13
Dieter Ingenschay Von der ›selva negra‹ nach Sanssouci – Stationen einer ›vita activa‹ Laudatio anlässlich des 60. Geburtstags von Ottmar Ette

Von der ›selva negra‹ nach Sanssouci – Stationen einer ›vita activa‹ · 2017-06-13 · fragtest, ob ein bestimmtes Umzugsunternehmen, das kurz zuvor meine transportabeln

  • Upload
    others

  • View
    0

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Von der ›selva negra‹ nach Sanssouci – Stationen einer ›vita activa‹ · 2017-06-13 · fragtest, ob ein bestimmtes Umzugsunternehmen, das kurz zuvor meine transportabeln

Dieter Ingenschay

Von der ›selva negra‹ nach Sanssouci – Stationen einer

›vita activa‹

Laudatio anlässlich des 60. Geburtstags von Ottmar Ette

Page 2: Von der ›selva negra‹ nach Sanssouci – Stationen einer ›vita activa‹ · 2017-06-13 · fragtest, ob ein bestimmtes Umzugsunternehmen, das kurz zuvor meine transportabeln

Dieter Ingenschay

Von der selva negra nach Sanssouci – Stationen einer vita activa

Laudatio anlässlich des 60. Geburtstags von Ottmar Ette

Magnifizenz, Spectabilis, mein lieber Ottmar, meine liebe Doris und Judith, sehr geehrte Festversammlung, liebe Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunde,

es ist mir eine große Ehre und Freude, heute, an diesem besonderen 14. Dezember, eine laudatio zu Ehren meines engen Kollegen und besten Freundes vorzutragen und Dir, lie-ber Ottmar, meine herzlichsten Glückwünsche zu übermitteln. Dank an die Organisator_innen dieser Feier, an Patricia Gwozdz und Markus Lenz, sowie an die Herausgeberinnen und Herausgeber der Festschrift Literatur leben, Gesine Müller, Anne Kraume, Albrecht Buschmann, Markus Messling, Julian Drews und Tobias Kraft, für ihre großartige Initi-ative und nicht minder für die hohe Ehre, diesen außerordentlichen Jubilar würdigen zu dürfen.

1. Vorbemerkung

Vor 60 Jahren tratest Du in diese Welt, lieber Ottmar, und zwar im Schwarzwald, oder besser gesagt: in der selva negra. Das ist insofern nicht dasselbe, als natürlich alle Deut-schen wissen, was und wo der Schwarzwald ist. Als ich kürzlich durch die Straßen des nordwestlichen Madrider Stadtteils Argüelles spazierte, lächelte mich aus dem Schau-fenster eines alternativen Kräuterladens ein altes Poster an, auf dem zu lesen war, was die selva negra auszeichne. Dort stand: »TANNENBLUT. Respira naturalmente con el frescor de la Selva Negra« (Tannenblut. Atme natürlich mit der Frische des Schwarzwaldes). Doch der Schwarzwald verdankt seine internationale Bekanntheit nicht der Produktion dieser atembefreienden Kräuterbonbons, sondern seinem – mit Martin Heidegger, Hermann Hesse und Johann Peter Hebel – prominentesten Sohn: Ottmar Ette.

Entscheidend hat dazu beigetragen, dass wir auch in den biographischen Angaben Dei-ner zahlreichen in spanischer Sprache veröffentlichten Bücher lesen, dass Du in der selva negra geboren wurdest. Ich habe mich oft gefragt, ob – sagen wir – eine mexikanische oder argentinische Kollegin mit dieser Ortsangabe etwas anzufangen wisse, bis ich eine fragte, und dann über die Kartographie Deutschland aus ihrer Sicht aufgeklärt wurde. Zwar wissen wir nicht, liebe Festgemeinde, wie genau das Europa des President elect Do-

Page 3: Von der ›selva negra‹ nach Sanssouci – Stationen einer ›vita activa‹ · 2017-06-13 · fragtest, ob ein bestimmtes Umzugsunternehmen, das kurz zuvor meine transportabeln

2

Dieter Ingenschay | Von der selva negra nach Sanssouci Laudatio zu Ehren von Ottmar Ette

nald Trump aussieht, der Belgien als a nice French city einordnete, aber ich kenne, lieber Ottmar, das Deutschland der südamerikanischen Hochschullehrerinnen und -lehrer, die sich heute so zahlreich zu dieser Feier eingefunden haben: Da gibt es einige Spots wie Rostock im hohen Norden (hallo Albrecht) und Köln im tiefen Westen (hallo Gesine), dann in zentraler Position Potsdam, in dessen Nähe auch kleinere Ortschaften wie Berlin mit dem Ibero-Amerikanischen Institut (hallo Barbara) und dem Lateinamerika-Institut (hallo Susanne) liegen, und südlich davon eben die selva negra, das Herzstück und der größte Teil Deutschlands (alles unterhalb einer Line von – sagen wir – Luxemburg hinü-ber an die polnische und tschechische Grenze).

Die selva negra ist also viel mehr als irgendein dunkler Wald mit hohen Tannen – sie ist ein wundersames Land, eine mythische Zone, absolut vergleichbar dem Borderland zwi-schen Mexico und den USA, das Gloria Anzaldúa als mundo zurdo, als Reich des Subver-siven und der Überschreitungen beschrieben hat.

Lieber Ottmar, ich denke an den Tag zurück, an dem ich einen Anruf von Dir erhielt, dass Du den Ruf nach Potsdam annehmest und nun den Umzug plantest und Du mich fragtest, ob ein bestimmtes Umzugsunternehmen, das kurz zuvor meine transportabeln Güter von München nach Berlin verbracht hatte, empfehlenswert sei. Ich bejahte das, Ihr seid nach Potsdam umgezogen, und wir trafen uns zu einem Kaffee im Schatten des Bran-denburger Tores – des Potsdamer Brandenburger Tores, also des ›wahren‹, da Potsdam in Brandenburg liegt. Du warst Gast bei meiner Antrittsvorlesung über »Neobarock und Kitschkultur in der lateinamerikanischen Literatur«, ohne zu wissen, dass Deine kurz zuvor publizierten »10 Thesen zur lateinamerikanischen Literatur« – also 85 weniger als die Luthers, aber diese zehn haben es dafür nicht minder in sich – darin kritisch disku-tiert würden. Das war der Beginn einer langen, fruchtbaren und intensiven Kooperation, die für mich das Bereicherndste war, das ich in unseren 20 Jahren in Berlin und Potsdam erlebt habe. Wer hier die Enkomiastik dieser Diskursform (und sonst nichts) vermutet, der sei auf meine Abschiedsvorlesung an der Humboldt-Universität im letzten Sommer verwiesen, bei der ich schon genau dies sagte, obwohl Du nicht hattest dabei sein können.

