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Ruhr-Universität Bochum Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität Die Auseinandersetzung von Habermas mit der Subjektivitätsphilosophie Inaugural-Dissertation Zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie vorgelegt von Dae Seong JEONG aus Seoul, Republik Korea 1. Gutachter: Prof. Dr. G. Scholtz 2. Gutachter: Prof. Dr. F. Rodi Bochum, Juni 2003

Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

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Ruhr-Universität Bochum

Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik

Von der Subjektivität zur Intersubjektivität Die Auseinandersetzung von Habermas mit der Subjektivitätsphilosophie

Inaugural-Dissertation

Zur Erlangung des Grades eines

Doktors der Philosophie

vorgelegt von

Dae Seong JEONG

aus Seoul, Republik Korea

1. Gutachter: Prof. Dr. G. Scholtz

2. Gutachter: Prof. Dr. F. Rodi

Bochum, Juni 2003

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Inhaltsverzeichnis I. Zur Aktualität der Fragestellung ……………………………………………………...4 1. Das Prinzip der Moderne und deren Probleme:

die Subjektivität und das Paradox der Rationalisierung ……………………..……….4 2. Gegenwärtige Versuche, das Problem der subjektiven Philosophie

zu überwinden ……………………………………………………………………….12 2.1. Der Übergang zur Postmoderne …………………………………………………..14 2.2. Die Erneuerung des Begriffs der transzendentalen Vernunft ……………………..23 2.3. Die Wende zur Intersubjektivitätstheorie …………………………………………30 II. Der Ausgangspunkt von Habermas: die Weiterführung des Projektes

der Aufklärung um der sittlichen Totalität willen ……..……………………………39

1. Die Bedeutung der Moderne ……………....………………………………………...42 2. Die Bedeutung der Aufklärung ……………………………………………………...48

3. Die Auseinandersetzung mit der subjektivistischen Vernunft ……………………...56 4. Die Auseinandersetzung mit den radikalen Vernunftkritikern ……………………...64 4.1. Die Kritik an der Grammatologie Derridas ……………………………………….64 4.2. Die Kritik an der Archäologie und der Genealogie Foucaults …..………………..72 III. Die Auseinandersetzung von Habermas mit Hegel und

die Ansätze der Idee der Intersubjektivität ..……………………………………….81 1. Die Anliegen des jungen Hegel: die Herstellung der Lebenstotalität ………………82 1.1. Die Kritik des jungen Hegel an der Positivität ……………………………………82 1.1.1. Die Kritik an der positiven Religion …………………………………………….82 1.1.2. Die Kritik an der positiven Moralphilosophie Kants ……………………………91 1.2. Die Kritik des jungen Hegel an der Reflexionsphilosophie ………………………96 1.3. Die Idee der Lebenstotalität beim jungen Hegel ………………………………...101 2. Die Bedeutung des jungen Hegel für die Philosophie von Habermas - Eine intersubjektivitätstheoretische Interpretation des Begriffs des Lebens ……….111 2.1. Die sozialphilosophische Bedeutung des Lebens beim jungen Hegel …………..112 2.2. Die Idee der Intersubjektivität beim jungen Hegel ………………………………117

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IV. Die linguistische Wende von Habermas: der Übergang von der Subjektivität zur Intersubjektivität ..……………………...123

1. Die sprachphilosophische Wende im Habermasschen Denken ...………………….126 2. Die Sprachpragmatik und die Theorie des kommunikativen Handelns …………...138 2.1. Die Sprachpragmatik …………………………………………………………….138 2.2. Die sprachpragmatische Deutung des Handelns ………………………………...143 2.3. Die sprachpragmatische Deutung der Lebenswelt ………………………………151 2.4. Das Grundproblem der Modernisierung der Gesellschaft:

die Kolonialisierung der Lebenswelt ...…………………………………………...159 V. Die Rolle der Vernunft für die Gesellschaft bei Habermas ……………………….169 1. Die Idee der 'Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen' ………………...169 2. Würdigung und Kritik der Habermasschen Theorie………………………...……...184 Zusammenfassung ……………………………………………………………………191 Literaturverzeichnis …………………………………………………………………..209

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Häufig verwendete Abkürzungen HWPh = J. Ritter / K. Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der

Philosophie, Basel, Stuttgart. TkH = J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M.

1987. PDM = J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne,

Frankfurt/M. 1996. ND = J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/M. 1988. NU = J. Habermas, Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt/M. 1996. VE = J. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des

kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1995. TW = G.W.F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, E. Moldenhauer / K.M.

Michel (Hg.), Frankfurt/M. 1986. GW = G.W.F. Hegel, Gesammelte Werke. Die Rheinisch-Westfälische

Akademie der Wissenschaften (Hg.), Hamburg. Differenzschrift = G.W.F. Hegel, Differenz des Fichte’schen und

Schelling’schen Systems der Philosophie, in: GW, Bd. 4, Jenaer Kritische Schriften, H. Buchner / O. Pöggeler (Hg.), Hamburg 1968.

Glauben und Wissen = G.W.F. Hegel, Glauben und Wissen oder Reflexionsphilosophie der Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie, in: GW. Bd. 4. a.a.O.

Naturrechtsschrift = G.W.F. Hegel, Ueber die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie, und sein Verhältniß zu den positiven Rechtswissenschften, in: GW, Bd. 4, a.a.O.

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I. Zur Aktualität der Fragestellung

1. Das Prinzip der Moderne und deren Probleme: die Subjektivität und 'das Paradox der Rationalisierung'

Es scheint bei den heutigen sogenannten 'modischen' Philosophien zur wichtigsten

philosophischen Problematik oder zumindest zu einem der wichtigsten Teile für die

Einleitung in jene Philosophie zu gehören, die Modernität zu deuten. Denn sie befassen

sich auf die eine oder andere Weise mit der Problematik der Moderne. Genauer gesagt:

für die einen Philosophen, die sich für die Erhaltung der Moderne aussprechen, nimmt

die (erneute) Deutung der Modernität immer noch einen zentralen Platz in ihrem

Denken ein, während die anderen, welche die Überwindung der Moderne als Ziel haben,

mit einer grundsätzlichen Kritik dieser Moderne anfangen.

Die Renaissance, die Reformation, die sogenannte Wissenschafts- und

Industrierevolution, die Aufklärung und die Französische Revolution etc. sind typische

Phänomene und Zeichen der 'Moderne'. Anders als die teleologische, d. h. die

metaphysische und theologische Weltkonzeption der Antike und des Mittelalters, nach

der man das Telos des innerweltlichen Seins außerhalb der endlichen Welt sucht, ist

eine der augenfälligsten Charakteristiken dieses Zeitraumes die Idee der

Vollkommenheit der Welt bzw. der Natur, wie sie sich z. B. in der Formulierung

Spinozas zeigt: Deus sive natura.

Die Aufhebung des Begriffs des Telos der Natur bedeutet jedoch gleichzeitig die

Entzauberung der Natur. Erst in diesem Zeitraum, in dem die sogenannte

Wissenschaftsrevolution ermöglicht wurde, konnte es zu einer Beherrschung der Natur

im Kontext des "universalistischen Rationalisierungsvorgangs" kommen, in dem die

Natur quantifiziert und mathematisch berechnet werden könne. Damit wurde die Natur

zum Gegenstand der objektiven Darstellung, Forschung und Untersuchung, und der

Mensch ist als Subjekt der wissenschaftlichen Arbeit zum Vorschein gekommen. An die

Stelle des Begriffes der teleologischen 'Vollkommenheit' wurde der Begriff des

'rationalen Fortschrittes' in dem Sinne von Quantifizierung und Mathematisierung

gesetzt. Anders als die 'Antiken', die in einem außer- oder überweltlichen Sein den

letzten Zweck der Welt gefunden hatten, konnten die 'Modernen', die von der

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Selbständigkeit der Welt sprechen, die ursprüngliche Basis der Wissenschaft niemals in

jener Transzendenz suchen.TPF

1FPT

Der Entzauberungsvorgang im Bereich der Natur ist jedoch parallel zu dem

Säkularisierungsprozeß im Bereich der Religion, der Moral sowie der Kultur verlaufen:

Die Reformation setzte an die Stelle des Glaubens an die kirchliche Tradition die

unmittelbare Beziehung des Menschen zu Gott; das Gesetz, das von Gott gekommen

war, hat der Freiheit des Willens den Weg geebnet; bei der modernen Moral geht es um

die Anerkennung der Freiheit des Individuums und die Frage nach dessen

Verpflichtung; die Form der Kunst und deren Inhalt, wie z. B. bei der Romantik,

wurden absolut verinnerlicht. Die Moderne ist also eine Zeit, die ihre Kriterien nicht

von der Außenwelt oder der Vergangenheit übernehmen kann oder darf; vielmehr muß

sie ihre Normen allein aus sich selbst heraus generieren.

Die Erhebung des Ich in der Moderne zum philosophischen Prinzip der Weltdeutung

scheint also notwendig gewesen zu sein. Es ist daher kein Zufall, daß die Moderne das

Cogito in den Vordergrund stellte, um ihre Norm selbst schaffen zu können. In dieser

Hinsicht sagt Lacan über den Begriff des modernen Ich:

"Ich denke, also bin ich (cogito ergo sum), das ist nicht nur die Formel, in der

sich, auf dem historischen Gipfel einer Reflexion auf die Bedingungen von

Wissenschaft, die Verbindung zur Transparenz des transzendentalen Subjekts

von seiner existentiellen Bejahung her konstituiert. Vielleicht bin ich nur

Objekt und Mechanismus [...], sicher aber insofern ich das denke, bin ich –

absolut. Ohne Zweifel haben die Philosophen hier wichtige Korrekturen

angebracht, namentlich daß in dem, was denkt (cogitans), ich mich immer nur

als Objekt (cogitatum) konstituiere. Bleibt, daß durch diese extreme

Läuterung des transzendentalen Subjekts meine existentielle Bindung an

seinen Entwurf unumstößlich scheint zumindest in der Form seiner Aktualität,

und daß 'cogito ergo sum' ubi cogito, ibi sum über jeden Einwand erhaben

ist."TPF

2FPT

TP

1PT Siehe zur Debatte der Antiken und Modernen H. R. Jauß, Ursprung und Bedeutung der Fortschrittsidee

in der sogenannten 'Querelle des Anciens et des Modernes', in: H. Kuhn / F. Wiedmann (Hg.), Die

Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt, München 1964, S. 51ff.

TP

2PT J. Lacan, Das Drängen des Buchstabens im Unterbewußtsein oder die Vernunft seit Freud, in: ders.,

Schriften II, N. Haas (Hg.), Olten, Freiburg 1975, S. 41f.

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Das transzendentale Ich Kants, welcher die von Descartes gestellte Subjektfrage in der

Form des reinsten absoluten Selbstbewußtseins erneut behandelt, besteht in der Struktur

der Selbstbeziehung des Subjekts: Das Ich bezieht sich auf sich als Objekt zurück, um

sich wie in einem Spiegelbild, d. h. 'spekulativ', zu ergreifen.TPF

3FPT Es ist wohl bekannt, daß

Kant diesen reflexionsphilosophischen Gesichtspunkt seinen drei Kritiken zugrundelegt.

Der Geltungsanspruch auf eine Sache soll daher nun nur vor dem obersten Gericht der

Vernunft gerechtfertigt werden. Nachdem die vereinheitlichende Macht der

metaphysischen Substanz, wie z. B. des Einen bei Plotinus oder Gottes bei den

christlichen Philosophen, vergangen ist, wird jedes Vermögen der Erkenntnis, der

moralischen Praxis sowie des ästhetischen Urteils in der Moderne auf eigene

Fundamente gestellt, ohne eine inhaltliche Einheit zwischen diesen Bereichen zu

schaffen, und dadurch versichert sich die kritisierende Vernunft nicht nur ihres eigenen

subjektiven Vermögens, sondern sie übernimmt auch die Rolle eines obersten Richters

gegenüber der Kultur im ganzen.

Auch Hegel sieht "das Große unserer Zeit"TPF

4FPT in dem Prinzip der Subjektivität. Diesem

Prinzip folgen nach seiner Deutung alle Erscheinungen der Moderne wie z. B. die

Religion, die Moral, die Kunst und die Wissenschaft etc.

Neben den Philosophien des deutschen klassischen Idealismus scheinen aber auch fast

alle gegenwärtigen 'modischen' Philosophien, seien es die radikalen Vernunftkritiker

oder die Verteidiger der modernen Vernunft, damit einverstanden zu sein, daß die

Moderne vom Prinzip der Subjektivität beherrscht wird. Heidegger zum Beispiel, einer

der radikalen Subjektivitätskritiker, bestreitet nicht, daß die Subjektivität zum Prinzip

der Moderne erhoben wurde und zur absolut gewissen Grundlage aller Vorstellungen

wurde; mit dem Prinzip der Subjektivität verwandelt sich das Seiende im Ganzen in die

subjektive Welt und die Wahrheit in subjektive Gewißheit. Die Neuzeit bestimmt sich

dadurch, "daß der Mensch Maß und Mitte des Seienden wird. Der Mensch ist das allem

Seienden, d. h. neuzeitlich aller Vergegenständlichung und Vorstellbarkeit

TP

3PT Habermas nennt den Versuch, den Ursprung des Bewußtseins im Selbstbewußtsein oder in der

Subjektivität zu finden und das Selbstbewußtsein mit dem Ich gleichzusetzen, den 'Mentalismus'. Mit

dem Mentalismus meint er zunächst die Bewußtseins- bzw. Subjektsphilosophie seit Descartes. Siehe J.

Habermas, Wege der Detranszendentalisierung. Von Kant zu Hegel und zurück, in: ders., Wahrheit und

Rechtfertigung, Frankfurt/M. 1999, S. 186ff.

TP

4PT G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, in: ders., Werke in zwanzig

Bänden, E. Moldenhauer / K. M. Michel (Hg.), Frankfurt/M. 1986 (= TW), Bd. 20, S. 329.

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Zugrundeliegende, das subjectum."TPF

5FPT Auch für Foucault ist die Subjektivität das zentrale

Prinzip der Moderne. Er betrachtet in einer historischen Untersuchung den als das

Subjekt angesehenen Menschen bloß als eine Erfindung der modernen Zeit, "deren

junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das

baldige Ende."TPF

6FPT Der Mensch als das Subjekt ist nach ihm keine ursprüngliche Kategorie

der Philosophie, sondern nur eine Erfindung.

Die Moderne wird also als eine Zeit betrachtet, die von der Subjektivität, dem

Selbstbewußtsein, der Reflexion oder der Vernunft etc. bestimmt wird. Die Subjektivität

oder die sich auf sich selbst beziehende Vernunft, die mit der Emanzipation von

mythischer, theologischer und metaphysischer Weltbetrachtung in den Vordergrund tritt,

übernimmt die Aufgabe der Synthetisierung von allen gegebenen Objekten oder die der

Weltdeutung, und allein auf Basis dieser Vernunft wird die Freiheit des Menschen und

dessen Fortschritt garantiert. Anders gesagt, die moderne subjektive Vernunft verbreitet

den aufklärerischen Glauben, daß nur die auf der Vernunft beruhenden Urteile und

Handlungen die Triebfedern des Fortschrittes sind, mit denen man eine glückliche

Zukunft und eine emanzipierte Gesellschaft erreichen kann. Und dieser Glauben schien

durch den modernen Rationalisierungsvorgang erfüllt werden zu können, der sich in

dem sogenannten 'Projekt der Aufklärung' entwickeln sollte. Dies ergibt sich daraus,

daß die enorme Entwicklung der Technologie, die auf die 'erkenntnistheoretische

Rationalität' angewiesen ist, den Menschen von der Natur emanzipiert und ihn

gleichzeitig ökonomisch-materiell reicher gemacht hat als je zuvor.

Aber das Problem ist hier, daß parallel zu diesem beeindruckenden technischen

Fortschritt heutzutage viele sozialpathologische Erscheinungen entstanden sind, die das

Leben des Menschen selbst gefährden, wie z. B. die ökologische Krise, die Furcht vor

militärischen Zerstörungspotentialen, Kernkraftwerken, Atommüll sowie

Genmanipulation etc. Diese negativen Seiten der Modernisierung stellen sich der

ursprünglichen Idee der Aufklärung entgegen, die auf eine Gesellschaft der vom

Zustand des Unwissens befreiten, reifen Menschen abzielt. Das Projekt der Aufklärung,

das in der Emanzipation des Menschen von aller Art der Unterdrückung mit Hilfe der

Rationalität besteht, sperrte den Menschen aber letztlich erneut in ein neues

Unterdrückungssystem ein. Dieses Herrschaftssystem ist nichts anderes, wie M. Jay

TP

5PT M. Heidegger, Nietzsche, Bd. 2, Pfullingen 1989, S. 61.

TP

6PT M. Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/M. 1971.

S. 462.

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schreibt, als "eine säkularisierte Version der religiösen Überzeugung, Gott sei es, der die

Welt beherrsche."TPF

7FPT Aus dieser Sicht formuliert er das paradoxe Resultat der

Modernisierung wie folgt:

"Trotz ihres Anspruchs, die Mythen hervorbringende Verwirrung durch die

Einführung rationaler Analyse überwunden zu haben, war die Aufklärung

selbst einem neuen Mythos zum Opfer gefallen." TPF

8FPT

Das Problem der Modernität ruft heutzutage eine philosophische Reflexion gegenüber

diesen historisch-gesellschaftlichen pathologischen Erscheinungen hervor.TPF

9FPT Im Kern der

gegenwärtigen Kritik an der Modernität liegt der Begriff der Subjektivität oder der

subjektiven Vernunft. Horkheimer und Adorno drücken z. B. in ihrem gemeinsamen

Werk Dialektik der Aufklärung die große Sorge um den in der Zeit des Faschismus in

Europa, des Totalitarismus in der Sowjetunion und der Massenkultur u. a. in

Nordamerika erscheinenden Untergang der 'wahren klassischen Solidarität' aus und

bezeichnen die Aufklärung in dieser Hinsicht als 'Massenbetrug'.TPF

10FPT Ihnen zufolge steht

die Neigung der Massen zum Gehorsam in der Gegenwart in engem Zusammenhang mit

der Herrschafts- oder Unterdrückungsstruktur, die in der von der instrumentalen

Vernunft hergeleiteten modernen Arbeitsethik enthalten ist:

"Technische Rationalität heute ist die Rationalität der Herrschaft selbst. Sie

ist der Zwangscharakter der sich selbst entfremdeten Gesellschaft." TPF

11FPT

Die Autoren dieses Werkes zielen darauf ab zu zeigen, daß die modernen Menschen

wegen der Herrschaft der autoritären technischen Gesellschaft an einer "falschen

TP

7PT M. Jay, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für

Sozialforschung 1923-1950, Frankfurt/M. 1976, S. 305.

TP

8PT Ebd.

TP

9PT Vgl. I. Fetscher, Aufklärung über Aufklärung, in: A. Honneth / T. McCarthy / C. Offe / A. Wellmer

(Hg.), Zwischenbetrachtung. Im Prozeß der Aufklärung. J. Habermas zum 60. Geburtstag, Frankfurt/M.

1989, S. 657ff.

TP

10PT M. Horkheimer / Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: Th. W. Adorno, Gesammelte Schriften,

Bd. 3, R. Tiedemann (Hg.), Frankfurt/M. 1981, S. 141ff.

TP

11PT A.a.O., S. 142.

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Identität von Allgemeinem und Besonderem" TPF

12FPT leiden, deren Ursprung im mit Descartes

beginnenden Dualismus von Subjekt und Objekt liegt.

Das Problem der Moderne resultiert also daraus, daß sie mit dem

Säkularisierungsvorgang die Autonomie und die Schöpferkraft des Subjekts übermäßig

in Anspruch genommen hat. Die Entwicklung der technischen Wissenschaft

verdinglicht die Natur und macht gleichzeitig den Menschen zum Gegenstand

instrumentaler Nützlichkeit. Indem sich das Wissen in den entwickelten Industriestaaten

mit der unterdrückenden Technik identifiziert, dient es den herrschenden Gruppen. Die

Aufklärung, welche die Autonomie des Menschen betonte, führte damit paradoxerweise

dazu, den Menschen der technikorientierten Wissenschaft gegenüber gehorsam zu

machen und vor allem seine Geistigkeit auf ein vollständig von dem Naturgesetz

abhängiges bloßes Ding zu reduzieren. Dieses Problem erklären G. Lukács mit dem

Begriff der 'Verdinglichung' und die Autoren von Dialektik der Aufklärung mit dem der

'formalen' oder der 'instrumentalen' Rationalität. Diese kritischen Begriffe wurden also

eingeführt, um, wenn man es so nennen will, die 'Paradoxie der Rationalisierung' zu

beschreiben.

Dieses Problem war schon bei Max Weber ein zentrales Thema. Er begreift die

gesellschaftlichen und geschichtlichen Vorgänge unter dem Rationalitätsaspekt. Bei ihm

bedeutet die Rationalität zunächst eine intellektuelle sinnhafte Erfaßbarkeit;TPF

13FPT die

Menschheit entwickelt Systeme, um alles, was dem Menschen begegnet,

ordnungsmäßig anzuschauen und dadurch von der Furcht vor der Zufälligkeit und dem

Chaos befreit zu werden. Weber versteht daher alle menschlichen Systeme als Ausdruck

der Rationalität.

Wenn er aber den Rationalisierungsprozeß der Moderne auf den Begriff einer

bestimmten, d. h. 'universalgeschichtlichen' oder 'universalistischen' Rationalität

bezieht, meint er mit der Rationalität vor allem die mathematischen oder logischen

Sinnzusammenhänge. Das bedeutet, daß in der Moderne die 'Zweckrationalität' oder die

instrumentelle Rationalität überwiegt, die in der Wahl der effektivsten Mittel besteht,

um einen gegebenen Zweck zu erreichen. Weber unterscheidet diesen

Rationalitätsbegriff vor allem von der Wertrationalität, die z. B. im Mittelalter

vorherrschend war. Er beschreibt den Unterschied zwischen beiden Rationalitäten wie

TP

12PT A.a.O., S. 141.

TP

13PT Vgl. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, J. Wickelmann

(Hg.), Bd. 1, Tübingen 1976, S. 2.

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folgt: ''Rein wertrational handelt, wer ohne Rücksicht auf die vorauszusehenden Folgen

handelt im Dienst seiner Überzeugung von dem, was Pflicht, Würde, Schönheit,

religiöse Weisung, Pietät, oder die Wichtigkeit einer 'Sache', gleichviel welcher Art,

ihm zu gebieten scheinen. […]. Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zweck,

Mitteln und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie

die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen

Zwecke gegeneinander rational abwägt.''TPF

14FPT

Die Rationalisierung der Moderne bedeutet also die Verbreitung der Zweckrationalität,

d. h. die Verbreitung der Gewißheit, daß ''man, wenn man nur wollte, es jederzeit

erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte

gäbe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch

Berechnen beherrschen könne.''TPF

15FPT Aus diesem Grund nennt Weber den Vorgang der

modernen Rationalisierung den 'Entzauberungsprozeß'.

Die wesentlichen Kennzeichen der modernen Gesellschaftsform, in der sich die

universalistische Rationalität verkörpert, sind nach Weber das kapitalistische

Wirtschafts- sowie das bürokratische Verwaltungssystem. Er begreift diese Systeme als

Ergebnisse eines 'universalgeschichtlichen' Rationalisierungsprozesses.TPF

16FPT Das Problem

ist aber, daß diese rationalen Systeme, entgegen ihrer eigentlichen Absicht, zu den die

Menschheit unterdrückenden Instrumenten, zur 'seelenlosen Maschinerie' geworden

sind. Über diese Paradoxie der modernen Rationalisierung' schreibt er wie folgt:

''Der Puritaner [sc. der moderne Mensch] wollte Berufsmensch sein, [...].

Denn indem die Askese aus den Mönchszellen heraus in das Berufsleben

übertragen wurde und die innerweltliche Sittlichkeit zu beherrschen begann,

half sie an ihrem Teile mit daran, jenen mächtigen Kosmos der modernen,

an die technischen und ökonomischen Voraussetzungen mechanisch-

maschineller Produktion gebundenen, Wirtschaftsordnung erbauen, der

heute den Lebensstil aller Einzelnen, die in dies Triebwerk hineingeboren

TP

14PT A.a.O., S. 12f.

TP

15PT M. Weber, Wissenschaft als Beruf, in: ders, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, J.

Winckelmann (Hg.), Tübingen 1988, S. 594.

TP

16PT Siehe zu dieser Problematik J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns (= TkH), Bd. 1,

Frankfurt/M. 1987, S. 207ff.

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werden, [...] mit überwältigendem Zwange bestimmt und vielleicht

bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist.''TPF

17FPT

Der moderne Rationalismus bringt, wie Weber sagt, letztlich ''die letzten Menschen''

hervor, die bloß ''Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz'' sind.TPF

18FPT

Das Problem bei Webers Analyse der Rationalität liegt aber darin, daß seine

Untersuchung mit der düsteren und resignierten Diagnose der gegenwärtigen Zeit endet,

ohne eine rationale Lösung anzugebenTPF

19FPT. Aus diesem Grund wird Weber

unterschiedlich beurteilt; mal wird er als ein Sohn der Aufklärung angesehen, weil er

unter dem Rationalitätsaspekt die geschichtlichen Vorgänge untersucht,TPF

20FPT mal steht er in

Verdacht, eine 'nostalgische Soziologie' zu etablieren, weil er im Vergleich zur

Wertrationalität die Zweckrationalität sehr stark kritisiert hatTPF

21FPT und mal wird er mit dem

generationstypischen Nihilismus verbunden, den ''Nietzsche so eindrucksvoll

dramatisiert hatte.''TPF

22FPT

Nun scheint es für die gegenwärtige 'modische' Philosophie eine notwendige Aufgabe

zu sein, auf das Problem der Rationalisierung irgendwie zu reagieren, das M. Weber

ohne Lösung hintergelassen hat. Es handelt sich dabei also um die Frage, worauf sich

die Kritik der Rationalität richten muß. Die Antwort auf diese Frage bestimmt den Ton

der konkurrierenden Philosophien.

TP

17PT M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen, 1963 S. 203. Hervorhebung im

Original.

TP

18PT A.a.O., S. 204.

TP

19PT Vgl. K. Löwith, Gesammelte Abhandlungen. Zur Kritik der geschichtlichen Existenz, Stuttgart 1969, S.

7 und W. Mommsen, Max Weber: Gesellschaft, Politik und Geschichte, Frankfurt/M. 1974, S. 135.

TP

20PT A. Wellmer, Reason, Utopia and the Dialectic of Enlightment in: R. J. Bernstein (Hg..), Habermas and

Modernity, Cambridge 1985, S. 40.

TP

21PT B. S. Turner, Max Weber: From History to Mordernity, London 1992, S. 134.

TP

22PT TkH 1, S. 336. Habermas deutet diese nihilistische Neigung Webers als ein Resultat aus seiner

reduktionistischen Tendenz: Obwohl Weber die Ausdifferenzierung der rationalen Geltungen zu der

Wahrheit, der Richtigkeit und der Authentizität bzw. den Polytheismus der Werte mit Recht als

Kennzeichen der Moderne erkannt hat, analysiert er die gesellschaftliche Rationalisierung allein innerhalb

des eingeschränkten Standpunktes der Zweckrationalität, so daß der Geltungsanspruch der

zweckrationalen Wahrheit alle anderen Geltungsansprüche verdrängt hat. Also liegt der Kern der

Habermasschen Kritik an dem Weberschen Rationalitätsbegriff in einer Diskrepanz zwischen seiner

Darstellung des Rationalitätsbegriffs der Moderne und dem Rationalitätsbegriff, mit dem er das Problem

der gesellschaftlichen Rationalisierung analysiert. Siehe TkH 1, S. 207.

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2. Gegenwärtige Versuche, das Problem der modernen

Philosophie zu überwinden.

Nach A. Wellmer gibt es zwei große Denkrichtungen, die es heutzutage ermöglichen,

sowohl die zur absoluten Gewalt gewordene moderne Subjektivität wissenschaftlich zu

kritisieren als auch nach neuen Alternativen zu suchen: einerseits die Psychoanalyse

und andererseits sprachphilosophische Kritik des Subjekts.TPF

23FPT

Die Psychoanalyse, die von S. Freud entwickelt wurde, geht davon aus, daß die

Menschen nicht primär rationale Wesen sind, sondern von ihren Trieben gesteuert

werden, die das mächtigere Unbewußte bestimmt. Wegen dieser unbewußten

Triebkräfte und Motive kann sich das menschliche Subjekt nicht in der Weise erkennen,

wie es in der klassischen Autonomievorstellung angenommen wurde. Aus diesem

Grund zweifelt die Psychoanalyse an der ''Möglichkeit vollständiger Durchsichtigkeit

menschlicher Handlungsvollzüge'' und an der ''Idee von Autonomie des Subjekts im

Sinne der Kontrollierbarkeit des eigenen Tuns''.TPF

24FPT

Die strukturelle Linguistik, die mit F. Saussure angefangen hat, geht davon aus, daß die

individuelle Rede vollständig von einem schon gegebenen System sprachlicher

Bedeutungen abhängig ist. Wegen der Abhängigkeit des sprechenden Subjekts vom

System der Sprache kann das menschliche Subjekt nicht in der Weise sinnkonstitutiv

oder bedeutungsschöpfend sein, wie es vor allem in der Transzendentaphilosophie

angenommen wurde. Aus diesem Grund stellte die strukturelle Linguistik ''die

Möglichkeit individueller Sinnkonstitution'' und ''die Idee von Autonomie im Sinne der

Autorschaft des Subjekts''TPF

25FPT in Frage.

Diese beiden Denkrichtungen, die sich durch ihre Entdeckung des Unbewußten

einerseits und des aller Intentionalität vorausliegenden Faktums des sprachlichen

Bedeutungssystems andererseits auszeichnen, richten sich also gegen die klassische

Vorstellung der Subjektivität, d. h. gegen die Idee der vollständigen Autonomie des

Subjekts. Diese wissenschaftlichen Ergebnisse wirken heutzutage in verschiedenen

wissenschaftlichen Bereichen. Auch in dem Bereich der Philosophie sind viele

Diskussionen über diese beiden Positionen geführt werden. Man kann diese TP

23PT A. Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne: Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt/M.

1985, S. 48ff.

TP

24PT Ebd.

TP

25PT Ebd.

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philosophischen Diskussionen, wie es A. Honneth tut, in drei Varianten

zusammenfassen: a) eine Radikalisierung der dezentrierenden Tendenzen, b) die

entschlossene Beibehaltung des klassischen Autonomieideals und gleichzeitig die

paradoxe Anerkennung der Ergebnisse jener Dezentrierungen, c) eine Rekonstruktion

von Subjektivität besonders durch die Idee der Intersubjektivität.TPF

26FPT

Die Vertreter der ersten Position gehen davon aus, daß die negativen Ergebnisse der

Moderne unmittelbar von der modernen Vernunft und sogar vom rationalistischen

Denken überhaupt ausgegangen sind. Sie engagieren sich daher sehr darin, den

'Terrorismus' der Aufklärung und des Humanismus zu entlarven, die beide von der

subjektiven Vernunft geleitet werden. Sie vertreten also einen Anti- oder Irrationalismus

und behaupten, daß die Vernunft eigentlich nicht autonom sei, sondern von ihrem

Anderen, z. B. der Macht (Foucault) und der dem Logos grundlegenden schweigenden

Schrift (Derrida), heimlich geleitet oder begleitet wird.

Die Vertreter der zweiten Position gehen davon aus, daß die negativen Ergebnisse der

Moderne nichts mit der modernen Vernunftidee zu tun haben oder aus einer

inkonsequenten Vernunftanwendung resultieren. Sie zweifeln nicht an dem Kantischen

Ideal, daß die Vernunft der oberste Richter bei der Erkenntnis, der Handlung sowie dem

ästhetischen Urteil sei. Sie vertreten daher einen starken rationalistischen Optimismus,

der davon ausgeht, daß die Probleme der Aufklärung durch die Entwicklung der auf der

modernen Rationalität basierenden, technikorientierten Wissenschaft überwunden

werden können.

Die Vertreter der letzten Position akzeptieren zwar die Kritik, daß die negativen

Ergebnisse der Aufklärung aus dem Wesen der modernen, besser gesagt, der

instrumentellen Vernunft resultieren. Aber sie setzen sich trotzdem nicht mit dem

Begriff der Vernunft selbst auseinander, sondern behaupten, daß das Projekt der

Aufklärung, d. h. der Emanzipationsprozeß von der z. B. die Menschen

unterdrückenden Tradition, durch die rationale Rekonstruktion von Subjektivität

weitergeführt werden kann. Das Paradox der Aufklärung besteht ihnen zufolge darin,

daß die Vernunft im Rationalisierungsvorgang der Moderne zu eng bestimmt wird:

Obwohl die vernünftigen Werte in der Moderne berechtigterweise ausdifferenziert

worden seien, würden nur die wissenschaftlich-technisch orientierten Werte als etwas

wirklich Vernünftiges angesehen. Daher gehen sie davon aus, daß die Aufklärung durch

TP

26PT A. Honneth, Dezentrierte Autonomie. Moralphilosophische Konsequenzen aus der modernen

Subjektkritik, in: ders., Das Andere der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 2000, S. 238f.

Page 15: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

14

die Vergrößerung des Vernunftgebietes all jene verschiedenen Werte in sich

einschließen kann. Die Idee der 'Intersubjektivität' steht im Zentrum ihrer Philosophie.

Nach dieser Idee ist die Subjektivität nicht der Anfang des philosophischen Denkens,

sondern nur ein Resultat, das erst durch die Interaktion mit dem Anderen rekonstruiert

wird. Für diese Philosophie werden die subjektübergreifenden Mächte, wie z. B. das

Unbewußte und die Sprache, von vornherein als Konstitutionsbedingungen der

Individualisierung von Subjekten angesehen, und die persönliche Freiheit oder

Selbstbestimmung von Individuen wird nicht als jenen Mächten Entgegengesetzes,

sondern als bestimmte Organisationsformen der kontingenten, jeder individuellen

Kontrolle entzogenen Kräfte verstanden. Im Folgenden werden diese drei

philosophischen Bewegungen etwas näher betrachtet.

2.1. Der Übergang zur Postmoderne

Die philosophische Bewegung, die die Psychoanalyse Freuds und die strukturelle

Linguistik Saussures in seine eigene Philosophie konsequent integriert, ist die

sogenannte Postmoderne. Sie begann ihre philosophische Kariere in Frankreich und

steht in der Gegenwart im Zentrum der Modernitätsdebatte. Die Einflüsse dieser zwei

Wissenschaften auf die Postmoderne werden deutlich in einer Formel Lacans: ''die

Psychoanalyse [entdeckt] im Unbewußten […] die ganze Struktur der Sprache.''TPF

27FPT

Eine Kernthese des Postmodernismus ist, daß die sozialpathologischen Erscheinungen

der Gegenwart nicht bloß das Resultat eines inkonsequenten Gebrauches der Vernunft

sind, sondern durchaus aus dem rationalen Denken selbst resultieren. Denn die Vernunft,

welche grundsätzlich von einer Trennung von Subjekt und Objekt ausgehe, rechtfertige

die Subsumtion des einen unter den anderen und damit eine Herrschaftsstruktur. Der

Anti- oder Irrationalismus ist aus Sicht dieser Bewegung der einzige Ausweg, die

sozialpathologischen Erscheinungen der Gegenwart zu bewältigen.

Diese Schlußfolgerung findet man bei allen postmodernen Philosophen. J.-F. Lyotard z.

B. sieht, daß sich das vernünftige Denken in der Moderne über die moderne

TP

27PT J. Lacan, Schriften II, a.a.O., S. 19. Allerdings betont Lacan, daß die Sprache bei ihm fast nichts mit der

Sprache in der Linguistik zu tun hat. Zu diesem Unterschied siehe Michel Arrivé, Linguistics and

Psychoanalysis. Freud, Saussure, Hjelmslev, Lacan and others, Amsterdam, Philadelphia 1992,

besonders S. 121ff.

Page 16: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

15

Wissenschaft hinaus bis zum Metadiskurs erweitert, der um ihre Legitimation willen in

Anspruch genommen wird. Dieser Metadiskurs ist nichts anderes als eine große

Erzählung bzw. eine Metaerzählung, die versucht, die Pluralität der Welt und der

Geschichte auf bestimmte Universalbegriffe, wie z. B. Humanität, zu reduzieren. Zu den

Metaerzählungen gehören 'die Dialektik des Geistes', 'die Hermeneutik des Sinns', 'der

Emanzipationsdiskurs des vernünftigen oder arbeitenden Subjekts' etc. Die

Metaerzählungen sind also die durch das rationale Denken vereinheitlichenden,

umfassenden Weltanschauungen. Die moderne Wissenschaft ist daher durch das

Kriterium der radikalen Vereinfachung gekennzeichnet. Lyotard kritisiert die Ökonomie

der Vereinfachung wie folgt:

''Die Anwendung dieses Kriteriums [s.c. der Vereinfachung] auf alle unsere

Spiele geht nicht ohne Schrecken vor sich, weich oder hart: 'Wirkt mit, seid

kommensurabel, oder verschwindet'!''TPF

28FPT

Aus dieser Sicht kann das moderne Wissen in drei Punkten wie folgt zusammengefaßt

werden: 1) die Übertragung der Legitimation der fundamentalistischen Ansprüche an

Metaerzählungen, 2) die notwendige Maximierung der Legitimation und die

Ausschließung des Nichtlegitimen und 3) das Verlangen nach einer homogenen

wissenschaftlichen und moralischen Vorschrift.TPF

29FPT

Im Gegensatz dazu ist das postmoderne Wissen nach Lyotard ''die Skepsis gegenüber

den Metaerzählungen''; TPF

30FPT es verwirft die 'großen Erzählungen' und vertritt die

Heterogenität statt der Homogenität, die Pluralität statt der Einheit etc.TPF

31FPT In dieser

Hinsicht lehnt der Postmodernismus alle Arten das Vernunft-Denken und die Reinheit

der Vernunft oder deren Absolutheit ab und konzentriert sich stattdessen auf die

Forschung über die 'Randbereiche' der Vernunft. Die Vertreter dieser Position wollen,

wie Foucault programmatisch sagt, ''die Geschichte der Grenzen schreiben, [...] mit

denen eine Kultur etwas zurückweist, was für sie außerhalb liegt'',TPF

32FPT wie z. B. die

Geschichte des 'Wahnsinns' und der 'Sexualität' bei M. Foucault und die der vom Logos

benachteiligten 'Schrift' bei Derrida. Sie wollen damit die nicht vernünftigen Elemente, TP

28PT J.–F. Lytord, Das postmoderne Wissen, Wien 1999, S. 15.

TP

29PT Vgl. S. Best / D. Kellner, Postmodern Theory, New York 1991, S. 165.

TP

30PT J.–F. Lytord, Das postmoderne Wissen, a.a.O., S. 14.

TP

31PT Vgl. S. Best / D. Kellner, Postmodern Theory, a.a.O., S. 165.

TP

32PT M. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1969, S. 9. Hervorhebung im Original.

Page 17: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

16

die die reine Vernunft unbemerkt begleiten, in den Vordergrund stellen, wie z. B. die

'Macht' und 'das Andere der Vernunft' statt der Vernunft, die 'Zufälligkeit' statt der

'Notwendigkeit' und die 'Differenz' statt der 'Identität' etc.

In seinen sozusagen nach der 'archäologischen' Methode geschriebenen frühen Büchern,

wie z. B. Wahnsinn und Gesellschaft und Die Ordnung der Dinge etc., will Foucault

den Terror der Vernunft gegenüber dem Nichtvernünftigen aufzeigen. Die Archäologie

richtet den Blick auf die Sinnesfundamente, die noch nicht sprachlich formuliert sind,

und auf die Art und Weise, in der innerhalb eines Diskurses die jeweilige Geltung von

Wahrheit und Falschheit festgelegt wird. Sein wissenschaftliches Ziel ist, nachzuweisen,

daß die Wahrheitssuche immer zahlreiche Wirklichkeitsbereiche ausschließe und daß

ihr Ablauf notwendig den Willen zur Wahrheit verdecke.

''Der wahre Diskurs, den die Notwendigkeit seiner Form vom Begehren

ablöst und von der Macht befreit, kann den Willen zur Wahrheit, der ihn

durchdringt, nicht anerkennen; und der Wille zur Wahrheit […] ist so

beschaffen, daß die Wahrheit, die er will, gar nicht anders kann, als ihn zu

verschleiern.''TPF

33FPT

In seiner Forschung über den von der Vernunft verdrängten Wahnsinn will Foucault

zeigen, wie die Diktatur oder der Monolog der Vernunft in der europäischen Geschichte

entstanden ist. Nach ihm war hybris bei den Griechen nicht ein Gegenteil des Logos

oder der VernunftTPF

34FPT und wurde bis zum 16. Jahrhundert noch nicht streng vom Begriff

der Vernunft getrennt. Der Wahnsinn wurde also bis dahin als ein Spiegel angesehen,

der die Schwächen der Vernunft ironisch entlarvte. Aber erst im 17. Jahrhundert begann

man nach der erkenntnistheoretischen Wende der Philosophie bei Descartes den

Wahnsinn von der Vernunft auszuschließen. Die Philosophie Descartes' gilt daher als

ein entscheidender Wendepunkt in der Vernunftgeschichte.

Descartes sucht nach einem archimedischen Punkt für philosophische Gewißheit. Zu

diesem Zweck zweifelt er zunächst an allem, was in seinen Gedanken vorhanden ist: er

bezweifelt erstens die Wahrheit der sinnlichen Urteile, zweitens die Differenz zwischen

dem Traum und der Realität und schließlich zweifelt er sogar an der Gültigkeit der

mathematischen Wahrheiten, da man sich vorstellen kann, daß auch diese Wahrheiten

TP

33PT M. Foucault, Die Ordnung des Diskurses, München 1974, S. 10f.

TP

34PT Vgl. M. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, a.a.O., S. 9.

Page 18: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

17

von irgendeinem 'bösartigen Teufel' manipuliert werden könnten. Jene ersten zwei

Stufen bestehen in dem Zweifel, der sich auf die Erkenntnis der Erfahrungswelt bezieht.

Weil auch der Wahnsinn zu falschen Annahmen über die Wirklichkeit führt,

identifiziert Foucault die Form des Zweifels, die jene ersten zwei Stufen einschließt, mit

dem Wahnsinn. Jene ersten zwei Stufen weisen nach Foucault auf das hin, was wirklich

passieren kann, während die letzte Stufe eine Veränderung der mathematischen Gesetze

nur in der Vorstellung möglich ist. Aus diesem Grund wird der Wahnsinn von der

Vernunft bzw. von dem Selbstbewußtsein ausgeschlossen. Descartes gilt daher als

derjenige Denker, der den Weg für den Triumph der den Wahnsinn ausschließenden

Vernunft eröffnete.

Neben der cartesianischen philosophischen Wende gibt es nach Foucault zwei

gesellschaftsgeschichtlich auffällige Ereignisse, die von großer Bedeutung in der

Vernunftgeschichte sind: die große Internierungswelle der Armen um die Mitte des 17.

Jahrhunderts und die Umwandlung dieser Internierungslager in die psychiatrischen

Einrichtungen am Ende des 18. Jahrhunderts. Beide Ereignisse markieren die Punkte, in

denen eine Verstärkung der Herrschaft der Vernunft erkannt werden könne. Indem sich

die Vernunft von ihren heterogenen Elementen abgrenzt und alles zum Objekt macht,

was ihr begegnet, verstärkt sie ihre Alleinherrschaft. Der Sieg dieser reglementierenden

Vernunft findet sich in allen modernen Organisationsformen: in Fabriken, Kasernen,

Schulen sowie Kadettenanstalten etc. Die Vernunft unterwirft nun nicht nur den

Wahnsinn, sondern auch die Bedürfnisnatur des Einzelnen und die Gesellschaft im

Ganzen.

Indem das zur allgemeinen Vernunft erhobene Subjekt alles objektiviert und kontrolliert,

verliert es nach Foucault alle bloß intuitiven Verbindungen mit seiner Umwelt und reißt

alle Brücken für die intersubjektive Verständigung ab. Die anderen Subjekte werden zu

den nur beobachteten oder bearbeiteten bloßen Objekten. So deutet Foucault das

'Paradox der Rationalisierung' als ein zwangsläufiges Resultat des rationalistischen

Denkens.

Während Foucault die Entwicklung der modernen Vernunft archäologisch darstellt, hält

Derrida das moderne rationalistische Denken bloß für eine Variation des

abendländischen metaphysischen Denkens überhaupt. Daher richtet sich seine Kritik,

radikaler als Foucaults, auf die gesamte europäische Denkweise. Er kritisiert Foucault

darin, daß dieser noch der europäischen Denktradition und sogar dem modernen

Dualismus verhaftet bleibe. Anders als Foucault trennt Derrida den griechischen Logos

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18

nicht von der cartesianischen Vernunft und hält den Logosbegriff nicht für so

umfassend, daß er die Unvernunft, z. B. die hybris, in sich einschließt. Die Vernunft

habe vielmehr seit der griechischen Zeit nur eine einzige Form:

''Unsere ganze europäische Sprache, die Sprache all dessen, was an dem

Abenteuer der abendländischen Vernunft von nah oder fern teilgenommen

hat, ist die immense Delegierung des Plans, den Foucault in der Gestalt der

Erfassung oder der Objektivierung des Wahnsinns definiert. Nichts in dieser

Sprache und niemand unter denen, die sie sprechen, kann der historischen

Schuld entgehen.''TPF

35FPT

Obzwar es in der abendländischen Tradition philosophische Bewegungen gegeben habe,

die sich gegen die Vernunft gerichtet haben, sieht Derrida in solchen Herausforderungen,

wie z. B. in der Romantik, – da die Sinnlichkeit mit der Vernunft zusammenwächst, –

eine posteuropäische Denkweise. Solche Herausforderungen seien bloß ''die in der

Ordnung denunzierte Ordnung''TPF

36FPT und ''die Revolution innerhalb der Vernunft gegen die

Vernunft'': TPF

37FPT

''Da sie nur innerhalb der Vernunft wirken kann, sobald sie spricht, hat die

Revolution gegen die Vernunft also immer die begrenzte Tragweite dessen,

was man genau in der Sprache des Ministeriums des Inneren eine

Agitation nennt. Man kann zweifellos nicht eine Geschichte oder gar eine

Archäologie gegen die Vernunft schreiben, denn trotz des Anscheins ist

der Begriff der Geschichte stets ein rationaler Begriff gewesen.''TPF

38FPT

Von dieser Perspektive her ist auch die Forschung Foucaults über den Wahnsinn keine

Ausnahme. Seine Archäologie, die sich mit etwas Stillschweigendem befaßt, was

außerhalb des Ausgesprochenen liegt, gerät in den Widerspruch, den Wahnsinn, der sich

TP

35PT J. Derrida, Cogito und Geschichte des Wahnsinns in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M.

1972, S. 60. Hervorhebung im Original.

TP

36PT Ebd.

TP

37PT A.a.O., S. 61.

TP

38PT Ebd. Hervorhebung im Original.

Page 20: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

19

nicht aussagen kann, selbst aussagen zu lassen.TPF

39FPT Das ist nur 'eine interne Revolution',

die innerhalb der Kategorie der Vernunft von der Vernunft sowie dem Wahnsinn

spricht.TPF

40FPT

Derrida sieht in allen abendländischen Philosophien seit Platon bloß eine Metaphysik,

die ausgehend von der Universalität des Logos die Welt in eine Einheit bringt. Selbst

die Phänomenologie und der Strukturalismus, welche das metaphysische Denken stark

kritisiert haben, entziehen sich nach ihm dieser Denkform nicht. Nach der

Phänomenologie wird die Bedeutung durch die Intentionalität des Bewußtseins

konstituiert. Auch der Strukturalismus, der eine konstitutive Rolle des transzendentalen

Subjekts verneint, versucht lediglich, in der Syntax oder in der grammatischen Struktur

der Sprache einen Archetyp des Denkens, also eine metaphysische Bestimmung der

Wahrheit zu finden, die ''mehr oder weniger unmittelbar nicht zu trennen [ist] von der

Instanz eines Logos oder einer von ihm abstammend gedachten Vernunft''. TPF

41FPT

Derrida deutet also das ganze abendländische Denken als Ausdruck des Logos. Der

'Logos' unterscheidet sich in der Antike vor allem vom Mythos, von der Meinung

(doxa) und der Wahrnehmung (aistheis) und bedeutet zunächst 'Aussage' und 'Wort' und

ferner 'Verhältnis', 'Bericht', 'Proportion', 'Erklärung', 'Beweisführung', 'Vernunft',

'Darlegung' etc.TPF

42FPT Derrida betont, daß der Logos ursprünglich das gesprochene Wort

bedeutete, und unterscheidet ihn daher von der Schrift. Während diese unabhängig von

der Anwesenheit des Autors oder Sprechers eine stille Dauerhaftigkeit besitzt, setzt das

Wort die Anwesenheit des Sprechers voraus und wird als Ereignis verstanden, das im

Augenblick erscheint und gleichzeitig verschwindet. Das Wort besteht also als ein

Ereignis in der Gleichzeitigkeit zwischen Sprechen und Hören.TPF

43FPT

Bezüglich der Problematik des Logos ist der Ausgangspunkt Derridas die folgende

philosophiegeschichtliche Tatsache: das Wort, die Stimme sowie der Gehörsinn hatten TP

39PT Derrida formuliert dies wie folgt: ''Diese Archäologie behauptete und verzichtete gleichzeitig darauf,

den Wahnsinn selbst auszusagen. Der Ausdruck 'den Wahnsinn selbst aussagen' ist in sich

widersprüchlich. Den Wahnsinn auszusagen, ohne ihn in die Objektivität zu verbannen, heißt ihn sich

selbst aussagen zu lassen. Nun ist der Wahnsinn in seinem Wesen das, was man nicht sagt.'' A.a.O., S. 71.

TP

40PT A.a.O., S. 65.

TP

41PT J. Derrida, Grammatologie, Frankfurt/M. 1974, S. 24.

TP

42PT Siehe den Artikel 'Logos' in: J. Ritter / K. Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie,

Basel, Stuttgart (= HWPh), Bd. 5, Sp. 491ff.

TP

43PT Zur Charakteristik des Wortes als Ereignisses, das sich von der Schrift unterscheidet, siehe Walter I.

Ong, Oralität und Literalität: Die Technologisierung des Wortes, Darmstadt 1987, besonders das dritte

Kapitel Die Psychodynamik der Oralität, S. 37ff.

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20

die Priorität gegenüber der Schrift und dem Gesichtssinn. Daß Platon im Phaidros im

Gegensatz zum Dialog Sokrates', der durch den lebendigen Austausch der Stimme

'lebendiges Wissen' herstellen könne, die Schrift nur eine 'tote Aufzeichnung' nennt, ist

eines der ersten, geschichtlich berühmten Beispiele für diese philosophiegeschichtliche

Tatsache. Außerdem liegt der Grund, daß er die Schriftsteller wie die Sophisten

behandelt, darin, daß sie sich nur für die Aktenbewahrung interessierten, nicht für die

Liebe zur Wahrheit. Die Schrift hat nichts mit der Stimme der inneren Seele zu tun. Sie

liegt einfach außerhalb der Seele.

Auch Hegel, der als letzter Metaphysiker der Philosophiegeschichte angesehen wird,

entzieht sich nach Derrida dieser abendländischen Denktradition nicht. Der Grund, daß

er in seiner Ästhetik den Gehörsinn für den höchsten ideellen Sinn hält,TPF

44FPT liegt darin,

daß er ''nicht den praktischen, sondern den theoretischen Sinnen zugehört und selbst

noch ideeller ist als das Gesicht''.TPF

45FPT Während z. B. der Gesichtssinn noch vom

angeschauten Gegenstand abhängt, vernimmt der Gehörsinn ''das Resultat jenes inneren

Erzitterns des Körpers, durch welches nicht mehr die ruhige materielle Gestalt, sondern

die erste ideellere Seelenhaftigkeit zum Vorschein kommt.''TPF

46FPT Der Ton wird durch ein

Aufheben des räumlichen Zustandes und das mit der Reaktion des Körpers erscheinende

Aufheben jenes Aufhebens, also durch die zweifache Negation erzeugt. Er entspricht

deswegen der inneren Subjektivität, die ''an und für sich etwas Ideelleres ist als die für

sich real bestehende Körperlichkeit.''TPF

47FPT

Von daher bezeichnet Derrida die gesamte Wissenschaft Europas einerseits als den

'Stimmen- oder Logozentrismus', weil sie von der Priorität des Wortes und des Logos

ausgeht, und andererseits als 'die Metaphysik der Präsenz', weil sie auf der reinen

Anwesenheit des Sprechens oder des Wortes basiere, während sich die Schrift auf die

Abwesenheit beziehe. Auch die moderne Bewußtseinsphilosophie, welche von der

Anwesenheit und Deutlichkeit des Bewußtseins ausgehe, gehöre zu dieser Kategorie:

''Das Privileg der Präsenz als Bewußtsein [vermochte] sich nur mittels der

ausgezeichneten Kraft der Stimme zu etablieren.''TPF

48FPT

TP

44PT J. Derrida, Der Schacht und die Pyramide. Einführung in die Hegelsche Semiologie, in: ders.,

Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 85ff., besonders 102ff.

TP

45PT G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, in: TW, Bd. 15, S. 134.

TP

46PT Ebd.

TP

47PT Ebd.

TP

48PT J. Derrida, Die Stimme und das Phänomen. Ein Essay über das Problem des Zeichens in der

Philosophie Husserls, Frankfurt/M. 1979, S. 67.

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21

Warum setzt sich Derrida mit dem Begriff des Logos auseinander? Er sieht, wie schon

erläutert, das Wesen des Logos in der Gleichzeitigkeit des 'sich-sprechen-Hörens':

''Die Vernunft entbirgt sich somit selbst. Die Vernunft ist [...] der Logos, der

sich in der Geschichte erzeugt. Er durchquert das Sein im Hinblick auf sich

selbst, in der Ab-Sicht, sich selbst, das heißt als Logos, sich zu erscheinen,

sich selbst zu benennen und sich selbst zu hören. Er ist Sprechen als

Selbstaffektion: ist das Sich-selbst-sprechen-hören. Er tritt aus sich hinaus,

um sich in sich selbst, in der 'lebendigen Gegenwart' seines Sich-selbst-

gegenwärtigseins wieder zurückzunehmen.''TPF

49FPT

Der Logos ist bei sich selbst und in der nächsten Nähe mit sich selbst. Er bleibt

deswegen völlig in dem reinen Selbstbezug. Derrida bezieht diesen sich-sprechen-

hörenden, autoaffektiven Logos auf den Gedanken des Monologs oder der Diktatur der

Vernunft, welche ursprünglich alle Beziehungen auf anderes ablehnt. Während die

Schrift, in der sich die Zeit durch die Verzögerung des Sprechmomentes zum Raum

macht, bis zu einem lebendigen Lesen ein totes Zeichen bleibt, beharrt das Sprechen

immer in seiner Präsenz.

Wie in seiner Kritik am Wort und am Logos angedeutet, schlägt Derrida als Alternative

für diesen 'narzißtischen' Logozentrismus die 'Grammatologie' vor, die als 'die Lehre

von der Schrift' übersetzt werden kann.TPF

50FPT Die Schrift kann zwar nur durch den

Vergleich mit dem Wort untersucht werden, aber jene ist nach Derrida ursprünglicher

als dieses. Anders gesagt, die Grammatologie zielt darauf ab, zu erhellen, daß die

Schrift die Grundlage ist, die den Logos lebendig machen kann und durch welche die

Bedeutungen formuliert werden können. Er sagt in einem Interview über die

Grammatologie folgendes:

''Ich würde mit einem Wort sagen, daß sie [sc. die Grammatologie] die

Wissenschaft festschreibt und ent-grenzt; sie muß die Normen der

Wissenschaft in deren eigener Schrift wirken lassen, in freier und doch

TP

49PT J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, a.a.O., S. 255.

TP

50PT Derrida befaßt sich hier nicht mit der Schrift, die als eine sekundäre Funktion der Stimme gedacht wird,

d. h. mit der Grammatik der Sprache oder mit der Logik ihrer Verwendung, sondern mit der Wissenschaft

der Schrift selbst.

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22

strenger Weise; also, noch einmal, sie markiert und lockert gleichzeitig die

Grenze, die das Feld der klassischen Wissenschaftlichkeit umschließt.''TPF

51FPT

Diese Passage bietet aber eine Möglichkeit an, die Grammatologie wieder auf das

logozentrische Denken, z. B. auf die Transzendentalphilosophie Kants bzw. die

Ursprungsphilosophie zu beziehen, welche die Möglichkeitsbedingungen der

Wissenschaft untersucht. Die Kritik von Habermas an Derrida steht in der Tat in dieser

Tradition. Derrida bleibt nach ihm trotz seines Versuches, die sogenannte

'temporalisierte Ursprungsphilosophie' zu überwinden, noch in den Bahnen einer

Fundamentalphilosophie:

''Als Teilnehmer am philosophischen Diskurs der Moderne erbt Derrida die

Schwächen einer Metaphysikkritik, die von der Intention der

Ursprungsphilosophie nicht loskommt. Trotz des veränderten Gestus

betreibt auch er am Ende nur eine Mystifizierung handgreiflicher

gesellschaftlicher Pathologien; auch er entkoppelt das wesentliche, nämlich

dekonstruierende Denken von der wissenschaftlichen Analyse und landet

bei der leerformelhaften Beschwörung einer unbestimmten Autorität.''TPF

52FPT

Daß Derrida die mystische Charakteristik der Metaphysik erbt, wegen der die

sozialpathologischen Erscheinungen nicht wissenschaftlich analysiert werden könnten,

ist also der Kern der Kritik von Habermas an Derrida. Diese Kritik an Derrida zeigt, daß

der postmoderne Versuch, den Ursprung der (modernen) Rationalität im irrationalen

oder antirationalen Bereich zu finden, paradoxerweise mit der Bestätigung des

transzendentalen Schemas enden kann. Die Nachfolger des modernen Subjektivismus

gehen daher von der Unentbehrlichkeit der Transzendentalität aus und wollen eben

deswegen durch eine Erneuerung der transzendentalen Subjektsphilosophie das Problem

der Moderne lösen. Ein Beispiel dafür können wir in der Arbeit von Luc Ferry und

Alain Renaut sehen.

TP

51PT J. Derrida, Positionen. Gespräche mit Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean-Louis Houdebine, Guy

Scarpetta, Wien 1986, S. 81.

TP

52PT J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M. 1996 (=PDM), S. 213f.

Hervorhebung im Original.

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23

2.2. Die Erneuerung des Begriffs der transzendentalen Vernunft

Die zweite Antwort auf die wissenschaftlichen Ergebnisse der Psychoanalyse und der

strukturellen Linguistik ergibt sich als eine Gegenbewegung zum Postmodernismus mit

der konsequenten Beibehaltung des klassischen Autonomieideals. Diese Position geht

davon aus, daß das erkennende und handelnde Subjekt auf seine weltbildende

Subjektivität als den maßgeblichen Horizont der Selbstauslegung zurückgehen soll.

Diesem Gedanken nach leidet die Subjektkritik der Postmodernen, deren Betrachtung

der modernen Subjektivität sich nur auf die Kontingenz reiner Selbsterhaltung des

Subjekts oder den Begriff der instrumentellen Vernunft beschränkt, trotz ihres 'radikalen

Pathos' an einem 'Radikalitätsdefizit' in der Argumentation. L. Nagl, einer der Vertreter

dieser Position, kritisiert die Postmodernisten in diesem Sinne:

"[...] meist endet der 'dekonstruktivistische' Eifer zeitgenössischer

Subjektkritiker genau dort, wo die (selbstreferentielle) Untersuchung

derjenigen Kritikmittel unvermeidlich würde, welche die rhetorischen

Angriffe auf 'das Subjekt' erst möglich machten."TPF

53FPT

Der Kern dieser Kritik besteht darin, daß die dekonstruktivistischen Subjektkritiker, um

sich einem lesenden Publikum verständlich zu machen, "unsuspendierbare Teile

desjenigen Vernunftgebrauchs als funktionsfähig" voraussetzen,TPF

54FPT den sie zu

diskreditieren versuchen. Es geht daher bei dieser Position darum, die nicht gänzlich zu

dekonstruierende Vernunft wieder aufzuwerten.

Eines der wichtigen Bücher, das in dieser Absicht geschrieben wurde, ist das Buch

Antihumanistisches Denken: Gegen die französischen Meisterphilosophen von Luc

Ferry und Alain Renaut,TPF

55FPT das in den 80er Jahren, d. h. in der Zeit erschienen ist, in der

TP

53PT L. Nagl, Zeigt die Habermassche Kommunikationstheorie einen 'Ausweg aus der Subjektsphilosophie'?,

in: M. Frank / G. Raulet / W. Reijen (Hg.), Die Frage nach dem Subjekt, Frankfurt/M. 1988, S. 346.

TP

54PT Ebd.

