« =LYMMLU[SPJO[ \U[LY KLY *YLH[P]L*VTTVUZ3PaLUa ** )@5*5+ c :JOV[[ 4\ZPJ GTI/ *V 2G

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Adrian Kuhl

Vom Vaudeville zum Spektakel. Die Finalfassungen von Carl David Stegmanns Der Kaufmann von Smyrna

Beitrag zur Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung Halle/Saale 2015 –»Musikwissenschaft: die Teildisziplinen im Dialog«

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Adrian Kuhl

Vom Vaudeville zum Spektakel. Die Finalfassungen von Carl David Stegmanns Der Kaufmann von Smyrna

Der »Kaufmann von Smyrna, Singspiel in I Aufzug mit Musik von Stegmann, das Final ist neu kompo-nirt und schön.« – Diese kurze Notiz erschien 1795 in einer Repertoireliste des Hamburger Theaters im Mannheimer Theater Kalender.1 Bemerkenswert an der Notiz ist allerdings weniger, dass das 1773 in Kö-nigsberg uraufgeführte Singspiel auch in Hamburg auf die Bühne kam, sondern dass das Singspiel mit einem neu komponierten Finale gespielt wurde.2 Denn warum, so lässt sich fragen, sollte Stegmann für ein immerhin über zwanzig Jahre altes und durchaus erfolgreiches Singspiel auf einmal ein neues Finale komponieren, noch dazu eines, das einen nur kurzen Vaudeville-Schluss durch ein zusammenhängend komponiertes Handlungsfinale mit 650 Takten ersetzt? Die Erklärung für diese Umarbeitung liegt in einem Prozess, der seit den 1780er-Jahren im nord- und mitteldeutschen Raum sowohl auf Seiten des Publikums als auch auf Seiten der Opernschaffenden einsetzt: die zunehmende Orientierung an der Wiener Singspielästhetik. Diese wird – nicht zuletzt durch den europaweiten Siegeszug von Wolfgang Amadé Mozarts Die Entführung aus dem Serail (1782) – im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts immer stär-ker auch im nord- und mitteldeutschen Raum rezipiert und beeinflusst die dortige Singspielästhetik nachhaltig,3 wie sich gerade an solch einer kompositorischen Aktualisierung eines Singspiels verfolgen lässt.

Der heute weitgehend vergessene Carl David Stegmann gehört zu den typischen Universalisten, die das Theater- und Opernleben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts prägten. 1751 in Dresden geboren, 1826 in Bonn gestorben, debütierte er 1772 bei der Wäserschen Gesellschaft, mit der er nach Breslau gereist war, bevor er vermutlich 1773 zur Schuchschen Gesellschaft nach Königsberg ging, bei der er bis 1776 blieb.4 Weitere Hauptstationen seiner Karriere als Schauspieler, Sänger, Komponist, Orchesterlei-ter, Cembalist, Operndirektor und Theaterleiter waren unter anderem Gotha (1776–1778), Hamburg (1778–1783, 1792–1811; seit 1798 Mitdirektor) und Bonn (1811–1826). Ist Stegmann heute weitgehend vergessen, zählte er damals zu den renommierten Größen des Theaterlebens.

In Der Kaufmann von Smyrna vertont Stegmann ein Libretto Christian Friedrich Schwans, das dieser auf Grundlage von Sébastien-Roch Nicolas Chamforts französischem Sprechtheaterstück Le Marchand de Smyrne angefertigt hatte.5 Da heute nicht nur Stegmanns Vertonung, sondern auch Schwans Libretto weitgehend unbekannt sind, seien hier zunächst die Hauptpunkte der im Orient spielenden Handlung zusammengefasst:6 Zwei Jahre bevor die eigentliche Opernhandlung beginnt, sollte der türkische Kauf-

1 Zitiert nach Theater Kalender, Mannheim 1795, Zwote Abtheilung: Bestand und Uebersicht der vorzüglichsten deutschen Theater, S. 104. Die Repertoireliste ist Bestandteil eines Berichts über das Hamburger Theater (ebd., S. 105) und verzeichnet laut Überschrift die dort gegebenen »Vorzüglichere[n] neu aufgeführte[n] Stücke von 1793 bis Ostern 1794«; ebd., S. 103. 2 Auf das neue Finale weisen auch hin: Thomas Bauman, North German Opera in the Age of Goethe, Cambridge 1985, S. 276f., Fußnote 24; Jörg Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater. Typologie, Dramaturgie und Anthropologie einer populären Gattung, 2 Bde., Tübingen 1998 (Studien zur deutschen Literatur 149/150), S. 790. 3 Bauman, North German Opera, S. 11. 4 Katrin Bemmann, Artikel »Stegmann, Carl David«, in: MGG2, Personenteil 15 (2006), Sp. 1376f., hier: Sp. 1376. 5 Thomas Betzwieser, »Singspiel in Mannheim. Der Kaufmann von Smyrna von Abbé Vogler«, in: Mozart und Mannheim, hrsg. von Ludwig Finscher, Frankfurt a. M. u. a. 1994 (Quellen und Studien zur Geschichte der Mannheimer Hofkapelle 2), S. 119–144, hier: S. 121, 123f.6 Vgl. zur Handlung und Entstehungsgeschichte von Stegmanns Singspiel auch Adrian Kuhl, »Allersorgfältigste Ueberlegung«. Nord- und mitteldeutsche Singspiele in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Beeskow 2015 (ortus studien 17), S. 511–513.

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mann Hassan in Marseille als Sklave verkauft werden. Dort erfuhr ein Unbekannter, dass der Türke aus-gerechnet auf dem Weg zu seiner Hochzeit verschleppt worden war, und war davon so gerührt, dass er Hassan kurzerhand freikaufte. Zum Dank schwor Hassan, jedes Jahr auf dem Sklavenmarkt in Smyrna ebenfalls einen Sklaven auszulösen. An dieser Stelle beginnt die Handlung der einaktigen Oper. Nach-dem Hassan von seiner Frau Zayde erfahren hat, dass neue Sklaven im Hafen der Stadt eingetroffen wären, macht er sich auf, sein Gelübde einzulösen.