Eines der vielen highlights unserer Kooperationen, lieber Ottmar, war die Vorbereitung des Graduiertenkollegs »Entre Espacios«, jene Ringvorlesungen, die mit rauchenden Köpfen und kontroversen Diskussionen endeten und in die Publikation der Bände Gren-zen der Macht/Macht der Grenzen, Hemisphärische Konstruktionen und EuropAmericas mündeten. Heute wissen wir, dass dieses erste deutsch-mexikanische Kolleg exemplari-sche Bedeutung und eine wegbereitende Funktion hat; seine spokespersons – Stefan Rinke und Marianne Braig – begrüße ich deshalb besonders herzlich, und mit ihnen die mexi-kanischen Kolleginnen und Kollegen, die hier anwesend sind – es sind zu viele, um ihre Namen aufzuzählen.

Für Dich und mich, lieber Ottmar, waren diese gemeinsamen Berlin-Brandenburgischen Jahre ein permanenter wissenschaftlicher Austausch, eine andauernde Reflexion über die Lage der Romanistik in dieser Region und vor allem auch eine wachsende private Freundschaft. Für Dich, für mich und für alle, die Deine Entwicklung in dieser Zeit ver-folgten, stellen diese Deine zwei Jahrzehnte in Potsdam vor allem eine unvergleichlich dynamische Erfolgsgeschichte dar. Anhand dieser Geschichte möchte ich zunächst zwei Seiten des Jubilars anreißen – notwendig unvollständig, sonst würde ich um Mitternacht

Page 4: Von der ›selva negra‹ nach Sanssouci – Stationen einer ›vita activa‹ · 2017-06-13 · fragtest, ob ein bestimmtes Umzugsunternehmen, das kurz zuvor meine transportabeln

3

Dieter Ingenschay | Von der selva negra nach Sanssouci Laudatio zu Ehren von Ottmar Ette

von den dann noch Wachgebliebenen gesteinigt. Ich gehe erstens auf den publizierenden und zweitens auf den projektierenden Ottmar Ette ein und werde mit Beobachtungen zur vita activa schließen.

2. Der publiziernde Ottmar Ette

Deine Publikationen zu würdigen, cher ami, ist fürwahr eine Herausforderung, und es ist schier unmöglich jeden Aufsatz, jeden Sammelband zu erwähnen oder gar auf jede Über-setzung einzugehen, die Deine Theoriebände gerade in jüngster Zeit erlebt haben und die der nicht deutschsprachigen Fachwelt Deine Modelle vermitteln. Ich denke etwa an die englischsprachigen Ausgaben Writing-between Worlds. TransArea Studies and the Litera-tures–without-a-fixed-Abode und TransArea. A Literary History of Globalization (beide 2016, und beide über 300 Seiten stark!), an die vorgestern in Madrid vorgestellte spani-sche Fassung eines Deiner Bücher zu Roland Barthes, Barthes. Paisajes de la teoría (2016) oder an die brasilianische Ausgabe SaberSobreViver. A (o)Missão da Filologia (2015).

Den publizierenden Ottmar Ette zu behandeln, ist höchst unbefriedigend, erfordert es doch Synopsen, Resümees und das Fokussieren einiger Schwerpunkte unter Auslassung anderer, ein Vorgehen, das dem wissenschaftlichen Werk unseres Jubilars nicht gerecht wird. Ich muss es aber versuchen, und bitte vorab um Verständnis für die Lücken und für die Subjektivität meiner Ausführungen. Denkt man zuerst, Ettes Schriften seien – wie die des preußischen Soldaten Hut – mit drei Ecken versehen: Lateinamerika, Humboldt, Barthes, so merkt man schnell, dass dieser Hut eher zehneckig sein muss, um das Archi-pelische, (bzw. Transarchipelische) einzuschließen, die Literaturen ohne festen Wohnsitz und das ÜberLebensWissen sowie Literatur- als Lebenswissenschaft, die Nanophilologie, und ferner all jene Autorinnen und Autoren, aus deren Werk der Leser und Literatur-freund Ottmar Ette geschöpft hat und die die Eckpfeiler seiner Gedankenmodelle darstel-len: Autor_innen wie Jorge Semprún, Yoko Tawada, Emine Sevgi Özdamar und Emma Kann, Cécile Wajsbrot und Amin Maalouf, um nur diese zu nennen.

Es wird also schnell klar, dass dieser ›Hut‹ Deiner preußischen Produktionen eigentlich gar keine Ecken hat, sondern Vektoren, die sich zu einem Umriss zusammensetzen, aus denen dann durchaus ein Hut – oder ein Schuh wird: nämlich das Rahmenmodell oder – mit Mieke Bal – die umbrella science der »Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft«. Doch gemach. Bleiben wir einen Moment bei den Vektoren, diesen bedeutsamen Kraftli-nien Deines Schreibens und Denkens, die ich – zugegeben willkürlich – auf neun fixiere.

Vektor 1. Dein mit mehreren Preisen ausgezeichnetes opus primum, Deine Doktorarbeit, widmete sich dem kubanischen ›Apostel, Dichter und Revolutionär‹ – so der Untertitel – José Martí, jenem kubanischen Nationalhelden, neben dem zu ruhen nun der máximo líder Fidel Castro die Ehre hat. Dein erster Vortrag, den ich auf dem Hispanistentag in Bonn 1992 hörte, behandelte ihn; neben seinem Inhalt vergesse ich nie, dass mich als Zu-schauer und –hörer die freie und doch so systematisch durchgegliederte Vortragsweise erstaunte. Deine Dissertation zu Martí, lieber Ottmar, war nicht ein bald abgeschlossenes und vergessenes Frühwerk, sondern in besonderer Weise ein Beispiel dafür, liebe Fest-gemeinde, wie die Ette’sche Arbeitsweise vorgeht, nämlich als eine wachsende vektoriale

Page 5: Von der ›selva negra‹ nach Sanssouci – Stationen einer ›vita activa‹ · 2017-06-13 · fragtest, ob ein bestimmtes Umzugsunternehmen, das kurz zuvor meine transportabeln

4

Dieter Ingenschay | Von der selva negra nach Sanssouci Laudatio zu Ehren von Ottmar Ette

Anverwandlung von Relevanzen. In Deinen Martí-Forschungen, so zeigt sich, sind schon in nuce jene neuen Kartographien des Karibischen und die Aspekte des Archipelischen und des Transarealen angelegt, die bis in Deine neuesten Publikationen hinein den Area Studies Deinen Stempel und damit ein neues eigenes Gesicht gegeben haben.