TP

55PT Titel der Originalausgabe: La pensee 68. Essai l’anti-humanisme contemporain, Paris 1985. Habermas

beurteilt in einem Interview diese philosophische Arbeit von Ferry positiv, der gegen die Postmoderne die

Kantische Subjektsphilosophie zu rekonstruieren versucht: "Seine politische Philosophie zeigt, daß die

Produktivität in der jüngeren Generation nicht erschöpft ist – und sich freigemacht hat von

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24

die Postmoderne in ihrer vollen Blüte war. In diesem Buch setzen sich die Autoren

einerseits mit Hilfe einer erneuten Deutung der Kantischen Subjektsphilosophie, die

einer der Hauptangriffsziele der Postmodernisten ist, mit den Postmodernen auseinander

und halten zugleich andererseits an der Idee der Autonomie des Subjekts fest.

Sie unterscheiden zunächst die 68-Bewegung vom 68er-Denken, das den unmittelbaren

Anfang des 80er-Jahre-Individualismus ausmache.TPF

56FPT Dabei untersuchen sie die Frage,

ob die 68-Bewegung, wie es das 68er-Denken tut, antihumanistisch gelesen werden

kann, und wenn es nicht so ist, warum das '68er-Denken' diese Bewegung als eine

antihumanistische Bewegung ansieht, und sie gehen zuletzt auf die Frage ein, wie die

Idee der modernen Subjektivität u. a. bei Kant verstanden werden muß.

Wie in dem Titel ihres gemeinsamen Buches angedeutet, sind Ferry und Renaut der

Ansicht, daß die 68-Bewegung nicht als ein unmittelbarer Anfang des 80er-Jahre-

Individualismus verstanden werden darf, der den Postmodernismus als seine Ideologie

erzeugt, sondern im Rahmen einer traditionell humanistischen Bewegung gedeutet

werden sollte. Das postmoderne Denken, d. h. das 68er-Denken besteht in der

Verteidigung des Menschen gegen das den Menschen unterdrückende System, genauso

wie die Mai-Bewegung. Der zentrale Unterschied zwischen ihnen liegt aber darin, daß

jenes die Emanzipation des Menschen vom System mit der Kritik an der Subjektivität

gleich setzt, die sich besonders im deutschen Idealismus verkörpere, während diese das

den Menschen unterdrückende System durch eine erneute Deutung der Subjektivität

überwinden will. Von daher wird die moderne subjektive Philosophie, welche die

Tradition des modernen Humanismus begründet und fortgeführt haben sollte, vom 68er-

Denken als ein wichtiger Angriffspunkt angesehen.

In der Metaphysik der Subjektivität, welche im System Hegels ihren Höhepunkt erreicht,

wird das Subjekt als vollkommen abgeschlossen gedacht. Die auf ein System

ausgerichtete Metaphysik kann also ihrem Wesen nach nichts anderes tun, als die auf

neuphilosophischen Berührungsängsten vor den teutonischen Meisterdenkern." J. Habermas, Untiefen der

Rationalitätskritik, in: ders., Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt/M. 1996 (= NU), S. 137.

TP

56PT Als das '68er-Denken' bezeichnen Ferry und Renaut eine Gruppe von Autoren der chronologisch den

Mai-Ereignissen nahstehenden 'antihumanistischen' Werke. Dazu gehören z. B. Die Ordnung der Dinge

1966, Die Archäologie des Wissens 1969 von Foucault, Für Marx 1965, Lenin und die Philosophie und

Über die Beziehungen von Marx zu Hegel von Althusser, Die Schrift und die Differenz 1967,

Grammatologie 1967, Fines hominis 1968 von Derrida, Ecrits 1966 von Lacan, Heritiers 1964, La

Reproduction von Bourdieu und Passeron und Difference et repetition 1969, Logique du sens 1969 von

Deleuze.

Page 26: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

25

der Abgeschlossenheit des Subjekts basierende Weltsicht herzubringen, die letztlich zu

einer Verdinglichung und Instrumentalisierung der anderen Subjekte führt. Im

Gegensatz zu der Vorstellung von der Abgeschlossenheit des Subjekts, die wahre

Freiheit verhindert, ist die Dimension der Erschlossenheit des Menschen eine

unentbehrliche Bedingung für die Autonomie des Subjekts. Von daher ist die Idee der

modernen Autonomie des Subjekts bloß eine 'Illusion', wenn sie auf dem

abgeschlossenen Subjekt basiert. L. Ferry und A. Renaut fassen die Logik der Kritik des

68er Denkens an dem Subjekt wie folgt zusammen:

"Wenn die Autonomie als tatsächlich und umfassend verstanden werden

könnte, dann ist klar, daß das so gesetzte (absolute) Subjekt gar nicht anders

kann, als vollkommen abgeschlossen zu sein, ohne ein es determinierendes

Außen und bar jeder Öffnung auf eine irgendwie geartete Andersheit."TPF

57FPT

Die Kritik von Ferry und Renaut an dem 68er-Denken richtet sich also gegen dessen

Behauptung, daß Begriffe wie 'Humanismus', 'Individualismus' und 'Metaphysik der

Subjektivität' homogen seien und aus der (modernen) Vernunft resultierten. Sie sind

durchaus damit einverstanden, daß das systemorientierte metaphysische Denken oder

die Abgeschlossenheit der Metaphysik von dem allein auf der Erschlossenheit des

Menschen beruhenden Humanismus weit entfernt sei und daß sich die moderne

Philosophie der Subjektivität zur Metaphysik der Subjektivität entwickelt habe und

dadurch beim Gedanken einer Abgeschlossenheit des Menschen angelangt sei. Aber sie

behaupten dennoch, daß es nicht zwingend sei, die Philosophie der Subjektivität zu

einer Metaphysik der Subjektivität weiter zu entwickeln, und daß eine Philosophie der

Subjektivität daher auch heute eine Bedeutung hat.

Was verstehen Ferry und Renaut unter dem metaphysischen Subjekt, das einen

illusionären Humanismus hervorrufe? Sie betrachten es, Heidegger folgend, der die

Metaphysik im Sinne der Seinsvergessenheit kritisiert, unter drei Gesichtspunkten:

Erstens: die metaphysische Subjektivität wird in der Erkenntnistheorie gedacht als

"Zentrum einer als ihrer selbst einsichtigen und vollkommen rational vorgestellten Welt

eines allwissenden Bewußtseins",TPF

58FPT wie sie sich in der cartesianischen Philosophie zeigt.

TP

57PT L. Ferry / A. Renaut, Antihumanistisches Denken. Gegen die französischen Meisterphilosophen,

München 1987, S. 216.

TP

58PT A.a.O., S. 218.

Page 27: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

26

Zweitens: das metaphysische Subjekt wird in der praktischen Philosophie bestimmt als

Vernunft, die den Gegenstand praktisch beherrschen will, wie es die praktische

Philosophie von Kant und Fichte vertritt. "Für die Philosophie des Willens ist das

Handeln der Menschen, zum Beispiel das geschichtliche Geschehen, in letzter Instanz in

der Intention des Subjekts begründet. [...] Diese Sichtweise läßt die Dimension des

Geheimnisses, die jedes Geschehen charakterisiert, zugunsten einer erschöpfenden

Begründung des Geschehens in der Subjektivität verschwinden."TPF

59FPT Nach Heidegger

vereinigen sich das erkenntnistheoretische, das praktischphilosophische und das

metaphysischen Subjekt in dem absoluten Subjekt bei Hegel, das bekanntlich die

Versöhnung des Willens mit der Intelligenz darstellt.TPF

60FPT

Drittens: das metaphysische Subjekt wird als Wille zum Willen definiert, der nur als

'Beherrschung um der Beherrschung willen' existiert, ohne sich einen äußeren Zweck zu

setzen. Von daher bezieht sich der Wille hier nur auf sich selbst. In diesem Willen sieht

Heidegger eine Art von 'instrumenteller' Vernunft, die "niemals auf den Endzweck,

sondern nur auf die Mittel reflektiert" in dem Sinne, daß sie "jedes Ziel an sich leugnet

und Ziele nur zuläßt als Mittel, um sich willentlich zu überspielen."TPF

61FPT

Diese Charakteristiken des von Heidegger kritisierten metaphysischen Subjekts fassen L.

Ferry und A. Renaut im Folgenden zusammen:

"Die Täuschung dieses Subjektes besteht darin, daß es sich nicht mehr als

zeitliches und endliches Wesen denkt, sondern als außerzeitliches und

absolutes Wesen."TPF

62FPT

Daher suchen sie eine Möglichkeit eines auf der Idee der Subjektivität basierenden und

zugleich nicht-individualistischen sowie nicht-metaphysischen Humanismus. Und sie

sehen diese Möglichkeit in der Schematismus-Theorie Kants verwirklicht.

Kant entwickelt die Schematismustheorie in der Kritik der reinen Vernunft, um die

Antinomie des Cartesianismus und des Empirismus aufzulösen. Während die

Cartesianer von der Existenz allgemeiner eingeborener Ideen ausgehen, sind die

Empiristen der Meinung, daß die Vorstellung einer allgemeinen Idee aus der Erfahrung

TP

59PT A.a.O., S. 219.

TP

60PT Siehe Hegel, Enzyklopädie I, § 234, Zusatz, in: TW, Bd. 8, S. 387.

TP

61PT M. Heidegger, Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 89.

TP

62PT L. Ferry / A. Renaut, a.a.O., S. 220.

Page 28: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

27

abgeleitet ist. Die Schematismustheorie Kants zielt daher darauf ab, die Relativierung

der Wahrheit als eine bloße Überzeugung bei den Empiristen und die abstrakte

Universalität der Wahrheit bei den Rationalisten zu vermeiden. Das Schema wird also

als eine Synthese von Kategorie und Zeit, d. h. von dem Begriff und der Zeit, gedacht.

Dabei vollzieht sich diese Synthese in der Einbildungskraft, welche das Vermögen ist,

"einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen".TPF

63FPT

Dabei geht es darum, aufzuzeigen, wie die Besonderung und die Verzeitlichung der

Begriffe oder der Kategorien in einem Bewußtsein entstehen, ohne daß sie ihre

Universalität und Apodiktizität verlieren. Dafür definiert Kant zunächst die Begriffe als

Schemata, d. h. nicht als allgemeine Vorstellungen, sondern als allgemeine methodische

Anleitungen zur Konstruktion der Objekte. Der Unterschied zwischen den Empiristen

und Kant zeigt sich anhand des Beispiels eines Dreiecks. Bei den Empiristen gilt

folgendes:

"Jedes Mal, wenn ich mir ein Dreieck mit seinen verschiedenen

mathematischen Eigenschaften vorstelle, bringe ich mir unvermeidlich in

der Zeit meines Bewußtseins ein besonderes Dreieck, ein Dreieck von

besonderer Gestalt und besonderen Ausmaßen vors Bewußtsein."TPF

64FPT

Im Gegensatz zur skeptischen Schlußfolgerung der Empiristen, die die allgemeinen

Ideen auf die psychologische Vorstellung reduzieren, ist es bei Kant so,

"daß das Schema des Dreiecks nichts anderes ist als eine Reihe von

Operationen, die konkret und in der Zeit auszuführen sind, um mit Lineal

und Kompaß ein Dreieck zu zeichnen."TPF

65FPT

Gerade in dieser Beständigkeit und Universalität der Konstruktionsmethode eines

Dreiecks besteht die Möglichkeit der Wissenschaft und nicht des Glaubens.

L. Ferry und A. Renaut sehen in dieser Schematismus-Theorie Kants das Bild des nicht

abgeschlossenen Subjekts, das die Begriffe und die Zeit sowie die Allgemeinheit und

die Besonderheit miteinander vereinigt und dadurch einen objektiven Sinn konstituiert.

TP

63PT I. Kant, 'Einbildungskraft', in: ders., Kritik der reinen Vernunft, Sachregister, Hamburg 1971, S. 791.

TP

64PT L. Ferry / A. Renaut, a.a.O., S. 225.

TP

65PT A.a.O., S.226.

Page 29: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

28

Dieses Subjekt unterscheidet sich deutlich vom absoluten Subjekt, das nichts anderes tut,

als den Bildungsprozeß des Geistes nur im Nachhinein darzustellen.

Ferry und Renaut weisen darauf hin, daß Heidegger die Idee des Kantischen Subjekts

auf seinen Begriff des 'Daseins' bezieht. Er stützt sich vor allem auf die feste

Verbindung der schematisierenden Tätigkeit mit der Einbildungskraft bei Kant, welche

das Vermögen ist, sich Gegenstände auch in ihrer 'Abwesenheit' vorzustellen. Hier

erkennt Heidegger die Ähnlichkeit zwischen den schematisierten Kategorien und dem

'ontologischen Vorverständnis', d. h. einer 'allgemeinen Definition der Seiendheit'.

Damit besteht nach ihm der Begriff als Schema bei Kant nicht mehr in der bloßen

Vorstellung, sondern in einer sinnkonstituierenden Tätigkeit. Allein das, was

schematisiert, hat Sinn. Von diesem Standpunkt aus erklärt sich, warum für Kant das

'reine Absolute', das alle mögliche Erfahrung übersteigt und für dessen Erfassung kein

Schematismus möglich ist, kein sinnvoller Gegenstand der theoretischen Philosophie ist.

Trotz dieser Interpretation Heideggers unterscheiden L. Ferry und A. Renaut den

Begriff 'Dasein' bei Heidegger und den der Subjektivität bei Kant voneinander. Denn

das Dasein hat zwar eine Erschlossenheit zu dem Sein und dem Seienden (ontologische

Differenz), aber es enthält keine Autonomie in sich, die eine Fähigkeit ist, den

objektiven Sinn zu konstituieren. Das Dasein konstituiert nicht, sondern legt den Sinn

von Sein aus. TPF

66FPT

In diesem Sinne hat es zwar eine Offenheit, aber seine Hauptbestimmung ist nicht mehr

Autonomie, sondern Gelassenheit. Heidegger fängt also nach ihnen mit der These der

Überwindung der Metaphysik an, aber endet letztlich mit der 'Gestalt eines neuen

Dogmatismus'. Diese Denkweise Heideggers verschärft sich nach der sogenannten

'Kehre'. Hier untersucht Heidegger niemals die Bedingungen, unter denen sich der

Mensch als Subjekt des Schematismus seine Endlichkeit aneignen kann. Hier wird die

ontologische Differenz als Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden gedacht,

ohne zu berücksichtigen, wie sie vom Dasein wahrgenommen wird. Von diesem

Standpunkt aus sehen L. Ferry und A. Renaut den wesentlichen Mangel der

Heideggerschen Phänomenologie im Folgenden:

"Die Dimension eines Subjekts, das Herr seiner selbst und der Welt ist, die

das metaphysische Subjektverständnis impliziert, wird aufgrund der

'Entdeckung' der ontologischen Differenz ganz und gar in den zu

TP

66PT A.a.O., S. 224.

Page 30: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

29

überwindenden Bereich der Illusionen verwiesen. Aus dem Heideggerschen

Denken heraus kann die Idee der Autonomie legitimerweise keinen

angemessenen Status erhalten." TPF

67FPT

Man kann auch in Kants Begriff der Subjektivität einen Ansatz erkennen, der eine

kritische Betrachtung der ontologischen Differenz ermöglichen würde. Aber Kant

beschäftigt sich nicht mit diesem Problem, vielmehr fragt er nach den Bedingungen der

Möglichkeit für eine legitime Rolle der metaphysischen Ideen. Von daher ist für Kant

eine ontologische Metaphysik grundsätzlich bedeutungslos, die sich wegen der

Abgeschlossenheit ihres Systems auf dem Begriff des Beherrschens beziehen kann.

Aber "sobald man ihr einen Wahrheitsstatus beilegt, kann sie in der Eigenschaft als

regulatives Reflexionsprinzip für die menschliche Praxis sowohl im wissenschaftlichen

wie auch im ethisch-politischen Bereich einen Sinnhorizont abgeben."TPF

68FPT

L. Ferry und A. Renaut behaupten, daß es nicht logisch zwingend sei, die

Dekonstruktion der Metaphysik zu einer Dekonstruktion des Humanismus zu erweitern,

der von der Autonomie des Subjekts ausgeht, obwohl die Dekonstruktion des

metaphysischen Subjekts eine Möglichkeit des offenen Subjekts eröffnet, das einen

authentischen Humanismus begründen könne. Auch die Philosophie Heideggers ist in

diesem Sinne nach L. Ferry und A. Renaut problematisch. Das Problem ist, daß es bei

ihm keine konstitutive Autonomie des Subjekts gibt, d. h. die Dekonstruktion der

Metaphysik und die der Autonomie des Subjekts fallen für ihn zusammen. Auch das

68er-Denken, das der späte Heidegger als eine Quelle seines Denkens betrachtet, macht

den gleichen Fehler. Die 68ier kultivieren gemeinsam "unsere Epoche in Gestalt dieses

'gleichgültigen Ich, dem es an Willen mangelt'" TPF

69FPT. L. Ferry und A. Renaut beenden ihr

Buch hinsichtlich dieser 'Regression' der Postmodernen mit folgender Aussage, wobei

sie Kant zitieren:

"Zumindest aber müßte es paradox und problematisch erscheinen, daß das,

was sich als postmodern ausgibt, indem es einer Idee vom Menschen, die

doch der eigentliche Beitrag der Moderne war, jeden Sinn entzieht, ganz

merkwürdigerweise die Gestalt einer Regression annimmt, die erneut das

TP

67PT A.a.O., S. 229.

TP

68PT A.a.O., S. 230.

TP

69PT Vgl. A.a.O., S. 233.

Page 31: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

30

Ideal 'einer Natur, die einem Willen [...] unterworfen ist', durch das

postmoderne Ideal 'einer Natur, welcher der Wille unterworfen ist'TPF

70FPT,

ersetzt."TPF

71FPT

Die subjektphilosophische Denkrichtung geht also davon aus, daß die

sozialpathologischen Probleme der Moderne nicht aus dem Wesen der modernen

Subjektivität stammen, sondern aus der inkonsequenten Anwendung der Vernunft

resultieren. Es gibt aber eine andere Denkrichtung, die diese subjektphilosophische

Position stark kritisiert. Sie nimmt die Kritik an der modernen subjektiven Vernunft auf,

ohne gleichzeitig die Möglichkeit eines vernünftigen Denkens zu bestreiten. In dem

Zentrum des Versuches, beide Faktoren in Erwägung zu ziehen und gleichzeitig eine

neue Alternative innerhalb der Kategorie der Rationalität zu finden, steht der Begriff der

Intersubjektivität.

2.3. Die Wende zur Intersubjektivitätstheorie

Seitdem die Psychoanalyse und die Sprachwissenschaft die Autonomie des Subjekts

sowie die moderne Rationalität in Frage gestellt haben, wurde es in jüngerer Zeit eines

der wichtigsten sozial- und moralphilosophischen Probleme zu erkunden, in welchem

Verhältnis der Einzelne und die Gesellschaft, die Subjektivität und die

Gesellschaftlichkeit sowie das Subjekt und das Andere zueinander stehen – ein

Verhältnis, das eine moderne Variante der alten metaphysischen Frage nach dem

Verhältnis zwischen Einem und Vielen sein könnte. Sowohl für diejenigen, die von der

absoluten Autonomie des vernünftigen Subjekts sprechen, als auch für die gegenteilige

Position, die die Autonomie des Subjekts bloß als einen Schein ansieht, scheint diese

Frage leicht zu beantworten sein. Denn die erste Position kann in dem auf der Idee der

Vollkommenheit der Vernunft beruhenden extremen Individualismus und die zweite in

einem das Individuum durch und durch unter das Ganze subsumierenden extremen

Totalitarismus leicht ihren Niederschlag finden.

Man kann aber einen Einwand gegen diese beiden Positionen erheben, denn sie basieren

auf dem epistemologischen sowie praktischen Schema der Trennung von Subjekt und

TP

70PT I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, K. Vorländer (Hg.), Hamburg 1990, S. 53.

TP

71PT L. Ferry / A. Renaut, a.a.O., S. 233.

Page 32: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

31

Objekt und können daher nur "eine falsche Identität von Allgemeinem und

Besonderem" TPF

72FPT hervorrufen. Für die, die das oben genannte philosophische Schema in

Frage stellen, scheint jene philosophische Frage nicht leicht beantwortet werden zu

können. Denn sie dürfen weder die vollkommene Autonomie der Subjektivität

behaupten, noch diese bloß als einen Schein ansehen, vielmehr müssen sie einen dritten

vermittelnden Weg einschlagen. Anders gesagt, sie müssen ein paradoxes Problem, d. h.

die Aufnahme der Kritik an der modernen Subjektivität einerseits und die Erhaltung des

Begriffes der individuellen Autonomie andererseits, widerspruchslos miteinander in

Einklang bringen.TPF

73FPT Um dieses Problem zu bewältigen, brauchen sie ein

epistemologisch und praktisch ganz anderes Schema als das traditionelle Schema der

Trennung von Subjekt und Objekt. Die Intersubjektivität ist einer der von ihnen

vorgeschlagenen zentralen Begriffe.

Die Intersubjektivität wurde von Husserl philosophisch eingeführt, um einen

Solipsismus seiner auf dem transzendentalen Ich beruhenden frühen Phänomenologie

dadurch zu vermeiden, daß er "alle Formen des Miteinander mehrerer transzendentaler

oder mundaner Ich" sowie die objektive Welt untersucht, bei denen die "polyzentrische

Intersubjektivität" herrscht.TPF

74FPT Die Philosophen, welche in diesem Begriff eine neue

philosophische Fragestellung sehen und ihn sogar zum Prinzip der Philosophie erheben,

verstehen die Einführung der Intersubjektivität als einen revolutionären

Paradigmenwechsel, durch den man die Einschränkung der modernen Subjektivität

überwinden und gleichzeitig den philosophischen Anarchismus des Postmodernismus

vermeiden kann. Sie gehen davon aus, daß das subjektphilosophische Schema der

Trennung von Subjekt und Objekt sowie von Subsumierendem und Subsumiertem für

die gegenwärtige Herrschaftsstruktur und die aus dieser Struktur resultierenden

negativen Erscheinungen verantwortlich ist und daß dieses Schema daher zu allererst

aufgehoben werden muß. Das Schema der Intersubjektivität wird als das Verhältnis von

Subjekt und Subjekt (S-S) bezeichnet. Der Paradigmenwechsel vom S-O zum S-S

TP

72PT M. Horkheimer / Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 141.

TP

73PT In diesem Zusammenhang besteht nach A. Honneth eine der Hauptaufgaben der

Intersubjektivitätstheorie darin, den Entstehungsprozeß der moralischen Autonomie des Einzelnen

philosophisch zu deuten. Er geht also davon aus, daß die Autonomie nicht vorgegeben ist, sondern durch

bestimmte Prozesse hergestellt wird. A. Honneth, Das Andere der Gerechtigkeit, a.a.O., S. 239f., S. 245ff.

TP

74 PTVgl. K. Held, 'Intersubjektivität' in: HWPh, Bd. 4, Sp. 521.T

Page 33: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

32

Schema wird für "einen qualitativen Sprung" und "einen revolutionären Bruch"TPF

75FPT mit

der Vergangenheit gehalten. In diesem Zusammenhang schreibt E. Düsing:

"Dieser Bruch ist nämlich ein Abbruch der klassischen Tradition eines

humanistischen Bildungsbegriffs und ein Umbruch im Verständnis des

Menschen, der nunmehr in seiner metaphysischen Ortlosigkeit radikal als

rein gesellschaftliches Wesen aufgefaßt wird, als ein kommunikatives

Sinnenwesen, das im Medium gemeinschaftlicher Wir-Erfahrung zu sich

selbst gebracht werden muß und das die Realität der Welt erst vermittels

rationaler Diskurse zu erfassen vermag."TPF

76FPT

Aus demselben Grund beurteilt Habermas die Ablösung des Bewußtseinsparadigmas

und den Paradigmenwechsel zur Intersubjektivität als "die eigentliche philosophische

Leistung unserer Epoche".TPF

77FPT So erhebt sich die Intersubjektivität zum Leitbegriff der

Philosophie bei denen, die einerseits die Grenze der modernen Subjektphilosophie

überwinden und andererseits das Projekt der Moderne, d. h. die Emanzipation des

Menschen durch die Rationalität, weiterführen wollen.

Es gibt zwar viele Konzeptionen der 'Intersubjektivität',TPF

78FPT aber die behavioristische

Konzeption Meads, eines Sozialpsychologen, wird als eine zentrale Form der

Intersubjektivität angesehen.TPF

79FPT Er sieht das Ziel der Psychologie darin zu erklären, wie

P

75P E. Düsing, Intersubjektivität und Selbstbewußtsein. Behavioristische, phänomenologische und

idealistische Begründungstheorien bei Mead, Schütz, Fichte und Hegel, Köln 1986, S. 2.

P

76 PEbd.

P

77 PNU, S. 134.P

.

P

78 PE. Düsing teilt die Intersubjektivitätstheorie in drei Typen ein nach dem Kriterium, welcher Faktor bei

dem Individuum oder dem Subjekt einerseits und der Gesellschaft oder dem Anderen andererseits betont

wird: 1. Die behavioristische Intersubjektivitätstheorie wie z. B. bei H. Mead, die vom "Primat einer sich

selbst formierenden Gesellschaft vor der Bildung selbstgewusster Individuen" in dem Sinne spricht, daß

die Individualität des Einzelnen "rein von außen her, gesellschaftlich und gattungsgeschichtlich

konstituiert" ist. 2. Die phänomenologische Intersubjektivitätstheorie wie z. B. bei A. Schütz, die vom

"Primat der Subjektivität vor der Gesellschaft" in dem Sinne spricht, daß die Intentionalität des reinen Ich

als Ordnungsschema interpersonaler Beziehungen angesehen wird. 3. Die idealistische

Intersubjektivitätstheorie wie z. B. bei Fichte und Hegel, die von "der korrelativen Konstitution von

Selbstbewußtsein und interpersonalem Sein" spricht. E. Düsing, Intersubjektivität und Selbstbewußtsein,

a.a.O., S. 6ff.P

P

79 PJ. Habermas, H. Joas und A. Honneth etc. sehen in Meads Theorie einen bahnbrechenden Fortschritt

für die Intersubjektivitätstheorie: H. Joas, Praktische Intersubjektivität. Die Entwicklung des Werkes von

Page 34: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

33

ein Aktor seine Identität oder Subjektivität erreicht. Sein Ausgangspunkt ist, daß die

Identität eines Individuums nur durch seine Interaktion mit dem Anderen, besonders

durch 'den Kampf um Anerkennung' möglich ist.TPF

80FPT Diese Position bedeutet vor allem,

daß er jede transzendentale Abgeschlossenheit des Subjekts ablehnt, die von den

Subjektivitätstheoretikern als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung aufgefaßt wird.

Seine Auseinandersetzung mit der psychologischen Methode Cooleys zeigt, daß er

keine Form einer transzendentalen Fähigkeit des Subjekts anerkennt.

Cooley wollte die Interaktion oder die soziale Anlage des Menschen mit Hilfe des

psychologischen Begriffs 'sympathetic introspection' erklären.TPF

81FPT Er ist der Ansicht, daß

das Selbstbewußtsein der Individuen durch die 'imagination' dessen zustande kommt,

wie die anderen sie sehen.TPF

82FPT Der Kernpunkt seiner Theorie liegt also darin, daß die

Realität sowohl der gesellschaftlichen Verbindung als auch des individuellen

Selbstbildes nur in wechselseitigen Introjektionen besteht, welche die Mitglieder eines

Gemeinwesens aneinander vornehmen. Also spielt für ihn die Einbildungskraft bei der

Entwicklung des Selbstbewußtseins eine entscheidende Rolle. Bei der Kritik Meads an

Cooley geht es darum, daß seine Theorie noch auf ''einem gewissen Subjektivismus'' in

dem Sinne basiert, daß sie ''eine schon weit ausgebildete und in sich relativ

G. H. Mead, Frankfurt/M. 1980, J. Habermas, Individualisierung durch Vergesellschaftung. Zu G. H.

Meads Theorie der Subjektivität, in: ders., Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/M. 1988, S. 187ff. und

A. Honneth, Anerkennung und Vergesellschaftung: Meads naturalistische Transformation der

Hegelschen Idee, in: ders., Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte,

Frankfurt/M. 1994, S. 114ff. Nach Honneth z. B. bietet die Theorie Meads "die geeignetsten Mittel" an,

mit denen man die idealistische Intersubjektivitätsidee des jungen Hegel, welche sich in der Form des

Kampfs um Anerkennung entwickelt, naturalistisch, d. h. wissenschaftlich rekonstruieren kann. A.

Honneth, a.a.O., S. 114f. P

P

80P Diese Ansicht verdankt sich dem Mead-Studium Honneths. Der Ausgangspunkt seiner Mead-Lektüre

ist wie folgt: Meads Sozialpsychologie "versucht den Kampf um Anerkennung zum Bezugspunkt einer

theoretischen Konstruktion zu machen, mit der die moralische Entwicklung von Gesellschaft erklärt

werden soll." A. Honneth, a.a.O., S. 114.

P

81 PÜber die Kritik Meads an Cooley siehe u. a. seinen Artikel Cooleys Beitrag zum soziologischen Denken

in Amerika (1930), in: G. H. Mead, Gesammelte Aufsätze, H. Joas (Hg.), Bd. 1, Frankfurt/M. 1987, S.

329-345.P

.

P

82 PSiehe die folgenden Schriften von Cooley, die die 'sympathetic imagination' als Grundlage für die

Fähigkeit der Rollenübernahme behandeln: Ch. H. Cooley, Human Nature and the social Order, New

York 1902 und ders., Social Organisation, New York 1909P

.P.

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34

abgeschlossene psychische Realität''TPF

83FPT voraussetzt, die bei Mead erst durch die sozialen

Interaktionen entsteht.

Der Gedanke, daß die Identität eines Individuums durch die Interaktion zwischen

Subjekten entsteht, führt außer der Ablehnung jeder Transzendentalität eines Subjekts

zu einer neuen Bestimmung des Psychischen, das den Gegenstand der Psychologie

ausmacht. Das Psychische ist eine innere Erfahrung des Subjekts, die entsteht, wenn

dem Subjekt ein ungewöhnlicher Gegenstand begegnet. Das Subjekt reflektiert dabei

auf sich selbst und dadurch kann sein Selbstbewußtsein oder seine Identität gebildet

werden. Dieser Gedanke unterscheidet sich vor allem von der sogenannten

'funktionalistischen' Psychologie, die behauptet, daß das 'Psychische' durch die Reaktion

des Subjekts auf den Reiz des Objektes entsteht; wenn ein Subjekt einer neuen Situation

begegnet, die unter die bislang geltenden Situationsdeutungen nicht subsumiert werden

kann und in der deswegen seine Handlung gestört wird, macht es eine Erfahrung, in der

seine Vorstellung von der übrigen Wirklichkeit getrennt wird. Die funktionalistische

Psychologie nennt diese innere Erfahrung des Subjekts das 'Psychische'.

In dem Gedanken, daß der Bewußtseinszustand des auf den Reiz des Objektes

reagierenden Subjekts als Psychisches bestimmt wird, bleibt allerdings noch ein Kern

der modernen Subjektsphilosophie erhalten, der in dem Schema der Trennung von

Subjekt und Objekt besteht. Hierbei geht es nur um die Anpassung an das Objekt bzw.

die Herrschaft dem Objekt gegenüber, nicht um die Interaktion. Die Störung einer

Handlung des Subjekts kann nach dieser Psychologie nicht durch die Aktivität des

eigenen Ich, sondern durch ''eine schärfere Bestimmung der Objekte'' aufgelöst werden,

welche den Reiz bilden.TPF

84FPT Der Kern der Kritik Meads besteht also darin, daß es sich bei

dieser Psychologie nur um die kreative Anpassung an eine falsch eingeschätzte Realität,

nicht um die Selbstreflexion des Subjekts handelt.

Mead ist dagegen der Meinung, daß man einen ganz anderen Handlungstypus braucht

als dieses instrumentelle Schema, um den Entstehungsvorgang der Identität eines

Aktors zu verstehen, nämlich das Schema einer Interaktion zwischen Subjekten. Wenn

ein Subjekt vom Anderen nicht anerkannt wird oder seine interaktionäre Beziehung zum

Anderen verletzt wird, erscheint nach ihm das 'Psychische', durch welches das Subjekt

P

83 PE. Düsing, Intersubjektivität und Selbstbewußtsein, a.a.O., S. 42. Außerdem siehe dazu G. Mead,

Coolys Beitrag zum soziologischen Denken, a.a.O., besonders S. 332ff.P

P

84 PG. H. Mead, Soziales Bewußtsein und das Bewußtsein von Bedeutungen, in: ders., Gesammelte

Aufsätze, Bd. 1, a.a.O., S. 218.

Page 36: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

35

auf sich selbst reflektiert und ferner seine Identität bildet. Dieser Gedanke setzt voraus,

daß ein Subjekt fähig ist, bei einer anderen Person ein Reaktionsverhalten auszulösen.

Nur durch diese Fähigkeit vermag das Subjekt ein Wissen von der intersubjektiven

Deutung seiner Handlungen herzustellen. Nur aus dieser 'exzentrischen Perspektive'

kann ich ein Bild von mir selbst gewinnen und somit zu einem Bewußtsein meiner

Identität gelangen. Während der Erfolg einer instrumentalen Handlung von der richtigen

Bestimmung der betroffenen Dinge abhängt, führt erfolgreiches Sozialverhalten ''auf ein

Gebiet, in dem das Bewußtsein eigener Haltungen zur Kontrolle des Verhaltens anderer

verhilft.''TPF

85FPT

Der Kampf um Anerkennung, welcher bei Mead das Psychische hervorruft, enthält in

sich zwei Momente: erstens die Unentbehrlichkeit der Anerkennung durch die Anderen,

d. h. die Unentbehrlichkeit der Sozialisation eines Individuums; zweitens die

Möglichkeit des Konfliktes zwischen dem Subjekt und dem Anderen und die der

Änderung des Anderen, um dann den Wunsch jenes Subjekts anzuerkennen, d. h. das

Recht des Individuums zu vergrößern. Mead berücksichtigt also mit dem Gedanken des

Kampfs um Anerkennung die Identität eines Individuums unter den beiden

Gesichtspunkten der Sozialisation sowie der Individuierung.

Die Sozialpsychologie Meads fokussiert sich nun darauf zu deuten, wie ein Individuum

vergesellschaftlicht und gleichzeitig individualisiert wird. Um diesen Prozeß zu erhellen,

geht Mead vor allem davon aus, daß das Subjekt aus zwei Bestandteilen besteht: dem

'Ich' und dem 'Mich'. Das 'Ich' ist die Instanz eines Subjekts, die für dessen spontane

Tätigkeit verantwortlich ist und jedem konkreten Bewußtseinsinhalt vorausgeht. Es ist

also ein Reservoir an psychischen Energien, das jedes Subjekt mit einer Vielzahl von

unausgeschöpften Identitätsmöglichkeiten ausstattet.

''Das 'Ich' kann deshalb niemals als ein Objekt im Bewußtsein existieren. Aber

es ist eben der Gesprächscharakter unserer inneren Erfahrung, eben der

Vorgang, in dessen Verlauf wir auf unsere eigene Rede antworten, der ein

'Ich' impliziert, das hinter der Bühne auf die Gebärden und Symbole antwortet,

welche in unserem Bewußtsein auftreten.''TPF

86FPT

P

85 PA.a.O., S. 219.

P

86 PG. H. Mead, Der Mechanismus des sozialen Bewußtseins, in: ders., Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, a.a.O.,

S. 240.

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36

Das 'Ich' Meads ist also mit dem transzendentalen Ich Kants vergleichbar, das ''sich nie

selbst in den Blick bekommt''. TPF

87FPT In dieser Hinsicht nennt Mead es ''ein fiktives 'Ich'''. TPF

88FPT

Das 'Mich' ist dagegen die Instanz des Subjekts, die die sozialen Normen beherbergt,

durch die ein Subjekt sein Verhalten gemäß den gesellschaftlichen Erwartungen

kontrolliert. Es ist also das Mich, in dem das Subjekt das Bild, das andere Personen von

ihm haben, verinnerlicht.

''Solch ein 'Mich' ist also keine frühe Formation, die dann in die Körper

anderer Menschen projiziert und ejiziert wird, um ihnen die Fülle

menschlichen Lebens zu verleihen. Es ist eher eine Übertragung aus dem

Gebiet sozialer Objekte auf das amorphe, unorganisierte Gebiet dessen, was

wir als innere Erfahrung bezeichnen. Durch die Organisation dieses

Objektes, der Ich-Identität, wird dieses Material seinerseits organisiert und

in Form des sogenannten Selbstbewußtseins unter die Kontrolle eines

Individuums gebracht.''TPF

89FPT

Mead erklärt mit Hilfe der Begriffe des 'Ich' und des 'Mich' den Individuierungs- und

Sozialisationsprozeß eines Individuums, d. h. das Problem der Entstehung der Identität,

und ferner die Änderung der sozialen Normen selbst.

Er erläutert in seiner Schrift Geist, Identität und Gesellschaft die Sozialisation eines

Individuums, d. h. die Entwicklung eines Subjekts zum 'Mich', anhand der Analyse des

Wachstumsvorganges des Kindes, der in zwei Stufen unterteilt werden kann: der Stufe

des 'Play' und des 'Game'. Auf der Stufe des Play kommuniziert das Kind mit sich selber

durch die Imitation des Verhaltens eines konkreten Interaktionspartners und das im

eigenen Handeln darauf komplementäre Reagieren; auf der Stufe des Game, in dem das

Kind die eigene Rolle in dem funktional organisierten Handlungszusammenhang

wahrnehmen muß, repräsentiert es aber in sich die Verhaltenserwartungen aller seiner

Mitspieler. Das Kind wird als Spieler ''von den Annahmen über die voraussichtlichen

Handlungen der eigenen Spieler'' bestimmt, TPF

90FPT und seine Handlungen werden durch die

Handlungen der Mannschaft kontrolliert. Das Kind muß also während des Game die

P

87P Ebd.

P

88P Ebd.

P

89 PA.a.O., S. 239.

P

90 PG. H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1973, S. 196.

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37

Haltung aller anderen Beteiligten in sich repräsentieren. Bei dieser Stufe stößt jeder

Spieler deswegen ''auf ein 'anderes', das eine Organisation der Haltungen all jener

Personen ist, die in den gleichen Prozeß eingeschaltet sind''.TPF

91FPT Während es bei der ersten

Stufe um das konkrete Verhaltensmuster einer sozialen Bezugsperson geht, geht es bei

der zweiten um die sozial generalisierten Verhaltensmuster einer ganzen Gruppe, die

das Handeln aller Mitglieder kontrollieren. Der Übergang des Kindes zum

Heranwachsenden bedeutet also seine Verinnerlichung der sozialen Handlungsnormen

eines 'verallgemeinerten Anderen'. Durch die Unterscheidung zwischen der Stufe des

Plays und des Games wird folglich deutlich, daß die Sozialisation eines Kindes

überhaupt in seiner Verinnerlichung von Handlungsnormen besteht, die aus der

Generalisierung der Verhaltenserwartungen aller Gesellschaftsmitglieder

hervorgegangen sind. Von daher funktioniert die Kategorie des 'verallgemeinerten

Anderen' für Mead als ein begriffliches Bindeglied zwischen dem engeren familiären

Bereich der Play-Phase und dem weiteren gesellschaftlichen Umfeld der Game-Phase.

Allerdings macht die Sozialisation des Kindes oder die Verinnerlichung des

verallgemeinerten Anderen noch nicht seine eigene Identität aus, weil diese vor allem

etwas mit der Einzigartigkeit eines Individuums zu tun hat. Wenn das Mich als eine

Verinnerlichung der sozialen Normen und das Ich, wie Honneth sagt, ''als die

Sammelstätte all der inneren Impulse'' aufgefaßt wird, ''die in den unwillkürlichen

Reaktionen auf soziale Herausforderungen''TPF

92FPT entstehen, anders gesagt, wenn jenes den

allgemeinen Willen, dieses den individuellen Willen spiegelt, steht beides in einem

Spannungsverhältnis, das zum Konflikt zwischen dem Subjekt und seiner sozialen

Umwelt führen kann. Aus diesem Grund ist die Identität eines Subjekts nicht bloß eine

Verinnerlichung der Perspektive des verallgemeinerten Anderen. Dieses

Spannungsverhältnis trägt auch viel zur Änderung des verallgemeinerten Anderen oder

der moralischen Normen einerseits und zur Verstärkung der Individualität andererseits

bei.

Es wurde bereits erwähnt, daß die Forderungen des Ich eines Subjekts nur in einem

Gemeinwesen realisiert werden können, in dem ihm ein Anspruch auf die Realisierung

des entsprechenden Wunsches zusteht. Aber wenn ein Subjekt in sich allerdings

Handlungsimpulse verspürt, deren Realisierung durch die rigiden sozialen Normen

verhindert wird, d. h. diese bis dahin intersubjektiv geltenden Normen also in Zweifel

P

91 PEbd.P

.

P

92 PA. Honneth, Kampf um Anerkennung, a.a.O., S. 131.

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38

gezogen werden, setzt sich das Ich mit den sozialen Normen auseinander, um seinen

Wunsch zu realisieren. Diese Auseinandersetzung setzt eine zukünftige Gesellschaft

voraus, die die Stelle des 'generalisierten Anderen' des existierenden Gemeinwesens

einnehmen wird und in der die individuellen Ansprüche präsumtiv Zustimmung finden

werden. Auf diese Weise wird zwischen dem ununterbrochenen Forderungen des Ich

und dem sozialen Lebensprozeß eine systematische Verbindung hergestellt, die sich auf

eine erweiterte Anerkennung der Rechten der Individuen richtet. Mead begreift die

moralischen Abweichungen des Ich als eine zivilisierende Kraft in der Geschichte der

Menschheit.

Das wissenschaftliche Ergebnis Meads kann wie folgt zusammengefaßt werden: 1) die

Idee der transzendentalen Subjektivität ist erfahrungswissenschaftlich sinnlos, 2) die

Identität eines Individuums wird sowohl durch seine Sozialisation als auch durch seine

Individuierung produziert, und 3) die sozialen Normen entwickeln sich historisch in die

Richtung einer Erweiterung der Rechte des Individuums.

Page 40: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

39

II. Der Ausgangspunkt von Habermas: die Weiterführung

des Projektes der Aufklärung um der sittlichen Totalität

willen.

Habermas hat in einem Interview einmal gesagt, daß sein Hauptanliegen in der

"Versöhnung der mit sich selber zerfallenen Moderne"TPF

1FPT bestehe. Dies enthält seine

eigene Antwort auf jene These der Paradoxie der Rationalisierung, die eben die Kritiker

der Moderne vertreten: je mehr sich die Vernunft durchsetze, desto unmenschlicher

würden die Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die "Versöhnung der mit

sich selber zerfallenen Moderne" bedeutet bei Habermas, "ohne Preisgabe der

Differenzierungen, die die Moderne sowohl im kulturellen wie im sozialen und

ökonomischen Bereich möglich gemacht haben, Formen des Zusammenlebens" zu

finden, "in denen wirklich Autonomie und Abhängigkeit in ein befriedetes Verhältnis

treten."TPF

2FPT

Habermas versucht dieses Problem aus der Perspektive der dritten Position, also

mithilfe der Intersubjektivitätstheorie zu lösen. Er ist daher weder einverstanden mit den

Verteidigern der modernen Vernunft, die sagen, die Paradoxie der Moderne resultiere

aus der inkonsequenten Anwendung der modernen Vernunft, noch stimmt er den

radikalen Vernunftkritikern zu, die behaupten, die Unmenschlichkeit stamme

unmittelbar aus dem Wesen der Vernunft selbst; vielmehr steht er auf der Seite des

dritten Wegs, der das Projekt der Aufklärung durch den Begriff der Intersubjektivität

weiterführen will. Dieser Weg basiert im Grunde auf dem Optimismus der Vernunft

bzw. auf dem Gedanken des Fortschrittes der Geschichte, aber er setzt gleichzeitig die

Erkenntnis voraus, daß die Ausdifferenzierung der Gesellschaft, die mit dem Fortschritt

der Geschichte entstanden ist, eine Entfremdung des Menschen und Konflikte in der

Gesellschaft verursachen kann. Darüber hinaus geht diese Position von der Kritik aus,

daß der gegenwärtige Pessimismus letztlich zu einer 'neuen Unübersichtlichkeit' führt,

weil er diese Entfremdung und diese Konflikte nicht löst, sondern unmittelbar zu einer

Ablehnung des vernünftigen Denkens führt.

Anders als die ersten beiden im letzten Kapitel besprochenen Positionen ist Habermas

der Meinung, daß die gegenwärtigen pathologischen Erscheinungen daraus resultieren, TP

1PT NU, S. 202.

TP

2PT Ebd.

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40

daß man die Ausdifferenzierung der Gesellschaft, die der Ausdifferenzierung der

Vernunft in der Moderne entspricht, mit dem einheitlichen oder subjektivistischen

Vernunftbegriff wieder in eine substanzielle Einheit bringen wolle. Er versucht

deswegen durch die Umgestaltung der monologischen und subjektivistischen in eine

intersubjektive Vernunft das Kernproblem der Moderne, nämlich den Subjektivismus

innerhalb des ursprünglichen Projekts der Moderne, zu überwinden:

"Die kognitiv-instrumentelle Vereinseitigung des modernen Begriffs der

Rationalität spiegelt die objektive Vereinseitigung einer kapitalistisch

modernisierten Lebenswelt. [...] Wenn das Paradigma des Bewußtseins

durch das der Verständigung abgelöst wird, können geduldige Analysen das

in unsere kommunikativen Alltagshandlungen eingebaute Potential einer

unverkürzten Rationalität wieder sichtbar machen." TPF

3FPT

Mit Sicherheit meint er mit dem Begriff einer 'verkürzten' Rationalität die Subjektivität,

die als das Prinzip der Moderne gilt. Diese entspricht allerdings der Kantischen

Aufteilung der Vernunft, die als letzter Richter in jedem Bereich der objektivierenden

Erkenntnis, der moralischen Einsicht und der Kraft des ästhetischen Urteils fungiert.

Habermas sieht den Subjektivismus als eine Form der Moderne an, in der die

ausdifferenzierte Welt mithilfe der subjektivitstischen, instrumentellen Vernunft

substanziell wiedervereinigt wird. Er identifiziert ihn nicht mit der Moderne selbst.

Er unterscheidet sich von den Subjektivsten dadurch, daß er nach einer "prozeduralen

Einheit"TPF

4FPT zwischen den ausdifferenzierten Welten sucht, nicht nach einer substanziellen.

Der Subjektivismus ist nach ihm nicht die von dem Prinzip der Subjektivität logisch

abgeleitete Moderne selbst, sondern nur deren Erscheinung, und zwar eine 'verkürzte'

Form der Moderne. Wie gesagt, sowohl bei den Vernunftverteidigern als auch bei den

radikalen Vernunftkritikern liegt das Problem darin, daß sie beide den Subjektivismus

und die Moderne miteinander identifizieren. Aber die philosophische Aufgabe ist es

nach Habermas, den auf dem Bewußtseinsparadigma basierten Subjektivismus zu

überwinden, um die gegenwärtigen pathologischen Erscheinungen zu vermeiden.

TP

3PT J. Habermas, Untiefen der Rationalitätskritik, in: NU, S. 136f.

TP

4PT Ebd.

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41

"Vermutlich wird man einmal in der Ablösung des Bewußtseinsparadigmas

die eigentliche philosophische Leistung unserer Epoche sehen." TPF

5FPT

Dieser Gedanke von Habermas geht vor allem von seiner Bestimmung des Begriffs der

'Moderne' aus.

TP

5PT A.a.O., S. 134.

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42

1. Die Bedeutung der Moderne

Die Moderne bezeichnet normalerweise eine Epoche, die sich von der Spätscholatistik

bis zum Ende des 19. Jahrhunderts erstreckt. Man benutzt also den Begriff der Moderne,

um die sich von dem Mittelalter unterscheidende neue Zeit zu bezeichnen. Die

Aufklärung befindet sich somit in der Mitte dieses Zeitraums in dem Sinne, daß sie den

Geist der Moderne am besten verkörpert. Habermas folgt aber bezüglich des Begriffes

der Moderne einer bestimmten Auffassung, die die Moderne nicht bloß auf einen

bestimmten Zeitraum, sondern auf eine 'Mode' des Denkens bezieht, die darin besteht,

die eigene Zeit als einzige neue Zeit anzusehen. Nach dieser Auffassung erhält die

'Moderne' ''die Konnotation des lediglich zeitlich Jüngeren, das qualitativ nicht zu

bestimmen ist, sich aber negativ abhebt gegen eine frühere Epoche, die nicht nur

vergangen ist, sondern deren Maßstäbe entweder nicht mehr erfüllbar sind oder nicht

mehr gelten können.''TPF

6FPT Aus dieser Position hat also die 'Modernität' wenigstens drei

Eigenschaften: die geschichtsphilosophische Blickrichtung, die 'Selbstkritik' und die

Selbstschöpfung des Maßstabes.

Erstens zur geschichtsphilosophischen Blickrichtung: 'Moderne' und 'Mode' leiten sich

von dem gleichen Wortstamm ab und deshalb besitzen sie einige wesentliche

gemeinsame Bestimmungen. Die wesentlichen Eigenschaften der Mode erkennt man

vor allem bei einem Vergleich der Mode mit der Klassik. Im Gegensatz zu der Klassik,

die als zeitloses Vorbild der Kunst gilt, besteht die Mode in einer augenblicklichen

Schönheit. Gerade in dieser Hinsicht sieht Baudelaire in dem als Experten für das

flüchtige Pläsier des Augenblicks angesehenen Dandy einen Prototyp der Mode. Das

Wesen des Dandytums ist nach ihm, "von der Mode das loszulösen, was sie im

Geschichtlichen an Poetischem, im Flüchtigen an Ewigem enthalten mag."TPF

7FPT

TP

6PT R. Piepmeier, Modern, die Moderne, in: HWPh, Bd. 6, Sp. 54.

Wie Baudelaire sehen J. Habermas und J. F. Lyotard die Moderne oder die Modernität zunächst nicht als

den Zeit- oder den Epochenbegriff an, sondern erklären sie im Zusammenhang mit einer 'Mode' des

Denkens. Aber sie benutzen diesen Begriff in einer ganz anderen Richtung; während Habermas das

Wesen der Begriffe von 'Mode' und 'Moderne' in der Möglichkeit der kontinuierlichen Selbständerung

oder -erneuerung sieht, bezieht Lyotard die Moderne auf eine große Erzählung, die nichts anderes ist als

eine durch das rationale Denken vereinheitlichte, umfassende Weltanschauung. Vgl. J.–F. Lytord, Das

postmoderne Wissen, a.a.O., S. 14f.

TP

7PT Ch. Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens, in: ders., Gesammelte Schriften, M. Bruns (Hg.),

Darmstadt 1982, Bd. 4, S. 284.

Page 44: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

43

Die Mode, die im Flüchtigen nach einer Ewigkeit der Schönheit sucht, ist also der

ästhetische Ausdruck einer Tätigkeit, sich ewig in die Vergangenheit zu verschieben

und gleichzeitig sich in ein Neues umzuwandeln. In diesem Punkt sieht Baudelaire die

Gemeinsamkeit der Mode und der Modernität:

"Er [sc. der Dandy] sucht jenes Etwas, das ich mit Verlaub als die

'Modernität' bezeichnen will: denn es bietet sich kein besseres Wort, um die

in Rede stehende Idee auszudrücken."TPF

8FPT

Die Mode besteht in der 'Ewigkeit im Augenblick', und diese Bestimmung besitzt auch

die Modernität.TPF

9FPT Das ist der Grund, warum Baudelaire als einer der ersten Denker gilt,

der die Moderne unmittelbar im Zusammenhang mit der 'Mode' zu begreifen versucht.

Wenn man diese ästhetische Bestimmung der Mode oder der Modernität auf die

Geschichte anwendet, ist die Modernität oder die Moderne der Vorgang, seine eigene

Zeit von der Vergangenheit zu unterscheiden und sie dadurch als etwas ganz Neues zu

bestimmen. Habermas nimmt dies als eine der wesentlichen Bestimmungen der

Moderne auf. Das wird in der folgenden Passage deutlich:

''Eine Gegenwart, die sich aus dem Horizont der neuen Zeit als die

Aktualität der neuesten Zeit versteht, muß den Bruch, den jene mit der

Vergangenheit vollzogen hat, als kontinuierliche Erneuerung

nachvollziehen.''TPF

10FPT

Habermas bleibt aber bei dieser Bestimmung nicht stehen. Er will die Moderne mit der

Hilfe der begriffsgeschichtlichen Analyse Kosellecks näher charakterisieren. Koselleck

zeigt, wie der Begriff der Moderne schon einen geschichtsphilosophischen Blick

impliziert, d. h. wie er den eigenen Standort aus dem Horizont der Geschichte im

Ganzen reflexiv vergegenwärtigt:

TP

8PT Ebd.

TP

9PT Habermas ist aus diesem Grund mit der Meinung von Jauß einverstanden, der die avantgardistische

Kunst, die die ewige Schönheit nur in der Vermummung des Zeitkostüms enthüllt, als eine typische

Kunstform der Modernität ansieht. Siehe dazu PDM, S. 17 und H. R. Jauß, Literarische Tradition und

gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität, in: ders., Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt/M.

1970, S. 11ff.

TP

10PT PDM, S. 15.

Page 45: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

44

''Die 'Neuzeit' verleiht der gesamten Vergangenheit eine weltgeschichtliche

Qualität. Damit aber gewann die Neuheit der jeweils sich ereignenden und

als neu reflektierten Geschichte einen fortschreitend sich steigernden

Anspruch auf die ganze Geschichte. [...] Wurden erst einmal in der eigenen

Geschichte neue, bisher vermeintlich nie gemachte Erfahrungen registriert,

so ließ sich auch die Vergangenheit in ihrer grundsätzlichen Andersartigkeit

begreifen. Das führte dazu, daß gerade im Horizont des Fortschreitens die

Zeitalter in ihrer Eigenart zum Ausdruck kommen mußten. Diagnose der

neuen Zeit und Analyse der vergangenen Zeitalter korrespondierten

miteinander.''TPF

11FPT

Der geschichtsphilosophische Blick gehört im Bezug auf den Begriff der Moderne zu

deren wesenhafter Bestimmung, wie Habermas von Koselleck lernt. Um eine Zeit als

die 'Zeit der Geburt' sowie als die des Übergangs zu einer neuen Periode auffassen zu

können, braucht man notwendig einen bestimmten Gesichtspunkt, durch welchen diese

Zeit relativiert werden kann: einen geschichtsphilosophischen Blick. Die Gegenwart

von der Vergangenheit zu unterscheiden und darüber hinaus sich selbst als etwas Neues

oder Modernes zu sehen, ist nach Habermas nichts anderes als die Charakteristik der

Modernität selbst, weil sie "die Gegenwart als einen Übergang" charakterisiert, "der

sich im Bewußtsein der Beschleunigung und in Erwartung der Andersartigkeit der

Zukunft verzehrt."TPF

12FPT Ihr Wesen ist es also, im Augenblick die Ewigkeit z. B. in Form

der Schönheit zu erfassen, d. h. einen ewigen Augenblick darzustellen, durch den das

Jetzt von der Vergangenheit und das Selbst von dem Anderen unterschieden werden, so

daß die Moderne sich somit als etwas Neues verstehen kann.

Neben diesem Aspekt der Abgrenzung von der Vergangenheit hat der Begriff der

Moderne für Habermas einen zweiten Aspekt: die 'Selbstkritik'. Wie oben angedeutet,

ist der Begriff 'modern' kein statischer Begriff, der sich selbst als die ewige Neuigkeit

ansieht, sondern ein bewegender, der sich selbst ebenfalls als der Zeit und damit auch

der Vergänglichkeit unterworfen versteht. Anders gesagt, weil das Wort 'modern' oder

'neu' nach wie vor die Möglichkeit in sich trägt, auch sich selbst als etwas dereinst

TP

11PT R. Koselleck, Neuzeit. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in: ders., Vergangene Zukunft,

Frankfurt/M. 1989, S. 327.

TP

12PT PDM, S. 15.

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45

Vergangenes anzusehen, und somit auf die Offenheit der Zukunft verweist, ist bei

diesem Wort immer auch die Möglichkeit der Selbsterneuerung und der Selbstkritik

gegeben. Die Moderne enthält daher die Selbstkritik in sich und eröffnet sich damit eine

Möglichkeit, einen kritischen Abstand gegenüber sich selbst zu gewinnen. Habermas

schließt daran den Gedanken an, daß die Trennung der Moderne von sich bloß eine

Selbsttrennung ist, kein Übergang der Moderne zum Anderen. Also läßt sich die

Moderne als eine ewige Tätigkeit bestimmen, die die Momente des Augenblicks und

der Ewigkeit in sich trägt. In diesem Zusammenhang definiert Habermas die Moderne

wie folgt:

''Sie [sc. die Moderne] bewährt sich als das, was einmal klassisch sein wird;

klassisch ist nunmehr der Blitz des Aufgangs einer neuen Welt, die freilich

keinen Bestand haben wird, sondern mit ihrem ersten Auftritt auch schon

ihren Zerfall besiegelt.''TPF

13FPT

Er folgert aus diesem Gedanken, daß nicht nur die positiven, sondern auch die negativen

Erscheinungen der Moderne zu den Produkten der Selbstausdifferenzierung der

Moderne gehören und daß darüber hinaus auch die Überwindung der modernen

pathologischen Erscheinungen nur innerhalb der Moderne möglich ist.

Hier kommt ein drittes Merkmal der Moderne hinzu, das sich aus dem

geschichtsphilosophischen und selbstreflexiven oder -kritischen Standpunkt ergibt: die

Selbstschöpfung des Maßstabes der Moderne. Die geschichtsphilosophischen und

selbstkritischen Momente der Moderne sind bei Habermas unmittelbar damit verbunden,

daß die Richtung oder das Telos der Kritik und der Änderung nicht von einer äußeren

Macht oder einem äußeren Vorbild, sondern von sich selbst her bestimmt wird. Wegen

ihrer Selbstbezüglichkeit muß die Moderne ihren Maßstab und ihre Normativität in sich

selbst finden. Habermas beschreibt den Charakter einer Begründung der Moderne aus

sich selbst im folgenden Zitat:

''Die Moderne kann und will ihre orientierenden Maßstäbe nicht mehr

Vorbildern einer anderen Epoche entlehnen, sie muß ihre Normativität aus

sich selber schöpfen. Die Moderne sieht sich, ohne Möglichkeit der

Ausflucht, an sich selbst verwiesen. Das erklärt die Irritierbarkeit ihres

TP

13PT A.a.O., S. 18.

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46

Selbstverständnisses, die Dynamik der ruhelos bis in unsere Zeit

fortgesetzten Versuche, sich selbst festzustellen.''TPF

14FPT

Anders gesagt, die begriffsgeschichtlich untersuchte Moderne sieht ''sich dazu verurteilt,

ihr Selbstbewußtsein und ihre Norm aus sich selbst zu schöpfen.''TPF

15FPT

Habermas nimmt folglich die Bestimmungen über die Moderne oder Modernität auf, die

schon in den Untersuchungen Baudelaires und Kosellecks angedeutet sind: der

geschichtsphilosophische Gesichtspunkt, die Selbstkritik und die Selbstschöpfung des

Maßstabes. Diese Bestimmungen werden in der Habermasschen Theorie aufgenommen,

damit er behaupten kann, daß die Moderne nicht aufgehoben, sondern ewig erneuert

werden kann und deshalb das Projekt der Moderne innerhalb der Moderne weitergeführt

werden muß. Dieser Ausgangspunkt von Habermas unterscheidet ihn grundsätzlich vor

allem von den sogenannten Postmodernisten, die von der Aufhebung der Moderne und

gleichzeitig vom Übergang zur Postmoderne sprechen, da das Projekt der Moderne

schon erschöpft sei.

Nach Habermas begehen die postmodernen Denker einen Fehler, wenn sie die

subjektzentrierte Vernunft oder die 'Modernisierung' verallgemeinern. Ihr Irrtum besteht

also darin, daß, obwohl sich ihre Kritik in Wirklichkeit gegen eine entfremdete Form

der Vernunft richtet, nicht gegen die Vernunft selbst oder die Moderne selbst, sie sich

verhalten, als ob sie die Vernunft und die Moderne selbst behandeln bzw. kritisieren

würden. Genauer gesagt, ihre Kritik an der Moderne steht nur in Zusammenhang mit

dem Begriff der 'Modernisierung', nicht mit dem der Moderne selbst. Den Begriff der

Modernisierung, den Max Weber eigentlich in Bezug auf die Rationalität eingeführt

hatte, haben seine Nachfolger aus dem Kontext der Moderne gelöst und zu einer

allgemeinen Modernisierungstheorie entwickelt. Diesen Vorgang beschreibt Habermas

wie folgt:

''Sie [sc. die Modernisierungstheorie] löst die Moderne von ihren

neuzeitlich-europäischen Ursprüngen ab und stilisiert sie zu einem

raumzeitlich neutralisierten Muster für soziale Entwicklungsprozesse

überhaupt. Sie unterbricht zudem die internen Verbindungen zwischen der

Moderne und dem geschichtlichen Zusammenhang des okzidentalen

TP

14PT A.a.O., S. 16.