Beim Sklavenhändler Kaled, der sich über die neue ›Ware‹ freut, beklagen derweil die französischen Ge-fangenen Dornal und Amalie ihr Schicksal, bevor Amalie verkauft wird. Hassan erscheint und ihm wer-den von Kaled verschiedene Sklaven angeboten, doch entdeckt der Kaufmann unter den Gefangenen plötzlich seinen damaligen Erretter. Hassan löst ihn aus und erfährt vom Verkauf Amalies. In Hassans Haus angekommen, überrascht Zayde ihren Ehemann mit der Nachricht, dass sie eine Sklavin freige-kauft habe. Es stellt sich heraus, dass es Amalie ist. Überglücklich über den freudigen Ausgang beschlie-ßen Hassan und Dornal sämtliche Sklaven Kaleds freizukaufen.

Wie am Handlungsverlauf deutlich wird, entwirft Schwan in seinem Libretto den zeittypischen Hand-lungsgang einer Entführung von Europäern im Orient, die nur durch die Großmut eines Orientalen zu einem guten Ende kommt.7 Eine Besonderheit ist in diesem Falle jedoch, dass der Orientale sein gutes Handeln von einem Europäer gelernt hat. Die Präsentation der humanistischen Handlungsmoral, dass unabhängig von Herkunft und Religion moralisch gutes Handeln möglich ist, wird hier also nicht wie in anderen Orientstücken nur der Osmanenfigur beigelegt, sondern durch eine direkte Gegenüberstellung von ethisch gutem okzidentalen und orientalen Handeln verdeutlicht.

In der ersten Fassung des Singspiels8 steht daher die Präsentation moralisch guten Handelns deutlich im Vordergrund der dramaturgischen Ausgestaltung. Hassan und Zayde werden von Beginn an sowohl textlich als auch musikalisch als moralisch gute Türken gezeichnet, der Sklavenhändler Kaled hingegen als jene stereotype Türkenfigur, die gewaltlüstern Europäer bedroht.9 Dornal und Amalie werden hinge-gen als empfindsame Liebende gezeichnet, die im Text mit moralisch guten, französischen Nationalste-reotypen versehen sind.10 Bühnenaktion und sogar ein wenig Komik bringen lediglich eine Streitszene Kaleds mit einem seiner Kunden auf die Bühne sowie das kurze Präsentieren zweier Sklaven Kaleds im Sprechdialog.11 Ansonsten lässt sich das Stück mit seinem moralisierenden Handlungsverlauf und seiner wenig dramatischen Handlung als eine comédie larmoyante beschreiben.12

Das Stück endet schließlich mit der Lösung des dramatischen Konflikts im gesprochenen Dialog – die Liebenden werden vereint und Hassan und Dornal beschließen, auch die restlichen beiden Sklaven Ka-leds loszukaufen.13 Auf Hassans Aussprechen der Stückmoral, dass »man auch bey uns die Pflichten der 7 Betzwieser: Singspiel in Mannheim, S. 121f. 8 Der Analyse liegt das Hamburger Material von Stegmanns Singspiel zugrunde, das in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky verwahrt wird: 1. Fassung: [Carl David Stegmann, »Der Kaufmann von Smirna«], D-Hs/ ND VII 387; 2. Fassung: »Der Kaufmann von Smirna. Eine Operette in einem Aufzuge von C. D. Stegmann 1791«, D-Hs/ ND VII 386. 9 Zur stereotypen Aufteilung der Osmanenfiguren nach ihrer Moralität vgl. W. Daniel Wilson, Humanität und Kreuzzugsideologie um 1780. Die »Türkenoper« im 18. Jahrhundert und das Rettungsmotiv in Wielands ›Oberon‹, Lessings ›Nathan‹ und Goethes ›Iphigenie‹, Frankfurt a. M. u. a. 1984 (Kanadische Studien zur deutschen Sprache und Literatur 30), S. 17. 10 Vgl. zur Figurenzeichnung und zur Verwendung von Nationalcharakteren in Stegmanns und Schwans Der Kaufmann von Smyrna Kuhl, »Allersorgfältigste Ueberlegung«, S. 190–205. 11 Christian Friedrich Schwan, Der Kaufmann von Smyrna, eine Operette in einem Aufzuge. Die Musik ist von Herrn G. Vogler, Mann-heim: bey C. F. Schwan, Churfürstlicher Hofbuchhändler 1771, S. 21–32, 47–51. Ein vollständiges Libretto, das Stegmann als Komponisten nennt, ist nach derzeitigem Kenntnisstand nicht überliefert. 12 Ähnlich auch Betzwieser, Singspiel in Mannheim, S. 122. 13 Schwan, Der Kaufmann von Smyrna, S. 69–73.

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Menschheit kennt und auszuüben weiß«,14 folgt ein Rundgesang der vier Protagonisten, in dem die mo-ralisierenden Hauptaspekte des Stückes nun gesungen wiederholt werden: aufrichtige Nächstenliebe (Verse 1–4), Christen und Muslime können Brüder werden (Verse 9f.), Dankbarkeit ist ein humanisti-sches Gut (Verse 13–16) und Gutes tun macht glücklicher als man denkt (Verse 19–22). Die abschlie-ßende, gemeinsam zu singende Strophe wendet sich mit dem Aufruf Gutes zu tun schließlich direkt an das Publikum (Verse 25–30). Der Rundgesang fasst demnach lediglich dasjenige zusammen, was im vo-rausgegangenen Dialog bereits ausgesprochen worden ist, wendet es explizit ad spectatores und hebt durch seine Musikalisierung die Moral des Stückes in der Wahrnehmung des Zuschauers besonders her-vor, was durch die strophische Gestaltung außerdem betont eingängig gestaltet ist.