Vektor 2. Deine Potsdamer Antrittsvorlesung, an die ich mich nicht nur, aber auch ol-faktisch konkret erinnere, weil sie in einem erst kurz zuvor von der Abteilung für Che-mie den Philologen überstellten Hörsaal stattfand, der nicht nur leicht nach Pech und Schwefel roch, in dieser Antrittsvorlesung behandeltest Du die Theorie des Reiseberichts, ein ideales Thema für diesen Vortragstyp, weil a) jede/r schon einmal gereist ist, b) je-de/r schon einmal einen Reisebericht gelesen und c) folglich gewisse Vorstellungen von dessen Gattungstheorie hat. Du selbst bist ein unermüdlicher und begeisterter Reisen-der, und mit Freude denke ich an Begegnungen mit Dir am Rande der kalifornischen Red woods oder in den Zentren diverser Städte Lateinamerikas. Erst Jahre nach Deiner Antrittsvorlesung wurde mir klar, in welchen Dimensionen Du den Reisebericht gedacht hattest, als ich nämlich Deine 2001 veröffentlichte Vortragssammlung zur Literatura de viaje in Händen hielt, deren programmatischer Untertitel die Dimension erklärt, in der Du diese Literatur ansiedelst: »de Humboldt a Baudrillard«. Gegensätzlichere Reisende als den großen Gelehrten, den man als Preußen zu bezeichnen immer ein wenig zögert, und den Papst der Postmoderne in eine Zeile zu bringen, ist zugleich gewagt, mutig und so erhellend wie Dein Verständnis der Reiseliteratur als Literatur in Bewegung (so der Titel Deines grundlegenden Buchs von 2001), die auch Phänomene wie Migrationslite-raturen und Literaturen zwischen Kulturen und Sprachen einschließt. Literature on the move wird schon 2003 auf Englisch vorgelegt, und 2008 erschien im Verlag des Consejo Superior de Investigación Científica – in Spanien die erste Adresse für substantielle Wis-senschaft generell – Literatura en movimiento. Espacio y dinámica de una escritura trans-gresora de fronteras entre Europa y América, jener Band, der Deine Theorie des Reisens auch in der hispanischen Welt bekannt machte. Wenn diese Theorie den Moment der An-kunft privilegiert, kann man sagen, dass Du endgültig in Potsdam angekommen warst!

Vektor 3 steht in sehr engem Zusammenhang mit den Literaturen in Bewegung, über-schreitet sie jedoch und verortetet sie neu in einem Kontext, der jüngst eine starke Kon-junktur erlebt hat: im Kontext der so genannten TransArea Studies, exemplarisch dargelegt in dem Band TransArea. Eine literarische Globalisierungsgeschichte (2012). In Ettes Ver-ständnis geht es bei dieser Kontextualisierung um mehr als um Regionen überschreiten-de Wirkungsprozesse oder um Migrationsbewegungen; es geht um eine Neuvermessung der Welt und ihrer Ordnungen, um eine neue Kartographie von Machtverhältnissen, um jene Aspekte der Globalisierung also, die politisch und »kulturell« gleichermaßen rele-vant sind und zu denen die Literaturwissenschaft nicht nur dann Beiträge zu leisten ver-mag, wie Ottmar zeigt, wenn es um Begriffe wie Weltliteratur oder Vielsprachigkeit geht. Dieser dritte Vektor, das Transareale, ist damit besonders weit gespannt; es ist zugleich, scheint mir, der Tätigkeitsbereich, in dem Ottmar ein besonders hohes Begeisterungs-potenzial hat auslösen und eine große Zahl von Mitstreiterinnen – in der Sprache der Vor-68-er: von Schülerinnen und Schülern – hat gewinnen können, die in diesem höchst aktuellen, zentralen Bereich gegenwärtiger Literatur- und Geisteswissenschaft in weit ge-spannten Dimensionen und mit beeindruckendem Erfolg weiter arbeiten, ich denke, lie-be Gesine, an Dein Projekt.

Page 6: Von der ›selva negra‹ nach Sanssouci – Stationen einer ›vita activa‹ · 2017-06-13 · fragtest, ob ein bestimmtes Umzugsunternehmen, das kurz zuvor meine transportabeln

5

Dieter Ingenschay | Von der selva negra nach Sanssouci Laudatio zu Ehren von Ottmar Ette

Vektor 4 zielt ins Herz jenes Vertreters der ›neuen französischen Theorie‹, deren Umfeld mit dem Jahr 1968 viel zu unpräzise umrissen ist. Zwar finden sich in Deinen Schriften immer wieder Bezüge auf Michel Foucault – den Foucault des Ordre du discours und der Archéologie du savoir, weniger der Histoire de la sexualité – doch gilt schon lange Dein wahres Interesse dem vielschichtigen Roland Barthes. Deine »intellektuelle Biographie«, ein Band der Edition Suhrkamp von 1998 (2. Aufl. 2007) – ursprünglich in sattem Lila ist er in meinem Bücherregal inzwischen zu einer zarten Malvenfarbe verblichen – spürt dem modernen (und explizit nicht dem postmodernen) Barthes’ nach, und lotet – über S/Z hinaus, das uns Literaturwissenschaftler von Beginn an noch mehr fasziniert hat als die Mythologies, die Mythen des Alltags – die Barthes’schen Diskursuniversen vielfältig, komplex und innovativ aus. Du entdeckst, im 9. Kapitel, in Barthes den »Historiker des Körpers«, sozusagen den Foucault in Barthes, und zugleich den Theoretiker des lebendi-gen Textes, ein Aspekt, den Du weiter verfolgen und mit anderen kombinieren wirst in Deinen weiteren Monographien, in Roland Barthes. Zur Einführung (Junius 2011, 2. Aufl. 2013) und in Roland Barthes. Landschaften der Theorie (Konstanz UP 2013), dessen spa-nische Version vorgestern in Madrid vorgestellt wurde.