TP

15PT NU, S. 129.

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47

Rationalismus in der Weise, daß die Modernisierungsvorgänge nicht mehr

als Rationalisierung, als eine geschichtliche Objektivation vernünftiger

Strukturen begriffen werden können.''TPF

16FPT

Habermas geht freilich davon aus, daß gerade diese Modernisierungstheorie die

Voraussetzungen für den Ausdruck 'Postmoderne' geschaffen habe:

''Denn im Augenblick einer evolutionär verselbständigten, einer

selbstläufigen Modernisierung kann der sozialwissenschaftliche Beobachter

umso eher von jenem begrifflichen Horizont des westlichen Rationalismus,

in dem die Moderne entstanden ist, Abschied nehmen. Wenn aber die

internen Verknüpfungen zwischen dem Begriff der Moderne und dem aus

dem Horizont der abendländischen Vernunft gewonnenen Selbstverständnis

der Moderne erst einmal aufgelöst sind, lassen sich die gleichsam

automatisch weiterlaufenden Modernisierungsprozesse von der distanzierten

Warte eines postmodernen Beobachters aus relativieren.''TPF

17FPT

In diesen Zitaten wird deutlich, inwiefern sich Habermas von den postmodernen

Denkern unterscheidet. Er akzeptiert zwar einerseits die Kritik der Postmodernisten an

der Vernunft und der Modernität. Aber er zeigt gleichzeitig ihren Irrtum, der in der

Verallgemeinerung eines besonderen Falls, also darin besteht, daß sie, wie gesagt, die

subjektzentrische Vernunft als die Vernunft überhaupt und die Modernisierung als die

Moderne überhaupt ansehen. TPF

18FPT

TP

16PT PDM, S. 10.

TP

17PT A.a.O., S. 11.

TP

18PT Die Habermassche Kritik an den Postmodernisten wird im 4. Abschnitt dieses Kapitels behandelt.

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2. Die Bedeutung der Aufklärung

Habermas behauptet, daß seine wissenschaftliche Aufgabe in der Weiterführung 'eines

Projektes der Aufklärung' bestehe. Diese Behauptung kennzeichnet ein Vertrauen in die

Vernunft, das ihn mit der Aufklärung verbindet. Habermas will zum Ausdruck bringen,

daß die Aufklärung in dem philosophischen Diskurs der Moderne zwar stark kritisiert

wird, aber daß die gegenwärtigen negativen Erscheinungen ohne Radikalisierung der

Aufklärung nicht beseitigt werden können. Die folgende Aussage von Habermas faßt

diesen Gedanken gut zusammen:

''Die religiösen Kräfte der sozialen Integration sind infolge eines

Aufklärungsprozesses erlahmt, der so wenig rückgängig gemacht werden

kann, wie er willkürlich produziert worden ist. Der Aufklärung ist die

Irreversibilität von Lernprozessen eigen, die darin begründet ist, daß

Einsichten nicht nach Belieben vergessen, sondern nur verdrängt oder durch

bessere Einsichten korrigiert werden können. Deshalb kann die Aufklärung

ihre Defizite nur durch radikalisierte Aufklärung wettmachen.''TPF

19FPT

Für Habermas ist der Begriff der Aufklärung eng mit dem Begriff der Modernität

verbunden. Wenn man die Moderne in einer bestimmten geschichtsphilosophischen

Hinsicht als einen Vorgang der 'Selbsterneuerung' definiert, wird diese Definition in der

Idee der Aufklärung besonders deutlich verkörpert. Die Antwort auf die Frage 'Was ist

die Aufklärung?' wie die Antwort auf das Modernitätsproblem machen daher einen

Kern des gegenwärtigen Modernitätsdiskurses aus. Das ist der Grund, warum sich die

Teilnehmer an der Diskussion über die Modernität meistens auf Kants Überlegungen

zur Aufklärung beziehen.TPF

20FPT

Daß die Aufklärung zu einem der wichtigsten Themen der gegenwärtigen

wissenschaftlichen Diskurse wird, liegt daran, daß der optimistische Vernunftbegriff TP

19PT PDM, S. 104f.

TP

20PT In diesem Zusammenhang schreibt Habermas folgendes: "Hölderlin und der junge Hegel, Marx und die

Junghegelianer, Baudelaire und Nietzsche, Bataille und die Surrealisten, Lukács, Merleau-Ponty, die

Vordenker eines westlichen Marxismus überhaupt, nicht zuletzt Foucault selbst - alle arbeiten sie an der

Zuspitzung jenes modernen Zeitbewußtsein, das mit der Frage 'Was ist Aufklärung?' in die Philosophie

Einzug gehalten hat". J. Habermas, Mit dem Pfeil ins Herz der Gegenwart. Zu Foucaults Vorlesung über

Kants 'Was ist Aufklärung?', in: NU, S. 129.

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49

der Aufklärung heutzutage gescheitert zu sein scheint. Auch Habermas betrachtet, wie

Hegel und die Postmoderne, den Vorgang der modernen Aufklärung sehr kritisch.

Hegel hat schon die Aufklärung als eine 'Reflexionsphilosophie' definiert, die nur eine

auf der Trennung von Subjekt und Objekt beruhende Pseudo-Einheit hervorrufe. Die

Aufklärung nimmt nach Hegel zwar "dem Volk seine Vorurtheile"TPF

21FPT und gibt ihm

dadurch die Gelegenheit der Emanzipation von dem Aberglauben und der traditionellen

Autorität, aber sie ist für ihn bloß eine 'eitle' Erhebung des kalten Verstandes über die

als Kraft der lebendigen Einheit angesehene Vernunft.TPF

22FPT Die Kritik an der Aufklärung

besteht also bei Hegel darin, daß sie nur einen neuen 'Dogmatismus' mit sich bringt.

Die Postmodernisten kritisieren die Aufklärung noch viel radikaler. Jeden Versuch, die

Differenz in eine Einheit zu bringen, lehnen sie ab. Sie verstehen die gegenwärtigen

Bedrohungen, die die gesamte Menschheit vernichten könnten, z. B. die atomare

Hochrüstung und die zunehmende Umweltzerstörung durch das industrielle Wachstum

etc., als unmittelbare Resultate der Aufklärung. Daher sehen sie die vereinigende

Fähigkeit der Vernunft als 'Repression' an. Was ihnen hinsichtlich der

wissenschaftlichen Aufgabe übrig bleibt, ist also, wie I. Fetscher sagt, TPF

23FPT die

TP

21PT G. W. F. Hegel, Gesammelte Werke. Die Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften (Hg.)

(=GW), Bd. 1. Frühe Schriften I, F. Nicolin / G. Schüler (Hg.), Hamburg 1989, S. 95.

TP

22PT Vgl. G. W. F. Hegel, Kritisches Journal der Philosophie, in: GW, Bd. 4, H. Buchner / O. Pöggeler

(Hg.), Hamburg 1968, S. 125.

TP

23PT I. Fetscher faßt drei Reaktionen auf den gegenwärtigen Skeptizismus gegenüber der Aufklärung wie

folgt zusammen: 1. Die konservative Tradition (Oswald Spengler, Ernst Jünger und Arnold Gehlen etc.):

Diese Position geht davon aus, daß, da der aufklärerische Fortschritt verhängnisvoll ist, die Emanzipation

nur durch asketische Ideale verwirklicht werden kann. "Sie besteht in der Wahrung 'stoischer

Gelassenheit' angesichts einer Entwicklung des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts, der über

kulturelle Besonderheiten, ländliche Idyllen, überkommene Wertordnungen erbarmungslos hinweggeht."

I. Fetscher, Aufklärung über Aufklärung, in: A. Honneth / T. McCarthy / C. Offe / A. Wellmer (Hg.),

Zwischenbetrachtungen, Frankfurt/M. 1989, S. 668. 2. Die postmoderne Position (Odo Marquard) spricht

von der Toleranz gegenüber allen kulturellen Besonderheiten, weil die Geisteswissenschaften nichts mit

den Erkenntnisansprüchen "im Sinne der Theoriebildung, ja des argumentativ erzielten Konsenses" zu tun

haben, sondern als Beruhigungs- und Entspannungsmittel funktionieren. I. Fetscher, a.a.O., S. 669. 3. Die

Kritische und kommunikative Theorie (besonders bei Habermas): Anders als die zweite Position geht

Habermas davon aus, daß die Toleranz gegenüber der Vielheit und die Bereitschaft, den Konsens

erreichen zu wollen, voneinander unterschieden sind. Wenn diese Bereitschaft zum Konsens wirklich

ernst gemeint ist, kann sie sich nach ihm auf die Wahrheit und die Verbindlichkeit von Normen richten.

Habermas sieht die Möglichkeit des ungezwungenen Konsenses in der kommunikativen Vernunft

gegeben, d. h. die kommunikative Vernunft besteht in "der Bereitschaft, sich auf eine symmetrische

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Geisteswissenschaften von "Erkenntnisansprüchen im Sinne der Theoriebildung, ja des

argumentativ erzielten Konsenses" zu befreien und im Namen einer 'Kultur der

Vieldeutigkeit' die "Toleranz gegenüber allen kulturellen Besonderheiten" gelten zu

lassen.

Habermas geht aber davon aus, daß die Toleranz gegenüber der Differenz niemals den

Verzicht auf die Bereitschaft des Subjekts bedeutet, einen Konsens erreichen zu wollen.

Dennoch kritisiert Habermas die Aufklärung sehr stark. Die aufgeklärte, instrumentelle

Vernunft habe zwar zur Emanzipation der Individuen von der traditionellen Autorität

beigetragen, aber sie sei vielfach zu einem 'neuen Mythos', d. h. zur

Selbstgeschlossenheit der instrumentellen Vernunft, oder zu "einer zur Totalität

aufgespreizten instrumentellen Vernunft"TPF

24FPT geworden. Die auf instrumentelle Vernunft

gestützte Macht ist grenzenlos, so daß Menschen souverän, ohne Rücksicht auf Grenzen

mit der äußeren Natur wie mit der eigenen umgehen können. Aber in dem

Aufklärungsvorgang zeigt sich, daß die Vergrößerung und die Vertiefung von

naturwissenschaftlich-technischen Erkenntnissen, durch welche die Naturbeherrschung

der Menschen erleichtert werden kann, fast nichts mit der Herstellung freier

Lebensbedingungen für Menschen zu tun haben kann.

Es ist allerdings sehr merkwürdig, daß Habermas dort erneut von der Aufklärung spricht,

wo die Idee der Aufklärung völlig gescheitert zu sein scheint. Er fordert, daß "eine

bornierte Aufklärung über sich selbst aufgeklärt werden muß".TPF

25FPT Denn die Aufklärung

ist, wie die Moderne, nichts anderes als eine Tätigkeit der Selbsterneuerung. In einem

Interview sagt er folgendes:

''Es geht um die Frage, [...] ob sich [...] das Projekt einer Befreiung aus

selbstverschuldeter Unmündigkeit schon definitiv erledigt hat.''TPF

26FPT

Dies deutet an, daß er den Geist der Aufklärung und deren Wirklichkeit voneinander

unterscheidet und jenen erneut ins Leben zurückrufen will; die Wirklichkeit der

Aufklärung scheint ins 'Meer der Kontingenzen' zu fallen, in dem das Projekt der

Aufklärung, das in der Suche nach einer vernünftigen Einheit besteht, völlig vernichtet Diskurs-Teilhabe an der auf diesem Wege erreichbaren konsensuellen Findung von Normen einzulassen".

I. Fetscher, a.a.O., S. 670.

TP

24PT NU, S. 134.

TP

25PT J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/M. 1988 (=ND), S. 135.

TP

26PT NU, S. 134.

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51

werden könnte. Aber es gibt gar keinen Grund, daß man den Geist der Aufklärung

aufgeben muß. Den Geist der Aufklärung findet Habermas vor allem bei Kant, der von

vielen Modernitätskritikern als die Person angesehen wird, die für ''eine bornierte

Aufklärung'' verantwortlich sei. Auch die gerade oben zitierte Aussage von Habermas

hat ihre Quelle in einer berühmten Schrift von Kant Beantwortung der Frage: Was ist

Aufklärung? von 1784.

''Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten

Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes

ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese

Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht im Mangel des Verstandes,

sondern der Entschließung des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines

anderen zu bedienen. Sapere aude! Hab Mut, dich deines eigenen

Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.''TPF

27FPT

Außerdem schließt Kant in einem anderen Aufsatz von 1796 diese Aufklärung an das

'Selbstdenken' an.

''Selbstdenken heißt den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d.

i. in seiner eigenen Vernunft) suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu

denken, ist die Aufklärung.''TPF

28FPT

Es ist hier auffällig, daß Kant die Aufklärung sowohl an den 'Mut' für die Befreiung aus

der selbstverschuldeten Unmündigkeit als auch an das 'Selbstdenken' anschließt. Dies

zeigt, daß Kant die Aufklärung nicht bloß in dem reinen Denken, d. h. in der 'res

cogitans', ansiedelt, sondern daß er auch den konkreten Menschen berücksichtigt.TPF

29FPT Die

negativen Erscheinungen in der Realität deuten nach diesem Gedanken lediglich darauf

hin, daß die Menschen noch in der Unmündigkeit geblieben sind und insofern ihre

Selbstreflexion, d. h. der Aufklärungsvorgang weitergeführt werden kann und soll. TP

27PT I. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784), in: ders., Ausgewählte kleine Schriften,

Hamburg 1969, S. 1. Hervorhebung im Original.

TP

28PT I. Kant, Was heißt: Sich im Denken orientieren? (1796), in; ders., Ausgewählte kleine Schriften, a.a.O.,

S. 26. Hervorhebung im Original.

TP

29PT Diese Interpretation verdankt sich der oben behandelten Abhandlung von I. Fetscher. Siehe besonders I.

Fetscher, Aufklärung über Aufklärung, a.a.O., S. 654.

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52

Habermas nimmt diesen Gedanken Kants als den Geist der Aufklärung auf, d. h. er geht

in diesem Zusammenhang davon aus, daß die Grundfrage einer sich selbst

vergewissernden Moderne unter den veränderten Bedingungen der Gegenwart

wiederholt werden soll.TPF

30FPT In dieser Hinsicht interpretiert er die Aufklärung nicht als eine

sich innerhalb der reinen Vernunft bewegende, sondern als eine den konkreten

gesellschaftlichen Zustand reflektierende Tätigkeit. Es handelt sich bei der Aufklärung

nach Habermas um die wechselseitige Beziehung zwischen der konkreten Wirklichkeit

der Menschen und der transzendentalen Fähigkeit der Vernunft. Habermas konkretisiert

diese Vorstellung in dem Ausdruck 'schwache Transzendentalität' oder 'Halb-

Transzendenz'. Diese Begriffe deuten an, daß sich die Aufgabe von Aufklärung und

vernünftigem Selbstdenken mit dem Wandel des Selbstverständnisses des Menschen,

mit der Erweiterung des Wissens 'über uns selbst' ändern können muß.

In der Frage nach der Aufklärung ist der Kern der Habermasschen Kritik an Kant, daß

dieser den Geist der Aufklärung nicht gründlich entwickelt habe. Obwohl 'der Ausgang

des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit' auf das konkrete Leben des

Menschen hinweist, endet Kant mit dem Selbstbezug der reinen Vernunft, der sich

später zur instrumentellen Vernunft im Sinne der Geschlossenheit der Vernunft und

daher deren Diktatur entwickeln wird. Zwischen intelligibler und empirischer Welt, mit

der alten metaphysischen Sprache gesagt, zwischen Form und Inhalt, liegt ein

unüberbrückbares transzendentales Gefälle. Der empirische Inhalt läßt sich durch die

vernünftige Form nicht erfassen und die intelligible Welt wird nur innerhalb des

Selbstbezugs der reinen Vernunft begriffen. "Dem transzendentalen Denken ging es um

einen festen Bestand an Formen, zu dem es erkennbare Alternativen nicht gibt."TPF

31FPT Hier

gibt es keine letzte Instanz, einer vernünftigen Einsicht eine reale Geltung zu

garantieren.

Was Habermas hier vorhat, ist folglich, diese getrennten Welten in eine Einheit zu

bringen, d. h. die reale Gültigkeit einer vernünftigen Einsicht zu rekonstruieren. Um

diese Aufgabe zu erfüllen entwickelt er die Theorie des kommunikativen Handelns, die

auf der im engen Zusammenhang mit der Analyse der Umgangssprache stehenden

kommunikativen Vernunft basiert. Die kommunikative Vernunft darf deswegen weder

eine transzendentale Vernunft sein, die, da sie sich nur auf sich bezieht, keine wirkliche

Verbindlichkeit hat, noch darf sie eine bloße Fähigkeit des Menschen sein, die keinen

TP

30PT Vgl. NU, S. 131.

TP

31PT J. Habermas, Die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen, in: ND, S. 179.

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Bezug zur Realität ermöglicht. Sie ist vielmehr so beschaffen, daß sie sich auf ihr

Anderes, d. h. auf die Realität bezieht.

Habermas sieht in dem Phänomen der Sprache eine Möglichkeit einer derartigen

Vernunft, die sich auf die gegenseitige Verständigung richtet. Der Ausgangspunkt

seiner Theorie ist die Intuition, "daß in sprachliche Kommunikation ein Telos von

gegenseitiger Verständigung eingebaut ist."TPF

32FPT Und er sagt in gleicher Hinsicht: "[...] für

alles, was innerhalb sprachlich strukturierter Lebensformen Geltung beansprucht, bilden

die Strukturen möglicher Verständigung ein Nicht-Hintergehbares."TPF

33FPT Er ist also der

Meinung, daß das Projekt der Aufklärung, das alles der vernünftigen Prüfung unterwirft,

durch die sprachliche Wende ermöglicht wird.

Habermas ist hierbei von der Sprechakttheorie beeinflußt, die davon ausgeht, daß man,

um eine Sache oder Äußerung besser zu verstehen, nicht nur die Analyse der als wahr

oder falsch zu beurteilenden Propositionen behandeln, sondern auch die

Sprechsituationen berücksichtigen muß. Der Sprachpragmatik zufolge versteht man

einen Sprechakt, wenn man weiß, was ihn akzeptabel macht. Die Akzeptabilität wird

bei der Sprachpragmatik nicht im objektivistischen Sinne aus der Perspektive eines

Beobachters definiert, sondern aus der performativen Einstellung der

Kommunikationsteilnehmer.

Habermas übernimmt von dieser Theorie vor allem die Aufteilung der Sprechakte in

einen propositionalen Inhalt und eine performative Kraft.TPF

34FPT Jener steht in der Beziehung

auf Sachverhalte und kann mit Hilfe der klassischen Wahrheitssemantik als wahr oder

falsch beurteilt werden. Aber die performative Komponente, wie sie sich in der Form

von Befehlen, Aufforderungen, Behauptungen und Versprechen etc. zeigt, ist

unmittelbar auf die Kommunikation bezogen. Sie richtet sich an einen Adressaten und

konstituiert zwischen ihm und dem Sprecher eine kommunikative Beziehung. Ein

Sprecher sagt mit einem Sprechakt nicht nur etwas über etwas aus, sondern er

verdeutlicht zugleich auf einer kommunikativen Ebene den Status oder den

kommunikativen Modus seiner Äußerung. Er verdeutlicht gegenüber einem Ko-Subjekt,

ob er beispielsweise den propositionalen Inhalt als wahr behauptet oder ihn bestreitet,

ob er vom Adressaten fordert, daß dieser den Sachverhalt verwirklicht (Befehl,

TP

32PT J. Habermas, Dialektik der Rationalisierung, in: NU, S. 173.

TP

33PT ND. 179f.

TP

34PT Die nähere Betrachtung befindet sich in dem IV. Kapitel dieser Arbeit.

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54

Aufforderung) oder selbst dafür einsteht, daß der genannte Sachverhalt zustande kommt

(Versprechen).

Habermas versucht diesen kommunikativen, prinzipiell hörerbezogenen Aspekt

sprachlicher Äußerungen terminologisch mit dem Begriff eines Geltungsanspruches

(auf die Wahrheit des propositionalen Bestandteils, die Rechtmäßigkeit der gewählten

illokutionären Rolle und die Wahrhaftigkeit seiner Äußerung) auszudrücken. So

verstanden ist der Sprechakt eine Art Angebot an den Hörer, der dieses akzeptieren oder

hinsichtlich der diversen Geltungsansprüche zurückweisen kann. Die performative

Komponente hat auch etwas mit den Möglichkeiten eines Einverständnisses zwischen

dem Sprecher und dem Hörer zu tun. Mit der Äußerung verdeutlicht der Sprecher

zugleich, auf welche Weise er mit dem Hörer ein Einverständnis über etwas erzielen

möchte, das durch den propositionalen Inhalt spezifiziert wird.

In der Sprechakttheorie sieht Habermas also die Möglichkeit einer rationalen

Verbindung zwischen empirischer und vernünftiger Wirklichkeit, mit seinen Worten,

eine Möglichkeit eines 'unverkürzten Begriffs der Vernunft', d. h. der Weiterführung des

ursprünglichen Projekts der Aufklärung. Dieser Theorie zufolge begleiten einerseits alle

wirklichen Aussagen die kommunikativ-vernünftigen Anforderungen der

entsprechenden Geltungsansprüche, und andererseits bewegt sich die Kommunikation

immer um das rational motivierte Einverständnis des Sprechers und des Hörers. Mit

anderen Worten, es geht bei dem Sprechakt nicht um die Subjektivität, sondern um die

Intersubjektivität.

In diesem Sinne nennt Habermas den Begriff der kommunikativen Vernunft "einen

schwachen, aber nicht defaitistischen Begriff sprachlich verkörperter Vernunft."TPF

35FPT Und

vom traditionellen 'emphatischen Vernunftbegriff' aus betrachtet, nach dem das Subjekt

die "Arbeit der weltbildenden Synthesis" leisten muß, TPF

36FPT erscheint nach Habermas die

kommunikative Vernunft sogar als eine 'skeptische' Vernunft. Den Grund dafür, daß er

diesen 'emphatischen Vernunftbegriff' strikt ablehnt, gibt er im folgenden Zitat an:

"Eine Theorie, die uns die Erreichbarkeit eines Vernunftideals vorgaukelt,

würde hinter das von Kant erreichte Argumentationsniveau zurückfallen."TPF

37FPT

TP

35PT ND, S. 182.

TP

36PT Ebd.

TP

37PT A.a.O., S. 184.

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55

Die Aufklärung hat längst in den Ideen der Emanzipation, d. h. des selbstbewußten

Lebens, der authentischen Selbstverwirklichung und der Autonomie seinen Ausdruck

gefunden. Die Theorie des kommunikativen Handelns, die er mit der sprachlichen

Wende erreicht hat, faßt Habermas mit Blick auf das Projekt der Aufklärung im

Folgenden zusammen:

''Aus der Analyse notwendiger Bedingungen von Verständigung überhaupt

läßt sich wenigstens die Idee einer unversehrten Intersubjektivität

entwickeln, die eine zwanglose Verständigung der Individuen im Umgang

miteinander ebenso ermöglichen würde wie die Identität eines sich

zwanglos mit sich selbst verständigenden Individuums. Unversehrte

Intersubjektivität ist der Vorschein von symmetrischen Verhältnissen freier

reziproker Anerkennung. Diese Idee darf aber nicht zur Totalität einer

versöhnten Lebensform ausgemalt und als Utopie in die Zukunft geworfen

werden; sie enthält nicht mehr, aber auch nicht weniger, als die formale

Charakterisierung notwendiger Bedingungen für nicht antizipierbare

Formen eines nicht-verfehlten Lebens.''TPF

38FPT

TP

38PT A.a.O., S. 185f.

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56

3. Die Auseinandersetzung mit der subjektivistischen Vernunft

Habermas geht, wie die meisten Aufklärungskritiker, davon aus, daß die Bewußtseins-

oder Subjektsphilosophie für die autoritären Züge einer 'bornierten Aufklärung'

verantwortlich ist. Die moderne Subjektivität, die als das sich auf sich beziehende

Subjekt bezeichnet wird, wird nur um den Preis der Objektivierung der äußeren wie der

eigenen inneren Natur gewonnen. Die Subsumtion eines Objekts unter das Subjekt ist

aber nichts anderes als ein Ausdruck eines überzogenen idealistischen Anspruches, der

in einer 'Selbstüberforderung und Hypostasierung' der Vernunft besteht. Denn die

Selbstbeziehung des Subjekts wird durch den ständigen Angriff der Objektivität gegen

das Subjekt entweder bezweifelt oder negiert. Gerade deswegen begreift Habermas die

Idee der modernen Subjektivität als eine "tiefgreifende Selbstillusionierung" der

Vernunft.TPF

39FPT

''Weil sich das Subjekt im Erkennen und Handeln, nach außen wie nach

innen, stets auf Objekte beziehen muß, macht es sich noch in den Akten, die

Selbsterkenntnis und Autonomie sichern sollen, zugleich undurchsichtig und

abhängig. Diese in die Struktur der Selbstbeziehung eingebaute Schranke

bleibt im Prozeß der Bewußtwerdung unbewußt. Daraus entspringt die

Tendenz zur Selbstverherrlichung und zur Illusionierung, d. h. zur

Verabsolutierung der jeweiligen Stufe der Reflexion und der

Emanzipation.''TPF

40FPT

Die 'tiefgreifende Selbstillusionierung' der bewußtseinsphilosophischen Vernunft besagt

also, daß diese trotz ihrer emanzipatorischen Befreiung von der substantiellen Autorität

am Ende paradoxerweise mit der Produktion einer anderen Autorität endet, die eine

'unangreifbarere Herrschaft der Rationalität' feststellt. Daraus ergibt sich, daß das

Projekt der Aufklärung durch das subjektphilosophische Paradigma nicht erreicht

werden kann trotz der Umdeutung und Erweiterung des Begriffs der Subjektivität bei

den Verteidigern der modernen Vernunft, wie z. B. bei D. Henrich, L. Ferry und M.

Frank. Aus diesem Grund bezweifelt Habermas, daß es möglich sei, vom Prinzip der

Subjektivität Maßstäbe gewinnen zu können, "die der modernen Welt entnommen sind TP

39PT PDM, S. 70.

TP

40PT Ebd.

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57

und gleichzeitig zur Orientierung in ihr, das heißt aber auch zur Kritik einer mit sich

selbst zerfallenen Moderne taugen".TPF

41FPT

Von daher ergibt sich für Habermas, der das Projekt der Emanzipation durch den

vernünftigen Diskurs weiter führen will, die schwierige philosophische Aufgabe, von

der Autonomie des Subjekts zu sprechen und gleichzeitig die Tatsache des Objektes

nicht zu negieren. Diese Aufgabe bezieht sich, sozialphilosophisch gesagt, auf die Frage,

wie es möglich ist, daß wir uns zugleich als selbstbewußte und autonom handelnde

Individuen denken können und uns doch eingebunden wissen in eine Form der

Gesellschaft, die gerade diese Entwicklung erst ermöglicht. Es ist also für Habermas vor

allem notwendig, die 'Begriffszwänge der Subjektsphilosophie' zu entschärfen, denen

das Subjekt wegen ihres Schemas der Trennung von Subjekt und Objekt begegnet.

Anders gesagt, der Ausgangspunkt seiner philosophischen Aufgabe ist die

Auseinandersetzung mit der Bewußtseinsphilosophie. Es geht nun darum zu sehen,

welche Inhalte diese Philosophie hat.

Das Problem der modernen Philosophie liegt nach Habermas darin, daß sich die

moderne Subjektivität trotz ihrer ursprünglichen Begrenztheit zum Prinzip der absoluten

Einheit erhebt. Es handelt sich deswegen z. B. bei dem modernen erkennenden Subjekt

um den Versuch, im Bewußtsein seiner endlichen Kräfte unendliche Kraft zu erlangen,

wie Kant in seiner Erkenntnistheorie zeige, welche in der Umdeutung des endlichen

Erkenntnisvermögens zu transzendentalen Bedingungen einer ins Unendliche

fortschreitenden Erkenntnis bestehe.TPF

42FPT Habermas sieht eine typische Form des Begriffs

der Subjektivität in der Fichteschen Philosophie verwirklicht, deren Ausgangspunkt das

Sich-Setzen des absoluten Ich ist: Das Ich wird seiner selbst nur habhaft und setzt sich

selbst, ''indem es […] ein Nicht-Ich setzt und dieses als das vom Ich Gesetzte

schrittweise einzuholen versucht.''TPF

43FPT Habermas bezieht diesen Akt des vermittelten Sich-

Setzens auf drei verschiedene Aspekte, die von der Idee der Subjektivität bestimmt

werden: den Prozeß der Selbsterkenntnis, den Vorgang der Bewußtwerdung und den

TP

41PT A.a.O., S. 31.

TP

42PT Habermas zitiert die folgende Aussage von Dreyfus und Rabinow über die Aporie der modernen

Subjektivität: "Modernity begins with the incredible and ultimately unworkable idea of a being who is

sovereign precisely of being enslaved, a being whose very finitude allows him to take the place of God." J.

Habermas, a.a.O., S. 307.

TP

43PT A.a.O., S. 308.

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58

Bildungsprozeß, also auf das Selbstbewußtsein, die Selbstbestimmung und die

Selbstverwirklichung.TPF

44FPT

Seine Kritik an der Subjektsphilosophie fokussiert sich daher auf diese drei Aspekte der

Subjektivität, die wegen des Schemas der Trennung von Subjekt und Objekt die drei

entsprechenden Gegensätze mit sich bringen. Habermas benennt die jenen Aspekten der

Subjektivität entsprechenden Gegensätze wie folgt: Der Gegensatz besteht 1) zwischen

dem Transzendentalen und Empirischen, 2) zwischen dem reflexiven Akt des

Bewußtmachens und dem reflexiv Uneinholbaren, Unvordenklichen, und 3) zwischen

dem apriorischen Perfekt eines immer schon vorausliegenden Ursprungs und dem

adventistischen Futur der noch ausstehenden Wiederkehr des Ursprungs.TPF

45FPT

1) Eine Illusion der Subjektphilosophie besteht in der Annahme, daß alle Gegenstände

objektiviert werden können. Diese Illusion resultiert daraus, daß die Subjektphilosophie,

sei es in der Erkenntnistheorie oder in der Praxis, vom Paradigma der Erkenntnis von

Gegenständen ausgeht, das als Denkmodell der Trennung von Subjekt und Objekt

bezeichnet wird. Das erkennende Subjekt objektiviert sich selbst sowie die Entitäten in

der Welt, also alles, was ihm begegnet. Das bedeutet, daß das Subjekt als "das

beherrschende Gegenüber zur Welt im ganzen"TPF

46FPT betrachtet wird in dem Sinne, daß es

dem Gegenstand die Objektivität verleiht.

Das Problem ist hierbei, daß das Subjekt auch sich selbst objektiviert. Das Subjekt ist

hier nichts anderes als eine in der Welt 'vorkommende Entität'. Anders gesagt, in dieser

objektivierenden Einstellung erscheint das erkennende Subjekt nicht nur als eine

transzendentale Kraft, die die Erfahrung ermöglicht, sondern auch als ein bloßes Objekt

in der Welt. Das Subjekt wird also als Schöpfer der Objekte einerseits und als ein

Objekt in der Welt andererseits behandelt. Daher ist es bei der Subjektphilosophie eine

der wichtigsten philosophischen Aufgaben, das Verhältnis zwischen objektiviertem oder

empirischem und transzendentalem Subjekt zu klären.

Die Kritik von Habermas an der objektivierenden Einstellung ist, daß bei dem

erkennenden Subjekt eine unversöhnbare Verdoppelung "zwischen der extramundanen

Stellung des transzendentalen und der innerweltlichen des empirischen Ich" TPF

47FPT

unvermeidbar und darüber hinaus eine Vermittlung dazwischen nicht möglich ist.

TP

44PT Ebd.

TP

45PT A.a.O., S. 307f.

TP

46PT A.a.O., S. 347.

TP

47PT Ebd.

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59

Dieser Gedanke geht davon aus, daß das Subjekt niemals eine Stellung des reinen

Beobachters, d. h. eine extramundane Stellung, haben kann, insofern es in der

Lebenswelt lebt, der es sich nicht entziehen kann.

Nach Habermas ist der einzige Weg, dieses Problem zu vermeiden, der

Paradigmenwechsel von der Erkenntnis von Gegenständen zur Verständigung zwischen

sprach- und handlungsfähigen Subjekten. Das sprech-handelnde Subjekt hat die

Perspektive der Beteiligten, die dadurch entsteht, daß diese auf die Handlungen und

Äußerungen ihrer Kommunikationspartner reagieren. Hier geht es also um die

performative Einstellung von Interaktionsteilnehmern, die durch die Koordinierung

ihrer Handlungspläne die intersubjektive Verständigung über etwas in der Welt suchen.

Die Interaktionsteilnehmer können während einer konkreten Beteiligung an einem

Diskurs bestimmte transzendentale Regel rekonstruieren, die von allen Subjekten

befolgt werden sollen.

Die performative Einstellung konkretisiert sich nach Habermas vor allem in den

rekonstruktiven Wissenschaften, in denen gelungene oder verzerrte Äußerungen von

Beteiligten an Interaktionen analysiert werden und dadurch das vortheoretische

Regelwissen von Subjekten explizit wird, während die objektivierende Einstellung in

der intuitiven Analyse des Selbstbewußtseins besteht. Habermas sieht u. a. in dem

genetischen Strukturalismus von Jean Piaget ein gutes Beispiel für die rekonstruktive

Wissenschaft. Nach Habermas kann die rekonstruktive und empirische Annahme in eine

Theorie zusammengefügt werden.TPF

48FPT Bei solchen Rekonstruktionsversuchen handelt es

sich also nicht mehr um "ein Reich des Intelligiblen jenseits der Erscheinungen",

sondern um "das tatsächlich praktizierte Regelwissen, das sich in den regelrecht

generierten Äußerungen niederschlägt."TP

F

49FPT Von daher entsteht hier keine ontologische

Trennung zwischen Transzendentalem und Empirischem.

2) Eine andere Illusion der Subjektphilosophie ist, daß das erkannte Objekt vollständig,

klar und deutlich im Bewußtsein vorhanden sein könne. Der Grund dieser Illusion liegt

in dem Wunsch des erkennenden Subjekts, alles nur dunkel Erkannte in vollständig

Begriffenes zu verwandeln. Es ist allerdings fraglich, ob ein reflexiv nicht aufklärbares,

immer schon gegebenes Sein vollständig transparent ins Bewußtsein übergehen kann.

Die Psychoanalyse Freuds beschäftigt sich mit dieser Frage: Dieser vertritt nicht nur die

TP

48PT Vgl. J. Habermas, Rekonstruktive vs. verstehende Sozialwissenschaften, in: ders., Moralbewußtsein und

kommunikatives Handeln, Frankfurt/M. 1983, 29ff.

TP

49PT PDM, S. 348.

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60

These, daß das undurchsichtige Unbewußte niemals vollständig ins klare Bewußtsein

gehoben werden kann, sondern er behauptet auch, daß das Bewußtsein sogar nur eine

'Eisbergspitze' des Unbewußten sei. Die Psychoanalyse dreht daher das traditionelle

Verhältnis zwischen dem Bewußtsein und dem Unbewußten um.

Für Habermas ist die Psychoanalyse ein gutes Beispiel, das zeigt, daß die

Subjektphilosophie nicht umhinkann, in ein Spannungsverhältnis zwischen dem

Bewußten und dem Unbewußten zu geraten:

"Hier schwankt […] das subjektphilosophische Denken hin und her

zwischen der heroischen Anstrengung, An-Sich-Seiendes reflexiv in Für-

Sich-Seiendes zu verwandeln, und der Anerkennung eines opaken

Hintergrundes, der sich der Transparenz des Selbstbewußtseins hartnäckig

entzieht."TPF

50FPT

Von daher besteht für die Subjektphilosophie ein unauflösbarer Gegensatz zwischen

'Selbsttransparenz und Opazität'. Wenn man akzeptiert, daß die Subjektphilosophie

dieses Problem nicht lösen kann, muß man, besonders wenn man die Aufklärung

verteidigen will, auf die Frage antworten, wie man 'den opaken Hintergrund' anerkennen

und gleichzeitig mit dem Licht der Vernunft erhellen kann.

Habermas geht hier wieder vom Verständigungsparadigma aus, durch das allein die

Vermittlung zwischen beiden Faktoren möglich ist. Die Verständigung zwischen den

Interaktionsteilnehmern geht innerhalb des Horizonts ihrer gemeinsamen Lebenswelt

vonstatten, der sie z. B. bei ihren Interpretationsanstrengungen konsentierte

Deutungsmuster entnehmen. Die Lebenswelt dient den Beteiligten mal als kultureller

Wissensvorrat, aus dem sie 'konsensfähige Interpretationen' gewinnen können, mal als

gesellschaftliche legitime Ordnung, in der sie eine Solidarität mit anderen erfahren

können, und mal als persönliche Kompetenz, ihre Identität behaupten zu können. So

bleibt die Lebenswelt den Teilnehmern als "ein intuitiv gewußter, unproblematischer

und unzerlegbarer holistischer Hintergrund im Rücken" TPF

51FPT und kann daher nicht

thematisiert werden. Aus der Interaktionsperspektive erscheint jedes beteiligte Subjekt

nicht mehr als der mit Hilfe zurechenbarer Handlungen Situationen bewältigende

Urheber, sondern als das Produkt der kulturellen Überlieferungen, der solidarischen

TP

50PT Ebd.

TP

51PT Ebd.

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61

Gruppen sowie der persönlichen Sozialisationsprozesse.TPF

52FPT Die Lebenswelt ist für

Habermas nichts anderes als ein anderer Name für den opaken Hintergrund der

Interaktionen der sprech-handelnden Subjekte. Habermas bewahrt den Gedanken des

Unbewußten Freuds gerade in dem Begriff der Lebenswelt, in der sich die

Interaktionsteilnehmer bewegen.

Aber Habermas darf als Verteidiger des Projektes der Aufklärung bei diesem Resultat

nicht stehen bleiben, wenn er wirklich von einer Autonomie des Subjekts sprechen will.

Er lernt von der Psychoanalyse, wie die Selbstkritik die Autonomie eines Subjekts

wiederherstellen kann. Die Psychoanalyse zielt auf die Wiedergewinnung der

Selbständigkeit des Patienten ab. Dieser hebt durch die analytischen Gespräche mit dem

Arzt seine Pseudonatur unbewußt motivierter Wahrnehmungsschranken und

Handlungszwängen auf und gewinnt dadurch die Fähigkeit der Selbstkritik. Habermas

geht davon aus, daß, obwohl das Subjekt einerseits Produkt der Lebenswelt ist, es

andererseits die Reflexionsfähigkeit hat, gegebene Situation zu transzendieren. Die

Reflexion bedeutet hier daher nicht die vorsprachlich-einsame Reflexion des sich

objektivierend auf sich beziehenden Erkenntnissubjekts, sondern die Selbstbeziehung

des sprech-handelnden Subjekts, das sich im argumentativen Diskurs mit anderen auf

sich selbst bezieht. Daher richtet sich diese Reflexion immer nur gegen einzelne

Situationen, nicht gegen die Lebenswelt im Ganzen. Anders gesagt, die kommunikative

Reflexion ist eine Fähigkeit des Subjekts, bei jedem konkreten Diskurs bestimmte

Geltungen in Anspruch zu nehmen, die hier und jetzt erhoben werden und trotzdem

jeden lokalen Kontext transzendieren müssen, um das koordinationswirksame

Einverständnis der Interaktionsteilnehmer zu tragen. Dies bedeutet, daß die Beteiligten

an einer Argumentation wechselseitig Bedingungen einer idealen Sprechsituation

hinreichend erfüllen, jedoch gleichzeitig von den ausgeblendeten Motiven und

Handlungszwängen niemals vollständig abstrahieren können.

Habermas ist also der Meinung, daß innerhalb des intersubjektiven

Verständigungsparadigmas die subjektphilosophische Aporie zwischen Opazität und

Transparenz des Subjekts nicht entsteht. Anders als "hybride Theorien" der

Subjektphilosophie, "die Widersprüche gewaltsam auflösen",TPF

53FPT gibt es bei Habermas

nur eine rationale Nachkonstruktion und eine methodisch durchgeführte Selbstkritik.

Jene "verschreibt sich dem Programm des Bewußtmachens, richtet sich aber auf

TP

52PT A.a.O., S. 349.

TP

53PT A.a.O., S. 350.

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62

anonyme Regelsysteme und nimmt nicht auf Totalitäten Bezug".TPF

54FPT Demgegenüber

bezieht sich diese "auf Totalitäten, jedoch in dem Bewußtsein, daß sie das Implizite,

Vorprädikative, Nichtaktuelle des lebensweltlichen Hintergrundes niemals ganz wird

aufklären können."TPF

55FPT

3) Die letzte Illusion der Subjektphilosophie, die Habermas kritisch behandelt, ist die

Idee einer causa sui in dem Sinne, daß das Subjekt in Bezug auf seine Handlungen und

in Bezug auf die Geschichte als eine ursprünglich schöpferische Kraft aufgefaßt wird.

Nach dieser Idee verursacht das Subjekt die Geschichte bewußt und absichtsvoll, d. h.

die Geschichte ist nichts anderes als ein Prozeß der Selbsterzeugung (sei es des Geistes

oder der Gattung). Aber die Machttheorie Foucaults z. B., die davon ausgeht, daß die

Geschichte von nicht-subjektiven oder nicht-vernünftigen Kräften bestimmt wird und

daher eine systematische oder einheitliche Auffassung über sie nicht möglich ist, stellt

die Rolle des Subjekts in Frage. Hier stellt sich die Frage, ob das Subjekt ein

ursprünglich schöpferischer Aktor ist oder ob es nur von fremden Kräften abhängig ist.

Habermas ist in diesem Zusammenhang der Meinung, daß die Subjektphilosophie den

Gegensatz von 'Ursprünglichkeit und Abhängigkeit' des Subjekts nicht auflösen kann.

Anders gesagt, sie schwankt hin und her "zwischen der Konzeption der Weltgeschichte

als eines Prozesses der Selbsterzeugung [des Subjekts] einerseits und andererseits der

Konzeption eines unvordenklichen Geschicks, das durch die Negativität von Entzug und

Entbindung die Macht des verlorenen Ursprungs fühlbar macht."TPF

56FPT Also ist der

Gegensatz "zwischen der Scylla des Absolutismus und der Charybdis des

Relativismus"TPF

57FPT ein unvermeidliches Schicksal der Subjektphilosophie.

Habermas versucht durch den Paradigmenwechsel zur Verständigung dieses Problem zu

lösen. Die verständigungsorientierte Geschichts- oder Gesellschaftstheorie rekonstruiert

nach ihm nicht nur die Entwicklungslogik und Entwicklungsdynamik, wie dies auch die

Systemtheorie mit dem Konzept des selbstgesteuerten Systems tut; sondern sie bleibt

sich darüber hinaus "ihres eigenen Entstehungszusammenhangs und ihres Standortes im

Kontext unserer Gegenwart bewußt."TPF

58FPT Habermas sieht hier also den Grundgedanken

der Geschichts- oder Gesellschaftstheorie in der gewaltlosen Einheit der Totalität und

der Besonderheit. TP

54PT Ebd.

TP

55PT Ebd.

TP

56PT A.a.O., S. 351.

TP

57PT Ebd.

TP

58PT Ebd.

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63

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64

4. Die Auseinandersetzung mit den radikalen Vernunftkritikern

Habermas' Bemühung, das Projekt der Aufklärung weiterzuführen, wird auch in seiner

Auseinandersetzung mit den radikalen Vernunftkritikern deutlich. Seine Kritik an

diesem Denken besteht vor allem darin, daß ihre Vernunftkritik nicht nur nicht radikal

genug sei, sondern daß ihre Kritik selbst noch dem bewußtseinsphilosophischen

Paradigma verhaftet bleibe. Sein Buch Der philosophische Diskurs der Moderne (1985)

wurde zunächst vor diesem Hintergrund geschrieben. Seine Kritik an den sogenannten

Postmodernisten ist in der folgenden Aussage zusammengefaßt:

"Jedenfalls können wir nicht a priori den Verdacht von der Hand weisen,

daß sich das postmoderne Denken eine transzendente Stellung bloß anmaßt,

während es den von Hegel zur Geltung gebrachten Voraussetzungen des

modernen Selbstverständnisses tatsächlich verhaftet bleibt."TPF

59FPT

In diesem Kapitel werden vor allem seine Auseinandersetzungen mit Derrida und

Foucault behandelt.

4.1. Die Kritik an der Grammatologie Derridas

Unter den Aufklärungskritikern herrscht Einigkeit darüber, daß sich die gegenwärtigen

sozialpathologischen Erscheinungen der Verbreitung der instrumentellen Rationalität

verdanken. Derrida bezieht diese Erscheinungen noch radikaler direkt auf das Wesen

des europäischen Denkens, d. h. auf die Idee des selbstbezogenen Logos. TPF

60FPT Alle

sinnstiftenden Weltanschauungen oder Theorien, wie z. B. die abendländische

Metaphysik, sind nach ihm entgegen ihrer Behauptung gar nicht rein vernünftig, weil

die Vernunft jede Bedeutung nur dadurch konstituiere, daß sie andere Bestandteile des

Seins oder das 'Andere der Vernunft' von sich ausschließt oder unter sich subsumiert.

Derrida versucht aus der bedeutungsvollen Welt auszutreten und "auf einen Ort"

zuzugehen, "der weder ein Nicht-Ort noch eine andere Welt, weder eine Utopie noch

TP

59PT PDM, S. 13.

TP

60PT Siehe zu dieser Problematik den Abschnitt 2.1. des ersten Kapitels in dieser Arbeit.

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ein Alibi ist." TPF

61FPT Während er jene Welt der Bedeutung als 'Präsenz' bezeichnet, da sich

die Bedeutungen in sprachlichen Ausdrücken konkretisieren, bezeichnet er diesen neuen

Ort als ein 'wesentliches Nichts' oder als 'die reine Abwesenheit'. Die

bedeutungsstiftende Metaphysik überhaupt wird die 'Metaphysik der Präsenz' genannt,

weil die Bedeutung nichts anderes ist als das, was die Erfahrung und das Erlebnis des

menschlichen Bewußtseins sprachlich ausdrückt. Von daher bezieht sich die Seinswelt

auf eine Welt des Bewußtseins, des Sprechens, d. h. der Bedeutung. Aus diesem Grund

sieht Derrida 'die Präsenz' als Wesen des Logos, der zunächst als gesprochenes Wort

verstanden wird, und die Metaphysik der Präsenz als einen Logozentrismus an. Das

gesprochene Wort ist ein 'Geschehen', das nur im Augenblick, d. h. in der reinen

Präsenz erscheint und gleich verschwindet, während die von Derrida als Gegensatz des

Wortes verstandene 'stillschweigende Schrift' als die Abwesenheit bezeichnet wird. Die

Reinheit des Erlebnisses, die in der Konstitution des Sinnes im Augenblick des

Sprechens, d. h. in dem 'Sich-Sprechen-Hören' besteht, ist für Derrida nichts anderes als

'die Selbstaffektion' des Logos.

"Er [sc. der Logos] durchquert das Sein im Hinblick auf sich selbst, in der

Ab-Sicht, sich selbst, das heißt, als Logos, sich zu erscheinen, sich selbst zu

benennen und sich selbst zu hören. Er ist Sprechen als Selbstaffektion: ist

das Sich-selbst-sprechen-hören. Er tritt aus sich hinaus, um sich in sich

selbst, in der 'lebendigen Gegenwart' seines Sich-selbst-gegenwärtigseins

wieder zurückzunehmen." TPF

62FPT

Der Kern der Kritik Derridas an der europäischen Philosophie ist also, daß, insofern

diese in der Suche nach der Bedeutung bestehe, sie nur ein Ausdruck des

autoaffektionären Logozentrismus oder der 'Metaphysik der Präsenz' sei. Dieser

Gedanke läßt sich am Beispiel seiner Auseinandersetzung mit Husserl gut verdeutlichen.

Derridas Husserl-Lektüre fokussiert sich auf die Deutung seines 'Evidenzbegriffes der

Wahrheit'. Husserl geht davon aus, daß sich 'die Krisis der europäischen

Wissenschaften', d. h. die Verbreitung der den Sinnverlust des Lebens rechtfertigenden

Wissenschaften dem naturalistischen Forschungsverhalten verdankt. Er will daher durch

die Wiederherstellung der Subjektbezogenheit der Wahrheit diese Krisis bewältigen.

TP

61PT J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1976, S.17. Hervorhebungen im Original.

TP

62PT A.a.O., S. 255.

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66

Aber damit die Philosophie eine 'strenge Wissenschaft' sein kann, auf die er abzielt, darf

die Subjektbezogenheit der Wahrheit nicht eine psychische und bloß subjektive

Gewißheit haben, sondern sie muß objektiv sein. Husserls Phänomenologie versucht als

eine 'strenge Wissenschaft' deshalb, eine objektive Gültigkeit der Erfahrung des

transzendentalen Subjekts zu garantieren. Husserl sieht in dem intendierenden Akt des

transzendentalen Subjekts eine Möglichkeit 'der idealen Objektivität', d. h. der idealen

Identität des intendierenden Subjekts (der Noesis) und des intendierten Objekts (der

Noema).TPF

63FPT

'Die Bedeutung' ist für Husserl ein anderer Name für diese ideale Objektivität, weil sie

an sich jenseits aller Verkörperungen existiert und zugleich als reines Phänomen

erscheint. Die Evidenz der Wahrheit ergibt sich also für Husserl in der

Übereinstimmung des bedeutungsintendierenden Aktes mit dem bedeutungserfüllenden

Akt sowie in der Übersetzbarkeit der subjektiven Intention in den sprachlichen

Ausdruck. Seine folgende Aussage spiegelt diesen Gedanken wider:

"Dies zeigt klärlich der Umstand, daß […] jeder subjektive Ausdruck, bei

identischer Festhaltung der ihm augenblicklich zukommenden

Bedeutungsintention, durch objektive Ausdrücke ersetzbar ist."TPF

64FPT

Husserl gelangt durch eine Analyse des inneren Zeitbewußtseins zu dem Evidenzbegriff

der Wahrheit.TPF

65FPT Nach ihm verdankt sich jede momentane oder sprachlich

auszudrückende Wahrnehmung einer in Begriffen der 'Protention und Retention'

untersuchten Struktur der Wiederholung. Die Intuition, durch die die einfache Präsenz

eines ungeschiedenen, mit sich identischen Gegenstandes, d. h. das Wahrheitsgeschehen,

hervorgerufen wird, besteht im strengen Sinne aus dem Zeitbewußtsein des Vor- und

Rückblicks. Das 'augen-blickliche' Erleben ist also nur möglich dank einem Akt der

Vergegenwärtigung des Subjekts, die Wahrnehmung dank einem reproduzierenden

Wiedererkennen.

Trotz seiner Andeutung, daß die Gegenwart, die Vergangenheit und die Zukunft in

einem Zeitfluß liegen und sich deshalb nicht in verschiedene Zeitpunkte zerteilen TP

63PT E. Husserl, Logische Untersuchungen, in: ders, Husserliana XIX/1, U. Panzer (Hg.), Den Haag 1984, S.

97.

TP

64PT A.a.O., S. 95.

TP

65PT Dies behandelt Derrida besonders in seiner Abhandlung Das Zeichen und der Augen-Blick, in: ders.,

Die Stimme und das Phänomen, Frankfurt/M. 1979, S. 115ff.

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67

können, fundiert er die Wissenschaft in einem absoluten Ursprung. Dieser ist bei ihm

ein ganz bestimmter Begriff des 'Jetzt', der Präsenz als Punktualität des Moments, in

dem die Intuition und Erfahrung des Bewußtseins in eins fallen. In der Phänomenologie

weist die Idee der ursprünglichen Präsenz immer auf diesen 'Quellpunkt' zurück. Trotz

der Kontinuität des Zeitflusses haben nach Husserl ''die Ablaufsmodi eines immanenten

Zeitobjekts einen Anfang [...], sozusagen einen Quellpunkt. Es ist derjenige Ablaufmodi,

mit dem das immanente Objekt zu sein anfängt. Er ist charakterisiert als Jetzt.''TPF

66FPT Der

Grund, daß Husserl zwar die Notwendigkeit der Momente der Andersheit (z. B. der

Vergangenheit und der Zukünftigkeit) beim Wahrheitsgeschehen erkannt hat, aber

dennoch an der gegenwärtigen Wahrnehmung, der Reinheit des Erlebnisses oder der

bloßen Gegenwärtigkeit der Bedeutung festhält, liegt nach Derrida in der

logozentristischen Neigung Husserls, die die europäische Metaphysik im ganzen

durchaus beherrsche. Die Privilegierung des Jetzts zeigt nach Derrida, daß Husserl noch

in der Tradition der 'Metaphysik der Präsenz' steht.

''[...] philosophieimmanent sind keinerlei Einwände gegen diese

Privilegierung der Jetzt-Präsenz möglich.''TPF

67FPT

Der Kern der Kritik Derridas an Husserl ist, daß dieser nicht anerkenne, daß sich die

gegenwärtige Wahrnehmung einem reproduzierenden Erkennen und sich die

Spontaneität des lebendigen Augenblicks der Differenz des zeitlichen Abstandes und

dem Moment der Andersheit verdanken, d. h. daß die in der Intuition vorhandene

Einheit in der Tat nichts anderes als etwas Zusammengesetztes und Produziertes ist.

Als eine alternative Wissenschaft schlägt Derrida die 'Grammatologie' vor, die vor

allem anerkennt, daß der scheinbar absoluten, ursprünglichen Gegenwart schon eine

zeitliche Differenz vorausgeht und ferner diese Differenz für die Reinheit der

gegenwärtigen Bedeutung konstitutiv ist. Derrida geht onto-semiologisch von der

Unterscheidung des Wortes und der Schrift aus. Jenes existiert als ein 'Geschehen', das

mit dem Erscheinen verschwindet, während diese als das existiert, was auf das Zum-

Wort-Werden, d. h. auf die Vergegenwärtigung wartet. Ist jenes die 'Präsenz', dann ist

diese die 'Abwesenheit'. Die Erhebung der Schrift zum wissenschaftlichen Gegenstand

TP

66PT E. Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, in: ders., Husserliana X, R. Boehm

(Hg.), Den Haag 1966, S. 27.

TP

67PT J. Derrida, Die Stimme und das Phänomen, a.a.O., S. 117.

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68

bedeutet also, daß Derrida in der Stellvertreterfunktion des in der Abwesenheit

vorhandenen Zeichens ein geeignetes Modell sieht, das die Struktur der

Vergegenwärtigung sowie die Ursprünglichkeit des Anderen erhellen kann.

In der Tradition der europäischen Wissenschaft ist die Schrift dem Wort untergeordnet

wegen des Gedankens, daß jene nur ein die Laute nachahmendes sekundäres Signifikant

sei. Dieser Gedanke findet sich schon in der Philosophie des Aristoteles:

''Es sind also die Laute, zu denen die Stimme gebildet wird, Zeichen der in

der Seele hervorgerufenen Vorstellungen, und die Schrift ist wieder ein

Zeichen der Laute.''TPF

68FPT

Diese Tradition erstreckt sich bis hin zu F. de Saussure, der als Begründer einer

strukturalistischen Semiologie einen großen Einfluß auf die Entstehung der

Grammatologie Derridas ausübt. Saussure sieht die Semiologie als einen Teil der

Psychologie an, wie es die europäische wissenschaftliche Tradition tut, in der das

Zeichen als ein Abbild der Laute der Seele gilt. In dieser Hinsicht ist das Wort bereits

eine Einheit von Sinn und Laut, Vorstellung und Stimme, oder wie er es ausdrückt, von

Signifikat und Signifikant. Dies ist der Grund, warum er nur 'das gesprochene Wort' als

Gegenstand seiner Linguistik aufnimmt.

''Nicht die Verknüpfung von geschriebenem und gesprochenem Wort ist

Gegenstand der Linguistik; sondern nur das letztere, das gesprochene Wort

allein ist ihr Objekt.''TPF

69FPT

Die Grammatologie wertet in der Zeichenlehre die Rolle der Schrift auf, die seit dem

Anfang der philosophischen Geschichte in den 'Randbereich' der Philosophie gedrängt

wurde.TPF

70FPT Es geht daher bei der Grammatologie um den Versuch zu erörtern, wie die

Schrift, nicht das Wort, der zentrale Ausgangspunkt der Sprachwissenschaft werden

kann. Das Medium der Schrift beseitigt nach Derrida die Aura des Wahrheitsgeschehens

und schafft damit Platz für einen gewissen spielerischen Umgang mit der Wahrheit. Die TP

68PT Aristoteles, Lehre vom Satz. Kategorien. (Organon I/II), Philosophische Bibliothek, Bd. 8, 9, Hamburg

1974, S. 95.

TP

69PT F. Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin 1967, S. 28.

TP

70PT Der Titel seines berühmten Werkes Randgänge der Philosophie (Original: Marges de la philosophie)

von 1988 drückt dieses Problembewußtsein aus.

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69

Schrift existiert unabhängig vom Geist des Autors und vom Atem des Adressaten

ebenso wie von der Präsenz der besprochenen Gegenstände und ermöglicht damit eine

wiederholbare Lektüre eines Textes in beliebig wechselnden Kontexten. Das Wesen der

Schrift besteht für Derrida also in ihrer absoluten Lesbarkeit, die nur durch eine

Abstraktion der lebendigen Bezüge des gesprochenen Wortes möglich ist. ''Jedes

Graphem [sc. jede Schrift] ist seinem Wesen nach testamentarisch.''TPF

71FPT

Die Schrift bietet für Derrida folglich die Möglichkeit, durch die Fixierung von

sprachlichen Inhalten zeitliche und räumliche Abstände zu überwinden und die

Bedeutung der Präsenz zu reproduzieren oder das Erlebnis wiederholt zu ermöglichen.

Er nennt besonders die jeder nachträglichen Fixierung von Lautgestalten vorausliegende

Schrift die 'Urschrift', die trotz der völligen Abwesenheit eines Subjekts und über seinen

Tod hinaus die Entzifferbarkeit eines Textes ermöglicht und seine Verständlichkeit in

Aussicht stellt. Jede Interpretation der Welt wird nur durch die welterschließende

Funktion der Urschrift ermöglicht. Aber die Urschrift erscheint selbst nicht in der Welt,

sie hinterläßt nur in der Verweisungsstruktur der erzeugten Texte ihre Spur.

Die 'Differenz' Derridas unterscheidet sich vom Begriff der Differenz z. B. der

Hegelschen Logik, der dort zusammen mit seinem Gegenteil – dem Begriff der Identität

– erörtert wird. In diesem klassischen Verständnis wird die Differenz der Identität

untergeordnet. Deswegen sucht Derrida einen neuen Namen, der sein Verständnis der

Differenz ausdrücken kann. Das französische Verb 'différer' hat zwei

Grundbedeutungsrichtungen:TPF

72FPT 'suspendieren', 'verzögern' etc. im zeitlichen Sinne und

zugleich 'Anderssein' im räumlichen Sinne. Aber das französische Substantiv dieses

Verbs 'différence' hat nur die letzte Bedeutung. Weil Derrida die zeitliche Differenz

stärker betonen will, muß er einen neuen Begriff kreieren: 'différance', der dadurch

entsteht, daß ein 'a' an die Stelle des 'e' gesetzt wird. Mit diesem Begriff will er sowohl

den räumlichen als auch den zeitlichen Sinn der Differenz zum Ausdruck bringen. Es

gibt bei der Aussprache keinen Unterschied zwischen 'différence' und 'différance'. Der

Unterschied zeigt sich nur in der Schrift. Der Kern der Logik der 'différance' liegt

gerade darin, daß der Unterschied zwischen beiden Begriffen nicht durch den Laut, der

'die Intimität und Durchsichtigkeit' oder 'die absolute Nähe des Ausdrucks' sein soll,

TP

71PT J. Derrida, Grammatologie, a.a.O., S. 120. Diese Passage erinnert die Differenz des Seins und des

Seienden bei Heidegger.

TP

72PT Siehe J. Derrida, Die différance, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien 1988, besonders 33f. und

ders., Grammatologie, a.a.O., S. 44.

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70

sondern allein durch die Schrift zu erkennen ist. Eben in dieser Hinsicht kann man die

Grammatologie als Logik der Différance bezeichnen.