Vers Reim Metrum

Dornal.

1 Wie schön ist es, der Menschheit Pflichten üben, a 5u 2 Dem Nächsten willig beyzustehn; b 4b 3 Aufrichtig alle Menschen lieben, (a) 4u 4 Und andre durch sich glücklich sehn! b 4b 5 Ein gutes Werk wirkt jederzeit c 4b 6 Die süßeste Zufriedenheit. c 4b Amalie.

7 Das Glück schenkt mir heut meinen Dornal wieder, d 5u 8 Und ihm schenkt es den besten Freund: e 4b 9 So werden Türken unsre Brüder, (d) 4u

10 So bald die Tugend uns vereint. (e) 4b 11 Ein gutes Werk wirkt jederzeit c 4b 12 Die süßeste Zufriedenheit. c 4b

Hassan.

13 Die Dankbarkeit ist allen Völkern eigen, f 5u 14 Selbst der Barbar verkennt sie nicht. g 4b 15 Wie glücklich konnt ich heute zeigen f 4u 16 Auch Hassan kenne seine Pflicht. g 4b 17 Ein gutes Werk wirkt jederzeit c 4b 18 Die süßeste Zufriedenheit. c 4b

Zayde.

19 An Hassans Brust, allein geliebt, zu leben; h 5u 20 Dem Freunde, der ihn mir geschenkt, i 4b 21 Die schöne Freundin wiedergeben: h 4u 22 Ist größre Wollust, als man denkt. i 4b 23 Ein gutes Werk wirkt jederzeit c 4b 24 Die süßeste Zufriedenheit. c 4b

Alle zusammen.

25 Seyd ihr nicht alle Kinder eines Blutes? j 5u 26 Habt ihr nicht einen Vater nur? k 4b 27 Ihr Sterbliche! … Drum thut euch Gutes! j 4u 28 Dies ist die Stimme der Natur. k 4b 29 Ein gutes Werk wirkt jederzeit c 4b 30 Die süßeste Zufriedenheit.15 c 4b

14 Zitiert nach ebd., S. 73. 15 Zitiert nach ebd., S. 73ff.

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Die textliche Gestaltung des Rundgesangs zeigt sich dabei für Finalbildungen im nord- und mitteldeut-schen Singspiel der 1770er-Jahre in charakteristischer Weise. Die fünf Strophen sind alle völlig regelmä-ßig gebaut: Jeweils vierversig mit zweiversigem Refrain angelegt, verfügen sie jeweils über die gleiche metrische und reimorganisatorische Anlage – fünfhebiger Eingangsvers mit folgenden vierhebigen, wechselnd kadenzierenden Versen, die jeweils über Kreuzreime verbunden sind, während der Refrain durch Paarreim und betonte Versendungen davon abgesetzt ist.

Stegmann setzt das Finale in der durch die textliche Regelmäßigkeit implizierten strophischen Weise um. Nach einem zehntaktigen Vorspiel folgt auf zwei musikalische Abschnitte die Vertonung der ersten vier Verse (T. 11–25), bevor nach einem kurzen Zwischenspiel (T. 26–28) der Refrain auf einen neuen musi-kalischen Abschnitt angehängt wird (T. 29 mit Auftakt–45). Die mit »Coro« überschriebene Schlussstro-phe präsentiert mit leichten Varianten und durch die chorische Anlage mit gesteigerter Besetzung schlussüberhöhend die letzte Strophe, wodurch die Wendung ans Publikum auch musikalisch gesteigert erscheint.16

Das Finale der zweiten Fassung könnte nun kaum unterschiedlicher gestaltet sein und zeigt mit der Mu-sikalisierung der Konfliktlösung, der Vertonung von Handlung sowie mit einer musikzentrierten Final-bildung und einer Steigerung des Bühnenspektakels deutlich Wiener Züge. Fand, wie eben deutlich wur-de, die Auflösung des eigentlichen Handlungskonflikts – die Wiedervereinigung der Geliebten – in der ersten Fassung, wie für das nord- und mitteldeutsche Singspiel üblich, im Sprechdialog statt, während innerhalb der Musik lediglich die ebenfalls vorher bereits ausgesprochene Handlungsmoral wiederholt wurde, so bildet in der zweiten Fassung die Wiedervereinigung der Geliebten den Ausgangspunkt des enorm ausgedehnten Finales.17 Der Librettist verlagert also die Auflösung des Handlungsknotens und damit einen wesentlichen Teil der Handlung in die Musik. Dem schließen sich eine Vielzahl weiterer Handlungsmomente an: Die vier Protagonisten besingen den glücklichen Ausgang (Verse 1–7), Dornal preist seinen Befreier (Verse 8–12), gibt Zayde einen Freundeskuss (Verse 13–18) und alle vier Protago-nisten loben die wahre Freundschaft (Verse 19–22). Hassan ist fröhlich, bevor er seine Sklaven ruft und ihnen befiehlt zu Kaled zu laufen, da er alle Sklaven loskaufen möchte (Verse 23–32). Dornal sichert ihm seine Unterstützung zu und alle vier preisen das Wohltun (Verse 33–38).