Ins kleine Detail zielt Vektor 5. Als mich 1992 in meinem ersten Münchner Freisemester unser verstorbener argentinischer Kollege David Lagmanovich vertrat, kam ich über ihn zum ersten Mal in Berührung mit einer mir damals höchst seltsam vorkommenden Gat-tungsform, die inzwischen eine weltweite Konjunktur erlebt und die sich, unter anderem dank Deiner Forschungen, zu einer Art Spielwiese von Theoriefreaks entwickelt hat, ich spreche vom sog. microrrelato oder von der Minifiktion, der Du Dich mit der Akribie des Nanophilologen angenähert hast, etwa in dem Buch Nanophilologie. Literarische Kurz- und Kürzestformen in der Romania (2008), ein Jahr später in Del macrocosmos al micror-relato. Literatura y creación- nuevas perspectivas transareales (Guatemala) und zuletzt in dem von uns und anderen herausgegebenen Sammelband MicroBerlin. De minificciones y microrrelatos (sowie in sehr vielen einzelnen Aufsätzen, aber auf Aufsätze einzugehen würde den Rahmen dieser Rede sprengen). Wie wurdest Du, lieber Ottmar, der Du stets das Große, Globale im Blick hast, zum Nanophilologen? Zu Beginn des 7. Kapitels von Del macrocosmos al microrrelato zitierst Du David Lagmanovichs microrrelato »Los cuatro elementos«, um aufzuzeigen, wie ein Text von 44 Wörtern ein Erlebniswissen vermittelt, das an die Grenzen der Erfahrung von Leben und Tod geht. Deine nanowissenschaftliche Perspektive schließt einerseits an Barthes’ Überlegungen zum incipit und zu einer Dia-lektik von écriture courte de la théorie und théorie de l’écriture courte an, und entwickelt, mit der Übertragung des Modells des Fraktalen, zugleich eine naturwissenschaftliche Di-mension, die letztlich aufgeht – und erst darin kann diese Theorie der Kürzesterzählung gipfeln – in eine übergreifende, übergeordnete Theorie, in der der microrrelato als offene archipelische Struktur mit lebensweltlicher Dimension erkannt wird .

Die Vektoren 6, 7 und 8 konstituieren sich als Trilogie durch jene drei Bände, die zu-sammen das Großprojekt »Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft« bilden, in dem viele die summa des Ette’schen Denkens, seines Welt- und Literaturverständnisses sehen und das folglich vielfältige Reaktionen hervorgerufen hat. Was er unter dem zentralen Begriff ›Lebenswissen‹ versteht, umreißt Ette eingangs seiner Trilogie so: »Lebenswissen erscheint ... als ein je spezifischer Modus von Lebensführung und Lebenspraxis, kann als modellhafte Vorstellung wie als beschreibende Aneignung von Leben verstanden wer-

Page 7: Von der ›selva negra‹ nach Sanssouci – Stationen einer ›vita activa‹ · 2017-06-13 · fragtest, ob ein bestimmtes Umzugsunternehmen, das kurz zuvor meine transportabeln

6

Dieter Ingenschay | Von der selva negra nach Sanssouci Laudatio zu Ehren von Ottmar Ette

den« und hänge vom Flexibilitätsgrad von Lebenserfahrungen, nie aber von einer einzi-gen Logik ab (S. 12).

Der erste Teil der Lebenswissenschafts-Trilogie erschien 2004 unter dem Titel ÜberLebensWissen. Die Aufgabe der Philologie, der zweite – im Jahr danach publiziert – heißt ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz, und der weiterführen-de (eher denn abschließende) dritte Band ZusammenLebensWissen. List, Last und Lust literarischer Konvivenz im globalen Maßstab (2010). Dieses Ette’sche Theoriegebäude, das letztlich auf dem soliden Fundament Auerbach’scher Philologie und auf Victor Klemperer aufbaut, kurz zu umreißen, ist kaum möglich. Humboldts Erzählung vom rhodischen Ge-nius (im Falle von ÜberLebensWissen) und die Nutzenskepsis eines (auf Goethe zurück-greifenden) Nietzsche (im Fall der gleich näher zu kommentierenden Programmschrift) bringen unseren Jubilar dazu, angesichts der Marginalisierungen der Geistes- (und da-runter besonders der Literatur-)wissenschaften nach dem Nutzen der Literaturwissen-schaften und deren Theorie im Blick auf die Gesellschaft, konkret auf das Verhältnis von den (naturwissenschaftlich konnotierten) Life Sciences und den (kulturwissenschaftlich konzipierten) Humanwissenschaften zu fragen. In diesem Kontext mahnt Ette: »Es ist die Aufgabe der Philologie, sich mit spezifischen und höchst unterschiedlichen Traditionen, Genres, Dimensionen und Ausprägeformen von Lebenswissen auseinanderzusetzen. Die Philologien würden sich dadurch in die Lage versetzen, ihrerseits Formen und Modi von Lebenswissen zu produzieren, die gesellschaftlich, politisch und kulturell relevant und bedeutungsvoll werden könnten« (S. 13). Was diese höchst anspruchsvolle Forderung konkret bedeutet, spielt der erste Band sodann anhand sehr unterschiedlicher soziohis-torischer Situationen durch, von denen ich einmal diejenige herausgreife, die mich am intensivsten beschäftigt hat: das Internierungslager, nach Agamben die Spannung eines homo sacer zwischen souveräner Macht und nacktem Leben, in Ettes Variante aber zwi-schen nackter Macht und souveränem Leben. Als Kronzeugin eines Überlebenswillens, einer noch in der Extremsituation des Konzentrationslagers aufflammenden Lebensbe-jahung dient Ottmar dabei – unter anderen – ein Satz aus einem Brief Hannah Arendts, der die »Lust zu leben« beruft. Das Überleben von Autor_innen, die im Konzentrati-onslager schrieben oder ihr Überleben thematisierten, ist die buchstäblichste Erfüllung dieses so verstandenen ÜberLebensWissens, das auch Migrationen (Einwanderung, Aus-wanderung) oder leibhaftige, die Lust und den plaisir du texte betonende Erfahrungsfi-guren einschließt.

Der zweite Band der Trilogie, ZwischenWeltenSchreiben, der eine fraktale Geometrie der Reiseliteratur entwirft, verortet schon im ersten Kapitel die »Figuren vektorieller Ima-gination in der Shoah-Literatur« anhand so heterogener Paradigmen wie Albert Cohen und Emma Kann und schließt Exilerfahrungen wie die eines Max Aub in diesen Horizont ein. Auch eine Onthologie des Schreibens in anderen Sprachen, etwa das arab-amerikani-sche ZwischenWeltenSchreiben und eine Redefinition des Übersetzens hat in diesen Teil des lebenswissenschaftlichen Modells Eingang gefunden, der die Romanistik mahnt, sich als »eine weltweit und relational denkende und agierende Wissenschaft [zu] verstehen und transregionale, transnationale und transareale Forschungsperspektiven wesentlich mit[zu]gestalten«.