"Sie [sc. die Différance] ermöglicht die Artikulation des gesprochenen

Wortes und der Schrift - im geläufigen Sinne -, wie sie auch den

metaphysischen Gegensatz zwischen Sinnlichem und Intelligiblem und,

darüber hinaus, zwischen dem Signifikanten und dem Signifikat, zwischen

Ausdruck und Bedeutung fundiert."TPF

73FPT

Nach Habermas ist es allerdings fraglich, ob diese Grammatologie die europäische

Metaphysik wirklich überwindet oder ob sie nicht vielmehr noch hinter den Zeitpunkt

zurückkehrt, an dem "einst Mystik in Aufklärung umgeschlagen ist."TPF

74FPT Er ist also der

Ansicht, daß Derrida zwar mit der Kritik der transzendentalen Stellung des Logos

anfängt, aber daß er dann der Schrift dieselbe transzendentale Rolle zuweist und diese

für ihn eine anonyme, geschichtsstiftende Produktivität hat. Daher ist sein Denken noch

einem Fundamentalismus verhaftet, dem er eigentlich entgehen wollte. Der Kern der

Habermasschen Kritik an Derrida ist also, daß dieser als neue Autorität die Schrift sieht

und sich damit letztlich nicht von dem metaphysischen Denken unterscheidet:

"Trotz des veränderten Gestus betreibt auch er [sc. Derrida] am Ende nur

eine Mystifizierung handgreiflicher gesellschaftlicher Pathologien; auch er

entkoppelt das wesentliche, nämlich dekonstruierende Denken von der

wissenschaftlichen Analyse und landet bei der leerformelhaften

Beschwörung einer unbestimmten Autorität. Dies allerdings ist [...] die

Autorität einer [...] Schrift."TPF

75FPT

Diese Kritik von Habermas wird besonders relevant in Hinblick auf die Verbindung der

Grammatologie mit der jüdischen Mystik. Er bezieht sich auf Derridas positive

Aufnahme der jüdischen, mystischen Tradition und sieht eine Verwandtschaft des

Begriffs der Schrift mit der jüdischen Thora.TPF

76FPT Die jüdische Mystik besteht nach

TP

73PT J. Derrida, Grammatologie, a.a.O., S. 110.

TP

74PT PDM. S. 218

TP

75PT A.a.O., S. 214

TP

76PT Um seine These der Verwandtschaft der Schrift Derridas mit der Thora zu bestätigen, bezieht sich

Habermas auf die Derrida-Interpretation von S. Handelmann. Siehe die Anmerkung von PDM, S. 217f.

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71

Derrida im Gedanken der Abwesenheit Gottes und dem Thorazentrismus. TPF

77FPT Nach dieser

Tradition führt der direkte Kontakt des Menschen mit dem Heiligen zum Wahnsinn.

Gott muß daher abwesend sein, um die Menschen zu schützen. Die Thora wurde also als

die Präsenz des abwesenden Gottes verstanden. Derrida zitiert einen von E. Levinas

überlieferten Ausspruch des Rabby Elizer zustimmend:

"Wären alle Meere voller Tinte, alle Teiche mit Schreibrohren bepflanzt,

wären Himmel und Erde aus Pergament und übten alle Menschen die

Schreibkunst aus, sie vermöchten die Thora nicht auszuschöpfen, die ich

studiert habe; wird doch die Thora selbst dadurch nur um so vieles weniger

als das Meer weniger wird, in das eine Federspitze getaucht ward."TPF

78FPT

Derrida will mit diesem Zitat die Unfixierbarkeit der Wahrheit und zugleich die

absolute Interpretationsmöglichkeit der Thora zeigen. Ein Grundgedanke der jüdischen

thorazentristischen Tradition ist folglich, daß sich die Wahrheit nicht in einer

wohlumschriebenen Menge von Aussagen vollständig zeigt und daß die Möglichkeiten,

die Thora zu interpretieren, unausschöpflich sind.

Dieser thorazentristische jüdische Gedanke unterscheidet sich vor allem von der

paulinischen christlichen Tradition, in der die Thora und deren Interpretationen als "tote

Buchstaben" gelten (2. Korinther, 3, 6) und dem lebendigen Geist der unmittelbaren

Gegenwart Christi unterlegen sind. Ein Ziel der Mission des Paulus war deshalb die

Überwindung der jüdischen Tradition, die dem Buchstaben verhaftet sei und den

lebendigen 'Logos' der christlichen Offenbarung nicht erfassen könne.

TP

77PT Genau so wie der Schriftsteller in seinen Schriften nicht anwesend ist, ist Gott in seinen Geschöpfen

nicht anwesend. Er hinterläßt darin nur seine Spur: "Abwesenheit des Schriftstellers ebenfalls. Schreiben

heißt sich zurückzuziehen. Nicht in sein Zelt, um zu schreiben, sondern von seiner Schrift selbst. Weit

von seiner Sprache entfernt auf eine Sandbank zu laufen, sie zu emanzipieren und ihr den Ort zu räumen,

sie allein und entblößt ihres Weges gehen zu lassen. Die Rede sich selbst zu überlassen. Dichter zu sein,

heißt die Rede sein zu lassen. Sie ganz von allein sprechen zu lassen, was sie nur in der Schrift zu tun

imstande ist. […] Die Schrift zu lassen, heißt nur da zu sein, um ihr den Durchgang zu lassen, um das

durchscheinende Element ihres Ausgehens zu sein: alles und nichts. Im Hinblick auf das Werk ist der

Schriftsteller alles und nichts zugleich. Wie Gott auch." J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, a.a.O., S.

109. Hervorhebung im Original.

TP

78PT J. Derrida, Grammatologie, a.a.O., S. 31.

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72

Habermas sieht im Begriff der 'Schrift' Derridas dieselbe Funktion, die die rabbinische

Thora hat. Ist das gesprochene Wort Präsenz, dann ist die [Ur-]Schrift eine abwesende

Präsenz, die die Gegenwärtigkeit der gesprochenen Worte und die sinnvollen

Interpretationen ermöglicht. Die Schrift erschließt daher die absolute Lesbarkeit und die

wiederholte Interpretationsmöglicheit.TPF

79FPT

Die Dekonstruktion Derridas dient deswegen nach Habermas, entgegen seiner eigenen

Absicht, der Wiederherstellung des Diskurses über Gott, der schon mit dem Anfang der

Moderne seine zentrale Bedeutung verloren hat. Die folgende Aussage ist das Fazit

seiner Derrida-Lektüre:

"Derridas grammatologisch eingekreistes Konzept einer Urschrift [...]

erneuert den mystischen Begriff der Tradition als eines hinhaltenden

Offenbarungsgeschehens. Die religiöse Autorität behält nur solange ihre

Kraft, wie sie ihr wahres Antlitz verhüllt und dadurch die Entzifferungswut

der Interpreten anstachelt. Die inständig betriebene Dekonstruktion ist die

paradoxe Arbeit einer Traditionsfortsetzung, in der sich die Heilsenergie

einzig durch Verausgabung erneuert. Die Arbeit der Dekonstruktion läßt die

Schutthalde der Interpretationen, die sie abtragen will, um die verschütteten

Fundamente freizulegen, immer weiter anwachsen."TPF

80FPT

4.2. Die Kritik an der Archäologie und Genealogie Foucaults

Das 'Paradox der Rationalisierung' verdankt sich nach Foucault dem Wesen der

modernen Vernunft selbst, d. h. deren monologischer, diktatorischer Form. Die

Diskurse, die von der modernen Vernunft geleitet werden, wie z. B. die

Geisteswissenschaften, sind nach ihm allein dadurch gekennzeichnet, daß die Vernunft

ihr Anderes, wie z. B. den 'Wahnsinn', von sich ausschließt. Daher enthalten diese

Diskurse eine Art 'Ausschließungsmechanismus' in sich. Foucault geht deswegen davon

aus, daß sich das Wesen des Ausschließenden durch die Erkenntnis des

TP

79PT Darin liegt der Grund, warum Derrida die Welt nicht als ein Buch versteht, das systematisch

konstituiert und abgeschlossen ist, sondern als einen Text, der jeder Interpretation offen ist. Siehe Derrida,

Das Ende des Buchs und der Anfang der Schrift, in: ders., Grammatologie, a.a.O., S. 16ff.

TP

80PT PDM, S. 216. Hervorhebung im Original.

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73

Ausgeschlossenen erhellt und daß das Wesen der Geisteswissenschaft darum nur vom

Standpunkt des Anderen der Vernunft aus betrachtet und nicht aus der Innenperspektive

der Geisteswissenschaften, d. h. mit der diskursiven Vernunft erfaßt werden kann.

Die 'Archäologie' in seiner frühen und die 'Genealogie' in seiner späten Zeit folgen

dieser Grundüberzeugung. Die Archäologie untersucht eigentlich die frühe Geschichte

der Menschheit, indem man die stummen Monumente einer Vorzeit ausgräbt, die

wissenschaftlich noch nicht erhellt wurden. Foucault führt diese Archäologie für die

Analyse und Kritik der modernen Geisteswissenschaften ein, die von der Idee der

Selbstbezogenheit der Vernunft ausgingen. Er entlarvt also in seinem Werk Archäologie

des Wissen, daß die vernunftgeleiteten modernen Geisteswissenschaften völlig von

sinnlosen Fundamenten, d. h. von dem Anderen der Vernunft abhängen. Er geht also,

wie Habermas sagt, "an die Ursprungsorte jener anfänglichen Verzweigung von

Wahnsinn und Vernunft" zurück, "um im Gesprochenen das Ungesagte zu

dechiffrieren." TPF

81FPT

"Man müßte mit aufmerksamem Ohr sich jenem Geraune der Welt zuneigen

und versuchen, die vielen Bilder, die nie in der Poesie ihren Niederschlag

gefunden haben, die vielen Phantasmen wahrzunehmen, die nie Farben des

Wachzustandes erlangt haben."TPF

82FPT

Die Archäologie Foucaults zielt darauf ab, die angebliche Reinheit der Vernunft zu

enttarnen. Er geht dafür in seinem Buch Wahnsinn und Gesellschaft zum

Entstehungspunkt der modernen Vernunft zurück und untersucht deren geschichtliche

Trennung vom Wahnsinn sowie deren allmähliche Monologisierung. Er erforscht diese

Vorgänge nicht in der Vernunft-, sondern in der Wahnsinnsgeschichte wegen seiner

archäologischen These, daß die Vernunft ihr genuines Gesicht in ihrem Anderen

verstecke.

Foucault unterscheidet bezüglich der Geschichte des Wahnsinns drei epochale

Einschnitte voneinander: die Renaissance, die Klassik (von der Mitte des 17. bis zum

Ende des 18. Jahrhunderts) und die Moderne seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Seit

der Renaissance wurde der Wahnsinn als etwas Tragisches und Seherisches verstanden,

das die Schwächen der Vernunft ironisch entlarven könne. Die große Internierungswelle

TP

81PT PDM, S. 282.

TP

82PT M. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, a.a.O., 1969, S. 13.

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74

um die Mitte des 17. Jahrhunderts weist aber darauf hin, daß sich die bisherige Ansicht

über den Wahnsinn schon verändert hat. Die Wahnsinnigen wurden in Anstalten zur

Internierung untergebracht genau so wie die Armen, die Arbeitslosen und die

Sträflinge.TPF

83FPT Am Ende des 18. Jahrhunderts veränderten sich die Ansichten über den

Wahnsinn noch einmal stark: die Wahnsinnigen wurden als Kranke angesehen, die

medizinisch betreut werden müssen. Aus diesem Grund wurden die vielen

Internierungslager in dieser Zeit in psychiatrische Einrichtungen umgewandelt.

Foucault bringt diese beiden gesellschaftsgeschichtlichen Ereignisse in Verbindung mit

der Vernunftgeschichte; das erste bezieht sich auf die Entstehung der

Subjektphilosophie, die mit Descartes angefangen hat, und das zweite auf die

Weiterführung der Subjektphilosophie, wie sie in der Kantischen Philosophie formuliert

ist. Diese beiden Ereignisse zeigen die allmählich steigende Herrschaft des Monologs

der Vernunft, indem diese ihre heterogenen Elemente von sich abgrenzt oder alles, was

ihr begegnet, zum Objekt macht.

Habermas kritisiert die archäologische Methode in zwei Punkten: Erstens bemängelt er,

daß bei Foucault das Verhältnis zwischen den Theorien (den Geisteswissenschaften)

und der Praxis (den gesellschaftsgeschichtlichen Ereignissen) nicht erläutert wird. Nach

ihm beantwortet die Archäologie nicht die Frage, "ob die einen die anderen steuern; ob

ihr Verhältnis als Basis und Überbau oder eher nach dem Modell kreisförmiger

Kausalität oder als Zusammenspiel von Struktur und Ereignis gedacht werden soll".TPF

84FPT

Habermas fragt sich zweitens, ob nicht die Forschung Foucaults über den Wahnsinn als

eine 'Revolution gegen die Vernunft innerhalb der Vernunft' angesehen werden muß, d.

h. ob nicht die Forschung der Wahnsinnsgeschichte ein vernünftiger Diskurs ist.TPF

85FPT Nach

ihm wirft Foucaults Geschichtsschreibung die methodische Frage auf, "wie eine

Geschichte der Konstellationen von Vernunft und Wahnsinn überhaupt geschrieben

werden kann, wenn sich die Arbeit des Historikers doch ihrerseits im Horizont der

Vernunft bewegen muß." TPF

86FPT Seine archäologische Geschichtsbeschreibung geht also, wie

TP

83PT Foucault berichtet, daß im 17. Jahrhundert von den Pariser Einwohnern mehr als 1% in den großen

Häusern zur Internierung mehrere Monate eingeschlossen war. Vgl. M. Foucault, Wahnsinn und

Gesellschaft, a.a.O., S. 71f.

TP

84PT PDM, S. 285.

TP

85PT Es wurde bereits erwähnt, daß dies ein entscheidender Kritikpunkt Derridas an Foucault war. Siehe J.

Derrida, Die Schrift und die Differenz, a.a.O., S. 61.

TP

86PT PDM, S. 290.

Page 76: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

75

Honneth sagt, von "selbstwidersprüchlichen Hypothesen darüber [aus], wie die

historische Herausbildung von Wissenssystemen zu explizieren sei".TPF

87FPT

In diesem Zusammenhang beschäftigt sich Habermas mit dem Übergang Foucaults von

der Archäologie zur Genealogie, d. h. von der Diskursanalyse zur Machttheorie.TPF

88FPT Um

einerseits das Verhältnis zwischen dem Wissen und der Praxis zu erhellen und

andererseits einen viel radikaleren antiwissenschaftlichen Diskurs zu ermöglichen,

braucht Foucault eine neue Methode: die genealogische, die untersucht, wie die

Diskurse konstituiert werden und verschwinden, indem sie die Genesis der geschichtlich

variablen Geltungsbedingungen bis in die institutionellen Wurzeln hinein verfolgt.

Diese institutionelle Wurzel ist bei Foucault die 'Macht', die sich hinter den

wissenschaftlichen Diskursen versteckt. Macht ist hier nicht ein fixierbares Vermögen,

eine dauerhafte Eigenschaft eines individuellen Subjekts oder einer sozialen

Gruppierung, sondern ein prinzipiell wandelbares Element der strategischen

Auseinandersetzungen zwischen Subjekten. Also ist sie in den strategischen

Handlungen der Subjekte allgegenwärtig vorhanden. Für Foucault, der auch die

Kommunikation zwischen Subjekten als eine Art der strategischen Handlung versteht,

sind alle Handlungen nichts anderes als Machtphänomen:

"Die Macht kommt von unten, d. h. sie beruht nicht auf der allgemeinen

Matrix einer globalen Zweiteilung, die Beherrscher und Beherrschte

einander entgegengesetzt und von oben nach unten auf immer beschränktere

Gruppen und bis in die letzten Tiefen des Gesellschaftskörpers ausstrahlt.

Man muß eher davon ausgehen, daß die vielfältigen Kraftverhältnisse, die

sich in den Produktionsapparaten, in den Familien, in den einzelnen

Gruppen und Institutionen ausbilden und auswirken, als Basis für

weitreichende und den gesamten Gesellschaftskörper durchlaufende

Spaltungen dienen."TPF

89FPT

TP

87PT A. Honneth, Kritik der Macht, Frankfurt/M. 1989, S. 168.

TP

88PT Auch Foucault scheint schon die Grenze seiner archäologischen Methode zu kennen. Über den

Übergang zur Machttheorie sagt er in einem Interview wie folgt: "Dort, wo Wahnsinn und Gesellschaft

und Die Ordnung der Dinge zusammentreffen, befand sich unter zwei sehr unterschiedlichen

Gesichtspunkten dieses zentrale Problem der Macht, das ich noch ziemlich schlecht herausgeschält hatte."

M. Foucault, Wahrheit und Macht. Interview von Allessandro Fontatana und Pasquale Pasquino, in:

ders., Despositive der Macht, Berlin 1978, S. 21.

TP

89PT M. Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt/M. 1977, S. 115.

Page 77: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

76

Nach Foucault hängen die wissenschaftlichen Diskurse vollständig von einem

antiwissenschaftlichen Moment, nämlich der Macht ab. Während sich die Archäologie

auf den Gegensatz zwischen Vernunft und Nichtvernunft (z. B. Wahnsinn) bezieht,

wobei diese beiden Faktoren auf der gleichen Ebene liegen, hat die Genealogie das

Verhältnis von Wissen und Macht als Hauptgegenstand, wobei die Macht

fundamentaler ist als das Wissen.

In seinem Buch Überwachen und Strafen (1976) analysiert Foucault das Verhältnis der

Humanwissenschaften zur Macht. Die Untersuchung von 'Überwachen und Strafen', die

sich mit der Unterdrückung des Anderen durch die herrschende Macht beschäftigt, geht

von der Gewißheit aus, daß sich aus der Position der unterdrückten Seite – d. h. aus der

Perspektive der 'Gegenmacht' – eine über die herrschende Ansicht hinausgehende,

erweiterte Perspektive gewinnen läßt. Er unterscheidet in diesem Buch das klassische

Zeitalter und die Moderne in Hinblick auf die jeweilige Form des Strafvollzugs.

Während es bei dem dem Absolutismus entsprechenden klassischen Zeitalter um die

körperlichen Qualen des Verbrechers ging, ist die freiheitsentziehende Kerkerstrafe in

der Moderne die leitende Form des Strafvollzugs. Dies ist der Grund, warum Foucault

die Moderne die Zeit der 'Geburt des Gefängnisses' nennt.

Das Gefängnis, das als eine Einrichtung angesehen wird, die sowohl die körperliche als

auch die seelische Kontrolle der Häftlinge erleichtert, findet seine idealtypische Form

vor allem in dem von Bentham entworfenen 'Panopticon'. Dieses ist so angelegt, daß die

Menschen, die im Außenring sind, vollständig gesehen werden können, ohne jemals

selbst etwas zu sehen, und die, die im Zentralraum sind, alles sehen, ohne je gesehen zu

werden.TPF

90FPT

Am Ende des 18. Jahrhunderts verbreitete sich diese Form der Überwachung, die in den

Gefängnissen ausgeübt wurde, rasch in allen gesellschaftlichen Bereichen, z. B. in

Manufakturen und Arbeitshäusern, in Kasernen und Schulen sowie in Hospitälern etc.

Die Humanwissenschaft verlängert hier nur, wie Habermas sagt, "auf sublime Weise

den normalisierenden Effekt dieser Körperdisziplinen bis ins Innerste der szientifisch

vergegenständlichten, zugleich in ihre Subjektivität hineingetriebenen Personen und

Populationen".TPF

91FPT Der im 'Panopticon' vorherrschende objektivierende, kontrollierende

TP

90PT Siehe zur Beschreibung des Panopticon M. Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt/M. 1976, S.

259.

TP

91PT PDM, S. 319.

Page 78: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

77

und alles durchdringende Blick findet also auf einer subtileren Ebene in dem

vernünftigen Subjekt seinen Ausdruck, das in seiner monologischen Einsamkeit andere

Subjekte nur in der Form von Beobachtungsobjekten behandelt. Die

Humanwissenschaft stellt daher ihrem Wesen nach bloß ein Amalgam aus Macht und

Wissen dar.

Nach Habermas beruht die von dem Macht-Wissens-Paradigma ausgehende Genealogie

auf drei Reduktionen: TPF

92FPT 1) auf der Reduktion des Sinnverständnisses des an Diskursen

beteiligten Interpreten auf die objektive Erklärung von Diskursen; 2) der Reduktion der

Geltungsansprüche auf funktionalistische Machtwirkungen; 3) der Reduktion des

Sollens auf naturalistisches Sein. Habermas bezweifelt aber, ob die internen Aspekte der

Bedeutung, der Wahrheitsgeltung und des Wertens durch die extern erfaßbaren Aspekte

von Machtpraktiken restlos verstanden werden können.TPF

93FPT

1) Um eine objektive Wissenschaft oder, besser gesagt: eine Metawissenschaft zu sein,

muß die Genealogie nach Foucault eine Beobachterperspektive einnehmen. Dies ist der

Grund, warum er bei einer Theoriekonstitution die Rolle des praktischen

Zusammenhanges betont. Nur aus der praktischen Perspektive kann von der Objektivität

einer Wissenschaft als einer Theorie gesprochen werden. Wegen ihrer hermeneutischen

Methode könne aber die moderne Humanwissenschaft nach Foucault nicht objektiv sein,

denn das Selbstverständnis des Interpreten beziehe sich immer auf einen

Traditionszusammenhang.

Habermas geht aber davon aus, daß auch die genealogische Geschichtsbeschreibung

selbst nicht wissenschaftlich objektiv sein kann, entgegen der Absicht von Foucault, der

als ein radikaler Historist dennoch für sein eigenes Anliegen wissenschaftliche

Objektivität beansprucht. Foucault gelingt nach Habermas einerseits bloß ein Vergleich

der verschiedenen Mechanismen der Macht, ohne daß er eine einzelne Machtform als

Ganze aus sich heraus erklären könne; andererseits zeige sich auch bei Foucault die

Abhängigkeit seiner eigenen Genealogie von einem bestimmten hermeneutischen

Horizont, der zum Beispiel in seiner implizit auf die Gegenwart bezogenen Einteilung

der Epochen deutlich werde. Habermas schreibt dazu folgendes:

TP

92PT A.a.O., S. 325ff.

TP

93PT A.a.O., S. 325.

Page 79: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

78

"Foucault ist sich der Aporie eines Vorgehens, das objektivistisch sein will

und zeitdiagnostisch bleiben muß, bewußt, ohne darauf eine Antwort zu

geben."TPF

94FPT

2) Die verschiedenen Geltungsansprüche lassen sich nicht denken ohne die Idee der

Autonomie oder der Allgemeinheit der Vernunft vorauszusetzen. Die genealogische

Reduktion dieser Geltungsansprüche auf die Machtinteressen impliziert also die

Ablehnung der Autonomie der Vernunft. Indem die Genealogie die sich in der Form des

lokalen, marginalen oder alternativen Wissens versteckende Gegenmacht, z. B. 'die

Geschichte des Gefängnisses', auf das Niveau 'gelehrter Kenntnisse' hebt, gewinnt sie

nach Foucault eine allgemeinere Perspektive, in der sich die Abhängigkeit aller

Geltungsansprüche von der Macht erkennen lasse.

Habermas steht dieser These jedoch sehr kritisch gegenüber, weil jede Gegenmacht

ebenfalls nur eine andere Form der Macht ist, die nach ihrem Sieg lediglich einen

weiteren Machtkomplex bildet, der erneut eine Gegenmacht hervorruft. Die Genealogie

teilt also ihr Schicksal mit der Humanwissenschaft, die sie kritisiert: beide führen zu

einem Relativismus:

"So schlägt der Versuch fehl, die genealogische Geschichtsschreibung mit

ihren eigenen Mitteln vor dem relativistischen Selbstdementi zu bewahren.

Indem sich die Genealogie ihrer Herkunft aus der Allianz des gelehrten mit

dem disqualifizierten Wissen innewird, findet sie nur bestätigt, daß die

Geltungsansprüche von Gegendiskursen nicht mehr und nicht weniger

zählen als die machthabenden Diskurse - auch sie sind nichts als die

Machtwirkungen, die sie auslösen." TPF

95FPT

3) Die Genealogie will durch eine streng deskriptive Beschreibung, anders gesagt, durch

die Reduktion des Sollens auf das Sein eine wertfreie Geschichtsschreibung erreichen.

Sie soll sich von der Parteilichkeit distanzieren, die darin besteht, bestimmten Diskurs-

und Machtformen den Vorzug zu geben. Es gibt für Foucault deswegen keine 'richtige

Seite'. Daß die Begründung einer Wertfreiheit an sich nicht wertfrei ist, zeigt sich aber

nach Habermas schon in Foucaults engagierten gelehrten Abhandlungen. Er erinnert

TP

94PT A.a.O., S. 326f.

TP

95PT A.a.O., S. 330.

Page 80: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

79

daran, daß sich Foucault als Dissident versteht, der dem modernen Denken und der

humanistisch verkleideten Disziplinarmacht Widerstand leistet.TPF

96FPT Seine Kritik an

Foucault läßt sich also wie folgt zusammenzufassen: Habermas fragt sich erstens auf der

formalen Ebene, ob nicht die Genealogie selbst, die die Machtformen, die den

Diskursen zugrunde liegen, untersucht, genealogisch untersucht werden sollte, oder

anders gesagt, ob sie nicht einer bestimmten Macht dient. Er kritisiert also den

performativen Widerspruch der Genealogie:

"Foucault gewinnt diesen Boden freilich nur dadurch, daß er im Hinblick auf

seine eigene genealogische Geschichtschreibung nicht genealogisch denkt

und die Herkunft seines transzendental-historischen Machtbegriffs

unkenntlich macht." TPF

97FPT

Zweitens geht Habermas inhaltlich davon aus, daß sich die Subjektphilosophie durch

den Begriff der Macht nicht überwinden läßt, weil dieser Begriff das "Repertoire der

Bewußtseinsphilosophie selber" bloß wiederhole.TPF

98FPT In der Bewußtseinsphilosophie kann

das Subjekt nach Habermas nur zwei Beziehungen zum Objekt haben: erstens eine

durch die Wahrheit von Urteilen bestimmte kognitive Beziehung, zweitens eine durch

den Erfolg von Handlungen bestimmte praktische Beziehung. Die Macht ist hierbei bloß

das Einwirken auf Objekte, um erfolgreich zu handeln. Die Wahrheit der Urteile, die in

den Handlungsplan eingehen, ist also für die Bewußtseinsphilosophie eine

entscheidende Bedingung für den Handlungserfolg.

Foucault kehrt aber nach Habermas dieses Verhältnis von Wahrheit und Macht einfach

um: anstelle von einer Abhängigkeit der Macht vom Wissen auszugehen, geht er

lediglich von einer Abhängigkeit des Wissens von der Macht aus.TPF

99FPT Bei dieser

Umkehrung liegt immer noch das subjektphilosophische Paradigma zugrunde, bei dem

es um die Trennung von Subjekt und Objekt und um die Subsumtion des einen unter das

andere geht. Das ist der Grund, warum für Habermas der Begriff der Macht bei Foucault

denselben Platz einnimmt wie der Begriff differánce bei Derrida, der dazu führt, daß die

Grammatologie zu einer Ursprungsphilosophie bzw. zu einer subjektphilosophischen

TP

96PT Vgl. a.a.O., S. 331.

TP

97PT A.a.O., S. 316.

TP

98PT A.a.O., S. 322f.

TP

99PT Vgl. a.a.O., S. 323.

Page 81: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

80

Metaphysik wird.TPF

100FPT Die folgende Aussage ist das Resultat von Habermas' Foucault-

Lektüre:

"Die Genealogie ereilt ein ähnliches Schicksal wie jenes, das Foucault den

Humanwissenschaften aus der Hand gelesen hatte. [...] Während die

Humanwissenschaften, Foucaults Diagnose zufolge, der ironischen

Bewegung szientischer Selbstbemächtigung nachgeben und in einem

heillosen Objektivismus enden, besser: verenden, vollzieht sich an der

genealogischen Geschichtsschreibung ein nicht minder ironisches Schicksal;

sie folgt der Bewegung einer radikal historistischen Auslöschung des

Subjekts und endet in heillosem Subjektivismus."TPF

101FPT

TP

100PT Vgl. a.a.O., S. 300.

TP

101PT A.a.O., S. 324. Hervorhebung im Original.

Page 82: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

81

III. Die Auseinandersetzung von Habermas mit Hegel und die

Ansätze der Idee der Intersubjektivität

Habermas betrachtet Hegel als den ersten Philosophen, der das Selbstverständnis der

Moderne philosophisch reflektiert, d. h. die Problematik der Modernität bewußt

untersucht hat, während andere Denker, wie z. B. Descartes und Kant, innerhalb des

Rahmens der Moderne philosophiert haben.TPF

1FPT Hegel bezeichnet die Moderne als 'die Zeit

der Entzweiung' des Ganzen oder des Lebens und sieht ihr philosophisches Prinzip im

Begriff der 'Subjektivität'. Die moderne Philosophie überhaupt, die von diesem Prinzip

ausgeht, ist nach Hegel deswegen nichts anderes als ein Produkt der entzweiten

Moderne. Es ist daher nicht überraschend, daß Hegel nach der Wiederherstellung des

Ganzen strebtTPF

2FPT und sein erster Schritt zu dieser Wiederherstellung in der

Auseinandersetzung mit dem liegt, was die Entzweiung hervorgebracht bzw. vertieft hat.

Der junge Hegel nimmt an, daß die autoritären Systeme, wie z. B. die christliche

Religion, und sogar noch die subjektzentrierte Vernunft, wie z. B. die praktische

Vernunft Kants, Elemente sind, die das Leben als Ganzes zerstören.

Es ist nicht erstaunlich, daß Habermas sich auf den jungen Hegel bezieht, weil er

ebenfalls der Ansicht ist, daß das ursprüngliche Projekt der Moderne innerhalb des

Rahmens der Moderne weitergeführt werden kann und soll. Er untersucht vor allem die

Kritik des jungen Hegel an den 'autoritären Verkörperungen der subjektzentrierten

Vernunft', weil er in dieser Kritik eine neue Form der Rationalität, d. h. die Möglichkeit

der 'vereinigenden Macht einer Intersubjektivität', sieht, deren Begriff er zum Prinzip

einer neuen Philosophie erhebt. Bevor im folgenden die Hegel-Lektüre von Habermas

untersucht werden soll, wird zunächst das Anliegen des jungen Hegel dargestellt.

TP

1PT Vgl. PDM, S. 26f.

TP

2PT A.a.O., S. 377.

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82

1. Die Anliegen des jungen Hegel: die Herstellung

der Lebenstotalität

Das Interesse des jungen Hegel konzentriert sich, wie gesagt, auf die Wiederherstellung

des lebendigen Lebens, das nichts anderes als das 'vernünftige Zusammenleben' ist. Dies

setzt voraus, daß die damalige Lebensform keine vernünftige Einheit bildet. Hegel

bezieht sich dabei vor allem auf die Trennung zwischen dem privaten und öffentlichen

Leben sowie auf den atomistischen Individualismus. Dieses gesellschaftlich-politische

Interesse des jungen Hegel führt zuerst dazu, die gesellschaftlich-historischen Elemente

ans Licht zu bringen, die das Leben zerstören. Seine Kritik an dem zerrissenen Leben

konzentriert sich auf die Kritik an dem Christentum und an der Kantischen Ethik. Denn

er sieht die Quelle dieser Zerstörung der Einheit des Lebens in dem christlichen

Glauben und in der Kantischen Ethik, die eigentlich das Christentum überwinden wollte,

weil beide die Zwei-Welten-Lehre voraussetzen: jenes den Himmel und die Erde, dieser

das Sollen und das Sein. Also steht das frühe Denken Hegels, das sich in der Kritik der

Positivität ausdrückt, im engen Zusammenhang mit der Wiederherstellung der Einheit

des Lebens.

1.1. Die Kritik des jungen Hegel an der Positivität

1.1.1. Die Kritik an der positiven Religion

Es ist ein Allgemeinplatz, daß die Problematik der Subjektivität, d. h. der Reflexion

sowie der Freiheit des Menschen erst seit der Renaissance zum wichtigen Gegenstand

der Philosophie wird. Dieses Urteil nimmt an, daß die Menschheit im christlichen

Mittelalter in einer Art Knechtschaft gefangen war und daß das Christentum dabei eine

entscheidende Rolle gespielt habe. Man geht dabei davon aus, daß beim Christentum

nur Gott absolut frei ist und alle anderen Lebewesen inklusive des Menschen von ihm

vollständig abhängig sind. Eben deswegen ist es nicht erstaunlich, daß die Moderne, die

von der Selbständigkeit oder der Selbsttätigkeit des Menschen spricht, mit der

Auseinandersetzung mit dem Christentum begonnen hat. Aus diesem Grund bezeichnete

Max Weber den Modernisierungsvorgang als 'Entzauberungsvorgang' und

'Säkularisierungsprozeß'.

Der junge Hegel steht in der Linie dieser Tradition:

Page 84: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

83

"Ausser frühern Versuchen blieb es unsern Tagen vorzüglich aufbehalten, die

Schäze, die an den Himmel verschleudert worden sind, als Eigentum der

Menschen, wenigstens in der Theorie, zu vindiciren, aber welches Zeitalter

wird die Kraft haben, dieses Recht geltend zu machen und sich in den Besiz

zu setzen?"TPF

3FPT

In dieser Äußerung zeigt sich, daß auch Hegel ein Kind der Moderne ist, welche die

Emanzipation des Menschen von der Autorität sowie der Knechtschaft einerseits und

eine innerweltliche Einheit andererseits sucht. Nach Hegel, der, wie Spinoza und

Hölderlin, von dem 'hen kai pan' (innerweltliche Einheit) ausgeht, spielt die Zwei-

Welten-Lehre des Christentums bei dem Problem der modernen Spaltung eine

entscheidende Rolle. Von daher ist es nicht erstaunlich, daß er in jungen Jahren – wie

viele andere Denker seiner Zeit auch – versucht, das Christentum zu überwinden.

'Positivität' gehört zu einem der wichtigsten kritischen Begriffe des jungen Hegel. Daß

das Christentum auf einem 'positiven' Glauben basiert, ist der Kern seiner Kritik.

Ursprünglich leitet sich 'positiv' von dem lateinischen ponere ab, das als 'setzen',

'stellen' oder 'legen' etc. übersetzt werden kann.TPF

4FPT Dieses lateinische Wort wurde in zwei

Bedeutungsrichtungen benutzt: Zum einen bedeutete es nicht das, was von Natur aus ist,

sondern das, was durch Setzung oder Kunst konstituiert ist, zum anderen war es ein

grammatischer Terminus, der eine nicht abgeleitete Wortform, z. B. die Grundform

eines Adjektivs bezeichnet. In der Neuzeit wurde allerdings das Wort positivus vor

allem in drei Bedeutungsrichtungen benutzt: Erstens bedeutete es constitutum, als

Gegenbegriff zu naturalis, zweitens 'seiend' oder 'affirmativ', als Gegenbegriff zu

negativus, und letztlich realis, als Gegenbegriff zu cogitatus. Hegel benutzt das Wort

'positiv' in seiner jüngeren Zeit vor allem in der ersten Bedeutungsrichtung: "eine

positive Religion wird der natürlichen entgegengesetzt",TPF

5FPT während er das Wort später in

der zweiten Bedeutung gebraucht.TPF

6FPT

TP

3PT G. W. F. Hegel, GW, Bd. 1, S. 372.

TP

4PT Siehe J.-G. Blühdorn, Positiv, Positivität, in: HWPh, Bd. 7, Sp. 1106ff.

TP

5PT G. W. F. Hegel, Neufassung des Anfangs (1800), in: TW, Bd. 1, S. 217.

TP

6PT In der Logik steht das 'Positive' dem 'Negativen' gegenüber. Aber diese beiden Elemente bestimmt Hegel

als eine Wesensbestimmung, die als Resultat der Selbstbewegung der Reflexion hervorgebracht wird, d. h.

sie sind nichts anderes als "die selbständig gewordenen Seiten des Gegensatzes" oder "absolute Momente

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84

Was den Begriff der Positivität betrifft, nennt Hegel den Glauben, der die Spaltung

verursacht und verfestigt, oder besser gesagt, der nur eine falsche Einheit hervorruft,

den 'positiven Glauben'. In einem Fragment von 1795/96, das von Nohl als Positivität

der christlichen Religion betitelt wurde, sagt er über diesen Glauben:

"Ein positiver Glauben, ist ein solches System von religiösen Säzen, das für

uns deswegen Wahrheit haben soll, weil es uns geboten ist von einer

Autorität […]. In diesem Begrif kommt vors erste ein System religiöser Säze,

oder Wahrheiten vor, die, unabhängig von unserm Fürwahrhalten, als

Wahrheiten angesehen werden sollen, die wenn sie auch keinem Menschen

nie bekannt, von keinem Menschen nie für wahr gehalten worden wären,

dennoch Wahrheiten blieben, und die insofern häufig objektive Wahrheiten

genannt werden, - diese Wahrheiten nun sollen auch Wahrheiten für uns,

subjektive Wahrheiten werden."TPF

7FPT

In einem anderen kurzen Fragment von 1797 sagt er weiter:

"Positiv wird ein Glaube genannt, in dem das Praktische theoretisch

vorhanden ist – das ursprünglich Subjektive nur als ein Objektives, eine

Religion, die Vorstellungen von etwas Objektivem, das nicht subjektiv

werden kann, als Prinzip des Lebens und der Handlungen aufstellt."TPF

8FPT

Der 'positive' Glaube ist also ein autoritärer Glaube, in welchem religiöse Gesetze als

bloß objektives Wissen entleert und rein formalisiert werden und damit die subjektiven

und praktischen Momente des Glaubens vollständig aufgehoben werden.TPF

9FPT Aus diesem

Grund identifiziert Hegel die positive Religion auch mit der 'objektiven' Religion, die

sich der subjektiven Religion entgegensetzt.TPF

10FPT Positivität kann daher, wie Lukács sagt,

des Gegensatzes". (Hegel, GW, Bd. 11. Wissenschaft der Logik, F. Hogemann / W. Jaeschke (Hg.), S.

273.) Damit verschwindet die absolute Unabhängigkeit jedes Momentes.

TP

7PT G. W. F. Hegel, GW, Bd. 1, S. 352.

TP

8PT G. W. F. Hegel, Entwürfe über Religion und Liebe (1797/1798), in: TW, Bd, 1, S. 239.

TP

9PT Siehe J.-G. Blühdorn / Ch. Jamme, Positiv,Positivität, in: HWPh, Bd. 7, Sp. 1112f.

TP

10PT Hegel vergleicht die subjektive Religion mit den Lebewesen in der Natur selbst, die objektive mit den

ausgestopften Tieren im naturwissenschaftlichen Kabinett. Denn die objektive Religion läßt sich in ein

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85

als "eine tote Objektivität"TPF

11FPT definiert werden,TP

PTin der keine subjektive Selbsttätigkeit und

Freiheit, d. h. keine moralische Autonomie des Subjekts erlaubt wird.

Eine der augenfälligsten Eigenschaften der positiven Religion ist nach Hegel, daß diese

die "bürgerliche und politische Freiheit" des Menschen als "Koth gegen die

himmlischen Güter und Genuß des Lebens" TPF

12FPT verachtet. Hier liegt aber das Problem

darin, daß das mangelnde Interesse dieser Religion für die Freiheit oder Knechtschaft

eines Volkes und seiner Bürger zur Mißachtung der politisch gemeinsamen, d. h.

republikanischen Idee und letztendlich zur stillschweigenden Zustimmung zum

Despotismus führt. In diesem Sinne ist die positive Religion eine Privatreligion, die als

öffentliche Religion ungeeignet ist.TPF

13FPT Die positive Religion privatisiert also alle

öffentlichen Beziehungen, d. h. sie reduziert alle bürgerlichen Verhältnisse höchstens

auf die Brüderschaft. In diesen Verhältnissen herrscht nicht die heroische Handlung für

die gemeinsame Idee vor, sondern die egozentrische für die eigenen Interessen

gegenüber der Gesellschaft, und der Staat funktioniert bloß als eine "Staatsmaschine",

die existiert, um die Interessen der Einzelnen zu sichernTPF

14FPT: "nach Vertilgung aller

politischen Freiheit [ist] alles Interesse an einem Staate […] verschwunden", und "der

Zweck des Lebens [ist] nur auf Erwerbung des täglichen Brodtes mit mehrerer oder

wenigerer Bequemlichkeit oder Überfluß […] eingeschränkt."TPF

15FPT

Hierbei ist auffällig, daß Hegel den Zweck der Religion auf die Politik bezieht. Er geht

davon aus, daß der private Lebensbereich erst im Rahmen des öffentlichen Bereichs

sinnvoll ist und die wahre Religion beide Faktoren des Lebens bzw. die Individualität

System bringen, in einem Buche darstellen, während "subjektive Religion Lebendig [ist], Wirksamkeit im

Innern des Wesen und Thätigkeit nach aussen." G. W. F. Hegel, GW, Bd. 1, S. 88.

TP

11PT G. Lukács, Der junge Hegel. Über die Beziehungen von Dialektik und Ökonomie, Neuwied und Berlin

1967, S. 115. Dies ist der Grund, warum Lukács den Begriff der Positivität des jungen Hegel

begriffsgeschichtlich nicht an den Begriff der Positivität des späten Hegel, welcher der Gegenbegriff der

Negativität ist, sondern an den Begriff der 'Entäußerung' bzw. der 'Entfremdung' anschließt.

TP

12PT G. W. F. Hegel, GW, Bd. 1, S. 182.

TP

13PT A.a.O., S. 138ff.

TP

14PT Siehe a.a.O., S. 369. In der Kritik des jungen Hegel an der christlichen Religion kann man deutlich den

Einfluß Rousseaus erkennen. Nach Rousseau ist das Christentum eine Religion, welche das Entstehen

eines zivilen und öffentlichen Geistes verhindert. Denn es faßte die Menschen vor allem als Kinder

Gottes und deshalb mehr als Brüder einer himmlischen Heimat denn als Bürger einer Nation auf. Siehe R.

Finelli, Mythos und Kritik der Formen. Die Jugend Hegels (1770-1803), Frankfurt/M., Berlin 2000, S.

80ff.

TP

15PT G. W. F. Hegel, GW, Bd. 1, S. 376.

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86

und die Allgemeinheit lebendig vereinigt. In seiner Frankfurter Zeit beschreibt Hegel

vor diesem Hintergrund die Rolle der Religion wie folgt:

"Dies Bedürfnis, das Subjektive und Objektive, die Empfindung und die

Forderung derselben nach Gegenständen, den Verstand durch die Phantasie

in einem Schönen, einem Gotte zu vereinigen, dies Bedürfnis, das höchste

des menschlichen Geistes, ist der Trieb nach Religion."TPF

16FPT

Er sieht in der griechischen und frührömischen Religion eine Urform der wahren

Religion. Die Vorzüge der griechischen und frührömischen Religion liegen nach ihm in

deren Öffentlichkeit und in deren Versuch, innerweltliche Ideen zu realisieren, während

bei der positiven christlichen Religion ein mangelndes Interesse für den öffentlichen

Bereich und eine Flucht in die übernatürliche bzw. außervernünftige Welt vorhanden sei.

Hegel bestimmt zu dieser Zeit das Prinzip der öffentlichen Religion wie folgt:

"I. Ihre Lehren müssen auf der allgemeinen Vernunft gegründet seyn.

II. Phantasie, Herz und Sinnlichkeit müssen dabei nicht leer ausgehen.

III. Sie muß so beschaffen seyn, daß sich alle Bedürfnisse des Lebens – die

öffentlichen StaatsHandlungen daran anschließen –"TPF

17FPT

Es ist bemerkenswert, daß er die Phantasie bzw. die Sinnlichkeit gleichberechtigt neben

die Vernunft stellt. Daß das Christentum positiv ist, liegt somit daran, daß es nicht nur

die Vernunft, sondern auch die freie Phantasie vollständig vernichtet, die von der Natur

des Menschen entstanden ist.

"Das Christenthum hat Walhalla entvölkert, die heiligen Hayne umgehauen,

und die Phantasie des Volks als schändlichen Aberglauben, als ein

teufelisches Gift ausgerottet und uns dafür die Phantasie eines Volks

gegeben, dessen Klima dessen Gesezgebung, dessen Kultur, dessen

Interesse uns fremd, dessen Geschichte mit uns in ganz und gar keiner

Verbindung ist."TPF

18FPT

TP

16PT G. W. F. Hegel, Der Geist des Christentums, in: TW, Bd. 1, S. 406.

TP

17PT G. W. F. Hegel, GW, Bd. 1, S. 103.

TP

18PT G. W. F. Hegel, Der Geist des Christentums, in: TW, Bd. 1, S. 359.

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87

Die Auseinandersetzung des jungen Hegel mit der positiven Religion erinnert uns an die

Kritik Kants an der christlichen Religion. Im 3. und 4. Kapitel der Religion innerhalb

der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), das als erstes Werk Kants bekannt ist, für das

sich Hegel begeistert hat,TPF

19FPT verallgemeinert Kant die katholizismuskritischen Begriffe

Luthers, wie z. B. 'Religionswahn', 'Fetischdienst oder -glauben', 'Tempeldienst',

'Pfaffentum' ect., um dann den sogenannten 'statutarischen' Glauben zu kritisieren.

Dabei hat die Statutarität bei Kant fast denselben Sinn wie die Positivität des jungen

Hegel. Die Kritik des jungen Hegel an der positiven Religion wiederholt in vielen

Fällen bis ins kleinste die Kritik Kants an dem statutarischen Glauben.

Aber diese Ähnlichkeit macht den jungen Hegel nicht zu einem Kantianer.TPF

20FPT Zwar hat

seine Auffassung der Religion eine Ähnlichkeit mit der Kantischen in dem Sinne, daß er

den Inhalt der Religion in der Subjektivität, u.a. in der Moralität sieht, aber seine Kritik

an der Positivität enthält etwas in sich, das sich mit der Kantischen Kritik nicht in

Einklang bringen läßt. Dieser Unterschied wird später noch augenfälliger. Das Adjektiv

'kalt', das Hegel zu dieser Zeit häufig benutzt hat, wie es sich z. B. in den Äußerungen

'kalte Vernunft', 'kalte Erkenntnisse', 'kalter Verstand', 'kaltes Abstraktum', 'kaltes

Nachdenken' sowie 'kalte Überzeugung' etc. vorkommt, zielt nicht nur auf das

Christentum, sondern stillschweigend auch auf die Vernunftreligion Kants.

Kant und der junge Hegel sind sich darin einig, daß die Fehler der christlichen Religion

in einer "unerlaubten Verallgemeinerung eines Besonderen" liegt,TPF

21FPT d. h. beim

Christentum in dem Glauben an eine Person, Christus, nicht an das Allgemeine. Aber

TP

19PT Vgl. W. Kaufmann, Kant und die Religion, in: ders., Hegel. A Reinterpretation, Garden City, New

York 1978.

TP

20PT Es herrscht in der Forschung Einigkeit darüber, daß der Berner Hegel (1793-96) auf der Linie des

strengen Kantianismus stand und der Frankfurter Hegel (1797-1800) dagegen als ein starker Kantgegner

angesehen wird. Als Beweis dafür wird angeführt, daß jener das Wesen der Religion in der Moralität sah,

während dieser von der Idee des Lebens ausging. Aus dieser Perspektive wird ein radikaler Bruch

zwischen dem Berner und dem Frankfurter Hegel behauptet. Siehe M. Bondeli, Vom Kantianismus zur

Kantkritik. Der junge Hegel in Bern und Frankfurt, in: M. Bondeli / H. Linneweber-Lammerskitten (Hg.),

Hegels Denkentwicklung in der Berner und Frankfurter Zeit, München 1999, S. 31-51. Es scheint mir

allerdings viel plausibler zu sein, daß Hegel auch in seiner Berner Zeit, wie oben angedeutet, eine

umfassendere Vernunftidee im Sinn hatte als Kant. Denn es darf nicht übersehen werden, daß nicht nur

Kant, sondern auch Hölderlin, Goethe, Schiller etc. einen großen Einfluß auf den jungen Hegel ausgeübt

haben. Zu dieser Problematik siehe das I. Kapitel von W. Kaufmann, Hegel. A Reinterpretation, a.a.O.

TP

21PT R. Finelli, Mythos und Kritik der Formen, a.a.O., S. 89.

Page 89: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

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während Kant von der Möglichkeit spricht, durch die Trennung der moralischen Lehre

Jesu von der Person Jesu selbst bzw. durch die Entpersonalisierung des christlichen

Glaubens diese Religion in eine Moralreligion umzuwandeln, geht Hegel nicht von

dieser Möglichkeit aus. Aber noch wichtiger als dieser konkrete Unterschied zwischen

ihnen ist, daß Kant den Bereich der Religion oder Moral von dem des Staates

unterscheidet und jenen über diesen stellt, da es sich bei jenem Bereich um die

Selbstbestimmung des Subjekts handelt, die die Selbständigkeit der Vernunft bedeutet.

Im Gegensatz dazu kritisiert Hegel die Privatisierung der Religion als einen Verfall und

als positiv.

Dieser Unterschied zwischen Kant und Hegel hat nach Lukács seinen Grund in der

Verschiedenheit des Subjektbegriffs TPF

22FPT; während es bei jenem um den Begriff des

einzelnen Subjekts geht, geht es bei diesem um den des kollektiven Subjekts (z. B. Volk,

Staat, Gemeinschaft etc.). Aus diesen unterschiedlichen Vorstellungen des Subjekts läßt

sich erklären, warum Hegel kein Interesse für die Lehre vom radikal Bösen entwickelt

hat, die einen Kern der Moralphilosophie Kants ausmacht. Für Kant ist die äußere

Freiheit des Menschen nichts anderes als die "Unabhängigkeit von eines anderen

nötigender Willkür".TPF

23FPT Die innere Freiheit besteht darin, daß der Mensch, sofern er als

moralisches Wesen dem Befehl der praktischen Vernunft folgt, frei ist. Im Gegensatz

dazu bedeutet das Nachgeben des Willens gegenüber einem sinnlichen Reiz, anders

gesagt, die Unterordnung der moralischen Ordnung der Beweggründe unter den

Beweggrund der Eigenliebe und ihrer Neigungen für ihn nichts anderes als die

Ablehnung der Freiheit. Gerade in der Möglichkeit, die Ordnung der Beweggründe zu

verkehren, also in der formal-transzendentalen Bedingung der Verwirklichung jeder

unmoralischer Tatsache, liegt der Hang zum Bösen. Kant betrachtet also dieses Böse als

einen angeborenen und natürlichen Hang des Menschen, von der Befolgung des

Moralgesetzes abzusehen.

TP

22PT Lukács sagt in diesem Kontext folgendes: "Wir müssen aber darauf aufmerksam machen, daß das

Subjekt, das Hegel eigentlich meint, nicht mit dem Kantischen moralischen Subjekt identisch ist; es ist

vielmehr stets etwas Gesellschaftlich-Geschichtliches. […] Denn der Inhalt seiner Konzeption […] ist der

Zusammenfall von moralischer Autonomie des einzelnen Subjekts mit der demokratischen Kollektivität

des ganzen Volkes." G. Lukács, Der junge Hegel, a.a.O., S. 53. In demselben Sinne betont Günter Schulte,

daß "das Rätsel der singulären und unauffindbaren Subjektivität" bei Kant entscheidend sei. G. Schulte,

Immanuel Kant, Frankfurt/M. 1991, S. 10.

TP

23PT I. Kant, Die drei Kritiken in ihrem Zusammenhang mit dem Gesamtwerk, zsgf. von R. Schmidt,

Stuttgart 1975, S. 392.

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Dagegen vertritt Hegel, wie Rousseau, die Meinung, daß das Böse nicht im Inneren bzw.

in der Natur der Menschen wohnt, sondern vor allem von den politischen und

kulturellen Einrichtungen hervorgerufen wird, welche falsche Autoritäten und

Hierarchien erzeugen.TPF

24FPT Dieser Gedanke ergibt sich eben daraus, daß er sich nicht nur

auf den einzelnen Menschen als Subjekt, sondern vielmehr auf ein Volk als Ganzes

bezieht. Er betrachtet also das Böse nicht als anthropologisches oder psychisches

Element, sondern als gesellschaftliches und historisches Phänomen. Dies bedeutet, daß

er das Problem nicht in der Wahl zwischen dem Bösen und dem Guten, zwischen der

Willkür und der sie transzendierenden Fähigkeit der Vernunft sieht, sondern in den

geschichtlichen Ereignissen eines Volkes. Dies ist der Grund, warum Hegel den

historischen Vorgang untersucht, wie ein politisches, kulturelles System objektiviert

worden ist, bzw. wie eine positive Autorität (z. B. einer Religion) entstanden ist.TPF

25FPT

Von daher ist es nicht einfach, den jungen Hegel in der Kantischen Tradition zu

deuten.TPF

26FPT Ein Grund dafür liegt m. E. darin, daß der Ausgangspunkt des Denkens des

jungen Hegel sein Interesse an der politisch-gesellschaftlichen Reform oder an der

Revolution war und nicht ein Interesse an der reinen Philosophie. Es ist bekannt, daß

sich Hegel für die Französische Revolution sehr begeistert und zeit seines Lebens mit

TP

24PT Rousseau geht davon aus, daß das Böse im Menschen nicht dieselbe Substanz ist und deswegen nicht

denselben Wert hat, wie die 'natürliche Güte'. Es gehört nicht zum Wesen des Menschen, sondern nur zu

seinen möglichen Beziehungen in der Gesellschaft und in der Geschichte. Jean-Jacques Rousseau, Lettere

a C. de Beaumont, in: Euveres complètes, Paris 1964, IV, S. 967. Siehe zu den verschiedenen Aspekten

des Verhältnisses zwischen Rousseau und Hegel H.F. Fulda / R.-P. Horstmann (Hg.), Rousseau, die

Revolution und der junge Hegel, Stuttgart 1991.

TP

25PT Hegel behandelt dieses Thema besonders in dem Fragment Unterschied zwischen griechischer

Phantasie und christlicher positiver Religion von 1796: "Die Verdrängung der heidnischen Religion

durch die christliche ist eine von den wunderbaren Revolutionen, deren Ursachen aufzusuchen den

denkenden Geschichtsforscher beschäftigen muß. Den grossen, in die Augen fallenden Revolutionen muß

vorher eine stille, geheime Revolution in dem Geiste des Zeitalters vorausgegangen seyn, die nicht jedem

Auge sichtbar, am wenigsten für die Zeitgenossen beobachtbar und ebenso schwer mit Worten

darzustellen, als aufzufaßen ist. Die Unbekanntschaft mit diesen Revolutionen in der Geisterwelt macht

dann das Resultat anstaunen." G. W. F. Hegel, GW, Bd.1, S. 365f.

TP

26PT Nach Semplici hat der junge Hegel trotz seiner Kantischen Überzeugungen wegen seiner Erkenntnis

des radikalen Bösen schon in seiner frühen Zeit eine Rousseausche Neigung: "Mit der Zurückweisung der

Theorie des radikalen Bösen nähert sich Hegels Jesus mehr der Profession als der Religion innerhalb der

Grenzen der bloßen Vernunft an". S. Semplici, Das Leben Jesu und das Problem des Bösen: Kant oder

Rousseau?, in: H.F. Fulda / R.-P. Horstmann (Hg.), Rousseau, die Revolution und der junge Hegel, a.a.O.,

S. 139.

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90

ihrer philosophischen Deutung beschäftigt hat.TPF

27FPT Der junge Hegel hat in dieser

Revolution den Anfang des realen Endes der christlichen dualistischen Welt einerseits

und die Möglichkeit der Verwirklichung des aufklärisch-demokratischen Ideals

andererseits gesehen. Aus diesem Grund hat er, wie gesagt, die Überwindung des

Christentums als ersten Schritt für sein wissenschaftliches Ziel angesehen. Seine Kritik

am Christentum zeichnet sich daher durch die bewußte Übereinstimmung mit allen

Lehren aus, die sich im Rahmen des Säkularisierungsprozesses mit der christlichen

Religion auseinandergesetzt haben. Dies zeigt sich darin, daß seine alternativen

Religionsbegriffe, wie z. B. 'Volksreligion'TPF

28FPT, 'Vernunft- oder Moralreligion', 'natürliche

Religion' sowie 'schöne Religion', trotz ihrer verschiedenen philosophischen Kontexte

für ihn jeweils nur als andere Namen für die subjektive Religion fungieren, die im

Gegensatz zur objektiven oder positiven Religion steht.TPF

29FPT Hegel nimmt also zu dieser

Zeit die bereits weit fortgeschrittene ausdifferenzierte Entwicklung der Säkularisierung

TP

27PT Die Äußerungen der Hegelforscher über das Verhältnis des jungen Hegel zur Französischen Revolution

sind folgende: Lukács geht davon aus, daß die "tiefste Quelle" seiner Ablehnung der positiven Religion in

"seiner Begeisterung für die Revolution" liege, Hegels Gedanken sich "auf der Grundlage der

Entwicklungen der Französischen Revolution" entwickelt hätten und er "sein ganzes Leben lang

unerschütterlich an dem Gedanken der historischen Notwendigkeit dieser Revolution" festgehalten habe.

G. Lukács, Der junge Hegel, a.a.O., S. 44f. Nach Ritter ist Hegels Philosophie "bis in ihre innersten

Antriebe hinein Philosophie der Revolution". J. Ritter, Hegel und die Französische Revolution, in: ders.,

Metaphysik und Politik, Frankfurt/M. 1977, S. 209. Habermas zufolge hat Hegel "die Revolution zum

Prinzip seiner Philosophie" erhoben. J. Habermas, Hegels Kritik der Französischen Revolution, in: ders.,

Theorie und Praxis, Frankfurt/M. 1971, S. 128. Pöggeler sieht Hegels "System als die entscheidende

Antwort auf die Revolution" an. J. Pöggeler, philosophie und revolution beim jungen hegel, in:

Enciclopedia 72, Arti Grafice Marchesi-Roma 1971, S. 229.

TP

28PT Herder versucht den starren Gegensatz zwischen natürlicher und positiver Religion zu überwinden. Die

wahre reformierte Religion müsse sowohl eine natürliche Religion als auch eine Völkerreligion und eine

Religion der Erfahrung sein. Siehe W. Jaeschke, Religion, in: HWPh, Bd. 8, Sp. 673ff.

TP

29PT Der Begriff der 'Volksreligion' stammt insbesondere aus der Herderschen, der der 'Vernunftreligion' aus

der Kantischen, der der 'natürlichen Religion' aus der Rousseauschen und der der 'schönen Religion' aus

der Schillerschen Religionsphilosophie. Dies ist der Grund, warum es nicht einfach ist, zu entscheiden, in

welcher philosophischen Tradition Hegel steht. Während man ihn häufig in die rationalistische Tradition

eingeordnet, deutet ihn z. B. N. Hartmann vor dem Hintergrund einer irrationalistischen Tradition: "Man

könnte hier mit vollem Recht von einer tiefen Irrationalität der Hegelschen Begriffe sprechen. […], so

könnte man mit größerem Recht vom Irrationalismus sprechen als von seinem Rationalismus." N.

Hartmann, Die Philosophie des Deutschen Idealismus, Berlin, New York 1974, S. 255. R. Kroner geht

noch viel weiter, wenn er schreibt: "Hegel ist ohne Zweifel der größte Irrationalist, den die Geschichte der

Philosophie kennt." R. Kroner, Von Kant bis Hegel, Bd. 2, Tübingen 1977, S. 271.

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der Religion nicht ausreichend zur Kenntnis, wohingegen Kant der Säkularisierung der

Religion eine entgültig rationalistische Form (Vernunftreligion) gegeben hat.

In seiner weiteren philosophischen Entwicklung wird jedoch seine Position

differenzierter. Es ist daher kein Zufall, daß er zunächst auch die Kantische

Moralphilosophie überwinden wollte. In seiner Frankfurter Zeit setzt er sich nicht nur

mit dem Christentum, sondern auch zum ersten Mal ausdrücklich mit der Kantischen

Philosophie auseinander.

1.1.2. Die Kritik an der positiven Moralphilosophie Kants

In seiner Frankfurter Schrift Der Geist des Christentums und sein Schicksal (1798/1800)

zielt Hegel auf eine grundsätzliche Kritik an dem Christentum, da es dessen Schicksal

sei, keine wahre Einheit des Lebens erreichen zu können. Außerdem setzt er sich an

vielen Stellen dieser Schrift bewußt mit der Kantischen Ethik auseinander und kommt

zu dem Schluß, daß diese sogar dem Christentum unterlegen sei. Die Kantische Ethik

war zu seiner Zeit einer der wichtigsten philosophischen Diskurse, und sie ist nach

Hegel die Aufhebung des Christentums. Hegel versucht in dieser Schrift den Geist

dieser Ethik und deren Wesen zu erfassen.

Hegel hält das Judentum für eine Urform der Positivität insofern, als es die moralische

Autonomie des Subjekts vollständig vernichte und sich nur um die Kategorie der

Legalität bewege, die in der "Befolgung des Buchstabens des Gesezes"TPF

30FPT besteht. Kant

ersetzt diese Kategorie durch den Begriff der Moralität, um die Selbstbestimmung des

Subjekts wiederherstellen zu können. Hegel fragt sich aber, ob die Kantische Moralität

eine Beendigung der Legalität sein kann. Diese Kritik geht von dem Gedanken aus, daß

die Kantische Ethik bloß ein Spiegel ihrer Zeit sei, die sich durch den atomistischen

Individualismus auszeichne, der für Hegel ein Symbol der entzweiten Gesellschaft ist.

Mit anderen Worten bestätigt auch die Kantische Moralphilosophie diese Entzweiung

und erhebt sie sogar zum Prinzip der Philosophie.