Ist damit ein erster Großabschnitt gebildet, der alle wesentlichen Handlungselemente enthält, die die gesprochene Schlussszene der ersten Fassung bestimmt hatten, so wird in der zweiten Fassung nun in einem zweiten Großabschnitt ein weiteres Handlungsmoment mit zahlreichen neuen Figuren in das durchkomponierte Finale eingeflochten – Kaled erscheint mit allen seinen durchweg skurrilen Sklaven: ein komischer Gelehrter, ein goldmachender Adept, ein Magnetiseur, ein Genealogist, ein Kieselstein-fresser sowie vier Mädchen von frivol bis hausbacken (Verse 43–56), bevor diese dann jeweils in Solo-strophen ihre Vorzüge präsentieren (Verse 57–95). Chorische Repliken der vier Protagonisten beantwor-ten jeweils die Solostrophen der Sklaven, bevor die vier Protagonisten den Gefangenen verkünden, sie alle loszukaufen (Vers 96). Die Sklaven brechen in Jubel aus und alle besingen abschließend die Freiheit und Liebe (Verse 97–112; vgl. die Textwiedergabe in Anhang 1).

Stegmann folgt der Textanlage und entwirft ein umfangreiches, durchgehend komponiertes Handlungs-finale in Kettenfinalstruktur, das sich eng an der in fünf Handlungseinheiten gliederbaren Textstruktur des Librettos orientiert. Allerdings schafft Stegmann zusätzliche Unterteilungen und bildet somit insge-

16 Stegmann, »Der Kaufmann von Smirna«, D-Hs/ ND VII 387, S. 130–133. 17 Christian Friedrich Schwan, Gesänge aus dem Singspiele: Der Kaufmann von Smirna, in einem Aufzuge, nach dem Französischen des Herrn von Champfort, von […]. In Musik gesezt [sic] von Stegmann, Hamburg: Johann Matthias Michaelsen 1792, S. 9.

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samt 18 kontrastierende musikalische Einheiten aus (siehe Anhang 2: Übersicht über die Finalstruktur der zweiten Fassung).

Die zusätzliche Untergliederung der Vertonung gegenüber der Textanlage im Libretto führt bei der mu-sikalischen Gestaltung vor allem im zweiten Großabschnitt zu mehr Abwechslung und ermöglicht Stegmann unter anderem musikalisch gezielt auf Handlungsmomente zu reagieren und im Sinne drama-tischer Schlüssigkeit eine von den Zeitgenossen erwartete differenzierte Figurenzeichnung vor allem der absonderlichen Figuren zu entwerfen.18 Beispielhaft lässt sich das an den solistischen Abschnitten des Gelehrten und des Goldmachers zeigen. Stegmann entwirft für die einzelnen Sklaven individuell gestal-tete Abschnitte, die harmonisch, melodisch sowie von der Taktart und der Tempovorschrift zueinander kontrastieren. So ist beispielsweise für den Gelehrten die Tonart B-Dur nebst 4/4-Takt und Grave-Tempo vorgeschrieben (T. 265). Ein durch homophone Anlage bewusst simpel gestalteter reiner Strei-chersatz, zu dem später lediglich ein obligat geführtes Fagott hinzutritt, begleitet die laut Partiturvor-schrift »mit Pathos« vorzutragende Singstimme, die sich neben parlandohaften Strukturen immer wieder durch größere Intervallsprünge auszeichnet. Gut sichtbar ist dies gleich zu Beginn: Die Singstimme star-tet mit Quartsprüngen und wird nach einigen Terzintervallen in Quintsprung und Oktavfall geführt, so-dass in kürzester Zeit ein Tonraum von fast eineinhalb Oktaven durchmessen wird (T. 265f.). Dies ge-schieht ausgerechnet auf die Worte »Ich heiße Kruntupuntius«, also der direkten Vorstellung des Gelehrten. Die im getragenen Tempo mit Pathos vorzutragende Linie erzeugt durch die großen Inter-vallsprünge und den umfangreichen Ambitus an dieser Stelle den Eindruck von Gewichtigkeit, die je-doch durch den bewusst simplen Streichersatz, den absurden Namen der Figur und ein ab Takt 269 ein-setzendes obligates Fagott dem Figurencharakter entsprechend komisch gebrochen erscheint.

Notenbeispiel 1 Carl David Stegmann, Der Kaufmann von Smyrna, 2. Fassung, Finale T. 265–270. Wiedergabe nach D-Hs/ ND VII 386, S. 127v–128r [129v–130r].19

Völlig anders ist der Abschnitt des Adepten gestaltet. Das Taktmetrum wechselt zum alla breve, die Tonart von B-Dur zu D-Dur und das Tempo zum Andante (T. 279). Das begleitende Orchester ist dif-ferenzierter angelegt und integriert neben den Streichern zunächst die Flöten, später auch den vollen

18 Zur zeitgenössischen Forderung nach differenzierter Figurenzeichnung vgl. Kuhl, »Allersorgfältigste Ueberlegung«, S. 22–25, 238ff. 19 Die Wiedergabe der Notenbeispiele erfolgt ohne editorische Zusätze getreu der vorliegenden Quelle. Lediglich eine Takt-nummerierung wurde ergänzt und die Gesangsstimmen modern geschlüsselt.

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Bläsersatz. Komik entsteht hier einerseits durch den Text des Goldmachens, andererseits durch die Verwendung der Flöten, wenn es um die Göttin der Weisheit geht, wodurch der Passage ein an Liebes-szenen erinnernder Eindruck verliehen wird (T. 279–282). Komik erzeugt ebenfalls eine demonstrativ schlussüberhöhende Vertonung des Goldmachens (T. 287–290).

Notenbeispiel 2 Carl David Stegmann, Der Kaufmann von Smyrna, 2. Fassung, Finale T. 279–283. Wiedergabe nach D-Hs/ ND VII 386, S. 129v [131v]f.