Zugleich mit diesen beiden Bänden ist die parallel verfasste »Programmschrift im Jahr der Geisteswissenschaften« mit dem Titel »Literaturwissenschaft als Lebens-wissen-

Page 8: Von der ›selva negra‹ nach Sanssouci – Stationen einer ›vita activa‹ · 2017-06-13 · fragtest, ob ein bestimmtes Umzugsunternehmen, das kurz zuvor meine transportabeln

7

Dieter Ingenschay | Von der selva negra nach Sanssouci Laudatio zu Ehren von Ottmar Ette

schaft« zu erwähnen, ein Manifest, das zuerst 2007 in Bd. 125 von lendemains erschien. Das Echo, das diese Standortbestimmung hervorrief, war stark und reicht von den wis-senstheoretisch inspirierten Kollegen wie Ralf Klausnitzer oder Jochen Hörisch zu den biopolitisch orientierten wie Vittoria Borsò. Auch Hans-Ulrich Gumbrecht, einst Zweit-gutachter meiner Dissertation und später Komparatist in Stanford, meldete sich zu Wort mit dem liebevoll »Wie könnte man mit Ottmar Ette nicht einverstanden sein« betitelten Aufsatz, der freilich, sonst wäre es kein Gumbrecht, der Zustimmung eine gehörige Por-tion Widerspruch beimengt. Die ganze Diskussion wird vertieft in dem von Ottmar Ette und Wolfgang Asholt 2010 edierten Sammelband Literaturwissenschaft als Lebenswissen-schaft. Programm – Projekte – Perspektiven, das noch einmal Deine Programmschrift so-wie verschiedene Kommentierungen enthält.

Diese Diskussionen der Fachwelt gingen schon der Publikation des letzten Bandes der Trilogie voraus; in ZusammenLebensWissen finden wir Echos, Fortsetzungen und Modi-fikationen der vorausgehenden Bände, wird das Schreiben ohne festen Wohnsitz verdich-tet zu Beispielen des Lebens ohne festen Wohnsitz, zum Blick auf transareale Stadtland-schaften (etwa Strasbourgs), hier werden gesellschaftliche Gewaltexzesse transformiert in und durch ihre literarischen Anverwandlungen, oder es wird eine Ästhetik der Abwesen-heit anhand der Berliner Stadtlandschaften um 2000 entworfen, in der Absicht, dies alles zusammentreten zu lassen zu einem Konvivenz-Modell, das Leben und Literatur umfasst und das hier erstmals in dieser Komplexität das Wissen von den Formen und Normen dieser Konvergenz artikuliert.

Der letzte große neunte Vektor trägt die Inschrift Alexander von Humboldt. Deine jahr-zehntelange intensive Beschäftigung mit dem Universalgelehrten hat sich in vielen Publi-kationen niedergeschlagen. Vier erwähne ich, zuerst die kritische Ausgabe von Humboldts Reise in die Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents (1991 im Suhrkamp-Verlag), dann das erste komplexe Humboldt-Buch, das den preußischen Forscher und sein »un-vollendetes Projekt einer anderen Moderne« (2002 Velbrück), wie der Untertitel lautet, un-ter das Generalthema »Weltbewusstsein« stellt. Doch neben dem Weltbewusstsein propa-gierst Du dort Konzept und Idee eines Weltethos, das durchaus auf Theologen wie Hans Küng und Hans Jonas’ »Prinzip Verantwortung« referiert. Dies ist aber ineins auch schon eine politische Lesart Humboldts, die als Horizont die schrecklichen Ereignisse des 11. September 2001 bereit hält, durch ein Vorwort, das sich als vor diesem Datum verfasst ausweist, sowie ein danach entstandenes Nachwort. Neben den Kosmopolitismus tritt dabei eine konkrete Kosmopolitik als Bewusstseinspolitik, in deren Verlauf wir, Deine Leserinnen und Leser, von Alexander von Humboldt oder von Ottmar Ette, das frage ich mich, lernen, was Literatur mit Ökologie zu tun hat. Es fällt auf, dass Weltbewußtsein nicht nur in der inneren Umschlagsseite eine Kartenskizze des Flusssystems zwischen Orinoko und Amazonas abbildet, sondern dass, lange bevor die Lesenden zu dem Kapitel »Kartennetze und Textgewebe« vorstoßen, Gravuren, Vignetten, Bebilderungen die geo-politische Dimension dem ›imaginären Museum der Weltkulturen‹ (Kap. 23) zuordnen. Mit der Zuordnung zu einem unvollendeten Projekt einer anderen Moderne weist du in diesem Nachwort auf die Gefahr hin, der wir etwa durch die clash of culture-Ideologen ausgesetzt sind, und betonst dagegen die Wichtigkeit Humboldts »für die Entwicklung transdisziplinärer Wissenschaftsformen« (S. 234).

Page 9: Von der ›selva negra‹ nach Sanssouci – Stationen einer ›vita activa‹ · 2017-06-13 · fragtest, ob ein bestimmtes Umzugsunternehmen, das kurz zuvor meine transportabeln

8

Dieter Ingenschay | Von der selva negra nach Sanssouci Laudatio zu Ehren von Ottmar Ette

Über die Veröffentlichung des Humboldt’schen Kosmos in Enzensbergers Anderer Bib-liothek in jenem heißen langen Sommer 2004, die nicht nur unter Oliver Lubrichs und Deiner wissenschaftlichen Begleitung stand, sondern die auf eine Idee von Dir zurück-ging, möchte ich allenfalls kurz und anekdotisch berichten, dass die Publikation dieses wunderbaren Bandes, dessen Inhalt die Vulgärhumboldtianer ohnehin für unverdaubar hielten, in starkem Maße ein gesellschaftliches Event der Berliner farándula, des vanity fair, war, mit weißen, krokodilgezierten Seidenschals à la Humboldt als Zusatzgeschenk bei den Empfängen. Der Laudator ist sich bewusst, dass er damit diesem Entwurf einer physischen Weltbe-schreibung durchaus nicht gerecht geworden ist, und doch geht er unvermittelt über zu Ettes 2009 im Insel-Verlag erschienener Studie Alexander von Humboldt und die Globa-lisierung. Ganz im Stil von Cortázars Experimentalroman Rayuela erlaubt dieses Hum-boldt-Buch, das eine Archäologie der Globalisierung unternimmt und sie unter anderem als Bewegungsgeschichte interpretiert, diverse offene Lektüre-Parcours, transversale Le-semöglichkeiten, ein Springen zwischen oder Herauslösen von einzelnen Kapiteln, die freilich hier »Figuren« heißen – derer acht gibt es im ersten Teil, der eine »Achse« bildet und auch so heißt. In diesem Hüpfspiel gewinnt der Leser nicht nur Einsichten in die An-sichten der Natur und in den Kosmos, er findet ebenso Ottmars kritische Bemerkungen zu Daniel Kehlmanns Erfolgsroman Die Vermessung der Welt, vor allem aber eine Verortung des Humboldt’schen Projekts samt seiner vorweggenommenen Kolonialismuskritik im Rahmen jener Serie von Globalisierungen, die Ette vorschlägt.