Mit welchen Punkten der Kantischen Ethik setzt sich Hegel auseinander? Kant

entwickelt den kategorischen Imperativ, das höchste Moralgesetz, indem er das

Urteilskriterium für die moralische Rechtfertigung in der Vereinbarkeit der

Handlungsmaximen der einzelnen Menschen findet. Er konstruiert also in der rein

geistigen Sphäre des kategorischen Imperativs "ein Idealbild der modernen

TP

30PT G. W. F. Hegel, GW, Bd. 1, S. 284.

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Gesellschaft",TPF

31FPT in dem die bedingungslose Hingabe an die geistige, nicht mehr der

Welt der Phänomene angehörende Pflicht konfliktfrei und harmonisch funktioniert. Alle

Gegensätze und Widersprüche in der modernen Gesellschaft reduzieren sich nun auf

den Gegensatz des sinnlichen und des moralischen Menschen, des 'homo phaenomenon'

und 'homo noumenon'. Wenn das Leben des Menschen vollkommen den Forderungen

des Sittengesetzes entsprechen würde, würde es in der Gesellschaft keinerlei Konflikte

oder Widersprüche geben. Die philosophische Konzeption dieser moralischen Sphäre

wird nur dadurch möglich, daß alle moralischen Probleme der modernen Gesellschaft in

formale Forderungen der praktischen Vernunft umgewandelt werden. Dieser Gedanke

setzt die Allgemeinheit der Moral voraus, die für Kant das Hinausgehen des Sollens

oder des Befehls der praktischen Vernunft über das individuelle und zufällige

Bewußtsein bedeutet.

Aber nach Hegel drücke die Kantische Ethik nichts anderes aus als eine gewaltsame

Herrschaft einer leeren und abstrakten Allgemeinheit gegenüber der alltäglichen

Erfahrung des Individuums, weil jene Allgemeinheit, die nur innerhalb des Bereichs des

von der Wirklichkeit abstrahierten Denkens möglich ist, sich auch in der Realität

durchsetzen wolle. Das Thema der Kollisionen der Pflichten zeigt dieses Problem sehr

deutlich. Kant spricht von einer harmonischen Welt, in der der Widerstreit der Pflichten

nicht entsteht:

"Ein Widerstreit der Pflichten [...] würde das Verhältnis derselben sein,

durch welches eine derselben die andere [ganz oder zum Teil] aufhöbe. - Da

aber Pflicht und Verbindlichkeit überhaupt Begriffe sind, welche die

objektive praktische Notwendigkeit gewisser Handlungen ausdrücken und

zwei einander entgegengesetzte Regeln nicht zugleich notwendig sein

können, sondern, wenn nach einer derselben zu handeln es Pflicht ist, so ist

nach der entgegengesetzten zu handeln nicht allein keine Pflicht, sondern

sogar pflichtwidrig: so ist eine Kollision von Pflichten und

Verbindlichkeiten gar nicht denkbar."TPF

32FPT

TP

31PT Siehe zur 'ethischen Gesellschaft' Kants I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen

Vernunft, K. Vorländer (Hg.), Hamburg 1990, S. 101ff.

TP

32PT I. Kant: Metaphysik der Sitten, K. Vorländer (Hg.), Hamburg 1959, S. 27. Ähnlich äußert sich auch

Fichte zu dieser Frage. Er betrachtet das Problem konkreter als Kant, indem er nicht mehr von einer

Kollision der Pflichten überhaupt, sondern von der Kollision zwischen den Verpflichtungen der

Menschen sich selbst und anderen gegenüber spricht. Es ist aber ersichtlich, daß dies nur eine etwas

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93

Hegel hält die Kantische Moralphilosophie, die nur innerhalb des rein geistigen

Gebietes gilt und daher nicht auf den realen Widerstreit der Pflichten antworten kann,

für eine formalistische Morallehre. Er steht dagegen in der Denktradition, die die

Unumgänglichkeit der gesellschaftlichen Konflikte anerkennt und sogar diese als

Beweggründe des Lebens ansieht. Er betrachtet die formalistische Morallehre Kants als

eine Degradierung der realen Notwendigkeit zu einer Zufälligkeit.TPF

33FPT Hegel geht also

davon aus, daß die wirklichen Forderungen der Moral einander widerstreiten können

und daher der Widerspruch in der Gesellschaft oder der Widerstreit zwischen Menschen

als substantiell anerkannt werden muß.

Den Moralisten, der nicht nur die lebendige Wirklichkeit nicht erklären kann, sondern

sie versteinert, nennt Hegel den spekulativen Moralist, dessen Eigenschaften er wie

folgt beschreibt:

"Der spekulative Moralist […] macht eine philosophische Beschreibung der

Tugend, - seine Beschreibung muß deduziert, es muß [in] ihr kein

Widerspruch sein; eine Beschreibung einer Sache ist immer die vorgestellte

andere Formulierung desselben Problems ist, und Fichte gelangt dabei sachlich zu genau demselben

Resultat wie Kant: "Es ist kein Widerstreit zwischen der Freiheit vernünftiger Wesen überhaupt: d. h. es

widerspricht sich nicht, daß mehrere in derselben Sinneswelt frei seien. [...] Ein Widerstreit nicht

zwischen dem Freisein überhaupt, sondern zwischen bestimmten freien Handlungen vernünftiger Wesen

entsteht nur dadurch, daß einer seine Freiheit rechts- und pflichtwidrig, zur Unterdrückung der Freiheit

eines anderen gebrauche." J. G. Fichte, Das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der

Wissenschaftslehre (1798), Hamburg 1963, §24, S. 297.

TP

33PT Aus diesem Grund ist die Auffassung von Lukács über die Positionsdifferenz zwischen Kant und Hegel

m. E. völlig richtig: "Der Gegensatz zwischen Kant und Hegel besteht [...] darin, daß Kant die

gesellschaftlichen Inhalte der Moral ununtersucht läßt, sie ohne historische Kritik hinnimmt und aus den

formalen Kriterien des Pflichtbegriffs, aus der Übereinstimmung des Inhalts des Imperativs mit sich

selbst die moralischen Forderungen abzuleiten versucht, während für Hegel jede einzelne moralische

Forderung nur einen Teil, nur ein Moment eines lebendigen, sich in ständiger Bewegung befindlichen

gesellschaftlichen Ganzen bildet. Für Kant stehen also die einzelnen Gebote der Moral isoliert

nebeneinander, als angeblich zwingende logische Folgen eines einheitlichen überhistorischen und

übergesellschaftlichen Vernunftprinzips; für Hegel sind sie Momente eines dialektischen Prozesses, die in

diesem Prozeß miteinander in Widerspruch geraten, durch das lebendige Wechselspiel dieser

Widersprüche einander gegenseitig aufheben, im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung absterben

oder in veränderter Form und mit verändertem Inhalt wieder auftauchen." G. Lukács, Der junge Hegel,

a.a.O., S. 207f.

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Sache; hält er diese Vorstellung, den Begriff, an das Lebendige, so sagt er,

das Lebendige soll so sein, - zwischen dem Begriff und der Modifikation

eines Lebendigen soll kein Widerspruch sein als der allein, daß jener ein

Gedachtes, dieses ein Seiendes ist. Eine Tugend in der Spekulation allein ist,

und ist notwendig, d. h. ihr Begriff und das Gegenteil kann nicht sein, es ist

keine Veränderung, kein Erwerb, kein Entstehen, kein Vergehen in ihr als

Begriff; aber dieser Begriff mit dem Lebendigen zusammengehalten soll

sein - die Tugend als Modifikation des Lebendigen ist entweder, oder ist

auch nicht, kann entstehen und vergehen. Der spekulative Moralist kann

sich also wohl hinreißen lassen, in eine warme Betrachtung des

Tugendhaften und des Lasterhaften zu verfallen; aber seine Sache ist

eigentlich nur, mit dem Lebendigen den Krieg [zu] führen, gegen dasselbe

zu polemisieren, oder nur ganz kalt seine Begriffe zu kalkulieren."TPF

34FPT

Das Problem ist, daß der Moralist, wie Kant, jedes gesellschaftliche Verhältnis auf das

Paradigma von Pflichterfüllung oder –verletzung bzw. das gesellschaftliche Leben des

Menschen auf den Kampf des vernunftmäßig Moralischen gegen das bloß Sinnliche

bezieht und daher den Reichtum des Lebens und dessen Vielfältigkeit nicht begreifen

kann.

"Ein Mann, der den Menschen in seiner Ganzheit wiederherstellen wollte,

konnte einen solchen Weg unmöglich einschlagen, der der Zerrissenheit des

Menschen nur einen hartsinnigen Dünkel zugesellt. Im Geiste der Gesetze

handeln konnte ihm nicht heißen, aus Achtung für die Pflicht mit

Widerspruch der Neigungen handeln."TPF

35FPT

Die Moralität Kants, die von der Entgegensetzung zwischen Pflicht und Neigung, dem

Geistigen und dem Sinnlichen oder dem Sollen und dem Sein ausgeht, führt letztlich zur

Herrschaft des ersten über das zweite, d. h. zur "Unterjochung des Einzelnen unter das

Allgemeine" bzw. zum "Sieg des Allgemeinen über sein entgegengesetztes

Einzelnes."TPF

36FPT Bei der Kantischen Ethik ist der Mensch bloß "Sklave gegen einen

TP

34PT G. W. F. Hegel, Der Geist des Christentums, in: TW, Bd. 1, S. 337. Hervorhebung im Original.

TP

35PT A.a.O., S. 324.

TP

36PT G. W. F. Hegel, Grundkonzept zum Geist des Christentums, in: TW, Bd. 1, S. 299.

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95

Tyrannen, und zugleich Tyrann gegen Sklaven."TPF

37FPT Insofern sie "die Form des

Gesetzes"TPF

38FPT in sich enthält oder sich von der Herrschaftsstruktur nicht befreit, kann sie

die Positivität nicht überwinden, weil die Gesetze, seien es bürgerliche oder moralische,

"natürliche Beziehungen des Menschen in der Form von Geboten ausdrücken." TPF

39FPT Hegel

widerspricht daher der Kantischen Ethik entschieden:

"Durch diesen Gang ist aber die Positivität nur zum Teil weggenommen [denn

das Pflichtgebot ist eine Allgemeinheit, die dem Besonderen entgegengesetzt

bleibt, und dieses ist das Unterdrückte, wenn sie herrscht. (von Hegel

gestrichen)]; und zwischen dem tungusischen Schamanen […] und dem seinem

Pflichtgebot Gehorchenden ist nicht der Unterschied, daß jene sich zu Knechten

machten, dieser frei wäre; sondern daß jener den Herrn außer sich, dieser aber

den Herrn in sich trägt, zugleich aber sein eigener Knecht ist; für das Besondere,

Triebe, Neigungen, pathologische Liebe, Sinnlichkeit, oder wie man es nennt,

ist das Allgemeine notwendig und ewig ein Fremdes, ein Objektives; es bleibt

eine unzerstörbare Positivität übrig, die vollends dadurch empörend wird, daß

der Inhalt, den das allgemeine Pflichtgebot erhält, eine bestimmte Pflicht, den

Widerspruch eingeschränkt und allgemein zugleich zu sein enthält und um der

Form der Allgemeinheit willen für ihre Einseitigkeit die härtesten Prätentionen

macht. Wehe den menschlichen Beziehungen, die nicht gerade im Begriff der

Pflicht sich finden, der, sowie er nicht bloß der leere Gedanke der

Allgemeinheit ist, sondern in einer Handlung sich darstellen soll, alle anderen

Beziehungen ausschließt oder beherrscht."TPF

40FPT

Die Grenze der Kantischen Ethik liegt also darin, daß diese nicht den lebendigen

Menschen berücksichtigt, sondern die Moral für den lebendigen Menschen zu etwas

Totem macht, indem sie das wirkliche Leben aus der Ethik ausschließt und es durch

lebensfremde Gebote unterjocht, und daß sie den Menschen infolgedessen nur als einen

"Geizigen" behandelt, "der sich immer Mittel zusammenscharrt und bewahrt, ohne je zu

genießen." TPF

41FPT

TP

37PT A.a.O., S. 302.

TP

38PT A.a.O., S. 338.

TP

39PT A.a.O., S. 321.

TP

40PT A.a.O., S. 323.

TP

41PT A.a.O., S. 307f.

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96

In der Frankfurter Zeit steht die Auseinandersetzung Hegels mit der Kantischen Ethik,

die in seiner Berner Zeit keine zentrale Rolle gespielt hat, im Vordergrund. Diese auf

die Ethik beschränkte Kritik erweitert sich allerdings in der Jenenser Zeit zu einer

Polemik gegen die Kantische Philosophie überhaupt. Diese Polemik kommt in der

Kritik der sogenannten Reflexionsphilosophie zum Ausdruck, die eigentlich in einer

Zeitkritik besteht.

1.2. Die Kritik des jungen Hegel an der Reflexionsphilosophie

Die Jenaer Schriften Hegels werden in der Gegenwart besonders stark rezipiert, weil sie

systematischer sind als seine früheren Werke und konkreter als seine späteren Werke, so

daß man durch diese Schriften sowohl den historischen Entwicklungsprozeß seiner

Gedanken als auch die Darstellungen des späten Hegels besser verstehen kann.

Besonders wichtig sind Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der

Philosophie (1801), Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der

Subjektivität, in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische und

Fichtesche Philosophie (1802), System der Sittlichkeit (1802/3), Ueber die

wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen

Philosophie, und sein Verhältniß zu den positiven Rechtswissenschaften (1803) und

Jenenser Systementwürfe I, II (1803/4, 1805/6). In den ersten beiden Schriften, auf die

ich mich hier beschränken werde, übt Hegel eine umfangreiche und systematische

Kritik an der sogenannten Reflexionsphilosophie.

Hegel geht davon aus, daß der Mensch erst mit der Moderne als das aus sich heraus

denkende und handelnde Subjekt auf der Bühne der Geschichte erscheint, d. h. daß

seiner Ansicht nach die Subjektivität in der Moderne zum Prinzip nicht nur der

Philosophie, sondern auch der gesamten Lebenswelt wurde. Die Selbstbeziehung in der

Erkenntnis (Reflexion) und die Selbstbestimmung in dem Handeln (Freiheit) gehören zu

den wesentlichen Bestimmungen der Subjektivität.

Er sieht aber die Grenze der modernen Philosophie in deren erkenntnistheoretischem

Schema. Im Prozeß der Säkularisierung das Erkenntnisvermögen des Menschen zu

untersuchen scheint unentbehrlich zu sein. Die Erkenntnis setzt einerseits die Trennung

von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt voraus. Andererseits ist sie ein

Vermögen, das Objekt ins Subjekt aufzunehmen und dadurch zu bearbeiten und zu

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'versubjektivieren', d. h. das erkennende Subjekt kehrt in der Reflexion auf ein Objekt

zugleich wieder zu sich zurück. Also handelt es sich beim Erkennen um die absolute

Trennung zwischen Subjekt und Objekt einerseits und um die absolute Abhängigkeit

des Objektes vom Subjekt andererseits. Das erkennende Subjekt ist zwar endlich, da es

außer sich das Objekt hat, aber es verabsolutiert sich selbst in dem Sinne, daß es das

Objekt bearbeitet und subjektiviert. Gerade in dieser erkenntnistheoretischen Wende

besteht das Hauptmerkmal der modernen Philosophie.

Allerdings ist es problematisch, die Erkenntnistheorie zur Philosophie überhaupt zu

erweitern. Der Jenenser Hegel kritisiert diese Erweiterung unter dem Namen der

'Reflexionsphilosophie'. Der Kern seiner Kritik an dieser Philosophie besteht darin, daß

diese, wie die Erkenntnistheorie, nur im 'Vorhof der Philosophie' bleibe, weil sie dem

leeren S-O-Schema verhaftet sei. Von daher ließen sich in ihr die Selbstbeweglichkeit

und die unendliche Geistigkeit des Objektes niemals begreifen.

'Reflexion' ist ein Terminus aus der Optik und meint eigentlich 'zurückbeugen'. Er

wurde später im philosophischen sowie umgangssprachlichen Bereich mit der Metapher

des Sich-Spiegelns, d. h. mit der Selbsterkenntnis und mit dem Selbstbewußtsein,

verbunden.TPF

42FPT Bei der modernen Philosophie, die die Subjektivität als Prinzip hat, geht es

bei der Reflexion um die Struktur der Selbstbeziehung des erkennenden Subjekts, das

sich auf sich als Objekt 'zurückbeugt', um sich wie in einem Spiegelbild zu begreifen.

Das erkennende Subjekt zeichnet sich durch die Selbstverabsolutierung des endlichen

Subjekts aus und kann daher von Natur aus die geistige Unendlichkeit des Gegenstandes

nicht begreifen; vielmehr sieht es im Gegenstand nur eine endliche Dinglichkeit. Dies

bedeutet bei Hegel folgendes:

"Es ist gerade durch ihre Flucht vor dem Endlichen, und das Festseyn der

Subjectivität, wodurch ihr das Schöne zu Dingen überhaupt, der Hayn zu

Hölzern, die Bilder zu Dingen, welche Augen haben und nicht sehen, Ohren, und

nicht hören und, wenn die Ideale nicht in der völlig verständigen Realität

genommen werden können als Klötze und Steine, zu Erdichtungen werden, und

jede Beziehung auf sie als wesenloses Spiel oder als Abhängigkeit von Objecten

und als Aberglauben erscheint."TPF

43FPT

TP

42PT L. Zahn, Reflexion, in: HWPh, Bd. 8, Sp. 396ff.

TP

43PT G. W. F. Hegel, Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjectivität, in der

Vollständigkeit ihrer Formen, als Katische, Jacobische, und Fichtesche Philosophie, in: GW, Bd. 4,

Page 99: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

98

Die Reflexionsphilosophie, die ihre Geltung nur im Rahmen der Erkenntnistheorie

haben könnte, besteht daher im 'endlichen Erkennen von Endlichkeiten'. Hegel hält sie

daher für einen "Idealismus des Endlichen",TPF

44FPT der niemals eine lebendige, d. h. geistige

und unendliche Einheit zwischen Subjekt und Objekt bzw. Endlichem und Unendlichem

hervorbringen könne.

Er hält vor allem den subjektiven Idealismus von Kant und Fichte für ein typisches

Muster dieser Philosophie. Subjektiver Idealismus wird, wie auch in der Logik, als eine

Vorstellung definiert, "als ob im Gegenstand nichts sey, was nicht in ihn hineingelegt

werde", so daß man "in der Analyse die Thätigkeit des Erkennens allein für einseitiges

Setzen nimmt, jenseits dessen das Ding-an-sich verborgen bleibt."TPF

45FPT Die Objektivität

der Dinge wird bei Kant nur durch die Kategorien des Verstandes sowie die

Anschauung der Sinnlichkeit, d. h. durch das endliche Subjekt, garantiert. Diese

Vorstellung setzt eine epistemologische Gewißheit voraus, daß das Subjekt der einzige

Schöpfer der phänomenalen Welt ist und diese Welt durch das transzendentale Ich

konstruiert wird; die Erkenntnis wird hier durch die Anwendung der transzendental

bestimmten Schemata auf die Gegenstände erzeugt; die objektive Welt ist nichts

anderes als ein Produkt des Monologs des transzendentalen Subjekts, d. h. ein von der

Selbstbeziehung des Subjekts Hervorgebrachtes. Von daher ist das Objekt für das

Subjekt bloß "ein subjektives Subjektobjekt".TPF

46FPT Die Objekt-Erkenntnis ist letztlich

nichts anderes als die Selbsterkenntnis des Subjekts.

Auch Fichte überwindet nach Hegel den Kantischen Idealismus nicht, weil auch bei ihm

die Einheit der Welt nur innerhalb des reinen Bewußtseins konstituiert wird. Dies drückt

sich nach Hegel bei Fichte so aus, "daß die höchste Synthese, die das System aufzeigt,

ein Sollen ist."TPF

47FPT Das Ich "producirt in dem unendlichen Progreß des verlängerten

Daseyns endlos Theile von sich, aber nicht sich selbst in der Ewigkeit des sich selbst

Jenaer Kritische Schriften, H. Buchner / O. Pöggeler (Hg.), Hamburg 1968, (=Glauben und Wissen) S.

317.

TP

44PT A.a.O., S. 322.

TP

45PT G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik II, Die subjektive Logik, in: GW, Bd. 12, F. Hoggemann / W.

Jaeschke (Hg.), Hamburg 1981, S. 203.

TP

46PT G. W. F. Hegel, Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, in: GW, Bd.

4, a.a.O., (=Differenzschrift), S. 6f.

TP

47PT A.a.O., S. 45.

Page 100: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

99

Anschauens als Subjekt-Objekt."TPF

48FPT Das Nicht-Ich bzw. die Natur hängt vollständig von

der Setzung des Ich ab. Das Setzen eines Objekts verwandelt sich aber "in ein - der

freyen Thätigkeit absolut entgegensetztes – sich selbst beschränken."TPF

49FPT Die Natur, die

vom absoluten Ich gesetzt wird, ist bei Fichte nichts anderes als etwas Totes, das keine

eigenen Beweggründe besitzt.

Diese erkenntnistheoretische Struktur liegt auch seiner praktischen Philosophie

zugrunde. Bei der praktisch-philosophischen Antwort auf die Frage nach dem

Verhältnis des Menschen zur Gesellschaft z. B. erscheint die Gesellschaft nur als ein

Gegenstand, der keine eigenen Beweggründe hat und sogar die Freiheit des Menschen

verhindert, welche ein zentrales Thema seiner Philosophie ist. Für Fichte, der mit dem

Begriff der absoluten Ich-Identität eine 'Philosophie der Freiheit' entwirft, ist die

Freiheit des Menschen außerhalb der Gesellschaft, d. h. nur innerhalb des Willens des

Menschen möglich. Derartige Gesellschaftskonzeptionen, die – wie Fichte – einen

solchen atomistischen Ausgangspunkt haben, kritisiert Hegel wie folgt:TPF

50FPT

"Wenn die Gemeinschaft der Vernunftwesen wesentlich ein Beschränken

der wahren Freyheit wäre, so würde sie an und für sich die höchste

Tyrannei seyn."TPF

51FPT

Bei dem subjektiven Idealismus, dessen Ausgangspunkt das endliche Einzelne als

Subjekt ist, scheint der Kampf zwischen dem die Freiheit suchenden Ich und der sie

beschränkenden Gesellschaft daher unvermeidbar zu sein. Ein solcher Konflikt

zwischen Individuum und Gesellschaft ist nach Hegel eine notwendige Folge, wenn die

moderne Subjektivität zum Prinzip der Philosophie erhoben wird, weil diese "isolierte

Reflexion"TPF

52FPT ein Prinzip der Entzweiung darstellt.

Hegel geht allerdings davon aus, daß die Erhebung der isolierten Reflexion oder der

Subjektivität zum Prinzip der Philosophie Ausdruck einer entzweiten Zeit ist. Er hält die

Subjektivität also nicht nur für das Prinzip des subjektiven Idealismus, sondern auch für

TP

48PT A.a.O., S. 48.

TP

49PT Ebd.

TP

50PT Darin, daß Hegel eine kollektive Gesellschaftskonzeption hat, während Hobbes und Fichte eine

atomistische haben, sieht Honneth einen entscheidenden Unterschied zwischen beiden Positionen. Vgl. A.

Honneth, Kampf um Anerkennung, a.a.O., besonders das 1. Kapitel.

TP

51PT G. W. F. Hegel, Differenzschrift, S. 55.

TP

52PT A.a.O., S. 16.

Page 101: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

100

das der Zeit selbst. Das ist der Grund, warum er sowohl Kant und Fichte als auch Jacobi

als Reflexionsphilosophen angesehen hat.TPF

53FPT Im Gegensatz zu Kant geht Jacobi in der

Erkenntnistheorie weder von einer Priorität der Vernunft oder der Reflexion noch von

einer vernünftigen Begreifbarkeit des Seins aus. Er trennt das Objekt und auch das

Absolute vom Denken oder dem Subjekt und setzt das Absolute jenseits der Reflexion.

Hegel bezeichnet eine solche Trennung als ein zentrales Merkmal der

Reflexionsphilosophie. Also kann eine Versöhnung beider Faktoren auch bei Jacobi

nicht stattfinden. Während es bei Kant und Fichte um eine "nur endliches denkende

Vernunft"TPF

54FPT geht, geht es bei Jacobi um eine Vernunft, die "das Ewige nicht denken

kann".TPF

55FPT Beide sind Ausdruck derselben Denktradition. Also spiegeln die Philosophien

sowohl von Kant und Fichte als auch von Jacobi trotz der Unterschiede im Detail die

damalige Reflexionskultur wider, die den absoluten Gegensatz vom Endlichen und

Unendlichen voraussetzt:

"Es ist also in diesen Philosophieen nichts zu sehen, als die Erhebung der

Reflexions-Cultur zu einem System; eine Cultur des gemeinen

Menschenverstandes, der sich bis zum Denken eines Allgemeinen erhebt, den

unendlichen Begriff aber, weil er gemeiner Verstand bleibt, für absolutes Denken

nimmt und sein sonstiges Anschauen des Ewigen und den unendlichen Begriff

schlechthin auseinander läßt."TPF

56FPT

Die Reflexionskultur ist also bei Hegel nichts anderes als eine Kultur einer entzweiten

Zeit, und die Reflexionsphilosophie ist eine Philosophie, die diese Entzweiung

theoretisch rechtfertigt. Bei dieser Philosophie findet eine wahre Vereinigung des

Gegensatzes niemals statt, weil "das wahrhaft Absolute ein absolutes Jenseits im

Glauben oder im Gefühl und nichts für die erkennende Vernunft" ist.TPF

57FPT Die Kritik an der

Reflexionsphilosophie richtet sich deswegen auch gegen den damaligen Zeitgeist,

TP

53PT Siehe zum Verhältnis des jungen Hegel zu Jacobi H.-J. Gawoll, Glauben und Positivität. Hegels frühes

Verhältnis zu Jacobi, in: M. Bondeli / H. Linneweber-Lammerskitten (Hg.), Hegels Denkentwicklung in

der Berner und Frankfurter Zeit, a.a.O., S. 87-104.

TP

54PT G. W. F. Hegel, Glauben und Wissen, S. 322.

TP

55PT Ebd.

TP

56PT A.a.O., S. 322f.

TP

57PT A.a.O., S. 383.

Page 102: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

101

welcher den nicht spekulativen, d. h. der wahren Vereinigung des Gegensatzes

unfähigen Verstand 'bis zum Denken eines Allgemeinen' erhebt.

Indem die Reflexionsphilosophie den Verstand verabsolutiert, erhält die

Mannigfaltigkeit einer in sich zerfallenen Welt "einen objectiven Zusammenhang und

Halt, Substantialität, Vielheit und sogar Wirklichkeit und Möglichkeit", - "eine

objective Bestimmtheit, welche der Mensch hin-sieht und hinauswirft."TPF

58FPT

In der Reflexionskultur, deren Wesen in der Verabsolutierung und Verselbständigung

der zerstörerischen Kraft der Reflexion liegt, sieht Hegel daher eine Verwandlung der

Emanzipation, die das Ziel der Moderne war, in Unfreiheit. Aus diesem Grund nennt

Hegel die reflexionsphilosophische Vereinigung eine 'falsche Identität':

"Eine falsche Identität ist das Kausal-Verhältniß zwischen dem Absoluten

und seiner Erscheinung, denn diesem Verhältniß liegt die absolute

Entgegensetzung zum Grunde. […] die Vereinigung ist gewaltsam, das

eine bekommt das andre unter sich; das eine herrscht, das andre wird

bottmäßig; Die Einheit ist in einer nur relativen Identität erzwungen, die

Identität, die eine absolute seyn soll, ist eine unvollständige."TPF

59FPT

1.3. Die Idee der Lebenstotalität beim jungen Hegel

Für Hegel ist es die einzige Aufgabe der Philosophie, das Absolute zu begreifen. Er geht

davon aus, daß diese Aufgabe durch die moderne Vernunft, den Verstand oder die

isolierte Reflexion nicht erfüllt werden kann, da sie auf dem Geist der Trennung

basieren. Das Absolute darf für ihn nicht jenseits des Endlichen vorhanden sein, weil es

in dem Fall von dem Endlichen begrenzt würde und insofern ein Beschränktes wäre.

Aber es ist gleichzeitig nach der Definition kein Endliches. Es muß daher als das

betrachtet werden, was die Endlichkeit und Unendlichkeit in sich umfaßt.TPF

60FPT Das

Absolute darf allerdings dabei nicht als Substanz oder als Objekt begriffen werden, weil

es sich in diesem Fall in eine Schranke der Bedingtheit setzt. Vielmehr muß es als

TP

58PT A.a.O., S. 330.

TP

59PT G. W. F. Hegel, Differenzschrift, S. 32.

TP

60PT Hegel entwickelt diesen Gedanken in der Logik unter dem Thema von negativer Unendlichkeit und

affirmativer bzw. wahrer Unendlichkeit.

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102

Subjekt begriffen werden wie bei Schelling: "Indem ich es als Objekt festhalten will,

tritt es in die Schranken der Bedingtheit zurück. Was Objekt für mich ist, kann nur

erscheinen; sobald es mehr als Erscheinung für mich ist, ist meine Freiheit vernichtet.

[…] Soll ich das Unbedingte realisieren, so muß es aufhören, Objekt für mich zu sein.

Ich muß das Letzte, das allem Existierenden zugrunde liegt, das absolute Sein, das in

jedem Dasein sich offenbart, als identisch mit mir selbst, mit dem Letzten,

Unveränderlichen in mir denken."TPF

61FPT So ist das Absolute identisch mit dem Ich, das

nichts anderes als das sich bewegende Subjekt ist, d. h. sich als Endliches erscheinen

läßt und von daher wieder zu sich zurückkommt. In diesem Punkt stimmt Hegel mit der

Philosophie der Subjektivität überein.

Der junge Hegel findet die jenem Absoluten entsprechende Vorstellung im Begriff des

Lebens. Das Leben gehörte zu seiner Zeit z. B. bei Jacobi, bei Fichte und auch bei

Schelling zu einem der wichtigsten philosophischen Begriffe; bei Jacobi und auch bei

Fichte wird das Leben als Prinzip des Bewußtseins aufgenommen; Schelling versteht

das Leben als die organische Tätigkeit des Lebendigen bzw. der Natur überhaupt. Auch

Hegel geht von einem lebendigen Organismus aus und erweitert den Begriff des Lebens,

so daß er alles Sein im allgemeinen und die Geschichte der menschlichen Gesellschaft

im besonderen umfaßt. Ein Lebewesen besteht als ein Organismus aus verschiedenen

Gliedern. Jedes Glied existiert zwar unabhängig von den anderen Gliedern, aber es trägt

im allgemeinen zum Leben jenes Lebewesens bei. Also besteht das Leben bei Hegel aus

verschiedenen Individuen und besonderen Teilen, deren Sein nur darin liegt, Glieder des

Ganzen zu sein. Ein Lebewesen ist daher nichts anderes als eine unendliche Bewegung,

in der es sich zum Endlichen entwickelt, darin wieder zu sich zurückkehrt und dadurch

bei sich bleibt. Die Bestimmungen des jungen Hegel über das Leben, die aus

widersprüchlich aussehenden Termini zusammengesetzt werden, wie z. B. "der

Zusammenhang des Unendlichen und des Endlichen"TPF

62FPT, "die Vereinigung von Körper

und Geist"TPF

63FPT, "ein unendlich Endliches, ein unbeschränkt Beschränktes"TPF

64FPT sowie "die

Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung"TPF

65FPT etc. spiegeln gerade diesen

Gedanken wider. Hegel wollte, von diesem Charakter des Lebens ausgehend, die

Entwicklung aller Vorgänge des menschlichen Lebens deuten. Er versteht das TP

61PT F. W. J. Schelling, Werke, M. Schröter (Hg.), Jena 1926, Bd. 1, S. 108.

TP

62PT G. W. F. Hegel, Der Geist des Christentums, in : TW, Bd. 1, S. 378.

TP

63PT A.a.O., S. 414.

TP

64PT A.a.O., S. 420.

TP

65PT A.a.O., S. 422.

Page 104: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

103

menschliche Leben als das, was in den gesellschaftlichen sowie geschichtlichen

Bereichen sich zum Gegenstand macht oder sich entzweit und danach wieder vereinigt.

Das Absolute zu begreifen – das ist seine einzige philosophische Aufgabe – ist daher,

"das Seyn in das Nichtseyn – als Werden, die Entzweyung in das Absolute – als seine

Erscheinung, – das Endliche in das Unendliche – als Leben zu setzen." TPF

66FPT Entzweiung,

welche als Erscheinung des Absoluten verstanden wird, ruft "das Bedürfniß der

Philosophie" TPF

67FPT hervor. In dieser Hinsicht kann und muß der Begriff des Lebens, wie

Kroner sagt, als "das geschichtliche Leben"TPF

68FPT verstanden werden.

Das Begreifen des Lebens verdankt sich nach Hegel der spekulativen Fähigkeit des

Menschen, d. h. der wahren Reflexion bzw. der vereinigenden Vernunft, nicht der

modernen subjektiven Vernunft bzw. der isolierten Reflexion. Die wahre Reflexion

sieht in der wirklichen Entzweiung eine Erscheinung des Absoluten und bezieht sich

daher direkt auf das Absolute. Wenn die erkennende Vernunft dabei eine Fähigkeit wäre,

die stets vollständig von dem Absoluten unterschieden wäre, würden das erkennende

Subjekt und das erkannte Objekt sich unvermittelt gegenüber stehen. Daher dürfen sich

die begreifende Vernunft und das begriffene Absolute nicht voneinander unterscheiden:

"[…] die Reflexion hat als Vernunft Beziehung auf das Absolute, und sie ist

nur Vernunft durch diese Beziehung; die Reflexion vernichtet insofern sich

selbst und alles Seyn und Beschränkte, indem sie es aufs Absolute bezieht;

zugleich aber eben durch seine Beziehung auf das Absolute hat das

Beschränkte ein Bestehen." TPF

69FPT

Aus diesem Grund identifiziert der junge Hegel das Leben mit dem Geist bzw. der

Vernunft: "Das unendliche Leben kann man einen Geist nennen […], denn Geist ist die

lebendige Einheit des Mannigfaltigen […]."TPF

70FPT Also sind für Hegel das Leben und der

Geist nur verschiedene Worte für das Absolute: jenes akzentuiert die objektive Seite des

TP

66PT G. W. F. Hegel, Differenzschrift, S. 16.

TP

67PT A.a.O., S. 14.

TP

68PT R. Kroner, Von Kant bis Hegel, Bd. 2, a.a.O., S. 145.

TP

69PT G. W. F. Hegel, Differenzschrift, S. 16f.

TP

70PT G. W. F. Hegel, Systemfragment von 1800, in: TW, Bd. 1, S. 421.

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104

Absoluten und dieses im Gegenteil dessen subjektive Seite. Von daher ist es

gerechtfetigt, das Absolute Hegels mit dem "Leben des Geistes"TPF

71FPT zu identifizieren.

Die Kritik des jungen Hegel an der Positivität und der Reflexionsphilosophie läßt sich

nun vom Standpunkt des Lebens deuten. Die Positivität, die einer der wichtigsten

kritischen Begriffe des Berner und Frankfurter Hegels ist, bedeutet die Aufhebung der

Subjektivität bzw. der moralischen Autonomie des Subjekts. In dem positiven System

bewegt man sich im Bereich der Legalität und dabei ist eine gesetzliche

Herrschaftsstruktur übermächtig. Außerdem kann auch die Moralität Kants die

Positivität nicht aufheben, weil sie auf der Herrschaft des Sollens gegenüber dem Sein

basiert. Diese Positivität, sei es aus der Legalität oder aus der Moralität, bedeutet vom

Standpunkt des Lebens her nichts anderes als eine Zementierung der Trennung des

Lebens.

In der Frankfurter Zeit wurde das Leben zu einem Hauptgegenstand der Hegelschen

Philosophie. Zu dieser Zeit hat er das Problem der fehlenden Einheit des Lebens

besonders im Zusammenhang mit dem Begriff des 'Schicksals' betrachtet. Hegel sieht z.

B. das Judentum als eine Urform der Positivität an, weil der Geist des Judentums die

Einheit des Lebens zerstört und diese Trennung festschreibt. Hegel versteht die

Trennung des Lebens als die 'Zerreißung des Zusammenlebens' unter den Menschen. In

dieser Hinsicht betrachtet er den Akt Abrahams, der das Schicksal der Juden bestimmte:

"Der erste Akt, durch den Abraham zum Stammvater einer Nation wird, ist

eine Trennung, welche die Bande des Zusammenlebens und der Liebe

zerreißt, das Ganze der Beziehungen, in denen er mit Menschen und Natur

TP

71PT R. Kroner, Von Kant bis Hegel, Bd. 2, a.a.O., S. 145. Allerdings erkennt Hegel nach und nach, daß

'Geist' und 'Leben' kategorisch unterschieden sind. Denn er verwendet immer häufiger statt des

Lebensbegriffs den Begriff des Geistes als Hauptgegenstand seiner Philosophie. Dies bedeutet den

Übergang von seiner frühen romanistischen, lebensphilosophischen Ausrichtung zu einem objektiven

Idealismus. Aber Dilthey hält nach Rodi den Lebensbegriff des jungen Hegel bis zuletzt als eine für seine

Philosophie konstitutive Kategorie fest, um "den Strukturzusammenhang zwischen Selbst und Milieu"

bezeichnen zu können. Anders gesagt, 'Leben' und 'Geist' sind weder austauschbare Begriffe noch

aufeinander reduzierbar: "Dieser Lebensbegriff wird durch den des objektiven Geistes nicht ersetzt,

sondern vielmehr ergänzt, indem die Geschichtlichkeit des Lebenszusammenhanges durch die Teilhabe

des subjektiven Lebens an den Strukturen des überindividuellen 'Mediums von Gemeinsamkeiten' (=

objektiver Geist) dargetan wird." F. Rodi, 'Der Rhythmus des Lebens selbst'. Hegel und Hölderlin in der

Sicht des späten Dilthey, in: ders., Erkenntnis des Erkannten. Zur Hermeneutik des 19. und 20.

Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1990, S. 57.

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105

bisher gelebt hatte; diese schönen Beziehungen seiner Jugend (Jos. 24, 3)

stieß er von sich."TPF

72FPT

Die jüdische Geschichte sei nichts anderes als ein Vorgang, in welchem der erste Akt

Abrahams auf den ganzen Bereich des Lebens erweitert wurde. Alles, was als die

Eigenschaften des Judentums bezeichnet werden, z. B. die Trennung von Gott und dem

Menschen, den Juden und den anderen Völkern sowie dem Geist und der Natur etc., die

gesetzliche Beziehung zwischen beiden Elementen und die Herrschaftsstruktur, ist nach

Hegel das bloße Resultat des 'Geistes der Trennung' Abrahams. Solch eine tragische

Entwicklung nennt Hegel das 'Schicksal'. Dieser Begriff bezeichnet also eine tragische

Notwendigkeit der Geschichte, welche bei der Zerstörung des Zusammenlebens entsteht,

gegenüber der der Einzelne machtlos ist, und welcher er sich unterwerfen muß.TPF

73FPT Erst

unter dem Gesichtspunkt des Schicksals wird das zerrissene Leben selbst als ein Leben

angesehen, während es in der Hinsicht des Gesetzes nichts anderes als ein 'Nicht-Leben'

ist.TPF

74FPT Hierin liegt der Unterschied zwischen dem Leben und dem Gesetz.

Dieser Gedanke spiegelt wider, daß allein das Leben das sich rein auf sich selbst

beziehende einzige Subjekt ist, das heißt, daß das Leben sogar bei einem starren

positiven System nicht auf die gesetzlichen Beziehungen reduziert werden kann und das

Leben somit über das positive Gesetz hinausgeht. Dies gilt nicht nur für die positive

Religion, welche das Leben nur in legalen Beziehungen betrachtet, sondern auch für die

Kantische Ethik, welche das Leben nach dem Moralgesetz beurteilt. Das Gesetz sollte

nach Hegel als eine 'lebendige Modifikation der Menschennatur' vom Menschen

bestimmt werden und nicht umgekehrt den Menschen bestimmen, das Gesetz sollte zum

Menschen und nicht der Mensch zum Gesetz gehören.TPF

75FPT Dies ist der Grund, warum das

Gesetz von Natur aus notwendig ein positives Element enthält:

"Da sie [s.c. die Gesetze] natürliche Beziehungen des Menschen in der Form

von Geboten ausdrücken, so besteht die Verirrung in Ansehung derselben

darin, wenn sie entweder ganz oder zum Teil objektiv werden. Da Gesetze

Vereinigungen Entgegengesetzter in einem Begriff sind, der sie also als

TP

72PT G. W. F. Hegel, Der Geist des Judentums, in: TW, Bd. 1, S. 277.

TP

73PT Vgl. Steven B. Smith, Hegels Critique of Liberalism, Chicago 1991, S. 50.

TP

74PT Vgl. Hegel, Der Geist der Christentums, in: TW, Bd. 1, S. 400.

TP

75PT A.a.O., S. 318.

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106

Entgegengesetzte läßt, der Begriff aber selbst in der Entgegensetzung gegen

Wirkliches besteht, so drückt er ein Sollen aus." TPF

76FPT

Das Leben, das in der Form des Gesetzes erscheint, sei es bürgerliches oder moralisches

Gesetz, wird dadurch versteinert. Jenes, das von "einer fremden Macht" stammt,

schränkt "die Entgegensetzung Lebendiger gegen Lebendige" ein, während dieses, das

von einer inneren Macht stammt, "die Entgegensetzung einer Seite, einer Kraft eines

Lebendigen gegen andere Seiten, andere Kräfte eben desselben Lebendigen"

einschränkt.TPF

77FPT Weil sie beide aber trotz dieses Unterschiedes auf der Trennung des

Sollens und des Wirklichen und der daraus entstehenden Herrschaftsstruktur basieren,

enthalten sie von Anfang an den Keim der Positivität in sich.

Hegel erhellt den Unterschied des reinen Lebens vom gesetzlichen Leben vor allem

durch die Analyse der Art und Weise, wie das Phänomen des Verbrechens behandelt

wird. Indem das Gesetz den Verbrecher für die Verletzung des Lebens eines anderen

straft, füllt es sein 'Fehlendes' und seine 'Lücke', welche durch das Verbrechen

entstanden ist.TPF

78FPT Hier erscheinen das Gesetz als Allgemeines und der Verbrecher als

Besonderes, das sich jenem unterwerfen muß. Hegel sagt über die Notwendigkeit der

dem Verbrecher gegebenen Strafe folgendes:

"Die Strafe ist Wirkung eines übertretenen Gesetzes, von dem der Mensch

sich losgesagt hat, aber von welchem er noch abhängt und welchem, weder

der Strafe noch seiner Tat, er nicht entfliehen kann. Denn da [der] Charakter

des Gesetzes Allgemeinheit ist, so hat der Verbrecher zwar die Materie des

Gesetzes zerbrochen, aber die Form, die Allgemeinheit bleibt, und das

Gesetz, über das er Meister geworden zu sein [glaubte], bleibt, erscheint

aber seinem Inhalt nach entgegengesetzt, es hat die Gestalt der dem vorigen

Gesetz widersprechenden Tat; der Inhalt der Tat hat jetzt die Gestalt der

Allgemeinheit und ist Gesetz; diese Verkehrtheit desselben, daß es das

Gegenteil dessen wird, was es vorher war, ist die Strafe - indem sich der

Mensch vom Gesetz losgemacht hat, bleibt er ihm noch untertan; und da das

TP

76PT A.a.O., S. 321.

TP

77PT A.a.O., S. 321f. Hervorhebung im Original.

TP

78PT A.a.O., S. 340.

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107

Gesetz als Allgemeines bleibt, so bleibt auch die Tat, denn sie ist das

Besondere."TPF

79FPT

Das Problem ist aber hier nach Hegel, daß die Notwendigkeit des Gesetzes nicht dessen

Anwendungsnotwendigkeit, also nicht eine wirkliche Notwendigkeit, sondern nur eine

begriffliche ist. Das Gesetz setzt die Trennung zwischen dem Begriff und dem

Wirklichen sowie dem Sollen und dem Sein voraus, die niemals aufhebbar ist und daher

keine wahre Einheitskonzeption hervorbringen kann:

"Die Notwendigkeit des Verdienens der Strafe steht fest, aber die Übung der

Gerechtigkeit ist nichts Notwendiges, weil sie als Modifikation eines

Lebendigen auch vergehen, eine andere Modifikation eintreten kann; und so

wird Gerechtigkeit etwas Zufälliges."TPF

80FPT

Der Geist des Gesetzes will zwar das Leben bis in die letzten Teile hinein gesetzlich

bestimmen, um solche Zufälligkeit zu vermeiden, aber das Netz des trockenen Gesetzes

kann die sittliche Totalität des Lebens nicht umfassen. Die Kritik Hegels an Fichte geht

von diesem Hintergrund aus. Fichte, der in seiner Ethik alles zu reglementieren und alle

Regeln aus dem Wesen der Philosophie a priori zu deduzieren versucht, bestimmt sogar,

wie durch Vorschriften die Fälschung von Wechseln und Geld vermieden werden könne,

mit welchem Paß die Menschen versehen sein müssen, wie dieser Paß ausgestellt sein

müsse usw. TPF

81FPT Hegel wertet diese Art und Weise von Fichte, das Handeln sorgsam durch

ein Gesetzbuch zu bestimmen, als einen "Preißcourant"TPF

82FPT ab.

Als einen Gegenbegriff der Strafe, deren Notwendigkeit nur in der Ebene des Rechts

gilt, hat Hegel einen anderen Begriff, nämlich den des Schicksals, mit dem die wirkliche

Notwendigkeit der Strafe erklärt werden kann. Die Strafe als Schicksal ist eine Qual, die

der Verbrecher oder der Schuldner in den realen Lebensvorgängen erleidet. Hegel sieht

das Leben, wie erwähnt, als 'Zusammenleben' an. Er versteht daher die Verletzung des

Lebens oder das Verbrechen als Zerstörung des Zusammenlebens oder der sittlichen TP

79PT A.a.O., S. 341f.

TP

80PT Ebd.

TP

81PT Siehe Hegels Anmerkung 1 in der Differenzschrift, S. 56f.

TP

82PT G. W. F. Hegel, Ueber die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der

praktischen Philosophie, und sein Verhältniß zu den positiven Rechtswissenschften, in: GW, Bd. 4, a.a.O.,

(=Naturrechtschrift), S. 449.

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108

Prinzipien. Wer das Leben eines anderen vernichtet, verletzt nicht nur das Andere,

sondern auch sich selbst, weil er durch sein Verbrechen das Zusammenleben zerstört, in

dem sein Leben besteht. Daher scheint es unentbehrlich zu sein, daß der Verbrecher

wegen seines Tuns einen Schmerz empfindet: "Vernichtung des Lebens ist nicht ein

Nicht-Sein desselben, sondern seine Trennung, und die Vernichtung besteht darin, daß

es zum Feinde umgeschaffen worden ist."TPF

83FPT Dieser Schmerz ist also Strafe als Schicksal,

d. h. die Strafe, die das Leben sich selbst auferlegt.

Weil dieses Schicksals allerdings ein Schmerz des Lebens selbst ist, der mit dessen

Trennung anfängt oder dadurch entsteht, daß das Leben seine Zerstörung als Trennung

erkennt, ist hierin zugleich eine Möglichkeit für die Wiedervereinigung des Lebens

gegeben. Dieser Gedanke wird in der Jenaer Zeit wie folgt formuliert: "Entzweiung ist

der Quell des Bedürfnisses der Philosophie". TPF

84FPT Z. B. kann die Askese der das

Abschneiden von dem ursprünglichen Leben erkennenden Wallfahrer in dieser Hinsicht

verstanden werden als ein Selbstheilungsprozeß des Lebens, um das zerstörte Leben

wiederherzustellen.TPF

85FPT

Es wird hier klar, daß Hegel eine 'versöhnende Vernunft' entwirft, die sich von der

modernen Vernunft, vom Verstand, unterscheidet, welcher sich nur mit der äußeren

Kausalität der Objekte befaßt und daher keine wahre lebendige Vereinigung des

Gegensatzes zustandebringen kann. Er nennt diese Aufgabe die "Versöhnung des

Schicksals".TPF

86FPT Die 'versöhnende Vernunft' setzt eine Fähigkeit des Subjekts voraus, das

Andere als eine unentbehrliche Bedingung für seine Existenz zu erkennen. Hegel sieht

im Begriff der 'Liebe', die er für die "Blüte des Lebens"TPF

87FPT hält, eine Vorstellung dieser

Vernunft, die sich später zur dialektischen Vernunft bzw. zum Begriff des Geistes

entwickelt. Er sagt in einem Berner Fragment über das Wesen der Liebe:

"die [s.c. Liebe hat] etwas analoges mit der Vernunft insofern - als die

Liebe in anderen Menschen sich selbst findet, oder vielmehr sich selbst

TP

83PT G. W. F. Hegel, Der Geist des Christentums, in : TW, Bd. 1, S. 342.

TP

84PT G. W. F. Hegel, Differenzschrift, S. 12. Hervorhebung im Original.

TP

85PT Vgl. G. W. F. Hegel, Der Geist des Christentums, in: TW, Bd. 1, S. 345. Hegel hat hier die griechische

Tragödie im Sinn. Der Grund, daß der Protagonist der Tragödie sein Schicksal annimmt, welches "das

Bewußtsein des Bösen, den Schmerz verlängert und vervielfältigt" (ebd.), liegt in seiner Erkenntnis, daß

allein dieser Weg seinen Verlust ersetzen kann. Dies wird in seiner Jenaer Zeit noch deutlicher.

TP

86PT A.a.O., S. 341.

TP

87PT A.a.O., S. 308.

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109

vergessend - sich ausser seiner Existenz heraussetzt, gleichsam in andern

lebt, empfindet und thätig ist – so wie die Vernunft als Princip

allgemeingeltender Geseze sich selbst wieder in jedem vernünftigen Wesen

erkennt, als Mitbürgerin einer intelligiblien Welt."TPF

88FPT

Und in der berühmten Schrift Liebe schreibt er wie folgt:

"Wahre Vereinigung, eigentliche Liebe findet nur unter Lebendigen statt,

die an Macht sich gleich und also durchaus füreinander Lebendige, von

keiner Seite gegeneinander Tote sind; sie schließt alle Entgegensetzungen

aus. […]. In der Liebe ist dies Ganze [s.c. die Mannigfaltigkeit des Lebens]

nicht als in der Summe vieler Besonderer, Getrennter enthalten; in ihr findet

sich das Leben selbst, als eine Verdoppelung seiner selbst, und Einigkeit

desselben; das Leben hat, von der unentwickelten Einigkeit aus, durch die

Bildung den Kreis zu einer vollendeten Einigkeit durchlaufen; der

unentwickelten Einigkeit stand die Möglichkeit der Trennung und die Welt

gegenüber; in der Entwicklung produzierte die Reflexion immer mehr

Entgegengesetztes, das im befriedigten Triebe vereinigt wurde, bis sie das

Ganze des Menschen selbst ihm entgegensetzte, bis die Liebe die Reflexion

in völliger Objektlosigkeit aufhebt, dem Entgegensetzten allen Charakter

eines Fremden raubt und das Leben sich selbst ohne weiteren Mangel findet.

In der Liebe ist das Getrennte noch, aber nicht mehr als Getrenntes,

[sondern] als Einiges, und das Lebendige fühlt das Lebendige."TPF

89FPT

Die Liebe, d. h. das Sich-im-Anderen-Finden drückt eine Bewegung des Subjekts aus,

in der dieses mittels des Anderen zu sich selbst zurückkehrt. In der Liebe ist die

Existenz des Anderen ein notwendiger Teil der Identität des Subjekts. In der Annahme,

daß die Selbstbeziehung des Subjekts nur durch seine Beziehung auf den Anderen

möglich ist, unterscheidet sich Hegel deutlich von der Reflexionsphilosophie, welche

von der Selbstbeziehung des reinen isolierten Subjekts ausgeht.

Es ist zwar in der Forschung noch umstritten, ob der junge Hegel die Liebe als ein Ideal

für die vereinigende Vernunft angesehen hat, da sich neben vielen positiven auch

TP

88PT G. W. F. Hegel, GW, Bd. 1, S. 101.

TP

89PT G. W. F. Hegel, Entwürfe über Religion und Liebe, in: TW, Bd. 1, S. 245f.

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110

zahlreiche negative Äußerungen über die Liebe bei Hegel finden, wie z. B. die These

zeigt, daß die Liebe als Gefühl das Problem der Unmittelbarkeit nicht überwinden

könne. Daß er in seinem späteren philosophischen System die Liebe als Einheitsprinzip

der Familie noch unter die verschiedenen sittlichen Gemeinschaften stellt, ist ein

Resultat der Systematisierung seines früheren Denkens. Aber man kann beim jungen

Hegel in dem Begriff der Liebe eine erste Ausprägung der Idee einer vereinigenden

Vernunft erkennen: die Notwendigkeit des Anderen für die Existenz oder für die

Identität des Subjekts wird ausdrücklich anerkannt. Habermas sieht in dieser

Konzeption den ersten philosophischen Versuch, eine Versöhnung der mit sich selbst

zerfallenen Moderne zu leisten, die auch Habermas als seine philosophische Aufgabe

ansieht. In dem folgenden Kapitel soll daher die Auseinandersetzung von Habermas mit

dem jungen Hegel untersucht werden.

Page 112: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

111

2. Die Bedeutung des jungen Hegel für die Philosophie von

Habermas

- Eine intersubjektivitätstheoretische Interpretation des Begriffs des Lebens

Es wurde bereits erwähnt, daß Habermas die negativen Begleiterscheinungen der

Moderne als Ausdruck einer Selbstentzweiung der Moderne betrachtet und daß sein

wissenschaftliches Ziel daher "die Versöhnung der mit sich selber zerfallenen

Moderne"TPF

90FPT ist. Er macht allerdings den sogenannten 'Mentalismus', der mit der

erkenntnistheoretischen Wende Descartes' in die Philosophie eingeführt wurde, für

diese pathologischen Momente der Gegenwart verantwortlich. Der Mentalismus, der die

Objektivität der Welt durch die vorstellende Tätigkeit des erkennenden Subjekts

gewährleistet sieht, hat drei Grundannahmen.TPF

91FPT Erstens: es gibt einen privilegierten

Zugang des erkennenden Subjekts durch Introspektion zu den eigenen, deutlichen und

unveränderlichen Vorstellungen, die als unmittelbar evidente Erlebnisse gegeben sind.

Zweitens: es ist möglich, durch die Überprüfung der subjektiven Vorstellungen in der

Erfahrung zu einem Wissen über die Objekte zu gelangen. Drittens: die

epistemologischen Aussagen über die Wahrheit werden auf subjektive Evidenz oder

Gewißheit zurückgeführt. Diese drei Grundannahmen beruhen wiederum auf drei

Dualismen: auf der Trennung zwischen Innen und Außen, zwischen der privaten und

der öffentlichen Sphäre sowie zwischen dem unmittelbar Gewissen und mittelbar

Gegebenen. Jede dieser Trennungen wirft die Frage auf, wie sich diese beiden Bereiche

jeweils zueinander verhalten.

Habermas ordnet die wichtigsten philosophischen Strömungen nach Descartes, wie z. B.

den Empirismus und den Rationalismus sowie den Realismus und den Idealismus,

allesamt dem Mentalismus zu; die ersten beiden suchen u. a. nach dem Ursprung des

Wissens und antworten darauf a posteriori bzw. a priori, während sich die letzten beiden

auch für eine kausale Erklärung des Wissens interessieren und die Entstehung der

Erkenntnis mit dem Schema der Rezeptivität bzw. der Spontaneität des menschlichen

Geistes erklären.

TP

90PT NU, S. 202.

TP

91PT Siehe J. Habermas, Wege der Detranszendentalisierung. Von Kant zu Hegel und zurück, in: ders.,

Wahrheit und Rechtfertigung, Frankfurt/M. 1999, S. 190.

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112

Er interpretiert die Philosophien von Peirce, Dilthey, Cassirer, Heidegger und

Wittgenstein in diesem Zusammenhang als eine Befreiung der Philosophie vom

Mentalismus und hält diesen Detranszendentalisierungsvorgang für die "interessanteste

Denkbewegung" TPF

92FPTder Gegenwart. Detranszendentalisierung ist für ihn eine

philosophische Bewegung, die durch die Einordnung des transzendentalen Subjekts in

den sozialen Raum und in die historische Zeit den "Purismus der Vernunft"TPF

93FPT

überwinden will, der von der Selbstbeziehung der Vernunft ausgeht und daher das

Andere der Vernunft nicht in den Blick bekommt. Er sieht insbesondere Hegel

deswegen als den ersten Philosoph der Detranszendentalisierung an, weil dieser sich mit

der auf der Selbstbeziehung der Vernunft, d. h. auf der Reinheit der Vernunft

beruhenden Reflexionsphilosophie auseinandersetzt und dadurch ein neues, weniger

abstraktes Vernunftkonzept entwickelt, das aber dennoch die Dualismen der

Reflexionsphilosophie versöhnen kann. Diese Vernunft sei als eine Vernunft konzipiert,

die die Rationalität der Welt nicht negiere und gleichzeitig ihr Anderes anerkennen

könne. Dieses Vernunftkonzept findet vor allem im Begriff des Lebens seinen Ausdruck,

der besonders in Hegels Frankfurter Zeit von großer Bedeutung ist.

2.1. Die sozialphilosophische Bedeutung des Lebens beim jungen Hegel

Hegel faßt in seiner Zeit die Geburt eines neuen Zeitalters ins Auge, das über die

frühere autoritäre, d. h. positive Welt hinaus "einen qualitativen Sprung"TPF

94FPT wagt. Die

folgende berühmte Passage spiegelt diesen Gedanken wider:

"Es ist […] nicht schwer, zu sehen, daß unsre Zeit eine Zeit der Geburt und

des Uebergangs zu einer neuen Periode ist. Der Geist hat mit der bisherigen

Welt seines Daseyns und Vorstellens gebrochen, und steht im Begriffe, es in

die Vergangenheit hinab zuversenken, und in der Arbeit seiner

Umgestaltung." TPF

95FPT

TP

92PT A.a.O., S. 186.

TP

93PT Ebd.

TP

94PT G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: GW, Bd. 9, W. Bonsiepen / R. Heede (Hg.),

Hamburg 1980, S. 14.

TP

95PT Ebd.

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113

Das wichtigste Merkmal der neuen Zeit besteht für ihn darin, daß der Begriff der

Subjektivität in den Vordergrund der Philosophie tritt – die Subjektivität, die die

Reflexion im epistemologischen (wie in der Philosophie Kants) und die Freiheit im

praktischen Sinne (wie in der Französischen Revolution) als Ziel hat. Die Moderne

besteht für ihn also in der Struktur der Selbstbeziehung des Subjekts, während sich die

vergangene Zeit durch die Abhängigkeit des Subjekts von irgendeiner Autorität, z. B.

von Gott auszeichnet. In der Rechtsphilosophie heißt es: "Das Prinzip der neueren Welt

überhaupt ist Freiheit der Subjektivität, daß alle wesentlichen Seiten, die in der geistigen

Totalität vorhanden sind, zu ihrem Recht kommend, sich entwickeln."TPF

96FPT Aus diesem

Gedanken Hegels leitet Habermas vier Kennzeichnen der modernen Subjektivität ab: a)

Individualismus, b) Recht der Kritik, c) Autonomie des Handelns, d) schließlich die

idealistische Philosophie selbst.TPF

97FPT

Aber wir haben schon in seiner Auseinandersetzung mit der positiven Religion sowie

mit der Reflexionsphilosophie gesehen, daß Hegel seine Zeit gleichzeitig als eine Zeit

der Trennung betrachtet, die überwunden werden muß. Den Grund sieht er darin, daß

die moderne Subjektivität höchstens eine 'Metaphysik des Endlichen' erreichen kann,

die von dem erkenntnistheoretischen S-O Schema und von einer Herrschaft des

Subjekts ausgeht. Nach Hegel ist die Zeit dieser Herrschaft des Subjekts nichts anderes

als 'eine Zeit der Not':

"In der Not wird entweder der Mensch zum Objekt gemacht und unterdrückt,

oder muß er Natur zu einem Objekt machen und unterdrücken." TPF

98FPT

Um die Trennung der Zeit zu überwinden, konzipiert Hegel eine versöhnende Kraft im

Begriff des Lebens und der Liebe. Er sieht das Leben als einziges Absolutes an, das

nichts anderes als eine ewige Bewegung ist, sich zum Endlichen zu vergegenständlichen

und dadurch zu sich zurückzukehren. Und die Liebe wird als ein Modell der

versöhnenden Vernunft vorgeschlagen, das die Charakteristik dieses Lebens gut

verdeutlichen kann. In der Liebe findet sich das Subjekt im Anderen, d. h. es kehrt

mittels des Anderen zu sich selbst zurück. Die Liebe bedeutet daher die Notwendigkeit

TP

96PT G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: TW, Bd. 7, S. 439.

TP

97PT PDM, S. 27.