Diese Kontrastanlage nutzt Stegmann nun nicht nur zur Figurenzeichnung, sondern auch zur gezielten Handlungsdramatisierung, indem er den Beginn der Adepten-Strophe musikalisch als aufgebrachte Antwort an den Gelehrten gestaltet. Eine chorische Replik der beiden Liebespaare auf die Vorstellung des Gelehrten hat kaum geendet, da lässt Stegmann den Adepten mit der Vertonung von dessen ersten beiden Versen einsetzen (T. 277f.). Die Streicherstimmen begleiten den Einsatz mit Akkordschlägen im forte, während die Gesangslinie sich zu einem colla parte geführten Fagott in Sechzehnteln äußert. Ver-leiht dies dem Einsatz den Eindruck eines Affektausbruchs des Goldmachers, so unterstützt Stegmann den inhaltlichen Bezug auf den Abschnitt des Gelehrten auch musikalisch. Der Adept beginnt mit B-Dur in der gleichen Tonart wie der Gelehrte und die Begleitung mit Solofagott schließt direkt an die Klanggestalt des Gelehrtenabschnitts an (siehe Notenbeispiel 3 auf S. 7).

Ähnlich auf die Umsetzung der Bühnenhandlung ausgerichtet, ist der vorausgehende Auftritt Kaleds. Stegmann lässt am Ende eines moralisierenden Abschnitts von Hassan, Zayde, Dornal und Amalie den Sklavenhändler bereits in der Ferne hörbar werden, wodurch dessen Ankunft musikalisch geradezu in-szeniert wird. Ein Ausdünnen der Orchesterbegleitung verbunden mit einem Texturwechsel markiert den Beginn von Kaleds Näherkommen ab Takt 190. Nach marschartig erscheinenden Rhythmen in den Streichern beginnen zunächst unisono auszuführende Sechzehntelfiguren in Viola und zweiter Violine (T. 194), die mit Einbezug der ersten Violine zunehmend zu Skalenläufen transformiert werden, die bis zur Ankunft des Sklavenhändlers in Takt 210 fortlaufen. Der Orchestersatz wird immer weiter verdich-tet und die vier Protagonisten intonieren dazu die Worte »Welch ein Getümmel! Sie haben die frohe Botschaft vernommen [–] Sie kommen! Sie kommen!« (T. 190–210). Das eigentliche Auftreten Kaleds gestaltet Stegmann schließlich mit einem Zitat der Musik von Kaleds erster Arie des Singspiels (»Ich hasse den Frieden und liebe den Krieg!«), die sich durch überdeutliche Alla-turca-Stilistik wie Skalenläu-

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fe, Unisono, Pauken und gerades Taktmetrum auszeichnet20 und durch den Wiedererkennungseffekt eine Art Höhepunkt des Finales ausbildet (T. 211; siehe Notenbeispiel 4).

Notenbeispiel 3 Carl David Stegmann, Der Kaufmann von Smyrna, 2. Fassung, Finale T. 277f. Wiedergabe nach D-Hs/ ND VII 386, S. 129r [131r]f.

Notenbeispiel 4 Carl David Stegmann, Der Kaufmann von Smyrna, 2. Fassung, Finale T. 211 mit Auftakt–213. Wie-dergabe nach D-Hs VII 386, S. 121r. [123r.]f.

20 Eine Analyse der Arie (1. Fassung) findet sich in Kuhl, »Allersorgfältigste Ueberlegung«, S. 191f., 194f.

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Zeigt sich an diesen Beispielen die Verlagerung von Handlung in die Musik, so verdeutlicht das in der zweiten Finalfassung neu hinzugekommene Auftreten der Sklaven und ihre individuelle Präsentation zudem generell das Bestreben, den Schauwert der Szene zu erhöhen. Dies wird bereits an der Auswei-tung der vorgesehenen Sklavenanzahl deutlich. Waren es in der ersten Fassung lediglich zwei – ein goldmachender Italiener und ein nichtsnutziger spanischer Adliger21 – so werden in der zweiten Fassung neun Sklaven präsentiert, die bewusst absonderliche Züge tragen – bis hin zur Jahrmarktsfigur des Kie-selsteinfressers.22 Dazu kommt, dass die Präsentation der Sklaven im Finale dramaturgisch und inhaltlich die Dopplung einer fast identisch gestalteten Sprechszene im vorigen Stückverlauf darstellt. Schon dort werden die Sklaven Hassan mit allen ihren Vorzügen vorgeführt, damit er seine Wahl treffen könne.23 Die erneute Präsentation der Gefangenen wäre also dramaturgisch gesehen verzichtbar gewesen.

Vergleicht man die beiden Fassungen des Singspiels und namentlich der beiden Finali nun hinsichtlich der ihnen zugrunde liegenden Singspielästhetik, so lässt sich konstatieren, dass die zweite Fassung in Bezug auf die Dramaturgie und die Finalbildung deutlich der Wiener Ästhetik angenähert ist. Dies wird erstens daran deutlich, dass in der zweiten Fassung im Finale Handlung in die Musik verlagert wird, was im nord- und mitteldeutschen Singspiel, abgesehen von Experimenten mit vollständig in Musik gesetz-ten Dramen, ab den 1780er-Jahren durch die Rezeption von opéra comique, opera buffa und eben dem Wiener Singspiel zu beobachten ist – Johann Andrés Belmont und Constanze und Christian Gottlob Neefes Adelheit von Veltheim seien hier als Beispiele genannt.24 Zweitens wird die Bezugnahme zur Wiener Ästhe-tik daran deutlich, dass Stegmann in der zweiten Singspiel-Fassung auf eine Finalwirkung setzt, die dem Prinzip der musikalischen Steigerung folgt, wie bereits an der Länge des neuen Finales im Vergleich zum Vaudeville-Finale der ersten Fassung ersichtlich ist. Dies ist innerhalb der norddeutschen Singspielästhe-tik bis in die 1790er-Jahre anders als im Wiener Singspiel kein allseits gebräuchliches Prinzip.25 Im Nor-den gingen die Zeitgenossen traditionell von einer Funktionstrennung von Wort und Musik aus,26 die auch die Wahl der Schlussbildung bestimmte:27 So sollten Dinge, die von der Ratio aufgenommen wer-den mussten, also beispielsweise die Auflösung des Handlungskonfliktes, im gesprochenen Dialog statt-finden, da sie bei einer Vertonung nicht ausreichend wahrgenommen werden könnten – der Grund, wa-rum in der ersten Fassung die Wiedervereinigung der Geliebten im Sprechdialog stattgefunden hatte. Innerhalb der norddeutschen Ästhetik konnten einzelne Akte also auch mit reinem Sprechdialog und ganze Singspiele mit einem nur kurzen Chor schließen, was dem Aspekt musikalischer Steigerungswir-kung aus Wiener Perspektive natürlich zuwiderläuft.28 Dass Stegmann also die Wiedervereinigung der