Wie viel mehr noch wäre zu sagen zu Ottmar Ettes Schriften! Zu Konvivenz. Literatur und Leben nach dem Paradies (2012), zu dem Band über Viellogische Philologie anhand der transarealen peruanischen Literatur oder zu Deinen transarealen Reflexionen zu Chile. Vieles von den Gedanken, Modellen, Vorschlägen und Erkenntnissen wird – ge-mäß der Aufforderung der Herausgeber_innen – in der Festschrift reflektiert, anderes auf dem Kolloquium Übergänge, das morgen beginnt, zur Sprache kommen. Ottmars Werke sind für mich immer ein reicher, sprudelnder Quell der Erkenntnis, der freilich auch gelegentlich Widerspruch herausfordert, der vor allem aber immer das eigene Den-ken entscheidend bereichert und der in seinem ethisch fundierten Globalanspruch zu-gleich zu Hoffnung und Engagement aufruft, der uns Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftlern eine kritische Selbstvergewisserung verfügbar macht, der wir in diesen schwierigen Zeiten – aber welche wären je einfach gewesen? – bedürfen. Dafür, lieber Ottmar, möchte ich Dir an deinem 60. Geburtstag im Namen all Deiner Leserinnen und Leser danken. Und Humboldt, der letzte der skizzierten Vektoren, mag mir auch als Übergang dienen zu Abschnitt 3:

3. Der projektierende Ottmar Ette

Als ich Dir, lieber Ottmar, vor zwei Jahren dazu gratulieren konnte, dass das faszinieren-de Mammut-Projekt »Alexander von Humboldts Amerikanische Reisetagebücher« als BMBF-Verbundprojekt an die Universität Potsdam und die Stiftung Preußischer Kultur-besitz gegangen war und dass Du unter der Aufgabenstellung »Genealogie, Chronologie, Epistemologie« mit der Erschließung dieses wie durch ein Wunder (oder eine Räuber-

Page 10: Von der ›selva negra‹ nach Sanssouci – Stationen einer ›vita activa‹ · 2017-06-13 · fragtest, ob ein bestimmtes Umzugsunternehmen, das kurz zuvor meine transportabeln

9

Dieter Ingenschay | Von der selva negra nach Sanssouci Laudatio zu Ehren von Ottmar Ette

pistole) zu uns gekommenen Materials betraut bist, merkte ich Dir an, welch ein Leben-straum da für Dich Wirklichkeit zu werden versprach. Man hätte keine verantwortungs-vollere und sachkundigere Person für dieses Projekt finden können. Als ich dann Deinen ersten, ebenso informativen wie liebevollen Vortrag zu den Tagebüchern und ihren Skiz-zen hörte, musste ich zurückdenken an die Vignetten der Flussläufe in Deinem Buch Weltbewusstsein. Es ist phantastisch, dass und wie Dein Lebenswerk in diesem herausfor-dernden Projekt einen (vorläufigen) Kulminationspunkt findet. Für dessen erfolgreiche Fortführung wünsche ich Dir und allen daran Beteiligten den verdienten riesigen Erfolg.

Ottmar Ette war schon Jahre zuvor an Humboldt-Projekten beteiligt: An der großen Aus-stellung im Haus der Kulturen der Welt, der ersten großen Ausstellung, die durch ein substantielles Internetprogramm begleitet und vertieft wurde und aus dem unter Deiner fachkundigen Federführung HIN, Humboldt im Netz, eine einmalig nützliche Informati-onsplattform, die über die Fachwelt hinaus geschätzt ist, hervorging.

Etwa zu der Zeit des Erwerbs der Amerikanischen Reisetagebücher fuhren wir in meinem Auto durch Potsdam, zu dritt, wir beide und Torben, und Du hattest etwas enorm Wich-tiges zu erzählen: Du berichtetest, dass Du zum Honorary Member der Modern Language Association of America (MLA) gewählt worden warst. Diese höchste Auszeichnung, die Dein Prestige im internationalen Rahmen sinnfällig zum Ausdruck bringt, folgte vielen anderen.

So erinnere ich mich, wie andere in diesem Saal, an Deine Einführung als Ordentli-ches Mitglied der Geisteswissenschaftlichen Klasse der Berlin-Brandenburgischen Aka-demie der Wissenschaften im Jahre 2013. Bei Deiner Wahl in die Leibniz-Sozietät  der Wissenschaften zu Berlin 2015 indes war ich nicht dabei, noch 2010, als Du Mitglied der  Academia Europea  sowie Honorary Fellow am  Institute of Modern Languages Rese-arch der School of Advanced Study der University of London  wurdest. Dagegen ist mir Deine Zeit als Fellow am  Wissenschaftskolleg zu Berlin 2004/2005 nicht nur präsent, sondern ich habe nie Deine damalige Telefonnummer der Wallotstr. 19 gelöscht. – 2013 warst Du Fellow der Bayreuth Academy of Advanced African Studies, und ein paar Jahre vorher Fellow am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS).

Unvergessen ist mir auch der Tag – vier Jahre sind es her – an dem Du in der fran-zösischen Botschaft feierlich als Chevalier in den Ordre des Palmes Académiques aufge-nommen wurdest und zu diesem Anlass eine violette Krawatte angelegt hattest, to match the condecoration... Preise und Ehrungen: 2014 erhieltest Du den mexikanischen For-schungspreis der »Escuela Nacional de Altos Estudios« der Universidad Nacional Autó-noma de México, – ich war nicht dabei und weiß nicht, ob Du aus diesem Anlass einen Schlips mit Adler und Schlange umgebunden hattest. Dafür erinnere ich mich an einen wunderbaren sonnigen Nachmittag im letzten März mit schwerer Diskussion und leich-ten Bierchen auf der Terrasse einer Buchhandlung hoch über Mexicos Zócalo, der Grande Place, wie er auf einer Gravur in Weltbewusstsein heißt, während im Colegio de México die Kolleg_innen, como Dios manda, schrecklich ernsten Dingen nachzugehen hatten.