TP

98PT G. W. F. Hegel, Der Geist des Christentums, in: TW, Bd. 1, S. 318.

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114

des Anderen für die Existenz und die Identität eines Subjekts bzw. die der Anerkennung

zwischen den Subjekten. Wir haben schon gesehen, daß Hegel in diesem

Zusammenhang sagt: "In der Liebe ist das Getrennte noch, aber nicht mehr als

Getrenntes, [sondern] als Einiges, und das Lebendige fühlt das Lebendige."TPF

99FPT

Dies ist der Grund, warum Hegel die Trennung Abrahams von seiner ursprünglichen

Gemeinschaft und von dem 'Band der Liebe' als die Wurzel der Positivität des

Judentums angesehen hat.TPF

100FPT In dem positiven System verhält sich ein Entzweites oder

Endliches wie ein Ganzes, wie in der Kantischen Moralphilosophie, in der das endliche,

abstrahierte Subjekt verabsolutiert wird. Aus diesem Grund ist die Positivität, wie

erwähnt, als eine Zementierung des getrennten Lebens zu bestimmen.TPF

101FPT

Der Gedanke Hegels, daß das Subjekt nur im gesellschaftlichen Leben seine wahre

Existenz hat, unterscheidet sich vor allem von der traditionellen Gesellschaftstheorie, u.

a. von dem sogenannten atomistischen Gesellschaftsverständnis.TPF

102FPT 'Atomistisch'

bedeutet hier, daß die voneinander isolierten Subjekte die Grundlage der

Gesellschaftstheorie bilden. Nach Hegel wird in einer solchen Gesellschaftstheorie die

Gemeinschaft unter den Menschen bloß als eine von einem Anderen und Fremden

nachträglich hinzugefügte Organisation angesehen. Hegel betrachtet die formalistische

Philosophie von Fichte und die empirische Naturrechtslehre von Hobbes als Beispiele

einer solchen atomistischen Gesellschaftstheorie. Fichtes Gesellschaftstheorie ist

deswegen formalistisch, weil sie von den transzendentalen Begriffen der praktischen

Vernunft ausgeht, während die Naturrechtslehre von Hobbes insofern empirisch ist, als

sie von anthropologischen Bestimmungen der menschlichen Natur ausgeht, um eine

vernünftige Organisation des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu entwerfen.

Trotz dieser äußerlichen Unterschiede stimmen beide Theorien inhaltlich darin überein,

daß sie ''das Seyn des Einzelnen als das Erste und Höchste'' voraussetzen.TPF

103FPT Bei der

atomistischen Sozialphilosophie ist die Gesellschaft mit Blick auf die Freiheit ein

TP

99PT G. W. F. Hegel, Entwürfe über Religion und Liebe, in: TW, Bd. 1, S. 246.

TP

100PT G. W. F. Hegel, Der Geist des Judentums, in: TW, Bd. 1, S. 277.

TP

101PT Vgl. den Abschnitt 1.3, Kapitel III dieser Abhandlung.

TP

102PT In Bezug auf diese Problematik siehe die folgenden Untersuchungen: A. Honneth, Kampf um

Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt/M. 1994, L. Siep, Praktische

Philosophie im Deutschen Idealismus, Frankfurt/M. 1992, A. Wildt, Autonomie und Anerkennung. Hegels

Moralitätskritik im Lichte seiner Fichte-Rezeption, Stuttgart 1982 und E. Düsing, Intersubjektivität und

Selbstbewußtsein, Köln 1986.

TP

103PT G. W. F. Hegel, Naturrechtsschrift, S. 431.

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115

notwendiges Übel, weil sie die Freiheit des Einzelnen einschränkt, um den Anderen bzw.

das Ganze zu schützen. Sie ist daher im strengen Sinne ein System, das die Freiheit

einschränkt. Ein konkretes Beispiel dieses Gedankens findet sich bei Hegel in seiner

Auseinandersetzung mit der Aufforderungstheorie bei Fichte und mit der Lehre vom

Gesellschaftsvertrag bei Hobbes.

In seiner Aufforderungstheorie wollte Fichte zeigen, daß das individuelle

Selbstbewußtsein und die Existenz des Anderen gleichursprünglich sind, oder, daß das

Du für die Bildung und vollkommene Selbstwerdung des Ich prinzipiell notwendig ist

und der Sinn der realen und anerkannten Existenz des Du im Bewußtsein des Ich

konstituiert wird. Fichte sagt in diesem Zusammenhang:

''Im wechselseitigen Auffordern zu freiem Handeln und in der simultanen

Begrenzung der eigenen Handlungssphäre zugunsten des Anderen bildet

sich zwischen Subjekten das gemeinsame Bewußtsein heraus, das im

Rechtsverhältnis dann zu objektiver Geltung gelangt.''TPF

104FPT

Für Fichte scheint es notwendig zu sein, daß sich das personale Verhältnis zwischen

Subjekten zu einem Rechtsverhältnis entwickelt, in dem das Recht ein Allgemeines ist,

das zu einer Bedingung der Freiheit des Menschen wird. Diese Überlegungen von

Fichte führen daher bezüglich der Problematik der Freiheit zu dem folgenden

Widerspruch: Einerseits gilt die Freiheit als das höchste Ziel, andererseits muß die

Freiheit zugleich in der Gemeinschaft mit anderen um dieser Gemeinschaft willen

eingeschränkt werden. Das führt dazu, daß die Freiheit in der Gemeinschaft mit anderen

also zumindest partiell aufgegeben werden muß; obwohl die Freiheit ihrem Wesen nach

eigentlich alle Schranken überwinden sollte, kann sie nur eingeschränkt verwirklicht

werden.TPF

105FPT

Dasselbe Problem ergibt sich auch bei der Lehre vom Gesellschaftsvertrag bei Hobbes,

die Hegel unter dem Begriff des empirischen Naturrechts untersucht.TPF

106FPT Hobbes hat das

TP

104PT J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, in: Fichtes Werke,

I.H. Fichte (Hg.), Bd. 3: Zur Rechts- und Sittenlehre, Berlin 1971, S. 1ff., hier: § 3 u. § 4.

TP

105PT Vgl. E. Düsing, Intersubjektivität und Selbstbewußtsein a.a.O., S. 297.

TP

106PT Um die Souveränität des Staates mit Blick auf die Vertragslehre zu begründen, nimmt Hobbes die

anthropologische Annahme von N. Machiavelli auf, daß die einzelnen Subjekte in einem permanenten

Zustand feindseliger Konkurrenz gegeneinander kämpfen. Im Vergleich zur Theorie Machiavellis, die

bloß auf einigen anthropologischen Annahmen basiert, ist aber die Theorie Hobbes insofern

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116

menschliche Wesen als eine Art sich selbst bewegenden Automaten verstanden, das sich

vorsorglich um sein zukünftiges Wohlergehen bemüht;TPF

107FPT dieses antizipierende

Verhalten entwickelt sich bei der Begegnung mit dem Anderen zur Form der

präventiven Machtsteigerung, die letztlich zu einem Krieg aller gegen alle führt; um

diesen Krieg zu beenden, braucht man eine politische Verfassung. Es ist daher die erste

Aufgabe der politischen Praxis, den stets drohenden Konflikt immer wieder neu zu

verhindern. Die Gesellschaft ist für Hobbes also nur dann möglich, wenn die Freiheit

der Einzelnen eingeschränkt wird.

Die Kritik des jungen Hegel an diesen beiden Theorien fokussiert sich darauf, daß die

Gesellschaft oder Gemeinschaft bei ihnen nachträglich eingeführt wird, um bestimmte

Konflikte zu vermeiden; in dieser Position wird die Gesellschaft oder die Gemeinschaft

nur als eine die menschliche Freiheit beschränkende Institution angesehen. Die

Gemeinschaft ist also bei der atomistischen Theorie nichts anderes als ''die höchste

Tirannei''.TPF

108FPT Um die Gemeinschaft nicht nur als eine die Freiheit der Individuen

einschränkende Organisationsform zu verstehen, muß man in der Gesellschaftstheorie

einen ganz anderen Ausgangspunkt wählen, d. h. das Schema der Gegenüberstellung

zwischen dem Menschen und der Gemeinschaft bzw. den Anderen muß aufgehoben

werden, um die Gemeinschaft oder die Anderen nicht als Beschränkung der Freiheit der

Menschen verstehen zu müssen. Hegel geht, wie in seinem Begriff des Lebens als

Zusammenleben angedeutet, von der Denktradition aus, die das Wesen des

menschlichen Lebens auf die Gemeinschaft bezieht. Dies ist der Grund, warum er

bezüglich der Bestimmung des Menschen die Philosophie des Aristoteles ins Auge faßt,

in der die Gemeinschaftlichkeit als ein entscheidendes Wesen des Menschen bestimmt

wird. Er zitiert eine berühmte Passage von Aristoteles als Ausgangspunkt seiner

Überlegungen:

''das Volk ist eher der Natur nach, als der einzelne; denn wenn der einzelne

abgesondert nichts selbstständiges ist, so muß er gleich allen Theilen in

Einer Einheit mit dem Ganzen seyn; wer aber nicht gemeinschaftlich seyn fortschrittlicher, als er mit Hilfe der erfolgreichen naturwissenschaftlichen Forschung Galileis und der

philosophischen Erkenntnislehre Descartes' jenen anthropologischen Annahmen ein wissenschaftliches

Fundament gibt. Vgl. A. Honneth, Kampf um Anerkennung, a.a.O., S. 16ff.

TP

107PT Vgl. Th. Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates,

Neuwied 1966, S. 75.

TP

108PT G. W. F. Hegel, Differenzschrift, S. 55.

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117

kann, oder aus Selbstständigkeit nichts bedarf, ist kein Theil des Volks, und

darum entweder Thier oder Gott.''TPF

109FPT

Dieses Zitat zeigt, daß der Ausgangspunkt einer neuen philosophischen Soziologie nicht

die Handlungen der isolierten Subjekte, sondern die sittlichen Verhältnisse sein muß, in

denen Subjekte gemeinschaftlich leben. Hegel setzt also die Sozialität des Menschen als

natürliche Basis der Gesellschaft voraus. In diesem Sinne muß die Freiheit nicht als Idee

des isolierten, für sich seienden Individuums, sondern als ein Allgemeines verstanden

werden.

''die Gemeinschaft der Person mit andern muß daher wesentlich nicht als

eine Beschränkung der wahren Freyheit des Individuums sondern als eine

Erweiterung derselben angesehen werden. Die höchste Gemeinschaft ist die

höchste Freyheit.''TPF

110FPT

2.2. Die Idee der Intersubjektivität beim jungen Hegel

Aus diesem Grund läßt sich erklären, warum der junge Hegel das Leben von vornherein

als Zusammenleben versteht, warum er nicht den Mechanismus der Entstehung der

sittlichen Gemeinschaft, sondern die Art und Weise untersucht, wie die sittliche

Totalität, d. h. das Leben, von sich getrennt und wieder vereinigt wird, und warum er

sich nicht für den Kampf um die Selbsterhaltung zwischen Subjekten, der in dem

vorgesellschaftlichen Zustand stattfinden soll, sondern für die Konflikte innerhalb einer

Gesellschaft wie z. B. Verbrechen oder Kampf um Anerkennung interessiert.

Vor diesem Hintergrund analysiert Hegel den Begriff des Lebens, dessen Merkmale

sich besonders in der Analyse des Verbrechens und des daraus resultierenden Schicksals

zeigen, in der Habermas bereits 'Spuren einer kommunikativen Vernunft' erkennt. Das

Verbrechen und das Schicksal stehen also in einer engen Verbindung mit dem Begriff

des Lebens als Zusammenleben. Habermas deutet daher den Begriff des Lebens bei

Hegel als eine Form einer sittlichen Totalität, die ''einen gesellschaftlichen Zustand

TP

109PT G. W. F. Hegel, Naturrechtsschrift, S. 467f. Hegel zitiert diesen Satz aus Aristoteles, Politik I. 2. Er

sieht Aristoteles folgend den Menschen als ein soziales Wesen an.

TP

110PT G. W. F. Hegel, Differenzschrift, S. 54.

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118

bedeutet, in dem alle Glieder zu ihrem Recht kommen und ihre Bedürfnisse befriedigen,

ohne die Interessen anderer zu verletzen.''TPF

111FPT D. h. er interpretiert das Leben als eine

Gesellschaft, in der sich die Subjekte intersubjektiv verhalten können. Er sieht also in

der Vorstellung des Lebens bei Hegel ein Modell für eine zwangfreie Intersubjektivität.

Von dieser Position aus betrachtet, bedeutet das Verbrechen nicht nur die Verletzung

eines Anderen; vielmehr zerstört der Verbrecher auch sich selbst, weil er mit dem

Verbrechen zugleich die sittliche Totalität zerstört, die sein Wesen ausmacht. Aus der

Erfahrung der Negativität des Lebens kann daher eine Sehnsucht nach der

Wiedervereinigung des entzweiten Lebens entstehen. Daß die entzweite Gemeinschaft

erst dann versöhnt werden kann, wenn der Verbrecher im zerstörten Anderen die

Entzweiung seines eigenen Wesens erkennt, ist der Kern der sogenannten Dialektik des

Schicksals.

Habermas deutet diese Dialektik des Schicksals dahingehend, daß die Zerstörung des

Lebens nichts anderes als die Störung der intersubjektiven Anerkennungsverhältnisse ist

und daß in ihr die Subjekt-Objekt-Trennung als Spiegel dieser Störung zum Vorschein

kommt.

''Die Dynamik des Schicksals resultiert […] aus der Störung der

Symmetriebedingungen und der reziproken Anerkennungsverhältnisse eines

intersubjektiv konstituierten Lebenszusammenhangs, von dem sich der eine

Teil isoliert und damit auch alle anderen Teile von sich und ihrem

gemeinsamen Leben entfremdet. Dieser Akt des Losreißens von einer

intersubjektiv geteilten Lebenswelt erzeugt erst eine Subjekt-Objekt-

Beziehung. Diese wird als ein fremdes Element, jedenfalls erst nachträglich

in Verhältnisse eingeführt, die von Haus aus der Struktur einer

Verständigung zwischen Subjekten - und nicht der Logik der

Vergegenständlichung durch ein Subjekt gehorchen.''TPF

112FPT

Also stellt Habermas sich eine symetrische intersubjektive Gemeinschaft vor, in der die

Herrschaftsstruktur in der Praxis keinen Platz einnehmen kann, die der S-O-Trennung

im epistemologischen Bereich entspricht. Diese Vorstellung zeigt, daß nach Habermas

für die Philosophie des jungen Hegel die Idee der Intersubjektivität zentral ist.

TP

111PT PDM, S. 40.

TP

112PT Ebd.

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119

Ein Problem besteht allerdings nach Habermas darin, daß diese fruchtbare Idee vom

jungen Hegel in seinem System keinen geeigneten Platz einnimmt. Sie wurde in seiner

Berner und Frankfurter Zeit mit der Idee der Volksreligion verbunden, die jedoch keine

Wurzeln in der Moderne hat, sondern von dem Vorbild der griechischen Polis und der

urchristlichen Gemeinschaft abgeleitet ist. Wir haben schon gesehen, daß es nach

Habermas für die Selbstbezüglichkeit der Moderne wesentlich ist, daß sie ihre

Geltungskriterien niemals von irgendeiner anderen Zeit übernimmt. Dies ist der Grund,

warum er die Moderne auf den Begriff der Mode bezogen hat, der nicht in äußeren bzw.

klassischen Vorschriften, sondern im Augenblick eine ewige Schönheit sucht.TPF

113FPT Wenn

Hegel die Moderne als eine qualitativ ganz neue Zeit bzw. als eine Zeit der Geburt

versteht, so hat er damit nach Habermas die Selbstbezüglichkeit der Moderne erkannt;

aber dadurch, daß er die Idee der idealen Gemeinschaft nach dem Vorbild einer

vergangenen Zeit entwirft, habe er die Leistung der Moderne verkannt, die ''ihr

Selbstbewußtsein durch eine Reflexion errungen [hatte], die den systematischen

Rückgriff auf solche exemplarischen Vergangenheiten verwehrte''. TPF

114FPT In diesem Sinn

schreibt Habermas folgendes:

''Kurzum – eine noch so kraftvoll interpretierte Sittlichkeit von Polis und

Urchristentum kann nicht mehr den Maßstab abgeben, den sich eine mit sich

entzweite Moderne zu eigen machen könnte.''TPF

115FPT

Die Kritik des jungen Hegel an der Subjektphilosophie führt also nach Habermas

paradoxerweise zugleich dazu, daß die Idee der Moderne als einer Zeit der Geburt nicht

ernst genommen wird.

Diese ambivalente Stellung des jungen Hegel zur Moderne verschwindet mit der

Entwicklung seines philosophischen Systems. Seine Philosophie gewinnt dadurch an

Kohärenz, daß er z. B. in seiner Jenaer Zeit auf den Begriff de Lebens verzichtet und

statt dessen seinem System die Entwicklung des Begriffs des Absoluten zugrunde

legt.TPF

116FPT Aber in diesem System mußte er die fruchtbare Idee der Intersubjektivität

TP

113PT Siehe zu dieser Problematik den 1. Abschnitt des II. Kapitels dieser Arbeit.

TP

114PT PDM, S. 42.

TP

115PT A.a.O., S. 43.

TP

116PT Habermas ist der Meinung, daß sich diese Positionsänderung Hegels seinem Studium der politischen

Ökonomie verdankt. PDM, S. 43. Dies zeigt, daß er eine These von Lukács über den jungen Hegel

aufnimmt. Vgl. G. Lukács, Der junge Hegel, a.a.O., 225ff. und 398ff.

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120

aufgeben, die mit dem Begriff des Lebens gegeben ist, weil im Begriff des Absoluten

nur eine bloße Erweiterung der Idee der modernen Subjektivität gesehen wird, die in der

Selbstbeziehung des Subjekts besteht.

Wir haben schon gesehen, daß Hegel die Reflexionsphilosophie darin kritisiert, daß sich

in ihr das Subjekt trotz seiner Endlichkeit und Bedingtheit zum Absoluten erhebt.

Dieses Absolute setzt also den Gegensatz zwischen dem Bedingten und dem

Unbedingten voraus. Es scheint daher bei diesem Schema unausweichlich zu sein, daß

das Subjekt sein Objekt negiert. Das Subjekt als Absolutes bei Hegel geht dagegen von

der Idee der reinen, absoluten Selbstbeziehung aus, in der sowohl die Differenz als auch

die Einheit zwischen Endlichem und Unendlichem problemlos koexistieren.

Aber Habermas sieht in dieser Vorstellung des Absoluten bei Hegel nur eine

Erweiterung der Selbstbeziehung der abstrakten Reflexion bzw. der Subjektivität. Das

Hegelsche Absolute, das in dem ''Prozeß der Beziehung des Endlichen und Unendlichen

aufeinander'' bestehe, sei folglich nichts anderes als eine ''verzehrende Tätigkeit des

Zusichkommens selbst''. TPF

117FPT Von daher ließe sich das Problem der Subjektphilosophie

durch diese Konzeption nicht lösen; Hegel setze ''die Mittel der Subjektphilosophie zum

Zweck einer Überwindung der subjektzentrierten Vernunft''TPF

118FPT ein.

Habermas' Kritik an Hegel besteht also darin, daß der junge Hegel seinen Begriff des

Absoluten nur dadurch gewinnt, daß er den Blickpunkt vom Individuum zur

Gesellschaft wendet, ohne dabei das Paradigma der Subjektivität zu überwinden. Statt

zur Reziprozität zwischen Subjekten überzugehen, löst Hegel das Problem der

Reflexionsphilosophie in einer Hierarchie zwischen dem Individuum und dem Ganzen

oder dem Einzelnen und der Gesellschaft auf, die sich durch die Priorität der

Gesellschaft oder des Staates vor dem Individuum auszeichnet. Dieser Gedanke

bestimmt seine Sozialphilosophie seit der Jenaer Zeit. Es ist daher eine notwendige

Folge, daß Hegel in der Rechtsphilosophie den Staat als 'höheres Subjekt' gegenüber der

individuellen Freiheit bevorzugt. Daher stimmt Habermas vollständig der Ansicht von

D. Henrich zu, wenn dieser über den starken Institutionalismus der Hegelschen

Staatsphilosophie sagt: ''Der einzelne Wille, den Hegel den subjektiven nennt, ist in die

TP

117PT PDM, S. 46.

TP

118PT Ebd.

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121

Ordnung der Institutionen ganz eingebunden und überhaupt nur insofern gerechtfertigt,

als diese selbst es sind.''TPF

119FPT

Der frühe Ansatz des jungen Hegel, der zu einer Konzeption der Staatsphilosophie hätte

führen können, in der die Einzelnen in der Allgemeinheit eines ungezwungenen

Konsenses auch gegenüber den Institutionen des Staates eine zentrale Rolle spielen,

scheiterte am Ende an dem starken Institutionalismus des späten Hegel, der von der Idee

der sich auf sich beziehenden absoluten Subjektivität ausgeht. Habermas ist in diesem

Zusammenhang der Meinung, daß eine bescheidene Form der Vernunft notwendig ist,

um Ansatz des frühen Hegel, d. h. die Idee einer wahrhaften Intersubjektivität der

ungezwungenen Willensbildung in einer Gemeinschaft zu verwirklichen. Dies ist der

Grund, warum er die die linguistische Wende in der Philosophie begrüßt.

Zusammengefaßt: Das Fazit der Auseinandersetzung mit Hegel ist für Habermas, daß

Hegel zwar eine fruchtbare Vernunftidee hatte, aber sie in seinem späteren System nicht

weiter verfolgt hat. Habermas, der die Ursache für die gegenwärtigen pathologischen

Probleme in der Idee der narzißtisch in sich gekehrten, d. h. hochmütigen Vernunft sieht,

ist vollkommen einverstanden mit Hegels Zeitdiagnose. Er versucht die von Hegel

aufgegebene bescheidene Vernunft zu verwirklichen, um einen Ausweg aus den

gegenwärtigen pathologischen Erscheinungen der Moderne zu finden. Er sieht eine

Möglichkeit für diesen Ausweg in der linguistischen Wende der Philosophie.TPF

120FPT

TP

119PT D. Henrich, Einleitung, in: G. W. F. Hegel, Philosophie des Rechts: die Vorlesung von 1819/20 in

einer Nachschrift, D. Henrich (Hg.), Frankfurt/M. 1983, S. 31.

TP

120PT Neben der Frankfurter Zeit Hegels versucht Habermas auch in den Jenaer Fragmenten des jungen

Hegel Ansätze einer Theorie der Intersubjektivität zu finden. Er weist darauf hin, daß Hegel in seiner

Jenaer Zeit die Sprache, die Arbeit (bzw. das Werkzeug) und die Familie (bzw. die Liebe) dem

subjektiven Geist untergeordnet hat; dies eröffnet eine Möglichkeit, den Geist als eine Form der

Verbindung von Subjekt und Objekt zu deuten, wobei erst durch den Bezug auf die Objekte das

Selbstbewußtsein konstituiert wird. Dieser Gedanke unterscheidet sich stark von dem Begriff des

Selbstbewußtseins der Reflexionsphilosophie, den Habermas eine 'narzißtische', transzendentale

Subjektivität nennt, weil er auf dem "reinen, sich auf sich selbst beziehenden Bewußtsein der

ursprünglichen Apperzeption" basiert. (J. Habermas, Wege der Detranszendentalisierung, a.a.O., S. 195).

Im Gegensatz dazu wird der Geist bei Hegel als eine Einheit zwischen Subjekt und Objekt konzipiert: "Es

muß eigentlich weder von einem solchen Subjekte noch Objekte die Rede sein, sondern vom Geiste."

(Jenaer Systementwürfe I, in: GW, Bd. 6, Hamburg 1986, S. 205). Habermas schreibt dazu: "Anstelle der

fruchtlosen Kontroversen der Erkenntnistheorie will Hegel die Diskussion auf jene 'Medien' lenken, die

die Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt bereits vor jeder aktuellen Begegnung strukturieren. Beide

Seiten, Subjekt und Objekt, sind Relata, die nur mit und in ihren Beziehungen zueinander existieren. [...]

Gleichwohl gebraucht Hegel den Terminus 'Geist' für die Medien von Sprache, Arbeit und Interaktion

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122

[...]." (J. Habermas, Wege der Detranszendentalisierung, a.a.O., S. 195f.). Wenn das Subjekt in der Welt

als ein in den Weltzusammenhang eingelassenes Element vorhanden ist, dann kann es keine

philosophische Aufgabe des Subjekts sein, eine Kluft zwischen sich und einem von ihm separierten

Anderen zu überbrücken.

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123

VI. Die linguistische Wende von Habermas: der Übergang

von der Subjektivität zur Intersubjektivität

Die bisherige Betrachtung hat ergeben, daß Habermas in der Auseinandersetzung des

jungen Hegel mit der positiven Religion und der Reflexionsphilosophie ein Vorbild für

die Vernunftkritik der gegenwärtigen philosophischen Diskurse sieht; Hegels

Ausgangspunkt ist, daß die sogenannte Reflexionsphilosophie wegen ihres

epistemologischen Schemas der Trennung von S-O, das zur autoritären, 'positiven'

Einheit führt, die wahre Vernünftigkeit der Welt nicht adäquat in den Blick bekommt;

Hegel führt, um die Probleme der positiven Systeme und der Reflexionsphilosophie zu

vermeiden, die spekulative oder dialektische Vernunft ein, die das Schema von S-O

wieder auf das Subjekt bezieht, so daß die Beziehung als S-<S-O> schematisiert werden

kann. Die Reflexionsphilosophie ist nach ihm nur eine Philosophie der Aufklärung, die

"die Gemeinheit des Verstandes, und seine eitle Erhebung über die Vernunft

aus[drückt]". TPF

1FPT

Die Vernunftkritiken der gegenwärtigen philosophischen Diskurse wiederholen Hegels

Auseinandersetzung mit der Reflexionsphilosophie in dem Punkt, daß sie damit

einverstanden sind, daß sich die moderne Vernunft um das Denkschema von S-O

bewege und dieses Schema für die moderne Herrschaftsstruktur verantwortlich sei. Die

Unterschiede zwischen ihnen ergeben sich jedoch daraus, daß die einen aufgrund dieser

Diagnose die Vernunft insgesamt kritisieren, während die anderen die Vernunft zu

erneuern versuchen. Präziser formuliert: die radikalen Vernunftkritiker verstehen die

Vernunft überhaupt als eine Macht, die alles, was ihr begegnet, bloß als ein Objekt

unterwirft und nur eine autoritäre oder asymmetrische Einheit herstellt. Dieses Problem

läßt sich daher nach ihnen nur durch die Einführung des Anderen der Vernunft lösen; im

Gegensatz dazu ist Habermas, der an der Rolle der Vernunft festhält, der Ansicht, daß

die Vernunft, mit der sich die radikalen Vernunftkritiker auseinandersetzen, nur eine

verkürzte Form der Vernunft ist, nämlich die instrumentelle Vernunft.

Es gibt daher für Habermas keinen Grund, daß man die Vernunft überhaupt aufgeben

müsse. Vielmehr versucht er mit der Konzeption einer erweiterten Vernunft das

Problem der Moderne zu lösen. Er sieht sogar im Begriff des Anderen nur ein

TP

1PT G. W. F. Hegel, Kritisches Journal der Philosophie, in: GW, Bd. 4, S. 125.

Page 125: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

124

"Spiegelbild der gewalthabenden"TPF

2FPT Vernunft. Das Andere der Vernunft sei im Kern

"eine spontane, seinsgründende, stiftende, zugleich vitale und undurchsichtige

Gewalt",TPF

3FPT also als eine unversöhnliche Macht. Aus dieser Sicht ist das Andere der

Vernunft selbstwidersprüchlich, weil die radikalen Vernunftkritiker über etwas

diskutieren, über das eigentlich nicht vernünftig diskutiert werden kann. Eine

Diskussion im Sinne eines Austausches der verständlichen bzw. rationalen Argumente

über das Andere der Vernunft ist nämlich letztlich gar nicht möglich:

"Konsequenterweise müßte ihre eigene Untersuchung im Anderen der

Vernunft einen der Vernunft schlechthin heterogenen Posten beziehen. Aber

was zählen noch Konsequenzen an einem Ort, welcher der vernünftigen

Rede a priori unzugänglich ist?"TPF

4FPT

Habermas betrachtet die Entstehung des Anderen der Vernunft in Zusammenhang mit

dem Normalitätsproblem der intersubjektiven kommunikativen Gesellschaft. Er geht

davon aus, daß die Rolle des Anderen um so größer wird, je unvernünftiger eine

Gesellschaft ist, d. h. je weiter eine Gesellschaft von der 'Normalität' entfernt ist. Aus

dieser Perspektive ist das Andere der Vernunft nur eine entfremdete innere und äußere

Natur. So erklärt sich, daß Habermas zustimmend H. und G. Böhme zitiert: "Das

Andere der Vernunft, das ist die Natur, der menschliche Leib, die Phantasie, das

Begehren, die Gefühle." TPF

5FPT

Habermas ergänzt allerdings diese Äußerung dahingehend, daß das Andere nicht

vernunftlos, sondern eine Erscheinungsform 'verkehrter Vernunft' ist, während hingegen

Böhme behaupte, daß das Andere alles das sei, was sich die Vernunft nicht aneignen

könne. TPF

6FPT Daß die Problematik des Anderen eines der zentralen Themen der Moderne war,

TP

2PT PDM, S. 360.

TP

3PT A.a.O., S. 356.

TP

4PT A.a.O., S. 353.

TP

5PT H. Böhme / G. Böhme, Das Andere der Vernunft, Frankfurt/M. 1983, S. 13 und J. Habermas, PDM, S.

357.

TP

6PT Dieser Gedanke zeigt, daß Habermas den Begriff der versöhnenden Vernunft des jungen Hegel

übernimmt. Er unterscheidet Hegel von den radikalen Vernunftkritikern, die der Vernunft keine

Versöhnung mit der Welt zutrauen: Hegel hat nach ihm "die Grenzziehungen der subjektzentrierten

Vernunft nicht als Ausgrenzungen, sondern als Entzweiungen interpretiert, und der Philosophie den

Zugang zu einer die subjektive Vernunft und deren Anderes in sich begreifenden Totalität zugemutet."

PDM, S. 354.

Page 126: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

125

die von den Kritikern als Zeit der Subjektivität oder der Vernunft begriffen wird,

benutzt Habermas als einen weiteren Beleg für seine These. So entwickelte z. B. die

Romantik innerhalb einer neuen Form der Subjektivität das Konzept des Anderen und

wollte damit über die Grenze der aufklärischen bzw. instrumentellen Vernunft

hinausgehen. Im Anschluß an die oben zitierte Aussage sagt Habermas:

"Nun also sind es unmittelbar die vitalen Kräfte einer abgespaltenen und

unterdrückten subjektiven Natur; sind es jene in der Romantik wieder

entdeckten Phänomene des Traumes, der Phantasie, des Wahns, der

orgiastischen Erregung, der Ekstase; sind es die ästhetischen, leibzentrierten

Erfahrungen einer dezentrierten Subjektivität, die als Statthalter für das

Andere der Vernunft fungieren."TPF

7FPT

Dieser Äußerung liegt sein zentraler Gedanke zugrunde, daß selbst eine radikale

Vernunftkritik als ein letzter, sich selbst überbietender Akt der Vernunft, als ein Akt der

Selbstreflexion betrachtet werden muß. Habermas sieht also seine philosophische

Aufgabe darin, die verkehrte, eingeschränkte Vorstellung der 'Vernunft' zu berichtigen.

Er entwirft dafür "eine ausgreifendere, eine komprehensive Vernunft", TPF

8FPT anstatt auf das

Andere der Vernunft zurückzugreifen. Er präzisiert diesen Gedanken einer

komprehensiven Vernunft mit Hilfe der von Peirce bis Austin und Searle entwickelten

Sprachpragmatik. Vor der Betrachtung dieser Sprachtheorie soll im folgenden die

Bedeutung der sprachphilosophischen Wende für das Denken von Habermas behandelt

werden.

TP

7PT PDM, S. 357f.

TP

8PT A.a.O., S. 352.

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126

1. Die sprachphilosophische Wende im Habermasschen Denken

Eine der entscheidenden Bemühungen Habermas', um "die mit sich zerfallene Moderne

zu versöhnen" TPF

9FPT, d. h. das Projekt der Aufklärung weiterzuführen, zeigt sich in seinem

Versuch, den Historischen Materialismus sprachphilosophisch zu rekonstruieren. Er

gibt hier dem Begriff der 'Rekonstruktion' eine bestimmte Bedeutung; während die

'Restauration' als "die Rückkehr zu einem Ausgangszustand" und die 'Renaissance' als

"die Erneuerung einer Tradition" verstanden werden, bedeutet die 'Rekonstruktion', "daß

man eine Theorie auseinandernimmt und in neuer Form wieder zusammensetzt, um das

Ziel, das sie sich gesetzt hat, besser zu erreichen."TPF

10FPT Die neue Form hat für Habermas

etwas mit der gegenwärtigen Sprachphilosophie zu tun. Er betrachtet es also als eine

wichtige Aufgabe, mit Hilfe der gegenwärtigen Sprachphilosophie den von K. Marx

stammenden Historischen Materialismus zu rekonstruieren. In diesem Abschnitt soll

daher untersucht werden, was Habermas unter dem Historischen Materialismus versteht

und warum dieser umformuliert werden muß, um sein ursprüngliches Projekt zu erfüllen.

Bei seiner Auseinandersetzung mit dem Marxismus steht Habermas besonders unter

dem Einfluß von K. Korsch und G. Lukács, die sich beide mit dem von Engels

entwickelten sogenannten szientistischen orthodoxen Marxismus auseinandersetzen;TPF

11FPT

jener interpretiert den Marxismus weder als Philosophie noch als Wissenschaft, sondern

als eine Kritik; dieser entwickelt den Marxismus mit Hilfe der Hegelschen Philosophie

zu einer Theorie der Verdinglichung in der kapitalistischen Gesellschaft weiter.

Habermas trennt im Anschluß an Korsch und Lukács Marx von Engels: während in der

Theorie von Marx die Beziehung zwischen Theorie und Praxis sowie zwischen Arbeit

und Interaktion unklar bleibt, löst Engels diese Unklarheit durch eine naturalistische

Metaphysik des dialektischen Materialismus.

Marx versucht eigentlich, mit dem Begriff der 'Praxis' die Tradition der

theoriaorientierten 'scholastischen', spekulativen Philosophie zu überwinden, wie er es TP

9PT NU, S. 202.

TP

10PT J. Habermas, Historischer Materialismus und die Entwicklung normativer Strukturen, in: ders, Zur

Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt/M. 1976, S. 9.

TP

11PT Es handelt sich dabei um das Werk Marxismus und Philosophie von K. Korsch und das Buch

Geschichte und Klassenbewußtsein von G. Lukács. Die Einflüsse dieser Marxisten auf Habermas werden

besonders in seinen frühen Arbeiten über den Marxismus deutlich, wie z. B. in dem Artikel Zwischen

Philosophie und Wissenschaft: Marxismus als Kritik, in: J. Habermas, Theorie und Praxis, Frankfurt/M.

1971, S. 228-289.

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127

in den Thesen über Feuerbach zum Ausdruck bringt.TPF

12FPT Die Praxis, die nach ihm beim

gesellschaftlichen Reproduktionsvorgang eine entscheidende Rolle spielt, kann

allerdings einerseits als die Arbeit, bei der es um die materielle Produktion geht, und

andererseits als die Interaktion zwischen Menschen verstanden werden, bei der es sich

um eine die institutionelle Organisation der Gesellschaft stiftende, selbstgenerative

Tätigkeit der Menschheit handelt. Die Praxis als Arbeit meint dabei nichts anderes als

die Beziehung des Menschen zur Natur, die besonders seit der industriellen Revolution

ausgebeutet wird, während die Praxis als Interaktion die Beziehung zwischen den

Menschen meint, die besonders seit der Französischen Revolution eine für die Moderne

charakteristische Form angenommen hat. Die Idee der Praxis enthält also bei Marx

schon zwei Deutungen: eine technologische und zugleich eine institutionelle

Dimension; während die erste darin besteht, die Natur nach dem Willen des Menschen

zu beherrschen, ist die zweite Dimension der Praxis die gesellschaftliche Tätigkeit des

Menschen.

Das Buch Zur Kritik der Politischen Ökonomie (1859), in dem Marx die

Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse voneinander unterscheidet, liest

Habermas vor diesem Hintergrund. Die Produktivkräfte bezeichnen die Ebene der

instrumentellen Handlungen, die sich auf die Vergrößerung der Herrschaft gegenüber

der Natur richteten, während sich die Produktionsverhältnisse auf die Ebene symbolisch

vermittelter Formen sozialer Interaktion beziehen, zu denen insbesondere die Form der

sozialen Integration (Herrschaft) und die des sozialen Konflikts (Klassenkampf)

gehören.

Das Problem ist aber, daß Marx trotz seiner gründlichen Analyse der zwei

unterschiedlichen Bedeutungen der Praxis dazu neigt, die intersubjektiven Aktivitäten

(soziale Interaktion) wieder auf die instrumentellen Handlungen (Arbeit)

zurückzuführen. Nach Habermas ist die Ursache dieser reduktionistischen Tendenz der

Marxschen Theorie die Tatsache, daß Marx zwar den Unterschied zwischen beiden

Handlungskategorien andeutet, aber daß seine Theorie letztlich alles auf eine Kategorie

zurückführt. Diese reduktionistische Tendenz kritisiert Habermas wie folgt:

''Die Befreiung von Hunger und Mühsal konvergiert nicht notwendig mit der

Befreiung von Knechtschaft und Erniedrigung, denn ein entwicklungs-

TP

12PT Siehe K. Marx, Thesen über Feuerbach, in: Marx Engels Werke, Bd. 3, Berlin 1962, S. 5ff. besonders

die erste, zweite, dritte, achte und neunte These.

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128

automatischer Zusammenhang zwischen Arbeit und Interaktion besteht

nicht.''TPF

13FPT

Also liegt im Historischen Materialismus bei Marx eine Ambiguität in dem Punkt, daß

Marx zwar die Wichtigkeit des Unterschiedes von Arbeit und Interaktion erkennt, er

aber dennoch die Kategorie der Interaktion der Arbeit unterordnet.

Engels überwindet diese Ambiguität mit Hilfe des dialektischen Materialismus, der die

Naturwissenschaft als methodologisches Vorbild hat. Für ihn ist die Dialektik ein

Bewegungsprinzip einer 'Substanz', nämlich der Materie, und er versucht mit Hilfe

dieser so verstandenen Dialektik ein monistisches Weltbild zu entwerfen, das Natur und

Gesellschaft gleichermaßen umfaßt. Nach dieser Auffassung ist das Bewußtsein nur ein

bloßes 'Abbild' der Materie. Innerhalb dieser Theorie ist daher nach Habermas keine

'Kritik' im echten Sinne möglich, die die (relative) Autonomie des Bewußtseins von der

materiellen Basis voraussetzt.TPF

14FPT Die Anwendung dieses dialektischen Materialismus auf

die Kritik der Politischen Ökonomie bringt also eine Reduktion des Bewußtseins auf die

Materie und der Interaktion auf die Arbeit mit sich. In diesem Zusammenhang beurteilt

Habermas die sogenannte marxistische Orthodoxie, die den dialektischen Materialismus

Engels' dogmatisch übernimmt, wie folgt:

''Die Abhängigkeit des Bewußtseins vom gesellschaftlichen Sein wird zum

Spezialfall des allgemeinen ontologischen Gesetzes, demzufolge Höheres

vom Niederen, und schließlich alles vom 'materiellen Substrat' abhängt."TPF

15FPT

Der szientistische Materialismus von Engels widerspricht in dieser Hinsicht

fundamental der emanzipatorischen Absicht von Marx, aus der heraus er seine Theorie

eine 'Kritik', wie im Titel seines Buchs Kritik der Politischen Ökonomie, genannt hatte.

TP

13PT J. Habermas, Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels Jenenser 'Philosophie des Geistes', in:

ders, Technik und Wissenschaft als 'Ideologie', Frankfurt/M. 1969, S. 46.

TP

14PT A. Wellmer behauptet in diesem Zusammenhang, daß die Dialektik Engels wegen dieser Abhängigkeit

des Bewußtseins von der Materie nur "einen Rückfall auf eine vorkantische Form der Ontologie" darstellt.

A. Wellmer., Kommunikation und Emanzipation. Überlegungen zur 'sprachanalytischen Wende' der

kritischen Theorie, in: U. Jaeggi / A. Honneth (Hg), Theorien des Historischen Materialismus,

Frankfurt/M. 1977, S. 471.

TP

15PT J. Habermas, Literaturbericht zur philosophischen Diskussion um Marx und den Marxismus, in: ders.,

Theorie und Praxis, a.a.O., S. 396.

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129

Habermas versucht diesen Gedanken von Engels dadurch zu überwinden, daß er die

Marxsche Unterscheidung zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen

erneut hervorhebt. Sein Versuch, die Differenz zwischen technischem Fortschritt und

politischer Emanzipation oder die zwischen Wissenschaft und Kritik nicht zu

verwischen, schlägt sich in der Unterscheidung zwischen 'instrumentalem' oder

'zweckrationalem' einerseits und 'kommunikativem' Handeln andererseits nieder. Er

rekonstruiert damit die wechselseitig voneinander abhängigen historischen Prozesse der

beiden Kategorien. Den Unterschied zwischen beiden Formen der Handlung beschreibt

er wie folgt:

''Während das instrumentale Handeln dem Zwang der äußeren Natur

korrespondiert und der Stand der Produktivkräfte das Maß der technischen

Verfügung über Gewalten der Natur bestimmt, steht das kommunikative

Handeln in Korrespondenz zur Unterdrückung der eigenen Natur: der

institutionelle Rahmen bestimmt das Maß einer Repression durch die

naturwüchsige Gewalt sozialer Abhängigkeit und politischer Herrschaft. Die

Emanzipation von äußerer Naturgewalt verdankt eine Gesellschaft den

Arbeitsprozessen, nämlich der Erzeugung technisch verwertbaren Wissens

[…]; die Emanzipation vom Zwang der internen Natur gelingt im Maße der

Ablösung gewalthabender Institutionen durch eine Organisation des

gesellschaftlichen Verkehrs, die einzig an herrschaftsfreie Kommunikation

gebunden ist. Das geschieht nicht unmittelbar durch produktive Tätigkeit,

sondern durch die revolutionäre Tätigkeit kämpfender Klassen […]. Beide

Kategorien von gesellschaftlicher Praxis zusammengenommen ermöglichen,

was Marx, Hegel interpretierend, den Selbsterzeugungsakt der Gattung

nennt.''TPF

16FPT

Habermas versucht mit dieser Kategorienunterscheidung vor allem den Begriff der

Interaktion in der sozialphilosophischen Hinsicht wiederaufzuwerten, der in Engels'

Marx-Deutung keine eigenständige Rolle mehr spielt.

Dieses Konzept trennt ihn von anderen Vertretern der Frankfurter Schule, die sich auch

mit dem szientistischen Materialismus sehr gründlich auseinandergesetzt und bei der

Entwicklung des Habermasschen Denkens eine große Rolle gespielt haben. Horkheimer

TP

16PT J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M. 1991, S. 71f.

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130

und Adorno z. B. sind der Meinung, daß das Maß der Industrialisierung dem der

Verdinglichung des Bewußtseins und dieses wiederum dem Maß der berechnenden

formalen Rationalität entspricht. Die Autoren der Dialektik der Aufklärung fassen also

die Umformung der äußeren Natur (Technologie, Industrie, Naturbeherrschung) und der

inneren Natur (Individualisierung, Repression, soziale Herrschaftsformen) als einen

einzigen Vorgang auf; die instrumentelle Vernunft drückt sich in der Entwicklung der

Industrie sowohl in der Natur als auch in der Gesellschaft in gleicher Art und Weise aus,

und der technische Fortschritt, der von dieser Vernunft geleitet wird, ist daher für die

gegenwärtigen pathologischen Erscheinungen bzw. für die Entfremdung der Menschen

direkt verantwortlich.

So identifizieren Horkheimer und Adorno den Industrialisierungsprozeß mit dem

Vorgang der Aufklärung, und die Kritik an jenem Prozeß ist daher mit der Kritik an der

Aufklärung identisch. Ihre Kritik an der Aufklärung wird daher zu einer umfassenden

Vernunftkritik, indem sie, was die Aufklärung mit dem Mythos machte, noch einmal

auf den Prozeß der Aufklärung im ganzen anwenden, d. h. sie wenden ihre Kritik nun

gegen die Vernunft als einzige Grundlage möglicher Geltungsansprüche. Sie

vernachlässigen dabei die geschichtliche Entstehung der Aufklärung. Was ihnen, die mit

der These des Umschlagens der Aufklärung in einen neuen Mythos das vernünftige

Denken als ganzes in Zweifel ziehen, übrig bleibt, ist nur ein geschichtlicher

Pessimismus. Daher ist Wellmer der Ansicht, daß ihre Kritische Theorie nicht mehr eine

rationale, d. h. vernünftige Form der Kritik ist, sondern ihre Legitimation aus einem

anderen Bereich gewinnen muß.TPF

17FPT

Habermas findet aber in ihrer Kritik an der Aufklärung ein Paradox, weil diese Kritik

"im Augenblick der Beschreibung noch von der totgesagten Kritik Gebrauch machen

muß. Das Totalitärwerden der Aufklärung denunziert sie mit deren eigenen Mitteln."TPF

18FPT

Dies bedeutet, daß die Vernunft nicht nur die instrumentelle Funktion, sondern auch die

Funktion der Kritik hat. Habermas vertritt also die These, daß die instrumentelle

TP

17PT Wellmer ordnet ihre Kritik einer 'eschatologischen Kategorie' zu. Daß er die Frankfurter Schule mit

diesem einen hoffnungsvollen Zukunftsoptimismus ausdrückenden religiösen Begriff charakterisiert,

verweist allerdings bei ihm auf einen philosophischen Pessimismus, weil dieser Begriff die

Vernachlässigung der kritischen Funktion der Vernunft deutlich machen soll. A. Wellmer,

Kommunikation und Emanzipation, a.a.O., S. 482. Diese Kritik an der Frankfurter Schule ergibt sich für

Habermas auch bei seiner Auseinandersetzung mit Benjamins Geschichtsphilosophie. J. Habermas,

Exkurs zu Benjamins Geschichtsphilosophischen Thesen, in: PDM, S. 21ff.

TP

18PT PDM, S. 144.

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Vernunft nur eine Form der Vernunft ist und daß das Projekt der Aufklärung dadurch

weitergeführt werden kann, daß die kritische Funktion der Vernunft wiederhergestellt

wird, die zwar bei der Entstehung der Aufklärung eine entscheidende Rolle gespielt hat,

die aber mit der Erweiterung der instrumentellen Vernunft ihre Kraft verloren hat.

Der Historische Materialismus hat nach Habermas schon in seiner Unterscheidung von

Arbeit und Interaktion, von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen sowie von

'technischer' und 'praktischer' Vernunft noch den Ansatz der aufklärerischen Kritik

beibehalten, obzwar er die letzten Faktoren letztendlich auf die ersten reduziert hat. Die

Wiederherstellung der kritischen Rolle der 'praktischen' Vernunft oder die Erweiterung

des eingeschränkten Vernunftverständnisses zeigt eine Möglichkeit auf, den

Pessimismus der Kritischen Theorie zu vermeiden. Die Habermassche Unterscheidung

zwischen 'instrumentalem' und 'kommunikativem' Handeln deutet diese Möglichkeit an.

Wie das 'kommunikative' Handeln schon im Namen andeutet, spielt die

Sprachwissenschaft oder –philosophie für Habermas eine entscheidende Rolle, um die

kritische Funktion der Vernunft und eine rationale Betrachtung der Welt wieder zu

ermöglichen; wenn man die Ergebnisse der Sprachphilosophie auf die Handlungstheorie

anwendet, löst sich nicht nur die Ambiguität des Marxschen Historischen Materialismus

auf und wird das pessimistische Resultat von Horkheimer und Adorno vermieden,

sondern viele schwierige sozialphilosophische Fragen können dann auch rational

beantwortet werden. Habermas sieht eine Möglichkeit der Einbeziehung sprachlicher

Phänomene in die Philosophie in der Hermeneutik Diltheys gegeben.TPF

19FPT

Diltheys Hermeneutik unterscheidet sich vor allem vom Neukantianismus Rickerts, der

die Kantische Erkenntniskritik auf den Bereich historischer Erkenntnis auszuweiten

versucht. Dilthey bezweifelt, daß dieser Versuch erfolgreich sein kann. Denn die

Theorie des Kantischen Erkenntnissubjekts gilt nur im Bereich der Erscheinungswelt

bzw. der Naturwissenschaften, in dem die Methode der Erklärung von großer

Bedeutung ist. Anders gesagt, diese Theorie kann keine konstitutive Rolle im Bereich

der sozialen und geschichtlichen Wissenschaften spielen und daher ist für diesen

Bereich eine andere Theorie erforderlich. Der Grund dafür liegt darin, daß es in dem

Bereich der historischen Tatsachen immer die paradoxe Situation gegeben ist, daß das

die Konstitution der historischen Tatsachen erklärende transzendentale Subjekt

TP

19PT Siehe zur Auseinandersetzung von Habermas mit Dilthey besonders: J. Habermas, Diltheys Theorie des

Ausdrucksverstehens: Ich-Identität und sprachliche Kommunikation, in: ders., Erkenntnis und Interesse,

a.a.O., S. 178-203.

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132

wiederum von diesen Tatsachen selber konstituiert wird. Weil das Konstituierende und

das Konstituierte im gesellschaftlich-historischen Bereich zusammenfallen, kann es in

diesem Bereich keine erklärende, beobachtende, d. h. objektive Instanz geben. Aus

diesem Grund ist Dilthey gegenüber Rickerts Anliegen sehr skeptisch.

Dilthey eröffnet für die Geisteswissenschaften bzw. die Sozialwissenschaften eine

andere Möglichkeit ihres Selbstverständnisses, in dem die Methode des Verstehens von

großer Bedeutung ist. Um das eigentümliche Verhältnis von Subjektivität und

Intersubjektivität sowie von 'Transzendentalem' und 'Empirischem' zu deuten, analysiert

Dilthey die Struktur umgangsprachlicher Kommunikation. Davon leitet er die

Besonderheit der Methode der 'Geisteswissenschaft' ab. Er geht davon aus, daß, da der

vorgegebene 'Eigensinn', den die sozialwissenschaftlichen Gegenstände und Daten

haben,TPF

20FPT durch den symbolischen Zusammenhang einer Lebensform bestimmt wird, ihr

interner Bezug zur Gesamtheit einer Sprache berücksichtigt werden muß. Daher ist das

hermeneutische Verstehen bzw. die linguistische Analyse in diesem Bereich

unvermeidbar und wird sogar als die einzig adäquate Untersuchungsmethode angesehen.

Dies ist der Grund, warum Dilthey in seinen späteren Schriften von einer

psychologischen zu einer hermeneutischen Theorie der Geisteswissenschaften

übergegangen ist.

Trotz vieler wichtiger Einsichten ist Diltheys Hermeneutik nach Habermas noch

insofern problematisch, als das hermeneutische Verstehen keine Instanz darstellt, die die

Objektivität der Untersuchungsergebnisse der Geisteswissenschaften garantiert. Der

TP

20PT Ob das Verstehen bei der wissenschaftlichen Betrachtung der menschlichen Gesellschaft eine Rolle

spielt, ist immer noch umstritten; die positivistischen Gesellschaftstheoretiker behaupten, daß die

Sozialwissenschaft, um eine Wissenschaft zu sein, den Gegenstand mit objektiven Methoden, wie z. B.

Experiment, vergleichenden oder statistischen Studien, analysieren muß, nicht mit subjektiven Methoden,

wie z. B. Verstehen, während die hermeneutisch ausgerichteten Soziologen von der Unentbehrlichkeit des

Verstehens für die Gesellschaftsforschung sprechen. T. Abel, einer der Positivisten, schreibt: "Die

Operation des Verstehens […] erweitert weder unser Wissen, weil sie in der Anwendung des von

persönlicher Erfahrung schon gerechtfertigten Wissens besteht; noch dient sie als ein Mittel der

Verifikation. Die Wahrscheinlichkeit einer Korrelation kann nur durch objektive, experimentalische und

statistische Teste bestätigt werden". T. Abel, The Operation Called Verstehen (1948/49), in: H. Albert

(Hg.), Theorie und Realität: Ausgewählte Aufsätze zur Wissenschaftslehre der Sozialwissenschaften,

Tübingen 1964, S. 188. Im Gegensatz dazu behauptet D. Leat, eine der Hermeneutiker, folgendes:

"Verstehen spielt eine integrale Rolle im Beweis jeder spezifisch soziologischen Generalisierung." D.

Leat, Das mißverstandene 'Verstehen' (1972), in: K. Acham (Hg.), Methodologische Probleme der

Sozialwissenschaften, Darmstadt 1978, S. 111.

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133

Grund dafür liegt darin, daß Dilthey das Verstehen und die Erklärung voneinander

unterscheidet und die Objektivität nur der Ebene der Erklärung zuordnet. Es gibt also

bei der Hermeneutik keine externe Erklärungsinstanz jenseits der internen, für die

handelnden Individuen prinzipiell zugänglichen Sinnbeziehungen, durch welche die

Elemente einer Sprache miteinander verbunden sind. Es ist daher fraglich, ob innerhalb

der Diltheyschen Hermeneutik das Selbstverständnis der Handelnden ideologiekritisch

hinterfragt werden kann, wenn ihr Handeln entgegen ihrer Selbstdeutung in

Wirklichkeit durch andere, unbewußte, objektiv erklärbare Motive bestimmt wird.

Habermas sieht gerade in dieser Unzulänglichkeit den Grund, warum die Hermeneutik

über die Interpretation und das Verständnis des sogenannten 'Normalfalls' nicht

hinausgehen und auch keine Möglichkeit der Selbstkritik entwickeln kann. Die

hermeneutische Annahme, daß der Zusammenhang zwischen den sprachlichen

Äußerungen, dem leibgebundenen Ausdrucksverhalten und den Handlungen beim

kommunikativen Handeln in allen Bereichen der sozialen Interaktion konsistent und

einheitlich interpretierbar ist, ist aber nichts anderes als eine Verallgemeinerung des

'Normalfalls', weil es häufig vorkommt, daß Teile des sozialen Lebenszusammenhanges

für die Handelnden und Sprechenden selbst dort scheinbar verständlich sind, obwohl

faktische Inkonsistenz und Widersprüche im System umgangsprachlicher

Kommunikation vorhanden sind.TPF

21FPT Als Ergebnis seiner Beschäftigung mit Dilthey hält

Habermas fest, daß Dilthey zwar einerseits durch seinen Bezug auf die Sprache und auf

das Verstehen den Dogmatismus des S-O Schemas überwunden hat, daß seine

Philosophie aber andererseits in einen Relativismus führt, weil er den erklärenden,

objektiven Ansatz der Naturwissenschaft im Bereich der Geisteswissenschaften ablehnt

bzw. stark einschränkt.

Habermas erkennt den außerhalb des Bereichs des normalen Verständnisses liegenden

sogenannten 'Grenzenfall' der Kommunikation als eine gesellschaftliche Tatsache an

TP

21PT Die Hermeneutik Diltheys gilt nach Habermas nur für den 'Normalfall' der Kommunikation, nicht für

den 'Grenzenfall', der der Gegenstand der von Habermas als 'Tiefenhermeneutik' angesehenen

Psychoanalyse ist. "Zwar hat Dilthey das psychologische Ausdrucksverstehen zugunsten des

hermeneutischen Sinnverstehens überwunden, 'an die Stelle des psychologischen Raffinements [ist] das

Verstehen geistiger Gebilde' getreten. Aber auch die auf den Zusammenhang von Symbolen gerichtete

Philologie bleibt auf eine Sprache eingeschränkt, in der sich bewußt Intendiertes ausdrückt. [...] Insofern

übernimmt die Philologie nur Hilfsfunktionen für eine unter normalen Bedingungen funktionierende

Kraft der lebensgeschichtlichen Erinnerung." J. Habermas, Selbstreflexion als Wissenschaft: Freuds

psychoanalytische Sinnkritik, in: ders., Erkenntnis und Interesse, a.a.O., S. 265.

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134

und versteht ihn als ein Resultat einer Kommunikationsstörung, die die Möglichkeiten

der öffentlichen Kommunikation systematisch einschränkt. Die Inkonsistenz und

Unverständlichkeit sprachlicher Äußerungen müssen daher als Anzeichen einer

systematischen Einschränkung der Kommunikation verstanden werden, die nun einen

nur scheinbaren Konsens erzeugt, und zwar hinsichtlich der in einer Gesellschaft

allgemein als 'wahr' und 'gerecht' geltenden Überzeugungen und Normen. Solche

Überzeugungen und Normen sind aber häufig nicht das Resultat eines rationalen

Konsenses oder eines zwanglosen Lernprozesses. Man muß daher von der Möglichkeit

systematisch 'verzerrter' Kommunikation ausgehen, in der anerkannte Normen in

Wirklichkeit Machtinteressen verschleiern oder Machtansprüche legitimieren. Also

wäre die Anwendung Hermeneutik in den Sozialwissenschaften nur dann angemessen,

wenn die sozialen Lebenszusammenhänge immer schon der Norm gewaltfreier

intersubjektiver Verständigung entsprechen würden.

Der sprachphilosophisch verstandene Historische Materialismus untersucht die

Beziehung der vielfältigen Sprachspiele zu den von allen Sprachspielen vorausgesetzten,

aber zunächst verfehlten Normen. Denn nur durch diese Beziehung ist ein kritisches

Hinterfragen der in der Sprache verkörperten Sinnrelationen und der Selbstdeutungen

der Handelnden möglich. Durch diesen internen Bezug, den jede Gesellschaft zu der

Norm der gewaltfreien Intersubjektivität hat, können die Geistes- bzw.

Sozialwissenschaften die Selbstdeutung von Gruppen und Individuen hinterfragen und

sowohl deren Selbsttäuschungen als auch die 'rationale' Funktion des falschen

Bewußtseins erklären. Der neue Historische Materialismus beschäftigt sich also mit der

Analyse der Bedingungen der Möglichkeit einer normativen materialistischen

Gesellschafts- und Geschichtstheorie. Gerade in der Wiederherstellung der kritischen

Funktion der Vernunft besteht somit die Pointe der Habermasschen

sprachphilosophischen Transformation des Historischen Materialismus. Aus diesem

Grund beurteilt Wellmer diese 'linguistische Wende' wie folgt:

"Durch die 'linguistische Wende' der kritischen Theorie werden politische

und ökonomische Gewaltverhältnisse, d. h. Unterdrückung und Ausbeutung,

nicht etwa in grammatische Beziehungen aufgelöst; insofern sie vielmehr als

sprachlich vermittelte Beziehungen analysiert werden, werden sie als

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135

Verhältnisse faßbar, die über sich selbst das Urteil sprechen: sie verdienen

es, zugrunde zu gehen."TPF

22FPT

Die Habermassche Kritik an dem szientistischen Materialismus sowie dem

hermeneutischen Verfahren ist aber gleichzeitig verbunden mit der Aufnahme beider

sich wechselseitig ergänzenden Methoden; jener ist für seine Theorie notwendig, um die

Abhängigkeit des geschichtlichen Sinns von den Subjekten erklären zu können, die die

Geschichte 'mit Willen und Bewußtsein' hervorbringen, und dieses ist auch notwendig,

um die Bedeutsamkeit jeder historischen Realität und also deren jeweils eigenen Bezug

zur Idee gewaltfreier Intersubjektivität deuten zu können.

Die sozialwissenschaftliche Analyse, die nach wissenschaftlicher Objektivität strebt, hat

daher wegen der Sinnhaftigkeit ihres Gegenstandbereiches nur innerhalb des jeweiligen

Sprachspiels ihre Gültigkeit. Der Historische Materialismus muß also diese Erkenntnis

praktisch ausarbeiten, d. h. er muß das instrumentelle und das kommunikative Handeln

voneinander unterscheiden und gleichzeitig ihre wechselseitige Beziehung analysieren.

Also ist auch innerhalb der Sozialwissenschaft die Objektivierung der sozialen Realität

möglich, die es für Dilthey nur im Bereich der Erklärung, also der Naturwissenschaft

geben kann. Das bedeutet erstens, daß die Sozialwissenschaft ein Wissen produziert, das

zum Zweck der sozialen Steuerung 'technologisch' genutzt werden kann, und zweitens,

daß sie eine Methode entwickelt, mit der man die Selbstinterpretation der

'objektivierten' Individuen hinterfragen und darüber hinaus den verborgenen Sinn, d. h.

die 'Tiefengrammatik' ihrer Interaktionen entschlüsseln kann. Mit der Analyse dieser

Tiefengrammatik lassen sich die Kommunikationsstörungen erkennen, die von der als

Ausdruck institutionalisierter oder verinnerlichter Gewaltverhältnisse verstandenen

'Oberflächengrammatik' der Sprache verborgen wurden.TPF

23FPT

Das Ziel der sozialwissenschaftlichen Objektivierung ist es, hinter der

Oberflächengrammatik eines Sprachspiels die soziale Gewalt sichtbar zu machen, die in

seinen tiefengrammatischen Beziehungen und Regeln verborgen ist. Dadurch dient sie

vor allem dem Interesse der Überwindung quasi-kausaler Mechanismen, d. h. einer

'Denaturalisierung' der Geschichte. Gerade darin liegt eine Möglichkeit, sowohl die

sozialen Gewaltverhältnisse aufzulösen als auch die individuelle Autonomie zu

TP

22PT A. Wellmer, Kommunikation und Emanzipation, a.a.O, S. 492.