21 Schwan, Der Kaufmann von Smyrna, S. 47–50. 22 Schwan, Gesänge aus dem Singspiele: Der Kaufmann von Smirna, S. 11–14. 23 Der Kaufmann von Smirna eine Operette in 1. Act. Hamburg im Dec: 1791 [Inspektionsbuch], D-Hs/ Theater-Bibliothek 428a, S. 11r–15r. Von der zweiten Fassung ist kein vollständiges Libretto im Druck überliefert; gedruckt erhalten sind lediglich die Gesangstexte (vgl. bibliografische Angabe in Fußnote 17). In D-Hs haben sich jedoch ein mit zahlreichen Korrekturen und Bearbeitungen versehenes Inspektions- und ein Souffleurbuch erhalten (Theater-Bibliothek 428 und 428a), aus denen sich der vollständige Sprechtext der zweiten Fassung rekonstruieren lässt; hier fehlen allerdings wiederum die Gesangstexte. 24 Vgl. dazu Kuhl, »Allersorgfältigste Ueberlegung«, S. 293–466. 25 Thomas Bauman, W. A. Mozart: Die Entführung aus dem Serail, Cambridge 1987, S. 21; auch ders., »Introduction«, in: Johann André, [Belmont und Constanze, oder] Die Entführung aus dem Serail. Eine Operette in 3 Ackten. In Music gesezt [sic] von [...], New York u. a. 1985 (German Opera 1770–1800. A Collection of Facsimiles of Printed and Manuscript Full Scores 6), [S. 2]; Krämer: Deutschsprachiges Musiktheater, S. 400, 409f.; Kuhl, »Allersorgfältigste Ueberlegung«, S. 364. 26 Dazu grundlegend Thomas Betzwieser, Sprechen und Singen. Ästhetik und Erscheinungsformen der Dialogoper, Stuttgart und Weimar 2002, besonders S. 19–23, 31–102, 238, sowie ders., »Spielarten der deutschen Opernästhetik um 1800. Denkfiguren im Span-nungsfeld von Gattungsreflexion und Bühnenkonvention«, in: Oper im Aufbruch. Gattungskonzepte des deutschsprachigen Musiktheaters um 1800, hrsg. von Marcus Chr. Lippe, Kassel 2007 (Kölner Beiträge zur Musikwissenschaft 9), S. 27–43, hier: S. 34. 27 Kuhl, »Allersorgfältigste Ueberlegung«, S. 361ff., 456f. 28 Bauman, W. A. Mozart: Die Entführung aus dem Serail, S. 21.

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Geliebten aus dem gesprochenen Dialog der ersten Fassung in den Beginn des komponierten Finales legt, zeugt demnach vom Einfluss der Wiener Ästhetik.

Dass es Stegmann aber in der zweiten Fassung ganz besonders auf die Steigerung der Schauwirkung an-kam, wird durch die dramaturgische Dopplung der Sklavenvorstellung deutlich. Solch eine spektakelhaf-te Anlage in Finali ist wiederum kein Charakteristikum des nord- und mitteldeutschen Singspiels, son-dern eines, das deutlich auf die Wiener Finali der 1790er-Jahre beispielsweise eines Carl Ditters von Dittersdorfs verweist,29 auch wenn es hier kein Spektakel der Bühnenaktion, sondern eines der Figuren-präsentation ist.

Reste der norddeutschen Ästhetik finden sich demgegenüber im neuen Finale Stegmanns nur noch zu Beginn. So sollte in den Augen der nord- und mitteldeutschen Opernschaffenden im Idealfall der Über-gang vom gesprochenen Dialog zur gesungenen Nummer stets motiviert erfolgen – beispielsweise durch die Integration von Bühnenmusik oder durch das Ansteigen der Affekte.30 Dass das neue Finale dezi-diert mit eben diesem Hochsteigen der Affekte am Punkt der Wiedervereinigung der Geliebten beginnt, wurzelt demnach im nord- und mitteldeutschen Wunsch nach motiviertem Übergang der theatralen Kommunikationsmedien. Eine weitere, von den nord- und mitteldeutschen Zeitgenossen erwartete dramaturgische Begründung für die Vertonung dieses Finales findet sich dagegen nicht mehr.

Gerade die beiden Finalfassungen von Stegmanns Der Kaufmann von Smyrna verdeutlichen also, wie stark sich das nord- und mitteldeutsche Singspiel zum Ende des 18. Jahrhunderts von seiner bewussten Ein-fachheitsästhetik der 1760er-Jahre gelöst hat und grundlegend von der Wiener Singspielästhetik beein-flusst werden kann.

Anhang 1 Carl David Stegmann, Der Kaufmann von Smyrna, Text des Finales in der zweiten Fassung

Vers Reim Metrum

Finale.

Amalie, Dornal. 1 Ist es Täuschung? – ist es Wahrheit? a 4u 2 Schwebt ein süßer Traum hernieder? b 4u 3 Seh’ ich würklich den Geliebten c 4u 4 Hier vor meinen Augen wieder? b 4u 5 Welch Entzücken! welches Glück! d 4b Amalie, Dornal, Zayde, Hassan.