Auf Deine Beteiligungen an weiteren Forschergruppen und Kollegs kann ich hier nicht mehr eingehen, ich verweise nur knapp auf das Potsdamer Emmy Noether-Programm, das Deine geradezu abrahamistisch erfolgreiche Arbeit als Initiator und Betreuer von

Page 11: Von der ›selva negra‹ nach Sanssouci – Stationen einer ›vita activa‹ · 2017-06-13 · fragtest, ob ein bestimmtes Umzugsunternehmen, das kurz zuvor meine transportabeln

10

Dieter Ingenschay | Von der selva negra nach Sanssouci Laudatio zu Ehren von Ottmar Ette

Qualifikationsschriften beweist, und zwar wiederum im internationalen Maßstab, denn die Liste der bei Dir promovierten und habilitierten Personen liest sich wie ein Aus-zug aus dem Who-is-who der Nachwuchsromanistik in Deutschland und nicht minder in Südamerika. Potsdam ist durch Dich eine erste Adresse für effiziente Nachwuchsförde-rung, um den ambivalenten Begriff der Kaderschmiede zu vermeiden.

So hast Du schon früh und umfassend Deinen Frieden mit dieser Stadt und ihren Men-schen – und mit ihrer Universität sowieso – gemacht. Vielleicht stimmt auch für Dich selbst jener Satz, den Du (in Weltbewusstsein, S. 47) über Alexander von Humboldt ge-schrieben hast: »Potsdam nimmt im Leben Alexander von Humboldts einen besonde-ren, eigenartigen Platz ein«. Der Raum Potsdam, die Bewegungen von dem alten Che-mie-Hörsaal ins Neue Palais hier, beschreiben einen Parcours, der eine Erfolgsgeschichte eigenen Typs darstellt. Und dennoch habe ich diese Würdigung als Weg von der selva negra nach Sanssouci (und eben nicht nach Potsdam) betitelt. Dies ist nicht einem fran-zösierenden Spleen geschuldet, den man uns Romanisten ja nachsehen würde, sondern es geschah mit System. Sanssouci ist sprachlich mit Frankreich verbunden, zugleich me-tonymisch mit Voltaire, von dem der Satz kolportiert ist: »Je ne suis pas d’accord avec ce que vous dîtes, mais je me battrai jusqu’à la mort pour que vous ayez le droit de le dire«. – Wir wissen natürlich, dass diese viel zitierte Aussage im Traité de la tolérance von 1763 gar nicht auftaucht. Und: zu Prügeln ist es nicht gekommen, in Situationen, in denen wir durchaus nicht einer Meinung waren; konkret erinnere ich mich an zwei Fälle: erstens an einen Vortrag von mir, der manchen Deiner Positionen widersprach – da hast Du mir anschließend angeboten, ihn in einer Zeitschrift zu veröffentlichen, die Du mit leitest. Im zweiten Fall ging es um eine Buchpräsentation. Im Anschluss an diese hast Du mir gedankt dafür, dass ich eine der Veranstaltung (und in geringerem Maße auch dem Buch) gegenüber kritische Position artikuliert hatte. Diese Beispiele, liebe Festversammlung, zeigen nicht nur Ottmar Ettes ›Toleranz‹ – dieser zwiespältige Begriff allein würde keinen Grund zu meiner Bewunderung liefern –, sondern sie belegen jene ethische Grundein-stellung, der Ottmars Lebensprojekt untersteht, und seine zutiefst humanitäre Denkwei-se, die so ausgezeichnet an diesen Ort der gelebten Aufklärung passen. Danke, Ottmar, für all dies. Die Universität Potsdam – und ich bin mir sicher, dass Sie, Magnifizenz, mir hier zustimmen – muss stolz, glücklich und geehrt sein, Dich, Ottmar, zu der Gemein-schaft ihrer Forschenden und Lehrenden zählen zu können.

4. Vita activissima

Die deutsche Hochschule ist in Zeiten von Drittelmittelsucht und Exzellenzhysterie kein Ponyhof. Wir haben uns ja vor allem, aber nicht nur, in den ersten Jahren unserer Ber-lin-Brandenburger Zeit gegenseitig mehr als einmal mit Klagen über unser universitäres Umfeld, zum Teil auch über unsere Hochschulleitungen in den Ohren gelegen. Dank für all Deine Unterstützung, Deinen Rat, Deine Hilfe auch in diesen Fragen. (Ein Ärgernis für mich war jene Ehrenpromotion con Mario Vargas Llosa durch die Humboldt-Uni-versität, bei der sich meine von einem Interimspräsidenten geleitete Hochschule höchst knauserig zeigte; Du hieltest die Laudatio auf den peruanischen Schriftsteller und spä-teren Nobelpreisträger. Dieses Problem hattest Du bei der Ehrenpromotion von Jorge

Page 12: Von der ›selva negra‹ nach Sanssouci – Stationen einer ›vita activa‹ · 2017-06-13 · fragtest, ob ein bestimmtes Umzugsunternehmen, das kurz zuvor meine transportabeln

11

Dieter Ingenschay | Von der selva negra nach Sanssouci Laudatio zu Ehren von Ottmar Ette

Semprún, bei der ich anwesend sein durfte, zum Glück nicht.) Aber Du hast Sticheleien erlebt, auch handfeste Benachteiligungen, und es ist eben nicht so, dass Dir dies nichts ausgemacht hätte. Aber mit der Zeit hast Du eine stoische Ruhe all dem gegenüber ent-wickelt, die einerseits in der Souveränität des Überlegenen gründet, und andererseits vielleicht auch ein wenig in Humboldts Lektionen.