TP

23PT Habermas ist also der Meinung, daß die Hermeneutik psychoanalytisch weiterentwickelt werden muß,

um die verborgenen Motive erkennen zu können.

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136

erweitern, die nur unter der Bedingung einer herrschaftsfreien Kommunikation möglich

ist.

Solch eine 'kritische' Sozialwissenschaft bezieht sich auf Prozesse der Selbstreflexion,

die nicht technisch verwertbares, sondern 'praktisches' Wissen erzeugen. Dahinter steht

das Interesse an Emanzipation, das Habermas als eine ebenso unscheinbare wie

explosive Kraft im Prozeß der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft ansieht. Das

emanzipatorische Interesse bildet sich mit der Entstehung der Sprache sowie mit dem

Aufbau symbolisch vermittelter sozialer Beziehungen aus.TPF

24FPT Dieses Interesse leitet die

Erkenntnis des Historischen Materialismus und bezieht sich also gleichzeitig auf ein

praktisches Projekt. Es richtet sich also auf eine Emanzipation von allen Formen

sozialer Gewalt und Repression.

Das Ergebnis des Kapitels läßt sich also wie folgt zusammenfassen: die Hermeneutik

Diltheys kann trotz ihrer wichtigen sprachphilosophischen Einsichten keine objektive

Instanz anbieten, die die Gültigkeit der wissenschaftlichen Objektivierungen prüfen

kann, weil es sich bei ihr nur um das umgangsprachliche Verständnisproblem, also die

Deutung der 'Oberflächengrammatik' handelt. Sie kann sich dem Relativismus nicht

entziehen. Darüber hinaus haben diese Objektivierungen es nicht mit der Emanzipation

von Fremdbestimmung, sondern mit der Interpretation einer Welt zu tun, weil sie die

Möglichkeit einer systematisch verzerrten Kommunikation nicht in Betrachten ziehen.

Um eine Selbstkritik und -reflexion der Subjekte möglich zu machen, muß also nicht

nur die Umgangsprache sondern auch die als deren Norm angesehene 'Tiefengrammatik'

gedeutet werden.

Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer sprachphilosophischen Transformation des

Historischen Materialismus, damit dieser eine wirklich 'kritische' Theorie sein kann, die

nicht bloß zu einer pessimistischen Weltsicht führt. Diese Transformation darf sich aber

nicht auf die kritische Übernahme der Diltheyschen hermeneutischen Methode

beschränken, weil bei ihr die Möglichkeit einer objektiven Erklärung verborgener

TP

24PT Wellmer erklärt diesen Begriff, der einerseits als eine anthropologische und andererseits als eine

sozialwissenschaftliche Kategorie verstanden wird, wie folgt: "Von einem Interesse an Emanzipation

dürfen wir deshalb sprechen, weil durch die Versprachlichung der Lebensprozesse Probleme symbolisch

vermittelter persönlicher und kollektiver Identität zu (Über-)Lebensproblemen werden; von einem

Interesse an Emanzipation aber deshalb, weil materielle Bedürfnisse und Interessen, sobald sie zu

sprachlich vermittelten Bedürfnissen und Interessen geworden sind, mit Notwendigkeit auf die Ideen der

Wahrheit und Gerechtigkeit sich beziehen." A. Wellmer, Kommunikation und Emanzipation, a.a.O., S.

497. Hervorhebungen im Original.

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137

Handlungsmotive fehlt. Diese Überlegungen führen bei Habermas zu der

Unterscheidung zwischen instrumentalem und kommunikativem Handeln, die nicht

aufeinander reduziert werden können. Der auf dieser Unterscheidung beruhende

Historische Materialismus hat daher, wie Wellmer sagt, einerseits eine materialistische

Komponente, weil er "mit theoretisch nicht auflösbaren, empirisch zu erforschenden

Kontingenzen rechnet, die die Ausgangssituation, die Randbedingungen und die

Mechanismen sozialer Evolution bestimmen", und andererseits ein hermeneutisches

Element, weil er "mit dem Faktum einer durch Sprache, also durch einen internen

Bezug auf Wahrheit vermittelten Reproduktion der Gattung rechnet."TPF

25FPT

Die Kritische Theorie von Habermas wird daher mehr und mehr von der

Sprachphilosophie beeinflußt. Das bedeutet vor allem, daß er die von der Sprache

ausgehende Intersubjektivität zum Prinzip seiner Philosophie erhebt. Dies wird vor

allem in seiner späteren Philosophie seit der Theorie des kommunikativen Handelns

deutlich, die besonders auf der Sprachpragmatik von Austin beruht.TPF

26

TP

25PT A. Wellmer, a.a.O., S. 498. Ob diese Rekonstruktion noch ein Historischer Materialismus ist, ist

umstritten; im Gegensatz zu Wellmer, der diese Rekonstruktion in der Linie des Historischen

Materialismus versteht, behauptet z. B. Rockmore: "Now, in the proposed refutation of the labor theory of

value, we saw that Habermas identifies problems leading him to renounce historical materialism as an

even possibly viable theory. […] it is reasonable to regard his own position, especially the theory of

communicative action, as an effort to achieve by other means what historical materialism only intended to

reach. […] Since Marx und Engels, one of its main themes has always been the relation of theory and

practice [Praxis]." Tom Rockmore, Habermas on historical materialism, Bloomington, Indianapolis 1989,

S. 147. Für ihn ist Habermas näher an Popper und Kolakowski, die den Kernpunkt des Historischen

Materialismus nicht in der Lehre vom Arbeitwert, sondern in der Deutung des Verhältnisses zwischen

Theorie und Praxis sehen und jene Theorie nicht als eine wissenschaftliche Hypothese ansehen, weil sie

nicht falsifiziert werden kann. Siehe zur Kritik Kolakowskis an der Marxschen Arbeitswertlehre L.

Kolakowski, Main Currents of Marxism. Its Rise, Growth and Dissolution, Oxford 1978, S. 329.

TP

26PT Habermas stellt seit seiner Theorie des kommunikativen Handelns alle Arten des Handelns der

Menschen, wie z. B. strategisches, normenreguliertes sowie dramaturgisches Handeln, als Formen der

sprachlich vermittelten Interaktionen darstellt; alle diese Handlungsweisen werden als Grenzenfälle des

kommunikativen Handelns angesehen. Anders gesagt, er verwendet die Sprachphilosophie zur Ablehnung

aller reduktionistischen Theorien.

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138

F PT2. Die Sprachpragmatik und die Theorie des

kommunikativen Handelns

2.1. Die Sprachpragmatik

Die Sprachtheorie wird gewöhnlich in die Bereiche Syntaktik, Semantik und Pragmatik

unterteilt; während die Syntaktik "die syntaktischen Beziehungen der Zeichen

zueinander unter Absehung von ihren Beziehungen zu Objekten und Interpreten", d. h.

die Beziehung eines Zeichens zu anderen Zeichen sowie einer sprachlichen Äußerung

zu anderen sprachlichen Äußerungen,TPF

27FPT und die Semantik "die Beziehung der Zeichen

zu ihren Designaten und darum zu den Objekten, die sie denotieren oder denotieren

können",TPF

28FPT d. h. die Beziehung eines Zeichens zu dessen Bedeutung sowie einer

sprachlichen Äußerung zu deren Gegenstand, untersucht, befaßt sich die Pragmatik mit

der "Beziehung der Zeichen zu ihren Interpreten," TPF

29FPT d. h. mit der Sprechsituation, mit

der Intention sowie der Rolle der beteiligten Sprecher etc. In dieser Hinsicht behandelt

die Pragmatik einen umfassenderen Bereich als die Syntaktik und die Semantik.

Einer der wichtigsten Ausgangspunkte der Sprachtheorie, sei es die Wahrheitssemantik

seit Frege oder die Sprachpragmatik Austins, ist, daß jede konkrete Sprechhandlung die

Geltungsproblematik begleitet; jede Sprechhandlung enthält also die Momente des

Realen und zugleich des Transzendentalen, des Empirischen und gleichzeitig der

Idealität in sich. Die Äußerung: "Dies ist ein Kugelschreiber" z. B. ist insofern auf die

Wahrheitsfrage bezogen, als diese Äußerung entweder mit "Es ist wahr" oder mit "Es ist

nicht wahr" beurteilt werden kann. Anders gesagt, diese Aussage erhebt einen

Geltungsanspruch der Wahrheit. Dies bedeutet, daß bei einer sprachlichen Äußerung

zwar Faktizität und Geltung unterschieden sind, aber dennoch eine enge Beziehung

zwischen beiden existiert.

TP

27PT Ch. W. Morris, Grundlagen der Zeichentheorie, München 1972, S. 32.

TP

28PT A.a.O., S. 42.

TP

29PT A.a.O., S. 52.

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139

Habermas beschäftigt sich besonders mit der von Austin entwickelten Theorie der

Sprechakte.TPF

30FPT Austin setzt sich mit den herkömmlichen Sprachtheorien auseinander, die

angenommen haben, "das Geschäft von 'Feststellungen' oder 'Aussagen' [statements] sei

einzig und allein, einen Sachverhalt zu 'beschreiben' oder 'eine Tatsache zu behaupten',

und zwar entweder zutreffend oder unzutreffend." TPF

31FPT Diese Theorien machen also nur

den als wahr oder falsch zu beurteilenden assertorischen Satz zum Gegenstand der

Sprachanalyse. Nach der Wahrheitssemantik dieser Theorien versteht man einen Satz,

wenn man weiß, wann dieser Satz wahr ist. Die Geltungsproblematik wird daher bei

dieser Theorie auf das Verhältnis der Sprache zur Welt als der Gesamtheit der

Tatsachen reduziert. Wegen der Identifizierung der Geltung mit der Aussagenwahrheit

entsteht ein Zusammenhang zwischen der Behauptung und der Geltung sprachlicher

Ausdrücke ausschließlich in der Tatsachen feststellenden Rede.TPF

32FPT

Austin geht aber davon aus, daß es verschiedene Geltungsansprüche gibt, die nicht auf

eine Bedeutungsebene zurückbezogen werden können. Eine der eigentümlichen

Charakteristiken seiner Sprachtheorie ist es, das Sprechen als eine Handlung zu

betrachten. Daher untersucht er besonders die Fälle, "in denen wir etwas tun, dadurch

daß wir etwas sagen",TPF

33FPT wie dies z. B. bei Befehlen, Versprechen und Wünschen der

Fall ist. Solche Sprechakte, die er 'performative Äußerungen' nennt,TPF

34FPT sind nicht die

Äußerungen, welche einen Sachverhalt beschreiben oder eine Tatsache behaupten und

deren Geltung deswegen in der Wahrheitsproblematik bereits entschieden ist, sondern

diejenigen Äußerungen, die zugleich eine 'Handlung' sind, die den Sprecher und den

Hörer auf bestimmte Weise verbinden. Ein Beispiel von ihm: "Ja! (ich nehme die hier

anwesende XY zur Frau)" ist eine performative Aussage, weil der Sprecher mit dieser

Aussage nicht eine Tatsache des Heiratens berichtet, sondern etwas tut, und zwar

heiratet.TPF

35FPT Die Äußerung ist zugleich eine Tat, nämlich das Heiraten. Sie ist außerdem

nur in einem bestimmten Kontext, z. B. im Laufe der standesamtlichen Trauung

verständlich. Ein anderes Beispiel: der Satz: "die Katze ist auf der Matte" ist wahr,

TP

30PT Siehe zur Problematik der Anwendung der Sprechakttheorie auf die philosophischen Bereichen

besonders: K.-O. Apel, Die Logosauszeichnung der menschlichen Sprache. Die philosophische Tragweite

der Sprechakttheorie, Frankfurt/M. 1984.

TP

31PT J. L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1998, S. 26.

TP

32PT Vgl. ND, S. 76.

TP

33PT J. L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, a.a.O., S. 35.

TP

34PT A.a.O., S. 29.

TP

35PT A.a.O., S. 35.

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140

wenn die Katze wirklich auf der Matte ist. Aber die Unbedingtheit der Bedeutung des

Gesagten verschwindet mit der Einsicht, daß dieser Geltungsanspruch vom explizit oder

implizit bestimmten Kontext eingeschränkt wird. Der oben eingeführte Satz enthält

implizit z. B. eine Äußerung der Art: "Hiermit bestätige ich, daß […]", die weder wahr

noch falsch ist, sondern durch die der Sprecher eine Handlung vollzieht, in diesem

Beispiel die Bestätigung eines Sachverhaltes. Dieser Teil der Rede setzt einen Hörer

voraus, der die soziale oder performative Bedeutung des 'Bestätigens' versteht. "Die

Katze ist auf der Matte" kann daher in diesem Fall als eine verkürzte Version von:

"Hiermit bestätige ich, daß die Katze auf der Matte ist" verstanden werden.

Die performative Einstellung, die man in einer konkreten Situation einnimmt, enthält

also die folgenden Voraussetzungen: 1) der Sprecher kommuniziert über etwas in der

Welt mit einer zweiten Person, 2) der potentielle Hörer, der sich als zweite Person

verhält, nimmt nicht eine Beobachterperspektive ein, von der aus er die Wahrheit oder

die Falschheit der Aussage beurteilen kann, sondern eine Teilnehmerperspektive, von

der aus er durch den Meinungsaustausch seine Position ändern kann, 3) Sprecher und

Hörer sehen sich als Mitglieder der historisch-kulturellen Welt einer konkreten

Sprachgemeinschaft an. Die performative Aussage setzt also voraus, daß der Sprecher

aus der Perspektive seines Partners sich selbst besser verstehen lernen kann, genauso

wie der Hörer umgekehrt sich die Perspektive des Sprechers aneignen kann, um von

ihm zu lernen.

Dabei stellt sich nun die Frage, unter welcher Bedingung eine Sprechhandlung

erfolgreich ausgeübt wird. Austin geht davon aus, daß, um zu wissen, ob z. B. ein

'Versprechen' tatsächlich erfüllt wurde, man nicht (nur) berücksichtigen muß, was die

Aussage des (Ver-)Sprechers ist, sondern auch, in welchen Umständen diese

Sprechhandlung getätigt wird. Er versucht die allgemeinen Eigenschaften des

Versprechens an Fällen zu verdeutlichen, in denen die Äußerung entsprechender Sätze

tatsächlich als ein Versprechen fungiert. Austin nennt folgende Bedingungen für den

Erfolg einer performativen Äußerung:

"(A.1) Es muß ein übliches konventionales Verfahren mit einem bestimmten

konventionalen Ereignis geben; zu dem Verfahren gehört, daß bestimmte

Personen unter bestimmten Umständen bestimmte Wörter äußern.

(A.2) Die betroffenen Personen und Umstände müssen im gegebenen Fall

für die Berufung auf das besondere Verfahren passen, auf welches man sich

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141

beruft. (B.1) Alle Beteiligten müssen das Verfahren korrekt (B.2) und

vollständig durchführen." TPF

36FPT

Hierbei ist auffällig, daß er die 'Konvention' als einen wichtigen Maßstab für den Erfolg

einer Sprechhandlung ansieht. Dies bedeutet vor allem, daß die Bedeutung einer

Sprechhandlung einerseits nicht bloß auf einen psychischen oder geistigen Zustand des

Subjekts reduziert werden darf und daß andererseits jede Sprechhandlung "mindestens

zu einem gewissen Grade ein Mißerfolg"TPF

37FPT sein kann. Mit anderen Worten, "die

Möglichkeit des Mißerfolgs", wie Culler sagt, ist "der performativen Äußerung inhärent

und Ausgangspunkt der Untersuchung." TPF

38FPT Der (Miß-)Erfolg oder die Bedeutung einer

Sprechhandlung steht daher schon im engen Zusammenhang mit der Situation, in der

diese Sprechhandlung erfolgreich ist. Die Gültigkeit z. B. eines Versprechens hängt

vollständig von der Situation ab, die dem Hörer die Aussage des Sprechers als

Versprechen verständlich macht. Gerade in diesem Punkt ist jede Sprechhandlung

gleichzeitig gewissermaßen ein Mißerfolg, weil die Situation, in der man beurteilen

kann, ob eine Sprechhandlung erfolgreich ist, keine unveränderliche Konstante ist. Es

ist ein wichtiger Bestandteil der Sprechakttheorie, die wechselseitige Beziehung

zwischen der performativen Sprechhandlung und der Situation, in der diese

Sprechhandlung eine wahre Aussage ist, zu untersuchen.TPF

39FPT

Im Rahmen der Sprechakttheorie hat die Sprache, besser gesagt, die Sprechhandlung

drei Funktionen: die Darstellung der Sachverhalte, die Herstellung der Beziehungen zu

dem Adressaten und den Ausdruck der Intention eines Sprechers. Die Bedeutung eines

sprachlichen Ausdrucks muß also nicht nur im Zusammenhang mit dem darin Gesagten,

auf dessen Analyse sich die herkömmlichen Sprachtheorien konzentrieren, sondern auch

in Zusammenhang mit der Art seiner Verwendung im Sprechakt sowie mit dem mit ihm

Gemeinten analysiert werden.

In Hinblick auf die drei Funktionen einer Sprechhandlung unterscheidet Austin

zwischen dem lokutionären, dem illokutionären sowie dem perlokutionären Akt. Wie

gesagt, ist sein Ausgangspunkt, daß eine Äußerung zugleich eine Handlung ist. Er nennt TP

36PT A.a.O., S. 37 und 47.

TP

37PT A.a.O., S. 36.

TP

38PT J. Culler, Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie, Hamburg 1999, S.

128.

TP

39PT Habermas erweitert diese Beziehung zwischen Sprechhandlung und Situation zu der Relation zwischen

dem Handeln des sprech-handelnden Subjekts und der Lebenswelt.

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142

dabei die gesamte Handlung, etwas zu sagen, d. h. das Ganze des wirklich Gesagten den

lokutionären Akt.TPF

40FPT Dieser Akt findet sich besonders im propositionalen Gebrauch der

Sprache, wie z. B. in der objektiven Darstellung des Sachverhaltes, in Berichten und in

Vorhersagen etc., die entweder wahr oder falsch sein können. Die lokutionäre

Äußerung hat also etwas mit dem zu tun, worüber man spricht. Die illokutionäre

Äußerung bezieht sich aber auf das, in welcher Form man etwas über einen Sachverhalt

sagt. Während die erste der Akt ist, daß man etwas sagt, ist die zweite der Akt, den man

vollzieht, indem man etwas sagt.TPF

41FPT Dieser Akt findet sich besonders z. B. im

Versprechen und Befehlen etc., die eine Form der sozialen Beziehung zwischen den

Beteiligten etablieren. Bemerkenswerterweise geht Austin davon aus, daß der

illokutionäre Akt den performativen Sinn der Sprache am besten zum Ausdruck bringt.

Er sagt in diesem Zusammenhang: "Einen lokutionären Akt vollziehen heißt im

allgemeinen auch und eo ipso einen illokutionären […] Akt vollziehen."TPF

42FPT Übrigens

spricht Austin ferner von einem dritten Sprachakt, der weder lokutionär noch

illokutionär ist und als Resultat der Rede gewisse Wirkungen auf die Gefühle,

Gedanken oder Handlungen der Adressaten intendiert oder hat. Er nennt diese

Handlung den perlokutionären Akt, der sich besonders z. B. in der Überredung, der

Überzeugung und der Besänftigung etc. findet. Während die lokutionäre die

Objektivität der Tatsache berichtet und die illokutionäre die intersubjektive oder soziale

Beziehung voraussetzt, drückt die perlokutionäre Äußerung die subjektiven Wirkungen

der Sprechhandlung aus.

Aus dieser Sicht gehören z. B. "Er hat gesagt, daß […]", in dessen Form der Sprecher

die Tatsache objektiv berichten will, zur Äußerung des lokutionären Aktes, "Er hat die

Meinung vertreten, daß […]", in dessen Form der Sprecher seine von seinem

Sprechpartner unterschiedene Position äußern will, zum illokutionären Akt, und "Er hat

mich überzeugt, daß […]", in dessen Form der Sprecher seine Position dem Adressaten

nahe bringen will, zum perlokutionären Akt.TPF

43FPT Austin zeigt auch an einem anderen

Beispiel den Unterscheid dieser drei Sprechakte. Im perlokutionären Akt (C) kommen

der lokutionäre und illokutionäre Akt nur indirekt (C.a) oder überhaupt nicht (C.b) vor:

TP

40PT J. L. Austin. Zur Theorie der Sprechakte, a.a.O., S. 112.

TP

41PT A.a.O., S. 117.

TP

42PT A.a.O., S. 116.

TP

43PT A.a.O., S. 119.

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143

"Akt (A), Lokution

Er hat zu mir gesagt: 'Das kannst du nicht tun!'

Akt (B), Illokution

Er hat dagegen protestiert, daß ich das täte.

Akt (C), Perlokution

(C.a) Er hat mir Einhalt geboten.

(C.b) Er hat mich davon abgehalten, mich zur Besinnung gebracht,

mich gestört." TPF

44FPT

Diese Einteilung der Sprechakte zeigt, daß ein Sprechakt nicht nur die objektive

Darstellungsfunktion der Sachverhalte, sondern auch die soziale, intersubjektive

Konvention sowie die subjektive Intention des Sprechers in sich enthält. Dies bedeutet

vor allem, daß nicht nur die Objektivität der Darstellung der Sachverhalte oder die

Wahrheit, sondern die soziale, normative Richtigkeit sowie die subjektive Authentizität

oder die Wahrhaftigkeit als Kriterien für die Geltungen eines Sprechakts fungieren.

Diese Einsicht unterscheidet sich daher besonders von der Wahrheitssemantik, die das

Wesen der Sprache nur in der Darstellungsfunktion der Sachverhalte, also in der

Wahrheitsproblematik sieht. Habermas sieht daher in dieser Sprechakttheorie eine

Möglichkeit, sich der Instrumentalisierung der Vernunft in der modernen Zeit entziehen

zu können, die in der Distanzierung des erkennenden Subjekts vom erkannten Objekt

besteht.

2.2. Die sprachpragmatische Deutung des Handelns

Um einen Ausweg "zwischen der Scylla des Absolutismus und der Charybdis des

Relativismus"TPF

45FPT zu finden, untersucht Habermas die Sprachwissenschaft und u.a. die

Sprechakttheorie. Die Gründe dafür, daß Habermas diese Theorie analysiert, lassen sich

in drei Punkten zusammenfassen: 1) die sprachwissenschaftliche Voraussetzung, daß

jeden Sprechakt die Geltungsdimension begleitet, bedeutet, daß in jedem konkreten

Sprechakt Empirisches und Transzendentales sowie Konkretheit und Idealität

miteinander verbunden sind. Hierin sieht Habermas eine Möglichkeit, sowohl den

TP

44PT A.a.O., S. 119.

TP

45PT PDM, S. 351.

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144

Relativismus des Empirismus als auch den Dogmatismus des Purismus der

transzendentalen Vernunft zu vermeiden. 2) Der Ausgangspunkt der Sprechakttheorie

ist die These, daß eine Äußerung zugleich eine Handlung ist. Hierin sieht Habermas

eine Möglichkeit des Übergangs von der Sprachtheorie zur Handlungstheorie. 3) Die

Einteilung der Sprache in drei Funktionen, die nicht auf eine Funktion reduziert werden

können, ist ein zentrales Ergebnis der Sprechakttheorie. Hierin sieht Habermas eine

Möglichkeit, den modernen 'Polytheismus der Werte' rational zu deuten.

Habermas wendet die wissenschaftlichen Ergebnisse der Sprechakttheorie auf die

Handlungstheorie an und entwickelt eine Theorie des kommunikativen Handelns. Nach

dieser Theorie ist selbst das nicht sprachliche Handeln eine sprachlich vermittelte

Handlung. Diese Handlung, die das kommunikative Handeln genannt wird, wird also als

Einheit von dem nicht-sprachlichen einfachen Handeln und dem Sprechakt angesehen.

Habermas unterscheidet diese Form der Handlung vor allem von dem Begriff der

Handlung der sogenannten Handlungstheorie, die nur zweckrationale Handlungen

analysiert.

Um die Charakteristik des kommunikativen Handelns deutlich zu machen, vergleicht

Habermas die sprachliche Äußerung mit dem nicht-sprachlichen, einfachen Handeln.

Dieses Handeln, wie es sich z. B. in der Arbeit und im Laufen etc. zeigt, ist darauf

gerichtet, "durch die Wahl und den Einsatz geeigneter Mittel gesetzte Ziele zu

realisieren."TPF

46FPT Weil bei diesem Handeln die Zweck-Mittel-Beziehung ausschlaggebend

ist, wird es die Zwecktätigkeit oder das instrumentale Handeln genannt. Aus diesem

Grund wird das zweckrationale Handeln als handlungstheoretische Version der

Subjektphilosophie verstanden, die die erkenntnistheoretische Trennung von Subjekt

und Objekt voraussetzt und deren Handlungsmodell nichts anderes als ein

monologisches, instrumentales Handeln ist. Hierbei erscheinen das Subjekt als

Beobachter und das Objekt als beobachtet.

Dahingegen werden sprachliche Äußerungen, wie z. B. Befehle oder Geständnisse, die

nicht einen bestimmten Sachverhalt darstellen, als Akte verstanden, "mit denen sich ein

Sprecher mit einem anderen über etwas in der Welt verständigen möchte."TPF

47FPT Sie

bestehen darin, daß der Sprecher nicht als Beobachter oder als eine dritte Person

fungiert, die den Gegenstand beobachtet, darstellt oder bearbeitet, sondern als ein

TP

46PT ND, S. 63.

TP

47PT Ebd.

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145

Beteiligter, der nach der Intention einer Handlung des Gesprächpartners fragt und deren

Sinn versteht.

Habermas verdeutlicht den Unterschied zwischen beiden Handlungen mithilfe der

Sprachanalyse:TPF

48FPT Er unterscheidet den Satz: "Er eilt über die Straße" von dem Satz:

"Lasse die Waffe fallen!" Sie sind ganz andere Typen der Äußerungen. Jener Satz ist

eine Darstellung meiner Beobachtung, daß ein Freund im Laufschritt die Straße

überquert. In dieser Darstellung zeigt sich, daß der Freund darauf abzielt, die andere

Straßenseite schnell zu erreichen. Aber warum er diese Tätigkeit ausführt, bleibt noch

interpretationsbedürftig. D. h. ob er z. B. seinen Zug nicht verpassen oder nicht zu spät

zur Vorlesung kommen möchte, ist in der Aussage nicht angegeben, und eine Deutung

seiner Motive hängt daher von der hypothetischen Interpretation des Beobachters ab.

Der Beobachter bleibt hier nur eine dritte Person, die den Handelnden beobachtet und

dessen Handlung objektiv darstellt. Diese Beobachterperspektive ist allerdings nichts

anderes als eine Version des erkenntnistheoretischen S-O-Schemas der

Subjektphilosophie.

Der zweite Satz ist eine Befehlsaussage, die mir ein Freund macht. Wenn ich diese

Äußerung verstehe, dann weiß ich ziemlich genau, welche Handlung ich ausführen soll.

Diese Sprechhandlung bleibt nicht in demselben Sinne interpretationsbedürftig wie der

Laufschritt des vorbeieilenden Freundes, weil der illokutionäre Bestandteil dieses

Sprechaktes in der konkreten Kommunikation den Verwendungssinn des Gesagten

festlegt. In dem Punkt, daß die Sprechakte eine sich selbst interpretierende

selbstbezügliche Struktur, d. h. die Reflexivität der impliziten Selbstkommentierung

haben, unterscheiden sie sich von den nichtsprachlichen Handlungen.TPF

49FPT Während das

Ziel der nichtsprachlichen Handlung, unabhängig von den Mitteln, als ein in der

objektiven Welt kausal zu bewirkender Zustand bestimmt wird,TPF

50FPT richten sich die

Sprechakte auf illokutionäre Ziele, die nicht den Status eines innerweltlich zu

realisierenden Zwecks einnehmen und die ohne die ungezwungene Kooperation und

Zustimmung eines Adressaten nicht verwirklicht und nur mit Rekurs auf das Konzept

der Verständigung erklärt werden können, das dem sprachlichen Medium selbst

innewohnet.TPF

51FPT

TP

48PT Siehe ND, S. 64.

TP

49PT A.a.O., S. 65.

TP

50PT A.a.O., S. 66.

TP

51PT A.a.O., S. 67.

Page 147: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

146

Dieses Beispiel zeigt, daß die Zwecktätigkeit bzw. das teleologische Handeln und die

Interaktion voneinander unterschieden werden müssen und nicht aufeinander reduziert

werden dürfen. Habermas versucht aber diese unterschiedlichen Handlungstypen unter

dem Begriff des 'kommunikativen Handelns' zu vereinigen, der als sprachlich

vermittelte Interaktion definiert wird. Diese Definition unterscheidet sich sowohl vom

'Objektivismus', der von der vorsprachlichen Realität oder von nicht sprachlichen

Handlungen ausgeht, als auch vom Strukturalismus, der davon spricht, daß nichts außer

der Welt der Sprache vorhanden ist.

Die Sozialwissenschaft hat im Grunde die Interaktion zwischen den Subjekten als ihren

Gegenstand. In diesem Punkt ist das Schema der Trennung von S-O ungeeignet für die

Erklärung der gesellschaftlichen Erscheinungen. Aber die traditionelle

Sozialwissenschaft hängt trotzdem vom Subjekt-Objekt-Schema ab, weil ihr

Handlungsbegriff nach Habermas nur eine soziologische Erweiterung des

teleologischen Handelns ist, das eine handlungstheoretische Variation des

erkenntnistheoretischen S-O-Schemas ist: das instrumental-strategische Handeln.

Dieses richtet sich vor allem auf die Realisierung eines Plans, der sich auf die

Situationsdeutung des Aktors stützt.TPF

52FPT Bei diesem erfolgsorientierten Handeln geht es

um das Paradigma von Zweck und Mittel, so daß sich das Verhalten der

Interaktionsteilnehmer bei dem Ausführen ihrer Handlungspläne an der Maximierung

des Nutzens orientiert und daher egozentrisch ist. Die Orientierung an diesem

Handlungstyp findet besonders im Utilitarismus seinen Ausdruck.

Der Begriff des 'kommunikativen Handelns' trägt dazu bei, die Einseitigkeit der

Konzeption des instrumental-strategischen Handelns zu entlarven. Kommunikatives

Handeln zielt darauf ab, durch interpretierende Rollenübernahme oder durch

kooperative Deutungsprozesse "ein rational motiviertes Einverständnis" zwischen den

Akteuren herzustellen.TPF

53FPT Dieses Handeln geht daher von der reziproken Beeinflussung

der Interaktionsteilnehmer aus. Die sprachlich vermittelte Interaktion setzt also die

Handlungskoordinierung zwischen Ego und Alter voraus, durch die die Akteure ihre

Handlungen auf eine bestimmte Weise aneinander anschließen und somit die Wahl

möglicher Handlungen eingeschränkt wird. Insofern ist kommunikatives Handeln in der

Tat eine auf der Intersubjektivität basierende Form des Handelns.

TP

52PT Siehe J. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns (=VE),

Frankfurt/M. 1995, S. 575.

TP

53PT Ebd.

Page 148: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

147

Im Übrigen nimmt aber dieses Handeln auch die weiteren performativen Ebenen der

Sprache auf, anders als die bloße Tatsachenbehauptung, die nur auf

erkenntnistheoretische Wahrheit oder Falschheit abzielt. Denn wer etwas verspricht, der

versteht nicht nur seine Aussage, sondern fühlt auch in einer bestimmten Situation, daß

sein Versprechen erfüllt werden soll. Kommunikatives Handeln ist also ein Oberbegriff,

der auch alle Ziele und Folgen einer Handlung impliziert, die über das bloß sprachliche

Verständnis der Aussagewahrheit hinausgehen.

Die Problematik der Handlungskoordinierung ist bei der Interaktion besonders

deswegen unvermeidbar, weil die Verwirklichung von Plänen und Handlungszielen

eines Aktors in der Regel nur mit Hilfe der Handlungen anderer Aktoren durchgeführt

werden kann. Je nachdem, wie die Pläne und Handlungen des Alter an die Handlungen

des Ego angeschlossen werden, ergeben sich verschiedene Typen sprachlich

vermittelter Interaktion. Bei der Einteilung der Handlungstypen beruft sich Habermas

wieder auf die Theorie der Sprechakte. Ein Sprechakt hat, wie erwähnt, drei

Bestandteile: den lokutionären Akt, in dem die Sachverhalte objektiv dargestellt werden,

den illokutionären Akt, der die Art der intersubjektiven Beziehung zwischen Sprecher

und Hörer zum Ausdruck bringt, und den perlokutionären Akt, in dem sich die

Intention des Sprechers zeigt. Er wendet diese drei Bestandteile des Sprechaktes auf das

menschliche Handeln an und teilt es in teleologisches, normatives und dramaturgisches

Handeln ein.TPF

54FPT

1) Teleologisches (zielgerichtetes) Handeln zielt darauf ab, einen Zweck durch die

Wahl der in der gegebenen Situation erfolgversprechenden Mittel und deren

Anwendung zu realisieren, im Bereich der Interaktion nimmt es daher die Form des

strategischen Handelns an. Bei diesem Handlungstyp geht es daher um

Nutzenmaximierung. Aus der Perspektive dieses Handlungsmodells erscheinen die

Akteure als erfolgsorientiert handelnde Subjekte, weil jeder von ihnen seinen

Interaktionspartner als Mittel für den jeweils eigenen Zweck betrachtet. Sie sind also als

einsame Subjekte aufeinander bezogen. Für diesen Standpunkt ist die Gesellschaft

nichts anderes als eine instrumentelle Ordnung, die die Handlungen der

zweckrationalen Subjekte verbindet. Für diese strategischen Handlungen sind daher die

normativen Begriffe, wie z. B. Gerechtigkeit und Legitimation, "Fremdkörper".TPF

55FPT Das

Problem ist aber, daß die soziale Ordnung auf Dauer nicht allein durch

TP

54PT Siehe dazu TkH 1, S. 126ff. und VE, S. 575ff.

TP

55PT VE, S. 577.

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148

ineinandergreifende Interessen gewährleistet werden kann, wenn die Normativität bei

dieser Ordnung fehlt. Nach Habermas ist der Begriff der Normativität selbst bei einer

radikal strategischen Handlung unvermeidbar. Er geht also von der Notwendigkeit der

Normen für die soziale Ordnung aus. Daß P. Blau seine Theorie des Tauschhandelns

durch den Begriff der Gerechtigkeit und R. Darendorf seine Konflikttheorie durch den

Begriff der Legitimation ergänzen mußten, sieht er als eine Bestätigung seiner Theorie

an, daß eine gesellschaftliche Ordnung ohne normative Begriffe keinen Bestand haben

kann. Das Modell der strategischen Handlung spielt nach Habermas bei den

entscheidungs- und spieltheoretischen Ansätzen in Ökonomie, Soziologie und

Sozialpsychologie eine entscheidende Rolle.

2) Normatives Handeln bezieht sich nicht auf einen einsamen Aktor, der erst

nachträglich in eine Verbindung mit anderen Aktoren tritt, sondern auf Gruppen, die ihr

Handeln an gemeinsamen Werten orientieren. Die Befolgung der Normen wird von

allen Mitgliedern erwartet. Bei diesem Modell wird die soziale Ordnung als ein System

anerkannter Normen begriffen. Das Problem ist hierbei, daß die Individualität des

Einzelnen vollständig hinter der Erklärung der gesellschaftlichen Erwartungen

verschwindet. Jeder Aktor ist dem Großsubjekt der Gesellschaft untergeordnet und

daher gibt es keinen Raum für die Freiheit des einzelnen Aktors.TPF

56FPT Nach Habermas liegt

dieses Modell besonders der Rollentheorie (Durkheim und Parsons) zugrunde.

3) Dramaturgisches Handeln bezieht sich nicht auf einen einsamen Aktor oder auf

Gruppen, sondern auf die expressive Selbstrepräsentation vor einem Publikum (z. B. bei

Goffman). Die Beteiligten können den öffentlichen Zugang zur jeweils eigenen

Subjektivität kontrollieren. Die Selbstrepresentation bedeutet deshalb "nicht ein

spontanes Ausdrucksverhalten, sondern die zuschauerbezogene Stilisierung des

Ausdrucks eigener Erlebnisse."TPF

57FPT Das Problem besteht aber bei dieser Handlung darin,

daß bei der Theorie der dramaturgischen Handlungen gesellschaftliche Institutionen und

Normen keine Rolle spielen. Ist beim normativen Handeln der Aktor gleichsam

'übersozialisiert', da sein Handeln vollständig den gesellschaftlichen Erwartungen

entspricht, so ist im Gegensatz dazu bei der Theorie des dramaturgischen Handelns der

Aktor 'untersozialisiert', da er keine Normen befolgt und den anderen Aktoren stets

etwas vormacht. Dieses dramaturgische Handlungsmodell findet nach Habermas bei

einigen phänomenologisch geprägten Interaktionsbeschreibungen Verwendung.

TP

56PT A.a.O., S. 581.

TP

57PT Ebd.

Page 150: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

149

Bei dieser Einteilung der Handlungen ist auffällig, daß Habermas nicht nur normatives

und dramaturgisches, sondern auch teleologisches (bzw. instrumentales oder

strategisches) dem kommunikativen Handeln zuordnet. Ebenso wie der Kern seiner

Kritik an der modernen Philosophie in der Erhebung der instrumentellen Vernunft zur

Vernunft überhaupt liegt, fokussiert sich gleichfalls seine Kritik an der modernen

Handlungstheorie besonders auf die Erhebung des instrumentalen bzw. strategischen

Handeln zum Handeln überhaupt. Diese Erhebung ist nach ihm nur eine

Verallgemeinerung eines Besonderen. Aus der Perspektive der Theorie des

kommunikativen Handelns haben die drei oben erwähnten Handlungstypen jedoch

allein innerhalb des Begriffs des kommunikativen Handelns ihre Gültigkeit. Also

müssen diese drei Handlungstypen nur als Grenzfälle des kommunikativen Handelns

verstanden werden, weil sie alle die interagierenden, sprachfähigen Subjekte

voraussetzen. In jenen drei Grenzfällen kommt jeweils nur eine der vielfältigen

Funktionen der Sprache zum Zuge: bei der teleologischen bzw. strategischen Handlung

funktioniert die Sprache nur als Instrument für eine Verständigung der Aktoren, die

jeweils ihre eigenen Zwecke im Auge haben. Hier verliert die Sprache ihre

Bindungskraft zwischen den Beteiligten im hohen Maß und funktioniert nur als

Informationsmedium, weil die assertorischen Sprechakte bei diesem Handlungstyp

überwiegen, die im Modus der Wahrheit bzw. der Nützlichkeit operieren; bei dem

normativen Handlungstyp funktioniert die Sprache als bloßes Aussprechen eines schon

vorhandenen normativen Einverständnisses, das sich besonders in dem sittlichen und

praktischen Wissen einer Gesellschaft ausdrückt. Bei einer Bewertung dieser

Handlungen geht es um die soziale Angemessenheit bzw. um die normative Richtigkeit

der Handlung; bei dem dramaturgischen Handlungstyp dient die Sprache nur der

Selbstdarstellung der Subjekte, und eine Bewertung dieser Handlungen bezieht sich

daher auf die vorhandene oder fehlende Wahrhaftigkeit der Selbstdarstellung.

Wenn diese drei Handlungstypen als Grenzenfälle des kommunikativen Handelns

verstanden werden, müssen die Geltungsansprüche der drei Handlungen, d. h. die

Wahrheit bzw. die Nützlichkeit, die soziale bzw. normative Richtigkeit und die

Wahrhaftigkeit im Rahmen der Kategorie der Verständigung interpretiert werden. Die

Kommunikationsbeteiligten "nehmen nicht mehr gerade hin auf etwas in der objektiven,

Page 151: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

150

sozialen oder subjektiven Welt Bezug, sondern relativieren ihre Äußerungen an der

Möglichkeit, daß deren Geltung von anderen Aktoren bestritten wird."TPF

58FPT

Beim Begriff des kommunikativen Handelns gibt es drei aufeinander nicht reduzierbare

Handlungstypen, und jeder von ihnen hat seinen eigenen Geltungsanspruch. Es handelt

sich daher bei der menschlichen Gesellschaft nicht nur um eine Welt der Objekte, die

uns in der Einstellung eines Beobachters begegnet, sondern auch um eine Welt der

Normen, die wir in der Einstellung eines Beteiligten befolgen oder verletzen können.

Wenn normatives und expressives Handeln nicht auf strategisches Handeln reduzierbar

sind und wenn man annimmt, daß die normative Richtigkeit und die subjektive

Wahrhaftigkeit wahrheitsanaloge Geltung haben, wird deutlich, daß die

bewußtseinsphilosophische Wahrheitsauffassung zu eng bzw. stark verkürzt ist, für die

sich die Wahrheit über die Welt in der Summe der durch wahre assertorische

Propositionen ausgedrückten Tatsachen erschöpft.

Die Theorie des kommunikativen Handelns ist also ein Resultat der Auseinandersetzung

mit der Einseitigkeit des Begriffs des instrumentalen Handelns, der als Gegenstand der

Handlungstheorie der modernen Sozialwissenschaft als praktisch-philosophischer

Ausdruck des subjektphilosophischen S-O-Paradigma verstanden wird. Natürlich spielt

das instrumentale Handeln auch für Habermas in der Gesellschaftstheorie eine wichtige

Rolle; aber er ergänzt das kommunikative Handeln, das zuvor vernachlässigt wurde.

Daher unterscheidet er zwischen dem System (der sozialen Funktion des instrumentalen

Handelns) und der Lebenswelt (des Bereichs des rein kommunikativen Handelns). Um

zu beurteilen, ob seine Theorie überzeugend ist, ist es daher wichtig zu analysieren, wie

Habermas genau die Beziehungen zwischen beiden Handlungstypen bestimmt. Das

Verhältnis zwischen Handlungsart, Geltungsanspruch und Weltzusammenhang läßt sich

wie folgt darstellen:

Handlungsart Geltungsanspruch Weltzusammenhang

TP

58PT TkH 1, S. 148. Ich gehe davon aus, daß Habermas trotz vieler widersprüchlicher Aussagen das

kommunikative Handeln nicht als vierten Handlungstyp, sondern als eine jene drei Handlungen

umfassende Handlung betrachtet. Zwar erwähnt er beim Sprechakt vier Geltungsansprüche, d. h.

Verständlichkeit, Wahrheit, normative Richtigkeit und Wahrhaftigkeit, aber er spricht sonst von "genau

drei Geltungsansprüchen" (z. B. in VE, S. 588). Die Verständlichkeit muß daher als Voraussetzung jener

drei Geltungsansprüche gedeutet werden.

Page 152: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

151

Teleologisches Handeln

Normatives Handeln

Dramaturgisches Handeln

Wahrheit

Richtigkeit

Wahrhaftigkeit

Objektive Welt

Soziale Welt

Subjektive Welt

Kommunikatives Handeln Verständigung Reflexiver Bezug auf alle drei 'Welten'

2.3. Die sprachpragmatische Deutung der Lebenswelt

Besonders auffällig ist in der Theorie des kommunikativen Handelns der Begriff der

sprachphilosophisch neu interpretierten Lebenswelt, den Habermas als

'komplementären' Begriff zu dem kommunikativen Handeln entwirft.TPF

59FPT Für Habermas

ist die Dimension der Lebenswelt eine wichtige, ja sogar eine notwendige Bedingung

möglicher Kommunikation. Er versteht unter der Lebenswelt den Bereich der

'Ressourcen' des kommunikativen Handelns, "aus dessen Beiträgen sie wiederum

reproduziert wird."TPF

60FPT

Husserl erhebt den Begriff der Lebenswelt zu einem Gegenstand der Philosophie.TPF

61FPT Der

Ausgangspunkt seines Buchs Die Krisis der europäischen Wissenschaften ist, daß die

moderne Wissenschaft die alltägliche 'triviale' Wahrheit der Lebenswelt, die von ihm als

"vergessenes Sinnesfundament der Naturwissenschaft"TPF

62FPT verstanden wird, gar nicht

berücksichtigt und dadurch die europäische Menschheit in eine 'radikale Lebenskrisis'

gestürzt hat. Husserl nennt diese Verdrängung der Lebenswelt den wissenschaftlichen

oder physikalischen Objektivismus. Indem die moderne naturwissenschaftliche

Methode alle Erfahrungen der Subjekte durch ihre formalisierte Sprache objektiviert, TP

59PT TkH 1, S. 376 und 452.

TP

60PT PDM, S. 396. K.-O. Apel und Habermas, die beide als Vertreter der Konsenstheorie angesehen werden,

unterscheiden sich in diesem Punkt voneinander: während jener in dem performativen Widerspruch des

Irrationalismus die Letztbegründung des den Rationalismus sieht, findet dieser die Grundlage des

rationalen Diskurses gerade in der Lebenswelt, die als ein vorrationaler Bereich angesehen werden kann.

Vgl. Wiljo Doeleman, Philosophische Methodik: Apel vs. Habermas, in: W. van Reijen / K.-O. Apel

(Hg.), Rationales Handeln und Gesellschaftstheorie, Bochum 1984, S. 115-130, bes. S. 122.

TP

61PT Bereits im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts forderten R. Avenarius und E. Mach einen Rückgang auf

die vorwissenschaftliche, unmittelbare und reine Erfahrung, die allen Wissenschaften zugrunde liegt.

Husserl nimmt ihren wesentlichen Gedanken zu seinem Begriff der Lebenswelt auf. Siehe P. Janssen,

Lebenswelt, in: HWPh, Bd. 5, Sp. 151ff.

TP

62PT E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und transzendentale Phänomenologie,

Hamburg 1977, S. 52.

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152

rechtfertigt sie die Abwertung der alltäglichen Wahrheiten der Lebenswelt, obwohl

diese der Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Arbeit sind. Die moderne

Naturwissenschaft hilft zwar den Menschen, die Natur besser zu verstehen und effektiv

zu erobern, aber sie trägt zugleich die Gefahr in sich, uns diese Welt als unsere Welt zu

verdecken. Das ist der Grund, warum Husserl den als Stifter der modernen

Naturwissenschaft geltenden Galilei einen "zugleich entdeckenden und verdeckenden

Genius"TPF

63FPT nennt. Husserl versucht mit dem Konzept der Lebenswelt die trivial

erscheinende Wahrheit über unsere Welt wieder zu entdecken. Die Lebenswelt ist nicht

starr und unwandelbar, sondern ändert sich als Horizont je nach der Situation eines

Menschen, d. h. sie vergrößert oder verkleinert sich und bildet für die beteiligten

Subjekte den unbefragten, aber stets fragwürdigen Hintergrund, vor dem jede

Untersuchung beginnt.TPF

64FPT

Habermas nimmt diese Bestimmung der Lebenswelt in seine Sozialphilosophie auf. Er

bezweifelt aber, daß der Begriff der Lebenswelt, so wie Husserl ihn versteht, zur

Deutung einer auf der Interaktion der Subjekte beruhenden Handlungstheorie beitragen

kann, weil dieser Begriff bei Husserl nach Habermas nur vor dem Hintergrund des

erkenntnistheoretischen S-O-Schema analysiert wird. Sein Hauptkritikpunkt an der

phänomenologischen Auffassung der Lebenswelt ist also, daß diese nichts anderes in

den Blick bekommt als notwendige subjektive Bedingungen der Erfahrung des

'egologischen Bewußtseins', d. h. des transzendentalen Ich.TPF

65FPT Mit diesem Modell

können daher die auf der Intersubjektivität basierenden Momente der Handlungen sowie

die intersubjektive Dynamik der Strukturen der Lebenswelt nicht erfaßt werden.

Auch A. Schütz und Th. Luckmann, die das erkenntnistheoretische Modell Husserls

handlungstheoretisch zu deuten versuchten, lösen dieses Problem nicht.TPF

66FPT Ihre

Handlungstheorie überträgt das in Psychologie und Soziologie verwendete Modell des

einsamen, in einer Situation durch Reize stimulierten oder planmäßig handelnden

Aktors auf die phänomenologische Analyse der Lebenswelt und der Handlungssituation.

Sie interpretieren die Situation des handelnden Subjekts als Umwelt für das

Persönlichkeitssystem. Das Schema von Subjekt und Lebenswelt als Umwelt, das an

TP

63PT A.a.O., S. 56.

TP

64PT Siehe W. E. Mühlmann, Lebenswelt, in: HWPh, Bd. 5, Sp. 156.

TP

65PT TkH 2, S. 196.

TP

66PT A.a.O., S. 196ff.

Page 154: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

153

das systemtheoretische Paradigma von System und Umwelt erinnert,TPF

67FPT ist nur eine

phänomenologisch-soziologische Version des subjektphilosophischen Paradigmas von

Subjekt und Objekt. Schütz und Luckmann fassen daher das 'erlebende Subjekt' als

letzten Bezugspunkt der Analyse auf. Insofern entwickeln sie ihre

Gesellschaftsphilosophie innerhalb des Systems der transzendentalen Phänomenologie.

Von daher werden alle Veränderungen der Lebenswelt bei der phänomenologischen

Soziologie nach Habermas nur als Resultat der Selbsttätigkeit des transzendentalen

Subjekts begriffen.TPF

68FPT

Die Habermassche Kritik an der phänomenologischen Auffassung der Lebenswelt

besteht also darin, daß der Begriff der Lebenswelt, der eigentlich zum Zweck der

Überwindung der monologischen Subjektphilosophie eingeführt worden ist, die die

Moderne in eine 'radikale Lebenskrisis' geführt hat, schließlich lediglich dazu beiträgt,

das subjektphilosophische Paradigma zu verlängern. Habermas ist dagegen der Ansicht,

daß nur unter dem kommunikationstheoretischen Standpunkt der eigentliche Sinn der

Lebenswelt, nämlich der Paradigmenwechsel von der monologischen Subjektivität zur

dialogischen Intersubjektivität, ans Licht gebracht werden kann. Er reformuliert das

Konzept der Lebenswelt kommunikationstheoretisch wie folgt:

"Indem sich Sprecher und Hörer frontal miteinander über etwas in einer

Welt verständigen, bewegen sie sich innerhalb des Horizonts ihrer

gemeinsamen Lebenswelt; die bleibt den Beteiligten als ein intuitiv

gewußter, unproblematischer und unzerlegbarer holistischer Hintergrund im

Rücken. [...] Die Lebenswelt kann nur a tergo eingesehen werden. Aus der

frontalen Perspektive der verständigungsorientiert handelnden Subjekte

selber muß sich die immer nur mitgegebene Lebenswelt der Thematisierung

entziehen. Als Totalität, die die Identitäten und lebensgeschichtlichen

Entwürfe von Gruppen und Individuen ermöglicht, ist sie nur präreflexiv

gegenwärtig. Aus der Perspektive der Beteiligten läßt sich zwar das

praktisch in Anspruch genommene, in Äußerungen sedimentierte

TP

67PT Aus diesem Grund bezieht Habermas die phänomenologische Lebensweltanalyse auf das Luhmannsche

systemtheoretische Schema von System und Umwelt. Siehe dazu TkH 2, S. 197.

TP

68PT A.a.O., S. 197f.

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154

Regelwissen rekonstruieren, nicht aber der zurückweichende Kontext und

die im Rücken bleibenden Ressourcen der Lebenswelt im ganzen."TPF

69FPT

Der Begriff der kommunikationstheoretisch umgedeuteten Lebenswelt gestattet den

Handelnden nicht mehr die Perspektive eines Beobachters, in der die Lebenswelt

objektiviert bzw. thematisiert werden kann; sondern sie erschließt eine

Teilnehmerperspektive, in der die Handelnden miteinander integriert sind. Aus der

Perspektive der Beteiligten erscheint die Lebenswelt als 'holistischer', sprachlich

organisierter Vorrat an Deutungsmustern, der die Verständigung überhaupt erst

ermöglicht, als solcher aber stets 'im Rücken' der Interaktionsteilnehmer bleibt. Das

lebensweltlich garantierte Vorverständnis fungiert für den Beteiligten als Ausdruck

einer gemeinschaftlichen, intersubjektiv geteilten Weltsicht. Die Lebenswelt zeichnet

sich also durch die Eigenschaften der 'Selbstverständlichkeit', der 'Präreflexivität' und

der 'Unhintergehbarkeit' aus.

Allerdings ist die Erscheinungsweise der Lebenswelt nach Habermas je nach konkreter

Handlungs- oder Sprechsituation verschieden. Die konkrete Handlungs- oder

Sprechsituation setzt je nach der Handlungsart einen bestimmten Kontext voraus, und

die Lebenswelt funktioniert in dem Fall als kontextbildender Horizont. Wir haben schon

gesehen, daß Habermas das kommunikative Handeln entsprechend den

Sprachbestandteilen einteilt in das strategische, das normative, und das dramaturgische

Handeln. Die Lebenswelt erscheint je nach der Handlungs- oder der Sprechsituation

jeweils als Kultur, als Gesellschaft und als Persönlichkeit.TPF

70FPT Diese drei Aspekte der

Lebenswelt definiert Habermas wie folgt:

"Kultur nenne ich den Wissensvorrat, aus dem sich die

Kommunikationsteilnehmer, indem sie sich über etwas in einer Welt

verständigen, mit Interpretationen versorgen. Gesellschaft nenne ich die

legitimen Ordnungen, über die die Kommunikationsteilnehmer ihre

Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen regeln und damit Solidarität sichern.

Unter Persönlichkeit verstehe ich die Kompetenzen, die ein Subjekt sprach-

TP

69PT PDM, S.348f.

TP

70PT Habermas folgt hier dem Versuch Durkheims, die modernen Differenzierungsvorgänge in der Hinsicht

des Auseinandertretens von Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit zu erklären, und rechtfertigt diese

These gleichzeitig sprachpragmatisch. Siehe dazu TkH 2, S. 203.

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155

und handlungsfähig machen, also instandsetzen, an Verständigungs-

prozessen teilzunehmen und dabei die eigene Identität zu behaupten."TPF

71FPT

Habermas zielt durch diese formalpragmatische Einteilung der Lebensweltstruktur

darauf ab, daß die Lebenswelt aus mehreren nebeneinander stehenden Komponenten

besteht. Darüber hinaus unterscheidet sich Habermas durch diesen Gedanken von allen

reduktionistischen Tendenzen, die die Lebenswelt lediglich auf einen Bereich

reduzieren und diesen Bereich dann verabsolutieren. Wenn sich das Interesse an der

Lebenswelt nur auf einen ihrer Bestandteile konzentriert, entsteht nach Habermas ein

einseitiges Lebensweltkonzept. So gebe es z. B. bei Husserl eine "kulturalistisch

verkürzte", bei Durkheim eine "institutionalistisch verengte" und bei Mead

"sozialisationstheoretisch verengte" Fassung der Lebenswelt.TPF

72FPT

Die formalpragmatische Auffassung der Lebenswelt erhellt zwar deren formale Struktur,

aber sie erklärt die Dynamik der Lebenswelt noch nicht, weil der Aktor hier verstanden

wird nur als Produkt von kulturellen "Überlieferungen, in denen er steht, von

solidarischen Gruppen, denen er angehört, [sowie] von Sozialisation- und

Lernprozessen, denen er unterworfen ist".TPF

73FPT In diesem Verständnis der Lebenswelt ist

schwer vorstellbar, welche Rolle das handelnde Subjekt bei der Veränderung der

Lebenswelt spielt. Anders gesagt, in der formalpragmatischen Auffassung ist es nicht

leicht, einen Skeptizismus bzw. Relativismus zu vermeiden, bei dem das Subjekt

einseitig von der Lebenswelt abhängig ist und diese weder begreifen noch verändern

kann. Daher soll nun untersucht werden, wie sich die Strukturen der Lebenswelt

verändern.

Die 'Reproduktion der Lebenswelt' besteht für Habermas darin, neu auftretende

Situationen an die bestehenden Weltzustände anzuschließen.TPF

74FPT In der kulturellen,

semantischen Dimension werden konsensfähige Deutungsschemata ebenso beibehalten

wie in der räumlichen, sozialen Dimension legitim geordnete, interpersonelle

Beziehungen und in der zeitlichen, historischen Dimension Interaktionsfähigkeiten. Die

Reproduktion der Kultur sichert die traditionelle Kontinuität und eine Kohärenz des TP

71PT TkH 2, S. 209.

TP

72PT A.a.O., S. 210ff. Habermas bemängelt ferner an der Luhmannschen Systemtheorie u.a., daß sie die

Lebenswelt zur 'Gesellschaft' hypostasiert und ihre anderen Bestandteile nur als ihre Umwelten ansieht.

Siehe TkH 2, S. 232.

TP

73PT A.a.O., S. 204.

TP

74PT Siehe dazu TkH 2, S. 209 und PDM, S. 398.

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156

Wissens, die Reproduktion der Gesellschaft sorgt für die Koordinierung von

Handlungen und stärkt dadurch die Identität von Gruppen, und schließlich sichert die

Reproduktion der Person den Erwerb generalisierter Handlungsfähigkeiten für

nachwachsende Generationen und sorgt für die Abstimmung zwischen den

individuellen Lebensgeschichten und der kollektiven Identität.

Für das kommunikative Handeln fungiert die Lebenswelt als kontextbildender Horizont,

auf dessen Grundlage die Akteure ihre Handlungspläne mithilfe einer gemeinsamen

Situationsdefinition koordinieren. Dies bedeutet, daß die kommunikativ Handelnden

eine "Erzählerperspektive"TPF

75FPT haben, durch die Inhalte der Lebenswelt rekonstruiert

werden können und die sich vorrangig von der Beobachtungsperspektive unterscheidet,

die die Welt vollständig objektiviert oder verdinglicht. Die kommunikativ Handelnden,

die sich innerhalb des Horizontes der Lebenswelt bewegen, sind daher gleichzeitig in

der Lage, eine Situation unverkürzt zu erfassen: Die Lebenswelt funktioniert für sie also

als "der transzendentale Ort, an dem sich Sprecher und Hörer begegnen; wo sie reziprok

den Anspruch erheben können, daß ihre Äußerungen mit der Welt […]

zusammenpassen; und wo sie diese Geltungsansprüche kritisieren und bestätigen, ihren

Dissens austragen und Einverständnis erzielen können."TPF

76FPT

Dieser Gedanke unterscheidet sich sowohl von der atomistischen Sozialphilosophie,

welche die individuellen Subjekte als einzigen entscheidenden Faktor für die

Veränderung in der Gesellschaft ansieht, als auch von der holistischen

Sozialphilosophie, welche die Gesellschaft zu einem sich selbst bewegenden

Makrosubjekt macht. Die Reproduktion der Lebenswelt ist nach Habermas erst durch

die Mitwirkung des sprech-handelnden Subjekts einerseits und der Lebenswelt als

Horizont andererseits möglich: "Die Reproduktion der Lebenswelt speist sich aus

Beiträgen des kommunikativen Handelns, während dieses wiederum auf die Ressourcen

der Lebenswelt angewiesen ist."TPF

77FPT Habermas beschreibt die Art und Weise, in der sich

die strukturellen Faktoren der Lebenswelt und das kommunikative Handeln aufeinander

beziehen, wie folgt:

"Indem sich die Interaktionsteilnehmer miteinander über ihre Situation

verständigen, stehen sie in einer kulturellen Überlieferung, die sie

TP

75PT TkH 2, S. 208.

TP

76PT A.a.O., S. 192.

TP

77PT PDM, S. 396.