6 Welch ein süßer Augenblick! (d) 4b 7 Welch Entzücken! welches Glück! d 4b

29 Zu den Finali von Dittersdorf vgl. Paul Joseph Horsley, »Dittersdorf’s Singspiele«, in: Carl Ditters von Dittersdorf. Leben – Um-welt – Werk. Internationale Fachkonferenz in der Katholischen Universität Eichstätt vom 21.–23. September 1989, hrsg. von Hubert Un-verricht, Tutzing 1997 (Eichstätter Abhandlungen zur Musikwissenschaft 11), S. 123–135, hier: S. 131f., sowie grundsätzlich ders., Dittersdorf and the finale in late-eighteenth-century German comic opera, Ann Arbor 1988. 30 Betzwieser, Sprechen und Singen, S. 19–23, 71–75, 146, 187; ders., »Spielarten der deutschen Opernästhetik um 1800«, S. 31.

Adrian Kuhl: Carl David Stegmanns »Der Kaufmann von Smyrna«

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Dornal. 8 Sonnenschein nach Sturm und Wetter! e 4u 9 O mein Freund, o mein Erretter! e 4u

10 Theile, theile mein Entzücken, f 4u 11 Laß an dieses Herz dich drücken! f 4u 12 Wer nennet diesen seelgen Genuß! g 5b 13 Ist auch hier ein Freundeskuß – g 4b 14 Ein Kuß mir vergönnet. h 2u

Zayde.

15 Mein Herr! – ich darf nicht – unsre Sitte – i 4u Hassan.

16 Unsre Sitte ist dumm; j 3b 17 Küß’ ihn immer, sieh ich bitte – i 4u 18 Sieh ich bitte selbst darum. j 4b

Amalie, Zayde, Dornal, Hassan.

19 Freundschaft und Dankbarkeit, k 3b 20 War/Ist dieser Kuß geweiht. k 3b 21 Mit dankbarem Herzen und reinem Gewissen, l 4u 22 Darf man Freundes Wangen küssen. l 4u

Hassan.

23 Ich bin so lustig und so froh, m 4b 24 Mein ganzes Herz bewegt, n 3b 25 Zum Wohlthun aufgelegt! n 3b 26 Ich möchte tanzen, ich möchte singen, o 4u 27 Ich möchte lachen, ich möchte springen! o 4u 28 Heda! Heda! p 2b 29 Man soll sogleich zu Kaled laufen! q 4u 30 Eilig, eilig bringe er, r 4b 31 Alle seine Sclaven her; r 4b 32 Um sie alle los zu kaufen. q 4u

Dornal.

33 Freund, ich will auch mein Vermögen, s 4u 34 Willig zu den deinen legen; s 4u 35 Reiche Erndte nach der Saat t 4b 36 Giebt das Vollbringen – u 2u 37 Und das Gelingen u 2u 38 Einer guten That. t 3b

Alle Viere.

39 Wohlthun macht froher, als rauschende Feste; v 4u 40 Von allen Freuden ist Wohlthun die größte. – (v) 4u 41 Sie haben die frohe Bothschaft vernommen, w 4u 42 Welch ein Getümmel! Sie kommen! Sie kommen! w 4u

Kaled.

43 Da bring’ ich sie, x 2b 44 Was wird mir nun für diese Müh, (x) 4b 45 Daß ich sie alle hieher geschleppt? y 4b 46 Hier der Gelehrte! hier der Adpet! y 4b 47 Hier der Doktor! Hier der Genealogist! z 6b 48 Hier ein Kerl, der Kieselsteine frißt! z 5b 49 Hier ein paar Mädchen mit roten Wangen aa 4u 50 Hier ein paar Mädchen, die Männer verlangen! aa 4u

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51 Hier ein paar Mädchen, die Niemand mag, bb 4b 52 Denn sie zanken den ganzen Tag. bb 4b 53 Hört, und seht! cc 2b 54 Ein jeder mag euch selbst erzählen, dd 4u 55 Worin seine Kunst besteht, cc 4b 56 Dann mögt Ihr wählen. dd 2u

Der Gelehrte.

57 Ich heiße Kruntupuntius, ee 4b 58 Und Weisheit ist mein Gefährte; ff 3u 59 Von der Ameise bis zum Sirius, ee 5b 60 Vom Mittelpunct der Erde (ff) 3u 61 Bis zu den beyden Polen, gg 3u 62 Ist mir nichts verholen. gg 3u

Amalie, Zayde, Hassan, Dornal.

63 Was fragen wir nach den Sirius, ee 4b 64 Man geb’ uns Liebe, Wein und Kuß. ee 4b

Der Adept!

65 Wortgeklimper! Wortgeklimper! gg 4u 66 Er ist ein Stümper! gg 2u 67 Nur mir ist die Göttin der Weisheit hold, hh 4b 68 Denn aus Quecksilber mach’ ich Gold. hh 4b

Amalie, Zayde, Hassan, Dornal.

69 Behaltet euer Gold für euch, ii 4b 70 Wir sind durch unsre Liebe reich. (ii) 4b

Der Doktor.

71 Laßt mich ein Wörtchen sprechen, jj 3u 72 Ich kann von allen Gebrechen jj 3u 73 Aus den Grunde kuriren, kk 3u 74 Und Mädchen magnetisiren. kk 3u

Amalie, Zayde, Hassan, Dornal.

75 Mach’ deine Weisheit andern kund, ll 4b 76 Denn Lieb’ und Maßigkeit erhalten uns gesund. ll 6b

Der Genealogist.

77 Auf mich fall’ eure Gunst, mm 3b 78 Ich bin ein Mann von göttlicher Kraft, nn 4b 79 Der durch seine Kunst mm 3b 80 Großväter und Urgroßväter schafft. nn 4b

(Zu Zayden) 81 Dir geb’ ich zum Urherrn den Tamerlan; oo 4b

(Zu Amalien) 82 Und dir den Romulus; pp 2u

(Zu Hassan) 83 Und dir den Gengis Chan; oo 3b

(Zu Dornal) 84 Und dir den Numa Pompilius. pp 4b

Amalie, Zayde, Hassan, Dornal.