Freilich, diese Gelassenheit gegenüber den Reibereien im beruflichen Umfeld verblasst, wenn einen persönliche Schicksalsschläge treffen, die leider Euch – Doris, Judith und Dir – nicht erspart geblieben sind. Allein Eure Gemeinschaft, so schien mir, hat geholfen, das Unabänderliche anzunehmen, schwersten Herzens. Mit Recht erwartest Du, liebe Doris, von mir etwas anderes als die Wiederholung des heteronormativen Schwachsinns-Dis-kurses, dass hinter einem großen Mann immer eine starke Frau stehe. Du hast nie hinter Ottmar gestanden, sondern immer neben ihm, und ich weiß, dass Ihr, Judith und Du, Euch in den schwierigsten Momenten dieser Potsdamer Jahre habt vor ihn stellen und ihn schützen und stützen müssen. Jenseits der Solidargemeinschaft, die ja auch schon nicht zu verachten ist, wird Eure Familie getragen von einem großen und dennoch unpa-thetischen Begriff: von der Liebe. Schaffet, sie zu behalten und zu festigen! Und da schlie-ße ich auch Dich ein, Judith, in Erinnerung an Ottmars Berichte über Eure wunderbare gemeinsame Zeit in Freiburg.

Trotz dieser Widrigkeiten hast Du, lieber Ottmar, die enormen Mühen etwa des Me-ga-Projekts der Amerikanischen Reisetagebücher auf Dich genommen. Vor einigen Mo-naten gabst Du mir im Café eine Antwort darauf, ohne dass ich die Frage gestellt hatte. Aus dem Wunsch heraus, frei wissenschaftlich arbeiten zu können, ohne laufend Dritten, u. U. wenig Kompetenten, Rechenschaft zu schulden, erklärtest Du, aber nicht minder aus Fürsorge für den sogenannten wissenschaftlichen Nachwuchs, von dem schon die Rede war, für jene jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, mit denen sehr oft auch mich ein Stück gemeinsamer wissenschaftlicher Aktivitäten (oder wenigstens Kon-takte) verbindet. Niemals waren für Dich, Ottmar, Eitelkeit oder Geltungsdrang Trieb-federn Deines Handelns, sondern stets ein humanistisches Engagement, das die Sensib-len spüren und teilen; dies, so scheint mir, ist die beste Basis für jene (hoffentlich sehr) zahlreichen kommenden Jahre, die Dir im Dienst der Universität Potsdam, mehr noch aber zum Wohl der internationalen romanistischen und überlebenswissenschaftlichen Forschung, beschert sein mögen.

Den Weg von der selva negra nach Sanssouci kann man angesichts dessen, was ich dar-zustellen mich bemüht habe, nur als vita activissima fassen. Als Du zwei Jahre alt warst, lieber Ottmar, erschien Hannah Arendts Buch, in dem sie das aktive Leben zwischen soziopolitischem Engagement und Kontemplation situiert. Mittel sind dabei die Arbeit, das Produzieren, das Handeln und das Kommunizieren. Die Produktion von Wissen konstituiert den homo faber, dessen Weltkonzept die philosophische Kontemplation he-rausfordert, eine Herausforderung, vor der die alte Opposition zwischen sinnlicher und rationaler Wahrheit verblasst. Dein Leben scheint mir damit von Arendt treffend be-schrieben, und auch Deine Schriften gehen mehrfach auf Hannah Arendt ein, auf ihre poetische Prosa, auf die Varnhagen-Biografie und auf ihren Briefwechsel mit dem brau-nen Schwarzwald-Philosophen Martin Heidegger, der ihr mehr war als ein akademischer Lehrer. In ÜberLebensWissen, Teil 6, lieferst Du eine komplexe Lesart der Verdoppelun-gen in ihrem Leben und Schreiben über das »Hier und Jetzt und Dann und Dort«, eine

Page 13: Von der ›selva negra‹ nach Sanssouci – Stationen einer ›vita activa‹ · 2017-06-13 · fragtest, ob ein bestimmtes Umzugsunternehmen, das kurz zuvor meine transportabeln

12

Dieter Ingenschay | Von der selva negra nach Sanssouci Laudatio zu Ehren von Ottmar Ette

Verdoppelung, die Du konstitutiv auffindest als eine merkwürdige Spannung von 1. und 3. Person in Arendts Biographie der ›jüdischen Romantikerin‹ Rahel Varnhagen, einem an Schatten und intertextuellen Verweisen überreichen Buch, das Du als Paradigma einer Lebenswissen vermittelnden Schrift zu lesen vorschlägst. Im Rekurs auf Arendt mag ein Schlüssel liegen, weshalb man Ottmar Ettes Jahrzehnte währendes Schaffen kaum besser als im Arendt’schen Konzept der vita activa fassen kann. Geht es der jüdischen Philoso-phin der vita activa und der Banalität des Bösen um ihr Verhältnis zu einem deutschen Judentum, so geht es Ottmar um nichts Geringeres als um die Erarbeitung des Weltbe-wusstseins. Verdoppeltes Leben bei Arendt nimmt Ausgang von Rahel Varnhagen, bei Ottmar Ette von Alexander von Humboldt.

Doch wenden wir uns, liebe Festtagsgäste, noch einmal von Sanssouci aus zurück zu Ottmars Selva negra. Für Dich ist dieser wundersame Raum, in dem eine schaurige ale-mannische Fasnacht und kein dumpf-ausgelassener Karneval gefeiert wird, kein pathe-tisch tümelndes Vaterland, sondern ein transgressiver Raum, ein Mutterland, nach dem Diktum Deines Mitschwarzwälders, des deutsch-spanisch-alemannisch-andalusischen Schriftstellers José F. Oliver, den du zitierst. Und letztlich möchte ich auf den ebenfalls schwarzwäldischen Autor Arnold Stadler verweisen, auf den ich durch Dich aufmerksam wurde. Stadler, Autor nicht nur des in der Selva negra angesiedelten Romans Mein Hund, meine Sau, mein Leben, sondern auch der Erzählung Feuerland, in dem er den Schwarz-wald genau so zu Patagonien in Bezug setzt wie Deine Leser Deine Heimat zum Univer-sum Deines Schaffens: »The Province of the Poem is the World«, bemerkte William Car-los Williams, den Du unter den amerikanischen Lyrikern besonders schätzt!

Aber ich kann nicht mit Williams, sondern nur mit Humboldt schließen. Deinem Welt-bewusstsein stellst Du ein Motto aus dem Kosmos II voraus: »Jedes / Erforschte ist nur / eine Stufe zu etwas Höherem / in dem verhängnißvollen Laufe der Dinge«. Möge der Lauf der Dinge in den kommenden Jahren wenig verhängnisvoll sein, und mögest Du voranschreiten auf den Stufen zu Höherem, in bester Gesundheit und ungebrochener Schaffenskraft, notfalls contra viento y marea, aber mit der herzlichen und solidarischen Unterstützung aller, die Dir so viel verdanken. Ad multos annos!