85 Wir dienen unter Amors Fahnen; qq 4u 86 Frägt die Liebe auch nach Ahnen? qq 4u

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Der Kieselsteinfresser. 87 Ich kann Kieselsteine fressen. rr 4u

Erstes Mädchen.

88 Ich kann in einer Woche ss 3u 89 Zehn Männer lieben und zehen vergessen. rr 4u

Zweytes Mädchen.

90 Ich wasche, ich backe, ich koche. ss 3u Drittes Mädchen.

91 Ich klöpple Spitzen-Manschetten. tt 3u Viertes Mädchen.

92 Ich kann nähen und plätten. tt 3u Amalie, Zayde, Hassan, Dornal.

93 Genug, denn groß und übergroß uu 4b 94 Sind eure Verdienste, vv 2u 95 Und eure Künste, (vv) 2u 96 Wir kaufen euch alle los. uu 3b

Alle Sclaven.

97 Juchey! Juchey! ww 2b 98 Wir alle sind frey! ww 2b

Amalie, Zayde, Hassan, Dornal.

99 Kehrt nach Europa zurück, xx 3b 100 Dort such’ ein jeder sein Glück! xx 3b 101 Curirt! yy 1b 102 Magnetisirt! yy 2b 103 Heckt aus gelehrte Träume! zz 3u 104 Macht Gold und Stammbäume! zz 2u 105 Liebt und vergeßt! aaa 2b 106 Kieselsteine freßt! aaa 3b 107 Kochet und backet, waschet und nähet, bbb 4u 108 Pflanzet und säet! bbb 2u

Alle. 109 Freyheit haben wir/habt ihr uns gegeben, ccc 4u 110 Neue Freude und Genuß; ddd 4b 111 Guter Gott! was ist das Leben ccc 4u 112 Ohne Freyheit, Lieb’ und Kuß.31 ddd 4b

31 Zitiert nach Schwan, Gesänge aus dem Singspiele: Der Kaufmann von Smirna, S. 9–15.

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Anhang 2 Carl David Stegmann, Der Kaufmann von Smyrna, Übersicht über die Finalstruktur der zweiten Fassung

Großabs. I

Text I II III

Musik I II III IV V VI VII VIII

Takt, Tonart, Tempo

4/4, B-Dur, Tempo giusto – Allegro molto

(B-Dur) Es-Dur 6/8, (Es-Dur), l’istesso Tempo

(As-Dur) (G7) … E-Dur

12/8, E-Dur 4/4, E-Dur, Allegro molto

D-Dur

Figuren Dornal, Amalie Dornal, Amalie, Hassan, Zayde

Dornal Dornal, Hassan [Duett nicht im Libretto]

Dornal Zayde, Hassan

Dornal, Hassan, Zayde, Amalie

Hassan Hassan, später Dornal

Verse 1–5 6f. 8f. 10f. 12–13 14–18 19–22 23–27 28–38

Takte 1–20 21–31 32–39 40–55 56–63 64–79 80–94 95–108 109–152

Inhalt Vereinigung der Geliebten

Einstimmen der Orientalen in die Freude

Freudiges Preisen Hassans

Hassan soll die Freude teilen; Freunde umar-men sich

Dornal will Zayde in Freundschaft küssen

Zayde weicht zurück, Hassan er-laubt den Kuss

Lob der Freund-schaft (moralisie-rend)

Hassan ist fröhlich

Hassan ruft seine Skla-ven, will alle Sklaven Kaleds loskaufen, Dornal will ihm helfen

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Großabs. (I) II

Text (III) IV V

Musik IX X XI XII XIII XIV XV XVI XVII XVIII

Takt, Tonart, Tempo

C-Dur, Moderato – Mod-erato ma non troppo – Allegro molto

(C-Dur) – D-Dur, Allegro molto

4/4, D-Dur, un poco moder-ato

4/4, B-Dur, Grave (»mit Pathos«)

B-Dur, später: 2/2, D-Dur, Andante

G-Dur F-Dur Es-Dur, später piu moto 3/4, F-Dur, Deutscher Tanz/Allegro

2/2, B-Dur, Allegro vivace

Figuren Hassan, Dornal, Zayde, Amalie

Hassan, Dornal, Zayde, Amalie

Kaled Der Gelehr-te, später Hassan, Dornal, Zay-de, Amalie

Der Adept, später Hassan, Dornal, Zay-de, Amalie

Der Doctor, später Hassan, Dornal, Zay-de, Amalie

Der Genealo-gist, später Hassan, Dor-nal, Zayde, Amalie

Der Kieselsteinfresser, nacheinander die vier Mädchen, Adept, Genea-logist, Doctor, Gelehrte, Hassan, Dornal, Amalie, Zayde

Alle Alle ohne Kaled

Verse 39–40 41f. 43–56 57–64 65–70 71–76 77–86 87–96 97–108 109–112

Takte 153–189 190–210 211–264 265–276 277–298 299–328 329–362 363–406 407–554 555–650

Inhalt Wohltaten sind gut (moralisie-rend)

Man hört Kaled kommen

Kaled ist da

Der Gelehrte stellt sich vor, H., D., Z., A. ant-worten

Der Adept, fällt ins Wort, stellt sich vor, H., D., Z., A. antworten

Der Doktor stellt sich vor, H., D., Z., A. ant-worten

Der Genealo-gist stellt sich vor, H., D., Z., A. antworten

Der Kieselsteinfresser stellt sich vor, dann nach-einander die vier Mäd-chen, es folgt ein Durch-einander aller Figuren

Die Sklaven werden freige-kauft

Moral: Freiheit und Liebe gehen über alles

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