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157

gleichzeitig benützen und erneuern; indem die Interaktionsteilnehmer ihre

Handlungen über die intersubjektive Anerkennung kritisierbarer

Geltungsansprüche koordinieren, stützen sie sich auf Zugehörigkeiten zu

sozialen Gruppen und bekräftigen gleichzeitig deren Integration; indem die

Heranwachsenden an Interaktionen mit kompetent handelnden Bezugs-

personen teilnehmen, internalisieren sie die Wertorientierungen ihrer

sozialen Gruppe und erwerben generalisierte Handlungsfähigkeiten."TPF

78FPT

Kommunikatives Handeln dient also der Überlieferung kulturellen Wissens und dessen

Erneuerung im Bereich der Kultur, der sozialen Integration und der Herstellung von

Solidarität im Bereich der Gesellschaft und der Ausbildung von personalen Identitäten

im Bereich der Person. Also besteht die Reproduktion der Lebenswelt in einer

dialektischen Einheit von Kontinuität und Bruch, d. h. in "einer Traditionsfortsetzung

und -erneuerung, die sich zwischen den Extremen der bloßen Fortschreibung von, und

eines Bruches mit Traditionen bewegt."TPF

79FPT

Habermas verwendet diese theoretische Darstellung der Strukturwandlung der

Lebenswelt für die Analyse der modernen Gesellschaft: die Moderne ist im Bereich der

Lebenswelt durch eine reflexive Kultur, durch generalisierte Werte und Normen

(Gesellschaft) und durch eine starke Betonnng des Individuums (Person)

gekennzeichnet. Im Bereich des Subjekts zeichnet sich die Moderne durch ihr kritisches

Bewußtsein (Selbstbewußtsein), durch autonome Willensbildung (Selbstbestimmung)

und durch den Gedanken der Individuierung (Selbstverwirklichung) aus. Wenn man

diese Phänomene nur in Hinsicht auf die strukturelle Komponente der Lebenswelt

berücksichtigt, erscheint der Strukturwandel der Lebenswelt als "ein Zustand der

Dauerrevision verflüssigter, d. h. reflexiv gewordener Traditionen" (Kultur), als "ein

Zustand der Abhängigkeit legitimer Ordnungen von formalen, letztlich diskursiven

Verfahren der Normsetzung und Normbegründung" (Gesellschaft) und als "ein Zustand

der riskanten Selbststeuerung einer hoch abstrakten Ich-Identität" (Person).TPF

80FPT Und wenn

jene Phänomene nur in der Hinsicht der handelnden Subjekte berücksichtigt werden,

reduziert sich die Strukturwandlung der Lebenswelt auf die Begriffe von

'Selbstbewußtsein', 'Selbstbestimmung' und 'Selbstverwirklichung', die als

TP

78PT TkH 2, S. 208.

TP

79PT A.a.O., S. 210.

TP

80PT PDM, S. 399f.

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158

Grundbegriffe der Subjektsphilosophie angesehen werden können.

Für eine rationale Deutung der Veränderungen der Lebenswelt müssen nach Habermas

aber sowohl der strukturelle Bereich der Lebenswelt als auch die Rolle des handelnden

Subjekts berücksichtigt werden, die sich seiner Ansicht nach nicht gegenseitig

ausschließen:

"Im semantischen [sc. kulturellen] Feld müßten die Kontinuitäten auch dann

nicht abreißen, wenn die kulturelle Reproduktion nur noch über Kritik

laufen könnte. [...]. Ebenso wenig müßte im sozialen Raum jenes aus

reziproken Anerkennungsverhältnissen geknüpfte intersubjektive Netz

reißen, wenn die soziale Integration nur noch über einen abstrakten und

zugleich individualistisch zugeschnittenen Universalismus laufen könnte.

[...]. Nicht einmal die Substanz des Allgemeinen in der historischen Folge

der Geschlechter müßte sich in Nichts auflösen, wenn

Sozialisationsvorgänge nur noch über die Schwelle extremer Individuierung

laufen könnten."TPF

81FPT

Es handelt sich also bei der modernen Lebensweltreproduktion um die Verstärkung der

Kontinuität einer kulturellen Überlieferung durch die diskontinuierenden Mitteln der

Kritik, um die Festigung der Solidarität in Lebenszusammenhängen durch die riskanten

Mitteln des universalistischen Verfahrens diskursiver Willensbildung sowie um die

Stabilisierung eines Prozesses der Vergesellschaftung durch das Mittel der erweiterten

Spielräume für Individuierung. Nur in den Spannungsverhältnissen zwischen einander

gegenüberstehenden Faktoren entfaltet sich die Lebenswelt. Die Reproduktion der

Lebenswelt faßt Habermas tabellarisch wie folgt zusammen: TPF

82FPT

1) Beiträge der Reproduktionsprozesse zur Erhaltung der strukturellen Komponenten

der Lebenswelt.

- kulturelle Reproduktion: konsensfähige Deutungsschemata (gültiges Wissen)

- soziale Integration: legitim geordnete interpersonelle Beziehungen

- Sozialisation: Interaktionsfähigkeit (personale Identität)

2) Krisenerscheinungen bei Reproduktionsstörungen (Pathologien)

- kulturelle Reproduktion: Sinnverlust

TP

81PT A.a.O., S. 401.

TP

82PT Vgl. Fig. 21, 22 und 23 in: TkH 2, S. 214ff.

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159

- soziale Integration: Anomie

- Sozialisation: Psychopathologien

3) Reproduktionsfunktion verständigungsorientierten Handelns

- kulturelle Reproduktion: Überlieferung, Kritik, Erwerb von kulturellen Wissen

- soziale Integration: Koordinierung von Handlunge über intersubjektiv

anerkannte Geltungsansprüche

- Sozialisation: Identitätsbildung

2. 4. Das Grundproblem der Modernisierung der Gesellschaft:

die Kolonialisierung der Lebenswelt

Die Darstellung des Strukturwandels der Lebenswelt, der vor allem durch die

dialektische Beziehung zwischen dem kommunikativen Handeln und der Lebenswelt

zustande kommt, enthält die Antwort von Habermas auf die 'Paradoxie der

Rationalisierung', die darin besteht, daß die sozialpathologischen Erscheinungen durch

die Rationalisierung paradoxerweise verstärkt werden.

Habermas vertritt die These, daß erst die Auseinandersetzung des modernen Denkens

mit der mittelalterlichen Metaphysik die Ausdifferenzierung des Seins in eine objektive,

eine soziale und eine subjektive Welt möglich machte.TPF

83FPT Diese Zerstörung eines

einheitsstiftenden metaphysischen Weltbildes steht als ein Resultat der sozialen

Evolution oder der gesellschaftlichen Rationalisierung in Zusammenhang mit dem

Projekt der Emanzipation. Habermas betrachtet also die Gesellschaftstheorie unter dem

Gesichtspunkt der Rationalitätstheorie. Die Theorie des kommunikativen Handelns ist

nichts anderes als eine Erweiterung der Rationalitätstheorie zu einer Handlungs- bzw.

Gesellschaftstheorie.

In der Theorie des kommunikativen Handelns verdeutlicht Habermas diesen Unterschied

zwischen dem modernen und dem metaphysischen oder mythischen Denken besonders

TP

83PT Habermas definiert diese Welten jeweils wie folgt: "Die objektive Welt wird gemeinsam als die

Gesamtheit der Tatsachen unterstellt, wobei Tatsache bedeutet, daß die Aussage über die Existenz eines

entsprechenden Sachverhalts >p< als wahr gelten darf. Und eine soziale Welt wird gemeinsam als die

Gesamtheit aller interpersonalen Beziehungen unterstellt, die von den Angehörigen als legitim anerkannt

werden. Demgegenüber gilt die subjektive Welt als die Gesamtheit der Erlebnisse, zu denen jeweils nur

ein Individuum einen privilegierten Zugang hat." TkH 1, S. 84.

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160

anhand des jeweiligen Sprachgebrauchs. Für das mythischen Denken ist die direkte

Verbindung der Namen der Objekte mit den Objekten selbst besonders kennzeichnend,

durch die ein mythischer Schein hergestellt wird, so daß z. B. "das moralische mit dem

physischen Versagen, das Böse mit dem Schädlichen ebenso verwoben [ist] wie das

Gute mit dem Gesunden und dem Vorteilhaften." TPF

84FPT Daher kann in dieser Denkform "das

sprachlich konstituierte Weltbild so weitgehend mit der Weltordnung selbst identifiziert

werden, daß es nicht als Weltdeutung […], die dem Irrtum unterliegt und der Kritik

zugänglich ist, durchschaut werden kann."TPF

85FPT Habermas schreibt über den Charakter

dieser mythischen Denkform:

"Mythische Weltbilder [verhindern] eine kategoriale Entkoppelung von

Natur und Kultur, und dies nicht nur im Sinne einer konzeptuellen

Vermengung von objektiver und sozialer Welt, sondern auch im Sinne einer

Reifzierung des sprachlichen Weltbildes, was zur Folge hat, daß das

Konzept der Welt mit bestimmten, der rationalen Stellungnahme und damit

der Kritik entzogenen Inhalten dogmatisch besetzt wird."TP

F

86FPT

Mythische Weltbilder trennen folglich nicht zwischen Natur und Kultur. Die Natur teilt

Habermas in äußere und innere Natur ein, jene bezeichnet die objektive Welt und diese

die subjektive Welt.TPF

87FPT Der Grund, daß mythische Weltbilder geschlossen sind, liegt

daher in ihrer "mangelnden Differenzierung zwischen den fundamentalen Einstellungen

zur objektiven, zur sozialen und zur subjektiven Welt" und in ihrer "fehlenden

Reflexivität des Weltbildes, das nicht als Weltbild, als kulturelle Überlieferung

identifiziert werden kann." TPF

88FPT Von daher ist die Ausdifferenzierung des sprachlichen

Weltbildes der erste Schritt, eine rationale Kommunikation, d. h. das moderne Denken

zu ermöglichen. Das moderne Denken zeichnet sich also durch eine Trennung der

Aussagen über die objektive, die soziale und die subjektive Welt sowie durch die

Anerkennung der unabhängigen Werte der wahren Tatsachenaussagen (Wissenschaft),

der normativen Richtigkeit (Moral) und der subjektiven Authentizität (Kunst) aus:

"Aktoren, die Geltungsansprüche erheben, müssen darauf verzichten, das Verhältnis TP

84PT A.a.O., S. 80.

TP

85PT A.a.O., S. 81f.

TP

86PT A.a.O., S. 83.

TP

87PT Ebd.

TP

88PT A.a.O., S. 85.

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161

von Sprache und Wirklichkeit, von Kommunikationsmedien und dem, worüber

kommuniziert wird, inhaltlich zu präjudizieren."TPF

89FPT

Die Moderne, die sich durch das Projekt der Emanzipation auszeichnet, beginnt mit dem

Zweifel an der metaphysischen Einheitslehre. Es geht nun um die Frage, ob das

einheitliche Denken nach der Ausdifferenzierung der modernen Werte bzw. der

verschiedenen Rationalitätsformen wirklich vollständig überholt ist, und in welchem

Verhältnis die verschiedenen Werte zueinander stehen. Denn einerseits leben wir in nur

einer Welt, so daß sich eine Beziehung zwischen den verschiedenen Formen der

Rationalität und den verschiedenen Geltungsansprüchen denken lassen muß, und

andererseits setzt z. B. eine Theorie über die verschiedenen Rationalitätsformen eine

einheitliche rationale Metaebene voraus. Es stellt sich also erneut die Frage nach der

Einheit, die das alte metaphysische Denken so sehr beschäftigt hat. Natürlich lehnt

Habermas aber eine gewaltsame, zwanghafte Einheit ab, weil sie die historische Leistung

der Moderne nicht ernst nimmt. Dies ist der Grund, warum er die moderne

Bewußtseinsphilosophie stark kritisiert, die häufig als die wichtigste Inkarnation des

modernen Denkens betrachtet wird. Das Subjekt ist nach dieser Philosophie in der Lage,

den Gegenstand objektiv zu beobachten, darzustellen und sogar zu konstituieren. So

richten sich z. B. nach der kopernikanischen Wende von Kant die Objekte nach dem

Subjekt und nicht umgekehrt das Subjekt nach den Objekten. Dies bedeutet letztlich, daß

es als eine Art Schöpfer erscheint, der die Existenzbedingung des Objektes bestimmt.

Also ist die Bewußtseinsphilosophie durch und durch vom epistemologischen S-O-

Schema abhängig.

Dieses erkenntnistheoretische S-O-Schema wiederholt sich nach Habermas bei der

Bewußtseinsphilosophie auch in der praktischen Philosophie; das Subjekt ist dabei in der

Lage, das Objekt zu bearbeiten und zu ändern, und dieses ist nur ein Gegenstand, der von

dem Subjekt verändert werden muß. Dieses praktisch-philosophische Schema legt es

nahe, die Zweckrationalität auch in der Handlungs- bzw. Gesellschaftstheorie als

einziges Kriterium für vernünftiges Denken bzw. Handeln anzusehen. Daß die Kategorie

der instrumentellen Handlung, wie z. B. die 'Arbeit', als Hauptbegriff in vielen

klassischen Gesellschaftstheorien der modernen Zeit eine zentrale Rolle spielt, ist vor

diesem Hintergrund verständlich.

Das strategische Handeln, das als ein gesellschaftstheoretisch erweiterter Begriff der

instrumentellen Handlung heutzutage besonders in dem 'Tausch- und Machtverhältnis'

TP

89PT A.a.O., S. 82.

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162

eine Rolle spielt, folgt insofern der Kategorie der Zweckmäßigkeit, als daß der

strategisch Handelnde seine Interaktionspartner egozentrisch behandelt, indem er sie als

Mittel für seine Zwecke einsetzt. Es geht bei diesem Handeln darum, "daß der Aktor

Mittel und Zwecke unter Gesichtspunkten der Maximierung von Nutzen bzw.

Nutzenerwartungen wählt und kalkuliert."TPF

90FPT Der 'egozentrische Nutzenkalküle' ist daher

der Schlüsselbegriff dieses Handelns. Das teleologische bzw. strategische Handeln, das

von der instrumentellen Rationalität geleitet wird und in dessen Zentrum daher die

'Zweck-Mittel-Beziehung' steht, beruht auf einem 'monologisch gefaßten

Handlungsmodell'.TPF

91FPT Also sind die moderne Erkenntnis- sowie Handlungstheorie, so

Habermas, offensichtlich vom Paradigma der Subjektivität geprägt.

Die Paradoxie der Rationalisierung wird gerade durch diesen Zusammenhang

hervorgerufen. Die Rationalisierung ist ein Vorgang, in dem die ausdifferenzierten Werte

und Rationalitäten, die als Resultat der Überwindung der mythischen Einheit zum

Vorschein gekommen sind, mit der Modernisierung allmählich einer bestimmten

Denkrichtung untergeordnet werden: dem bewußtseinsphilosophischen S-O-Schema.

Dabei steht die Zweckrationalität im Mittelpunkt. Habermas betrachtet diesen Vorgang

vor allem unter dem Gesichtspunkt der Handlungs- bzw. Gesellschaftstheorie.

Die Gesellschaft ist nach ihm ein Teil der Lebenswelt, der für die systemischen,

legitimen Ordnungen sorgt, "über die die Kommunikationsteilnehmer ihre Zugehörigkeit

zu sozialen Gruppen regeln und damit Solidarität sichern."TP

F

92FPT Dies bedeutet, daß sie

sowohl als eine Lebenswelt als auch als ein System betrachtet werden muß, das einer

eigenen Logik folgt. Diese 'zweistufige Gesellschaftstheorie' von System und

Lebenswelt unterscheidet sich besonders von der systemtheoretischen

Gesellschaftsauffassung von Parsons und Luhmann, die die Gesellschaft nur als ein

System betrachten.

Die Gesellschaft zeigt sich also zum einen aus dem Gesichtspunkt der Beteiligten als

eine Lebenswelt der sozialen Gruppen. Die Lebenswelt, aus der heraus sich die sprech-

handelnden Subjekte über etwas in der objektiven, sozialen und subjektiven Welt

verständigen,TPF

93FPT ist für Habermas ein anderer Name für den Ort, in dem die soziale

Integration symbolisch reproduziert wird.TPF

94FPT Sie bleibt den Beteiligten als Hintergrund im

TP

90PT VE, S. 576.

TP

91PT Siehe TkH 1, S. 379.

TP

92PT TkH 2, S. 209.

TP

93PT A.a.O., S. 193.

TP

94PT A.a.O., S. 208f.

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163

Rücken und bietet ihnen einen gemeinsamen Kontext für die Verständigungsprozesse.TPF

95FPT

Die sprachlich strukturierte Lebenswelt hilft vor allem dabei, die Beziehung zwischen

den Bereichen der Lebenswelt sowie zwischen den kulturell verschiedenen

Lebenswelten zu deuten. Die Lebenswelt setzt aufgrund ihrer sprachlich organisierten

formal-allgemeinen Struktur schon die Möglichkeit der Kommunikation zwischen den

Subjekten voraus. Der Versuch der Beteiligten, einen Konsens über etwas in einer

Lebenswelt z. B. durch 'kooperative Deutungsprozesse' herzustellen, liegt schon der

Natur der menschlichen Sprache zugrunde, weil diese in der Verständigung besteht. In

dieser Hinsicht hat die Lebenswelt durchaus etwas mit der kommunikativen Rationalität

zu tun.

Die Gesellschaft zeigt sich zum anderen aus dem Gesichtspunkt der Beobachter als ein

System der Handlungen. Das System ist, so Luhmann, nichts anderes als "jeder soziale

Kontakt […] bis hin zur Gesellschaft als Gesamtheit der Berücksichtigung aller

möglichen Kontakte." TPF

96FPT Dies bedeutet, daß Luhmann alle gesellschaftlichen

Beziehungen als System betrachtet. Die Systemtheorie versucht, den Mechanismus der

Systeme der modernen Gesellschaft, wie z. B. der Subsysteme der Ökonomie oder der

Verwaltung, zu erklären. Sie geht also davon aus, daß die Ökonomie und die Verwaltung

nicht Teile der Lebenswelt, sondern Systeme sind, für die das jeweils andere System die

Umwelt darstellt. Das System hat dabei eine 'autopoetische', d. h. selbstgesteuerte

Struktur, die die für seine Existenz notwendigen Mittel aus seiner Umwelt nimmt. Diese

'metabiologische' Beziehung von System und Umwelt in der Luhmannschen

Systemtheorie erinnert an die Beziehung von Subjekt und Objekt in der

Subjektphilosophie. In dieser Hinsicht behauptet Habermas, daß Luhmann sich 'die

subjektivistische Erbmasse' systemtheoretisch aneignet: "An die Stelle der Innen-Außen-

Beziehung zwischen dem Erkennenden und der Welt […] tritt die System-Umwelt-

Beziehung. […] Die Selbstbezüglichkeit des Systems ist der des Subjekts

nachgebildet." TPF

97FPT

Das Schema von System und Umwelt der Systemtheorie nimmt keine Rücksicht darauf,

wie das moderne Ökonomie- und Verwaltungssystem entstanden ist, und wie sich beide

Subsysteme entwickeln. Die Entstehungs- und Entwicklungsprozesse können nach

Habermas erst seit der modernen Rationalisierung der Lebenswelt richtig gedeutet

TP

95PT PDM, S. 348.

TP

96PT N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1985, S. 33.

TP

97PT PDM, S. 427.

Page 165: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

164

werden, in der die Medien, wie z. B. Geld und Macht, einen bestimmten Grad der

Entwicklung erreicht haben. Aus diesem Grund ist fraglich, ob die Betrachtung der

sozialen Welt als System trotz ihrer Vorteile bei der Deutung ihrer Mechanismen einen

rationalen Maßstab für die 'Bewertung sozialer Prozesse' begründen kann.TPF

98FPT Die

systemtheoretische Vernunft hat also ein ähnliches Schicksal wie die subjektivistische

Vernunft, die wegen ihrer monologischen Selbstreflexivität ihre Entstehungsgeschichte

vergißt und daher die Kritik an sich selbst verhindert.

Gerade im Wesen der Systemtheorie, die sich für die sozialen Entwicklungsprozesse

nicht interessiert, sieht Habermas den Grund, warum die Systemtheoretiker der massiven

Zivilisationskritik in den 60er Jahren des Studentenprotestes durchweg verständnislos

gegenüberstanden.TPF

99FPT Talcott Parsons zum Beispiel, einer der Systemtheoretiker, vertritt

die Überzeugung, daß "moderne Gesellschaften für die Masse der Bevölkerung einen

unvergleichlichen Zuwachs an Freiheit" gebracht haben;TPF

100FPT das System der modernen

Gesellschaft vergrößert die Freiheit der Individuen im Bereich der Lebenswelt. Daher

wendet er sich dagegen, die sozialpathologischen Erscheinungen, wie z. B. die Isolierung

der Individuen und die Probleme des Sinn- und des Freiheitsverlusts, auf die

Bürokratisierung zu beziehen, und spricht davon, daß das Netzwerk der modernen

Massenkommunikation nicht nur dem entgegenwirkt, sondern eine Gemeinschaft schafft,

die den Individuen die Chance einer selektiven Partizipation entsprechend den eigenen

Standards und Bedürfnissen ermöglicht.TPF

101FPT Die sozialpathologischen Erscheinungen

können daher nach ihm durch eine Komplexitätssteigerung des Gesellschaftssystems

gelöst werden, die er mit dem Rationalisierungsvorgang der Gesellschaft gleichsetzt.

Parsons lehnt es also entschieden ab, die Sozialpathologien unmittelbar auf die

Komplexitätssteigerung des gesellschaftlichen Systems zu beziehen, vielmehr können

umgekehrt die Probleme der modernen Gesellschaften nur durch eine Steigerung der

Komplexität der gesellschaftlichen Systeme gelöst werden.

Auch Habermas bezieht die Steigerung der Komplexität der Systeme nicht ohne weiteres

auf die Paradoxie der Rationalisierung. Er kritisiert aber Parsons, weil dieser

unterschätze, wie sehr die Bürokratisierung zu einer einseitigen Rationalisierung der

TP

98PT TkH 2, S. 422.

TP

99PT A.a.O., S. 431ff.

TP

100PT T. Parsons, Religion in Postindustrial America, New York 1978 320ff. und ders., The System of

Modern Societies, Englewood Cliffs 1971, S. 114f.

TP

101PT Siehe T. Parsons, The System of Modern Societies, a.a.O., S. 116f.

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165

kommunikativen Alltagspraxis, d. h. zur "Privatisierung des Lebensstils"TPF

102FPT beiträgt.

Außerdem betont er, daß "die Verallgemeinerung formaler Rechtsansprüche" durch das

Netzwerk der modernen Massenkommunikation nicht unbedingt die "Erweiterung

demokratischer Willensbildungsprozesse" bedeutet.TPF

103FPT Die Verdinglichung der

kommunikativen Alltagspraxis entsteht also nach ihm dort, wo die Systemrationalität, d.

h. die Bürokratisierung bzw. die Form ökonomischer und administrativer Rationalität in

Handlungsbereiche eindringt, "die sich der Umstellung auf die Medien Geld und Macht

widersetzen, weil sie auf kulturelle Überlieferung, soziale Integration und Erziehung

spezialisiert sind und auf Verständigung als Mechanismus der Handlungskoordinierung

angewiesen bleiben." TPF

104FPT

Aus der Sicht dieser Unterscheidung zwischen System und Lebenswelt besteht der

Vorgang der Modernisierung bzw. der Rationalisierung auf der Ebene der

Gesellschaftstheorie darin, daß sich die einzelnen Systeme von der Lebenswelt

abkoppeln und ihrer eigenen Logik folgen.TPF

105FPT Die Rationalisierung innerhalb eines

Systems meint dann die Entwicklung von detaillierten Subsystemen, die zu einer

Steigerung der Komplexität des Gesamtsystems führt.TPF

106FPT Aber in den Systemen, die von

den 'entsprachlichten Kommunikationsmedien', wie z. B. Geld und Macht, gesteuert

werden, wird das Rationalitätspotential sprachlicher Verständigung nur in dem Maße

aktualisiert, in dem es für Nutzenmaximierung notwendig ist. Die sprachliche

Konsensbildung, auf die sich die sprachliche Kommunikation eigentlich richten sollte,

wird also hierbei weitgehend ignoriert. Es geht innerhalb dieser Systeme lediglich darum,

für einen gegebenen Zweck die effektivsten Mittel auszuwählen, und nicht um die

Richtigkeit der Zielsetzung oder um die normative Bewertung der Mittel.TPF

107FPT Das Resultat

der Rationalisierung ist, daß die Zweckrationalität, die sich von allen normativen

Kontexten loslöst, in der Moderne die verschiedenen Systeme mehr und mehr dominiert

und die Wertrationalität verdrängt. Je komplexer die einzelnen Systeme werden, umso

mehr tritt die Zweckrationalität in den Vordergrund. Habermas nennt diesen Vorgang

eine Technisierung der Lebenswelt:

TP

102PT TkH 2, S. 433.

TP

103PT Ebd.

TP

104PT A.a.O., S. 488.

TP

105PT A.a.O., S. 230.

TP

106PT A.a.O., S. 246-256.

TP

107PT A.a.O., S. 271f.

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166

"Die Umstellung des Handelns auf Steuerungsmedien erscheint deshalb

aus der Lebensweltperspektive sowohl als eine Entlastung von

Kommunikationsaufwand und –risiko, wie auch als eine Konditionierung

von Entscheidungen in erweiterten Kontingenzspielräumen, in diesem

Sinne als eine Technisierung der Lebenswelt."TPF

108FPT

Ein gesunder Gesellschaftszustand ist bei Habermas durch ein Gleichgewicht zwischen

der von der kommunikativen Rationalität gesteuerten Lebenswelt und dem von der

instrumentellen Rationalität gesteuerten System gekennzeichnet. Eine massive

Verdrängung der Kommunikationsstruktur der Lebenswelt durch die Zweckrationalität

des Systems, d. h. die Überhandnahme der Zweckrationalität in der Gesellschaft bedeutet

daher eine Zerstörung des Gleichgewichtes der gesellschaftlichen Rationalisierung.TPF

109FPT

Habermas nennt das Phänomen dieser 'systemisch induzierten Lebensweltpathologie' "die

Kolonialisierung der Lebenswelt".TPF

110FPT

Die These der 'Kolonialisierung der Lebenswelt' kann als die Habermassche Antwort auf

das Problem der Paradoxie der Rationalisierung angesehen werden. Er versucht mit

dieser Formulierung den Rückgang der Wertrationalität aus einer erweiterten

gesellschaftstheoretischen Perspektive erneut zu analysieren. Der Kerngedanke dieser

These ist also, daß mit der Entwicklung des Kapitalismus und des modernen

Verwaltungssystems die Zweckrationalität im ganzen Gebiet der Lebenswelt mehr und

mehr an Bedeutung gewinnt und damit schließlich die verständigungsorientierte

Wertrationalität beinahe vollständig verdrängt.

Die These der 'Kolonialisierung der Lebenswelt', die als wichtigstes Element der

Habermasschen Zeitdiagnose gelten kann, kann zwar sicherlich erklären, wie sich die

Logik des Systems auch auf das Gebiet der symbolischen Reproduktion ausweitert, also

wie die Lebenswelt vom System abhängig wird. Aber in dieser These bleibt noch

ungeklärt, welche Rolle die kommunikative Rationalität, die die normative Basis für die

Gesellschaftskritik ist, innerhalb des Systems spielen kann, und ob die auf Konsens

ausgerichteten kooperativen Deutungsprozesse der Subjekte innerhalb des Systems eine

Rolle spielen können, obwohl dort eigentlich die sich jeder Wertrationalität entziehende

Zweckrationalität vorherrscht, wenn es um die Wahl des wirksamen Mittels zum Zweck

TP

108PT A.a.O., S. 273.

TP

109PT A.a.O., S. 293.

TP

110PT Ebd.

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167

bzw. um die effektive Organisation der Arbeit geht. Das System ist bei Habermas aber

der Ort, in dem die instrumentelle Verengerung der Rationalität ausnahmsweise erlaubt

wird; die sozialen Konflikte finden für ihn nur innerhalb der Lebenswelt und im besten

Fall an den "Nahtstellen zwischen System und Lebenswelt"TPF

111FPT statt, und das System

selbst ist von solchen Konflikten frei. Deshalb ignoriert Habermas in seiner Theorie die

Möglichkeit, daß die kommunikative Rationalität auch in formal zweckrational

organisierten Systemen stark gemacht werden kann, wie es z. B. bei den autonomen

Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern geschieht, durch die der

ökonomische Bereich demokratisiert wird.

Daher muß man sagen, daß die Theorie des kommunikativen Handelns weder diesen

sozialpathologischen Erscheinungen vorbeugen noch die Konflikte innerhalb des

Systems lösen kann und im besten Fall nur dazu in der Lage ist, die Entstehung der

Kolonialisierung der Lebenswelt zu erklären. Die eigentliche Absicht von Habermas, die

gegenwärtigen negativen Begleiterscheinungen der Moderne als Ausdruck der

instrumentellen Verengung der Rationalität zu kritisieren und zu überwinden, wird also

nicht vollständig erreicht.

Die Ursache dafür, daß er sein Ziel nicht erreicht, liegt m. E. schon in seinem

Verständnis der Rationalität, das in zwei Punkten kritisiert werden kann. Erstens:

Habermas' Rationalitätstheorie besteht darin, einerseits den jeweiligen Sinn der

theoretischen, der moralischen und der expressiven Rationalität zu verdeutlichen und

andererseits ihre wechselseitigen Beziehungen unter dem Namen der kommunikativen

Rationalität zu analysieren. In Wirklichkeit erörtert er zwar jede der drei Rationalitäten

ausführlich 'getrennt', aber er behandelt die 'unverkürzte' kommunikative Rationalität

selbst, also einen jene drei Rationalitäten umfassenden Rationalitätsbegriff, nicht

ausreichend. Er steht also noch vor der Aufgabe, den 'inneren Zusammenhang' der drei

voneinander getrennten Rationalitäten sowie den Charakter der umfassenden

kommunikativen Rationalität zu verdeutlichen, weil er die wechselseitigen Beziehungen

zwischen den verschieden Rationalitäten nur an den 'Nahtstellen' zwischen ihnen erörtert,

aber nicht in ihren 'inneren Zusammenhang'.

Zweitens: Habermas versucht die Einheit der getrennten Rationalitäten in einer Idee der

'argumentativen Begründung' zu finden. Aber diese 'prozedurale Rationalität' als

Argumentation ist eher theorieorientiert und nicht praktisch oder ästhetisch ausgerichtet.

Somit entsteht der Eindruck, daß er die Rationalitätsform der theoretischen

TP

111PT A.a.O., S. 581.

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168

Argumentation auch auf andere Diskurse unzulässigerweise anwendet und damit die

Unterschiede der verschiedenen Formen der Rationalitäten verwischt. Von daher kann

man die Frage stellen, ob nicht eine solche Identifizierung verschiedener

Rationalitätsformen unter dem Namen der einen kommunikativen Vernunft dazu führt,

daß man das Verfahren der argumentativen Begründung überbewertet. Stellt nicht auch

dieser Versuch von Habermas eine Verdrängung verschiedener Rationalitätsformen

durch eine bestimmte Form dar, so daß bei ihm die ästhetische und die praktische

Vernunft reduziert werden auf die Form argumentativer Begründung? Wenn man die

drei getrennten Bereiche der kommunikativen Vernunft auf diese Art in eine theoretische

Einheitsform bringt, ergibt sich daher das Problem, wie man die Unterschiede zwischen

der theoretischen, der praktischen und der ästhetischen Vernunft erklärt.

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V. Die Rolle der Vernunft für die Gesellschaft bei Habermas

1. Die Idee der 'Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen'

Die kommunikative Vernunft wurde, wie erwähnt, entworfen, um den Begriff der

subjektivistischen sowie der relativistischen Vernunft zu überwinden und um

gleichzeitig das Projekt der Aufklärung gegenüber den relativistischen bzw.

skeptizistischen Positionen der Gegenwart zu verteidigen. Die Aufklärung ist nach

Habermas ein Projekt der "Emanzipation der Menschen aus selbstverschuldeter

Unmündigkeit und erniedrigenden Lebensumständen."1 Dies bedeutet bei ihm vor allem

die Wende von der mythischen und ontologischen zur vernünftigen Weltauffassung und,

sozialphilosophisch gesagt, eine Herstellung von "Formen des vernünftigen

Zusammenlebens",2 die der junge Hegel unter dem Begriff der sittlichen Totalität

analysiert hat. Also interpretiert Habermas die Idee der sittlichen Totalität des jungen

Hegel als die "reziproken Anerkennungsverhältnisse eines intersubjektiv konstituierten

Lebenszusammenhangs."3 Daher ist das vernünftige Zusammenleben bei Habermas

eine gesellschaftliche Form, in der "wirklich Autonomie und Abhängigkeit in ein

befriedetes Verhalten treten."4 Die Dialektik des Verbrechens, die Hegel in seiner

Frankfurter Zeit behandelt, verdeutlicht diese Idee der sittlichen Totalität; das

Verbrechen besteht darin, den Anderen nicht als eine Person des Zusammenlebens,

sondern als ein Objekt, das vernichtet werden kann, zu betrachten; dabei wird der

Andere wie ein objektives Ding in der Welt behandelt. Das Verhältnis von S-O, das

dem Verbrechen zugrunde liegt, bedeutet daher eine Störung des Gleichgewichts der

sittlichen Totalität. Die Dialektik des Verbrechens beim jungen Hegel besteht also in

der Wiederherstellung der Erkenntnis, daß die Zerstörung des Lebens des Anderen

gleichzeitig die des eigenen Lebens ist.5

Habermas bezweifelt aber, ob die Polis und die frühchristliche Gemeinschaft, die Hegel

mit dem Begriff der 'versöhnenden Vernunft' in Verbindung bringt und als wirkliche 1 J. Habermas, Die nachholende Revolution, Frankfurt/M. 1990, S. 202. 2 NU, S. 202. 3 PDM, S. 40. 4 J. Habermas, Die nachholende Revolution, a.a.O., S. 202. 5 Siehe dazu 1.3. vom 1. Abschnitt des II. Kapitels in dieser Arbeit.

169

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Vorbilder für die sittliche Gemeinschaft betrachtet, wirklich Ideale für eine neue

Gesellschaftsform sein können, in der die Autonomie des Subjekts und dessen

Abhängigkeit von der Allgemeinheit im Gleichgewicht sind. Denn in diesen

historischen Vorbildern wird die Problematik der Emanzipation des Individuums nicht

ausreichend berücksichtigt, die erst mit der Moderne zum Vorschein gekommen ist.

Aus dieser Sicht ist die versöhnende Vernunft des jungen Hegel nur eine totalisierende

Vernunft, die von Habermas nur als eine weitere Variante der subjektivistischen

Vernunft angesehen wird.

Habermas führt daher eine 'bescheidene', also die kommunikative Vernunft ein, um das

ursprüngliche Ideal des jungen Hegel realisieren zu können. Also entwirft die

kommunikative Vernunft eine Gemeinschaft, die intersubjektiv im Gleichgewicht ist,

und in der die Einzelnen ihre Individualität nicht verlieren und gleichzeitig ihre

Abhängigkeit von der Gemeinschaft anerkennen.

Die Theorie von Habermas bezieht sich dabei wieder auf die alte philosophische Frage

nach dem Verhältnis von Identität und Differenz, von Einheit und Vielheit sowie von

Selbst und Anderem. Vor diesem Hintergrund versucht Habermas in der Tat die

Differenz, das Nicht-Vernünftige, das Andere, das Individuum, die Vielheit etc., die

heutzutage positiv bewertete Kategorien sind, nicht zu vernachlässigen und gleichzeitig

das Ideal der Aufklärung der Vernunftorientierung beizubehalten. Dies unterscheidet

ihn sehr von den Dekonstruktivisten, die nach dem Ende der metaphysischen

Einheitslehre nun von der Ursprünglichkeit der Differenz, des Anderen und des

Individuums ausgehen. Habermas vertritt demgegenüber die Auffassung, daß sie mit

der Abwertung des Einen sowie mit der Aufwertung der Differenz und des Anderen den

dialektischen Zusammenhang zwischen beiden verdunkeln:6

"Das Lob des Vielen, der Differenz und des Anderen mag heute auf

Akzeptanz rechnen können; aber eine Stimmungslage ersetzt noch keine

Argumente."7

Habermas führt also die gegenwärtige philosophische Diskussion auf die traditionelle

philosophische Frage nach dem Verhältnis von Einheit und Vielheit zurück. Seine

6 ND, S. 180. 7 A.a.O., S. 172.

170

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Antwort auf diese Frage wird deutlich, wenn man sie mit der metaphysischen und der

bewußtseinsphilosophischen Position vergleicht.

Die Metaphysik, die bis zur bewußtseinsphilosophischen Wende die europäische

Philosophie überhaupt beherrscht, läßt sich laut Habermas als All-Einheitslehre

bezeichnen, deren Anliegen in der Reduktion des Vielen auf das Eine besteht. Die

Metaphysik, deren Ursprung in dem Parmenideschen Hen-Panta liegt, geht also

durchaus von einem deduktiven Erklärungsansatz aus, bei dem die Vielheit aus einem

Prinzip abgeleitet wird. Insofern löst die Metaphysik des Einen die Pluralität der

ursprünglichen mythischen Kräfte ab. Aus der Sicht der Metaphysik bewegt sich die

Erkenntnis des Mythos nur um die Oberfläche und den Schein und erfaßt nicht das

Wesen der Dinge. Das metaphysische Eine gilt dagegen sowohl als Erstes, mit dem der

Ursprung des Vielen erklärt werden kann, als auch als Begriff des Begriffes, mit dem

der Seinsgrund des Vielen ausgedrückt werden soll. Insofern sie den Ursprung des

Vielen und dessen Seinsgrund analysiert und das Viele und das Akzidentielle aus der

Perspektive des Wesens und der Substanz behandelt, d. h. soweit sie von einem "Zwang

zur Disambiguierung" des Mythos ausging, hatte die Metaphysik, so Habermas, "einen

emanzipatorischen Sinn".8

Habermas weist aber gleichzeitig darauf hin, daß die in der Reduktion der Vielheit und

der Besonderheit auf eine Einheit bestehende metaphysische Denkfigur nur "eine

gewaltige Abstraktion"9 ist und unlösbare philosophische Probleme mit sich bringt: das

Problem des Verhältnisses von Identität und Differenz (1), das Problem des

unaussprechlichen Individuellen (2) und das Unbehagen am affirmativen Denken (3).

1) Habermas stellt eine grundlegende kritische Frage an die Metaphysik, die die Wende

zur Bewußtseinsphilosophie möglich machte: die Frage danach, wie das metaphysische

Eine gleichzeitig als alles umfassendes Ganzes betrachtet werden kann, anders

formuliert, wie die Identität von Identität und Differenz gedachtet werden kann. Diese

erkenntnistheoretische Fragestellung bezieht sich vor allem auf Plotins Definition des

Einen. Nach Habermas wird das Eine Plotins wie folgt definiert: "Das Eine ist Alles und

noch nicht einmal Eins (von Allem)".10 Dies bedeutet, daß das Eine zwar als Ursprung

und Grund jedes individuellen Seienden Alles ist, aber es nichts von Allem gleicht.

Bereits Plotin war sich bewußt, daß das Eine nur in dieser widersprüchlichen Weise

8 A.a.O., S. 158. 9 A.a.O., S. 156. 10 A.a.O., S. 159.

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bestimmt werden kann, weil jede andere Bestimmung das Eine wie ein Ding in der Welt

vergegenständliche, d. h. es zu einem Endlichen mache. Er hat der menschlichen

Erkenntnisfähigkeit, also dem Nous, diese widersprüchliche Bestimmung des Einen

zugeschrieben. Er will damit ausdrücken, daß sich das Eine, obwohl es seinerseits

niemals widersprüchlich ist, mit der Vernunft nur widersprüchlich bestimmt werden

kann.

2) Eine andere Eigenschaft der Metaphysik ist, daß sie das Besondere bzw. Individuelle,

die Materie, das Zufällige etc. nur relativ zum Allgemeinen, zur Idee sowie zum

Notwendigen betrachtet. Bei der Metaphysik wird dieser Gedanke durch die Begriffe

'Gattung' und 'spezifische Differenz' ausgedrückt. Es gibt hier daher keinen Platz für

Individuelles, das nicht unter das Allgemeine subsumiert wird. Selbst Johannes Duns

Scotus z. B., der dieses Problem erkannt hat und daher mit dem Begriff Haecceitas

(dem Individuellen) das Individuelle an sich behandeln wollte, hat letztendlich, nach

Habermas, nichts anderes getan, als das "Essentielle bis in die Einzelheit hinein"11 zu

verlängern.

3) Eine weitere Eigenschaft der Metaphysik sieht Habermas in ihrem 'Unbehagen am

affirmativen Denken', das sich der Materie verdankt; die Materie liegt in Zeit und Raum

und besteht daher aus den konkreten gegenständlichen Bestimmungen. Insofern jede

Bestimmung immer die Negation anderer Bestimmungen voraussetzt, ist die Materie

ein begrenzt Endliches. Wenn man die allgemeinen Ideen als das wahre Sein auffaßt, ist

diese Materie nur ein Nicht-Seiendes. Daher wird die traditionelle metaphysische Frage:

'Warum ist denn überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?' nur dann gestellt,

wenn man von dem Vorrang der allgemeinen Ideen vor der Materie bzw. der Einheit

vor der Vielheit ausgeht. Die affirmative Kraft der Negation, die der Materie eigen ist,

konnte daher als ein zum Intelligiblen gegenläufiges Prinzip gedacht werden. Habermas

sieht hierin den Grund, warum die Welt der Materie bzw. der Geschichte innerhalb der

Metaphysik nicht zur Welt des wahren Seins gehört und warum bei der alten

Metaphysik die Neigung zu einer Kritik an der Vernunft überhand genommen hat und

damit die Tradition der negativen Theologie einen festen Platz gewonnen hat.12

11 A.a.O., S. 160. 12 Aus diesem Grund behauptet Habermas, daß die radikale Vernunftkritik von Nietzsche, Heidegger und

Derrida, die die These von der Unvollkommenheit der Vernunft radikalisieren, nur ihre Zugehörigkeit zur

europäischen orthodoxen Metaphysik zeige. Vgl. ND. S. 159f.

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Die oben genannten Probleme der Metaphysik waren sicherlich mitverantwortlich für

die bewußtseinsphilosophische Wende der Philosophie. Die Bewußtseinsphilosophie

geht von der Frage aus, ob die Einheit des Vielen ein objektives, dem menschlichen

Geiste vorgeordnetes Ganzes sein kann oder ob diese Einheit nicht vielmehr ein

Ergebnis einer idealisierenden Synthesis der Vernunft ist und ob nicht die

widersprüchliche Bestimmung des metaphysischen Einen nur aus einer

Unzulänglichkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens resultiert. Besonders die Kantische Philosophie gilt als ein Musterbeispiel dieses

bewußtseinsphilosophischen Paradigmas; die theoretische Vernunft konstituiert eine

objektive Welt, indem sie mit Hilfe der Anschauungsformen und den Kategorien des

Verstandes den Erscheinungen eine begriffliche, kategoriale Ordnung gibt. Die

Erkenntnis der Erscheinungen in eine Einheit zu bringen ist allerdings eine Leistung der

transzendentalen Apperzeption, die bei Kant das formale 'ich denke' bedeutet: das 'ich

denke' muß alle meine Vorstellungen begleiten können, um in der Mannigfaltigkeit der

Vorstellungen die Einheit eines Selbstbewußtseins bewahren zu können. Während der

Begriff des Verstandes etwas mit den Erscheinungen (also mit etwas in der objektiven

Welt) zu tun hat, steht die Apperzeption in Zusammenhang mit dem Inbegriff der

Erscheinungen, also mit einer Idee. Gerade in diesem Punkt ist der Inbegriff der

Erscheinungen eine 'kosmologische Idee' und somit eine regulative Idee.

Die Erkenntnis und ihre Einheit, die vom kategorischen, begrifflichen sowie

gesetzgebenden Verstand und vom 'denkenden Ich' geleitet werden, sind gerade

deswegen durchgängig gesetzmäßig strukturiert. Die Abhängigkeit des Seienden im

ganzen von dem Verstand sowie dem denkenden Ich bedeutet also eine Herabsetzung

des Kosmos zum Gegenstandsbereich nomologischer Naturwissenschaften. Nun ist die

Welt der Erkenntnis kein "absolutes Ganzes nach Prinzipien der Zwecke"13 mehr.

Dieser Gedanke Kants löst die kosmologieorientierte All-Einheitslehre der von der

teleologischen Weltauffassung ausgehden Metaphysik in dem Sinne auf, daß er von der

Natur bzw. der physischen Welt die Zweckmäßigkeit abtrennt. Der Kosmos wird nun

nicht mehr teleologisch, sondern mechanistisch aufgefaßt.

Die Kantische Erkenntnistheorie läßt sich als eine Antwort auf die

bewußtseinsphilosophische Frage danach lesen, wie die Identität des Einen und des

Vielen zu denken sei. Das Problem ist hierbei aber, daß es bei dieser Antwort keinen

Platz für 'einen sinnvollen Zusammenhang' des Lebens gibt. Für die Zweckmäßigkeit,

13 I. Kant, Kritik der Urteilskraft, W. Weischedel (Hg.), Frankfurt/M. 1994, S. 404.

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die der physischen Welt fehlt, reserviert Kant einen anderen Bereich: das 'Reiche der

Zwecke', das als das Ganze eines 'ethisch-bürgerlichen' Gemeinwesens etwas mit der

Problematik des Sollens bzw. der Moralität zu tun hat.

Diese Kantische Philosophie ruft aber eine neue Frage hervor: In welchem Verhältnis

stehen praktische und reine Vernunft, Kausalität der Freiheit und Kausalität der Natur,

Moralität und Legalität und intelligible Welt und Sinnenwelt. Diese Frage kann wieder

als eine Variante der alten metaphysischen Frage angesehen werden, wie sich Eines und

Vieles sowie Unendliches und Endliches zueinander verhalten. Durch diese Frage wird

deutlich, daß Kants Versuch, durch die erkenntnistheoretische Wende des Denkens die

metaphysische Aporie zu lösen, am Ende zu einem Dualismus der Welten führt.

Hegel wird als letzter Philosoph angesehen, der aus der Perspektive der

bewußtseinsphilosophischen Philosophie diesen Dualismus überwinden wollte. Er

reformuliert das alte metaphysische Thema der All-Einheit, noch radikaler als Kant,

bewußtseinsphilosophisch, indem er die Selbstbeziehung der Vernunft bzw. des Geistes

zum Absoluten erhebt. Dies unterscheidet sich vor allem vom Denken Plotins, der die

wahre Erkenntnis außerhalb des Bereiches der Vernunft sucht, weil diese die

widersprüchlichen Bestimmungen des Einen mit sich bringe, das eigentlich gar nicht

widersprüchlich sei; die wahre 'Erkenntnis' ist daher ein Zustand von Ekstase,14 in dem

die Seele die Grenzen ihres Bewußtseins überschreitet und sich mit dem Einen vereinigt.

Während sich das Subjekt und das Objekt im Denken des Einen noch voneinander

unterscheiden, gibt es bei der Ekstase keine Differenz zwischen ihnen. Somit beurteilt

Plotin das Erkenntnisvermögen des Subjekts negativ.

Im Gegensatz dazu wertet Hegel das Erkenntnisvermögen auf; er interpretiert in seinen

Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie die Ekstase als 'reines Denken'.15

Wenn das Denken die Differenz zwischen Vielheit und Einheit bzw. Endlichem und

Unendlichem voraussetzt, dann scheint es notwendig zu sein, daß die

Bewußtseinsphilosophie, die das Denken zum Absoluten erhebt, diese Voraussetzung

als eine der wichtigsten Merkmale des Absoluten betrachtet. Dies ist der Grund, warum

Hegel das Absolute "nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subjekt"16 auffaßte. 14 Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, in: TW, Bd. 19, S. 440. 15 In diesem Kontext schreibt er folgendes: "Plotin spricht allerdings davon, daß das wahrhaft Seiende nur

gewußt werde durch die Ekstase. […]. Und Ekstase ist ja nicht bloß Entzückung der Empfindung und

Phantasie, sondern vielmehr ein Heraustreten aus dem Inhalt des sinnlichen Bewußtseins. Es ist reines

Denken, das bei sich selbst ist, sich zum Gegenstand hat." G. W. F. Hegel, a.a.O., S. 442f. 16 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: GW, Bd.9, S. 18.

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Das sich auf sich beziehende absolute Subjekt wird als eine Sinnenwelt und moralische

Welt bzw. Form und Inhalt vermittelnde Bewegung aufgefaßt, die sich in der

Geschichte entwickelt. Daher ist die Geschichte die Selbstentwicklung des absoluten

Subjekts bzw. des Geistes. Mit der Bestimmung des Einen als absoluten Subjekts, d. h.

mit der Verbindung der metaphysischen Position mit dem Begriff der selbsttätigen

Subjektivität eröffnet Hegel daher einen neuen Weg, die Geschichte, die bei der

traditionellen Metaphysik als eine Welt der Akzidenz außerhalb der philosophischen

Kategorien lag, als Medium zu verstehen, durch das das Eine und das Viele sowie das

Unendliche und das Endliche vermittelt werden können.

Die Erhebung des Denkens zum Absoluten bedeutet also einerseits die Vereinigung der

nomologischen und der intelligiblen Welt und andererseits die Vollendung des

Übergangs von der alten kosmologischen zur bewußtseinsphilosophischen

Weltauffassung. Die Geschichte ist also eine konkrete Gestalt, in der nicht nur die

beiden Kantischen Welten vermittelt sind, sondern in der auch die Vernunft mit den

Akzidenzien und der Ungewißheit dialektisch versöhnt wird.

Die Geschichtsphilosophie Hegels geht also davon aus, daß die Geschichte nichts

anderes ist als die Selbstentwicklung der Vernunft bzw. des absoluten Geistes. Sie ist

daher eine Geschichtsmetaphysik, die auf eine absolute Freiheitsphilosophie abzielt.

Diese Geschichtsmetaphysik hat aber eine massive Kritik des sogenannten Historismus

bzw. Kontextualismus hervorgerufen, 17 der sich mit der Einzigartigkeit und 17 Der Begriff des Historismus oder Historizismus findet sich, wie G. Scholtz formuliert, in so vielen

verschiedenen konkreten Verwendungen, daß er "universelle geschichtliche Betrachtung" (i),

"Geschichtsmetaphysik" (ii), "Romantizismus und Traditionalismus" (iii), "historischen Positivismus und

Objektivismus" (iv) und "historischen Relativismus" (v) bedeuten kann (G. Scholtz, Das

Historismusproblem und die Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert, in: ders., Zwischen

Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis, Frankfurt/M. 1991, S., 132). Bezüglich der Stellung

zur Geschichte lassen sich diese fünf Positionen in drei Formen zusammenfassen: 1) Entweder geht man

davon aus, daß die ganze Geschichte vernünftig und durch göttliche Vorsehung bestimmt ist (bei i und ii),

oder 2) man sieht nur die Vergangenheit vorbildlich an (bei iii). 3) Für die Positionen iv und v wird

schließlich die Vernünftigkeit der Geschichte problematisch (A.a.O., S. 133). In dem Sinne der ersten

beiden Bedeutungen gehört auch die Hegelsche Geschichtsauffassung als Geschichtsmetaphysik zum

Historismus. Aber die Teilnehmer an der Historismusdebatte scheinen heutzutage den Begriff des

Historismus in dem Sinne des 'historischen Relativismus' zu benutzen, weil der Historismus, der die

Einmaligkeit der historischen, kulturellen und empirischen Tatbestände betont, dem Universalismus der

Vernunft kritisch gegenübersteht. Natürlich kann man auf diese Form des Historismus verschieden

reagieren; während die Historismusverteidiger den Relativismus als willkommene Basis für das

pluralistische Leben ansehen (E. Rothacker, Logik und Systematik der Geisteswissenschaften, München

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Besonderheit der historischen, kulturellen und empirischen Tatbestände beschäftigt.

Denn eine genaue Betrachtung der historischen und kulturellen Besonderheiten zeige,

daß die Geschichte keineswegs einer übergeordneten Logik folge, anders gesagt, die

Hegelsche Konzeption der Geschichte erweise sich letztendlich als ein Resultat des

metaphysischen Denkens, das die Akzidenzien, die Ungewißheit und das Individuelle

unter ein bestimmtes Gesetz subsumiert und eine All-Einheitslehre schafft. Das

Besondere hat also seine Existenzberechtigung innerhalb der Hegelschen

Geschichtsphilosophie, wie innerhalb des metaphysischen Denkens überhaupt, immer

nur in Beziehung auf das Ganze. Die folgende Kritik von Habermas an der Hegelschen

Geschichtsauffassung steht in diesem Kontext:

"Eine Geschichte, die den Bildungsprozeß der Natur und des Geistes in

sich aufnimmt und den logischen Formen der Selbstexplikation dieses

Geistes gehorchen muß, sublimiert sich zum Gegenteil von Geschichte.

[…] eine Geschichte mit festgestellter Vergangenheit, vorentschiedener

Zukunft und verurteilter Gegenwart ist keine Geschichte mehr."18

Der Kern der Habermasschen Kritik an der Hegelschen Geschichtsauffassung liegt also

darin, daß auch sie noch von den Kategorien der traditionellen Metaphysik geprägt ist,

die Habermas als All-Einheitslehre bezeichnet.

Der Kontextualismus von Lyotard und Roty geht davon aus, daß dieses metaphysische

Erbe im subjekt-geschichtsphilosophischen Einheitsdenken für die Krisen der

Gegenwart verantwortlich ist. Im Gegensatz zu dem einheitlichen metaphysischen

Weltbild betont der Kontextualismus den Pluralismus der Lebensformen, indem er die

1965, S. 148. Hervorhebung von mir), ist der Historismus nach seinen Gegnern bloß ein Relativismus,

"der sich in analoge skeptische Schwierigkeiten verwickelt" (E. Husserl, Historizismus und

Weltanschauungsphilosophie, in: F. Rodi / H.-U. Lessing (Hg.), Materialen zur Philosophie Wilhelm

Diltheys, Frankfurt/M. 1984, S. 103. Hervorhebung von mir), und "dessen 'Überwindung' immer noch auf

der Tagesordnung steht" (H. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831-1933, Frankfurt/M. 1983, S.

52). Eine ausführliche Behandlung der Historismusdebatte würde sicherlich den Rahmen dieser Arbeit

sprengen. Zu diesem Thema siehe besonders G. Scholtz, Historismus, Historizismus, in: HWPh, Bd. 3, Sp.

1141ff. und ders., Das Historismusproblem und die Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert, a.a.O., S.

132ff. 18 ND, S. 169.

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Momente des Nicht-Identischen, des Heterogenen und des Akzidentellen hervorhebt.19

Er ist also eine Reaktion auf die Hegelsche Geschichtsphilosophie.

Habermas deutet diese kontextualistische Einsicht als einen weiteren Schritt in der

Emanzipation der Menschheit – nämlich eine Emanzipation von der All-Einheitslehre

der Seinsmetaphysik und der geschichtsphilosophischen Weltauffassung. Dies bedeutet,

daß auch er die Wende zum 'nachmetaphysischen Denken' für historisch notwendig hält.

Diese These ist der Anlaß seiner Auseinandersetzung mit D. Henrich. Henrich spricht

noch von der Metaphysik, weil sie ursprünglich als Titel für die aristotelischen Bücher,

die in der Bibliotheksordnung nach der Physik kamen, alles das bezeichnet, was auch

heute noch als der Bereich, der über die bloße 'Physik' hinausgeht, von der Philosophie

thematisiert wird.20

Seine Kritik an Henrich bedeutet aber freilich nicht, daß Habermas mit dem

Kontextualismus vollständig einverstanden wäre. Er versucht vielmehr durch die

Einführung einer neuen Form der Vernunft, die von der Einheit der Vernunft

ausgehende metaphysische und die kontextualistische Position miteinander zu

verbinden, die davon ausgeht, daß die Entstehung und die Tätigkeit der Vernunft

durchaus akzidentiell sind: diese neue Form der Vernunft ist die kommunikative

Vernunft. Er legt dabei, wie das Wort 'Kommunikation' andeutet, Wert auf den

Verfahrensbegriff des 'Diskurses', der hier nichts anderes meint als eine

argumentgeleitete Kommunikation. Bei dem 'Diskurs' handelt es sich also um das

Verfahren, unter bestimmten Bedingungen die Wahrheit einer bestimmten Aussage bzw.

die Richtigkeit einer Handlung herauszufinden.

Der Ausgangspunkt der kommunikativen Vernunft ist daher, daß man allein durch das

Abwägen von Gründen und Gegengründen die Erkenntnis der Wahrheit von Aussagen

und der Richtigkeit einer Handlung erreichen kann. Aus diesem Grund sind die 19 Der kontextualistische Versuch, die versöhnende Fähigkeit der Vernunft grundsätzlich zu bestreiten

und sich durch eine radikale Kritik der metaphysischen Tradition der Philosophie entziehen zu wollen,

bleibt aber nach Habermas immer noch innerhalb des negativ-metaphysischen Denkschemas befangen,

das behauptet, daß die Trennung von S-O nur bei dem Denken entstehe und daß das metaphysische Eine

außerhalb des Denkens liege: Der Kontextualismus "gestattet sich gegenüber einem Einheitsdenken […]

mindestens sympathisierende Zurückhaltung. Denn der radikale Kontextualismus lebt ja selbst von einer

negativen Metaphysik, die eben dasselbe ruhelos umkreist, was der metaphysische Idealismus mit dem

Unbedingten immer schon gemeint und freilich immer schon verfehlt hatte." ND, S. 154. 20 Siehe D. Henrich, Was ist Metaphysik – was Moderne? Thesen gegen Jürgen Habermas, in: ders.,

Konzepte, Frankfurt/M. 1987, S. 11ff. Darauf antwortet Habermas in seinem Artikel Rückkehr zur

Metaphysik, in: ND, besonders S. 18ff.

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informativen theoretischen und praktischen Wahrheiten für Habermas durchaus

diskursive, nicht intuitive Wahrheiten.21

Wenn Vernunft als Fähigkeit verstanden wird, Gründe in Ansehung der Frage zu geben,

ob diese oder jene Aussage wahr bzw. diese oder jene Handlung richtig ist, kann sich

die Wahrheit, sei es die Wahrheit von Aussagen oder die Richtigkeit einer Handlung,

nicht in dem Privatbesitz einer einzelnen Person befinde. Dies ist der Grund, warum

Habermas die Vernunft mit der Öffentlichkeit verbindet. Was nach Habermas

vernünftig ist, so K. Günther und L. Wingert, "zeigt sich im befreiten und befreienden

öffentlichen Austausch von Argumenten über Erfahrenes und Gedachtes."22

Die Theorie der kommunikativen Vernunft steht also zwischen einem Objektivismus

und einem Relativismus; wenn die kommunikative Funktion des Sprechens als

Ausgangspunkt der Philosophie genommen wird, so kann der Objektivismus nicht

erklären, inwiefern die scheinbar objektiven Tatsachen in Wirklichkeit von der Sprache

und den Kontext der Sprechhandlungen abhängen, und der Relativismus gerät in die

Aporie, daß auch noch die Gültigkeit des Relativismus selbst von der allgemeinen

Geltung der Verständlichkeit abhängt, die dem Phänomen des Sprechens eigen ist. Die

beiden Positionen verabsolutieren also "einen der beiden Aspekte des sprachlichen

Vernunftmediums, sei es dessen Allgemeinheit oder dessen Besonderheit" 23 und

geraten insofern in Aporien.

Der Verfahrensbegriff der kommunikativen Vernunft, der zwischen beiden Positionen

steht, sieht einerseits alle historischen Tatsache und sogar die Entstehung der Vernunft

selbst als kontingent an und erkennt andererseits die Eigenschaft des Mediums

sprachlicher Verständigung an, die Grenzen angeblich inkommensurabler Welten zu

transzendieren. Deshalb erscheint dieser Vernunftbegriff aus der Sicht der Objektivisten

als 'zu schwach', aber aus der Sicht der Relativisten als 'zu stark'.24 Aber aus der Sicht

der kommunikativen Vernunft zeigen sich der metaphysische Vorrang der Einheit vor

der Vielheit sowie der kontextualistischer Vorrang der Vielheit vor der Einheit als zwei

Seiten derselben Medalle: "Die Einheit der Vernunft [bleibt] allein in der Vielheit ihrer

21 Klaus Günther / Lutz Wingert, Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit,

Frankfurt/M. 2001, S. 7. 22 Ebd. 23 ND, S. 175. 24 A.a.O., S. 154.

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Stimmen vernehmbar – als die prinzipielle Möglichkeit eines wie immer okkasionellen,

jedoch verständlichen Übergangs von einer Sprache in die andere."25

Die kommunikative Vernunft geht von einer bestimmten Sprachauffassung aus: von der

kommunikativ verstandenen Sprachpragmatik. Nach Habermas besteht zwischen der

Allgemeinheit und der Besonderheit die folgende Verbindung:

"In die Pragmatik eines jeden Sprachgebrauchs ist die Unterstellung einer

gemeinsamen objektiven Welt eingebaut. Und die Dialogrollen jeder

Gesprächssituation erzwingen eine Symmetrie der Teilnehmerperspektiven.

Sie eröffnen zugleich die Möglichkeit der Perspektivenübernahme zwischen

Ego und Alter sowie die Austauschbarkeit von Teilnehmer- und

Beobachterperspektiven. Diese allgemeinen pragmatischen Voraussetzungen

kommunikativen Handelns legen keineswegs den objektivistischen

Fehlschluß nahe, wir könnten den extramundanen Standpunkt eines

entweltlichten Subjekts einnehmen und uns einer kontextfreien, im Singular

auftretenden Idealsprache bedienen, um infallible und erschöpfende, also

definitive Aussagen zu machen, die die Wirkungsgeschichte stillstellen

würden – Kommentars weder fähig wären noch bedürften. Das ist nicht die

Alternative zum behutsamen, ethnozentrisch geständigen Kontextualismus.

An die Möglichkeit sprachlicher Verständigung können wir einen Begriff

situierter Vernunft ablesen, die ihre Stimme in zugleich kontextabhängigen

und transzendierenden Geltungsansprüchen erhebt."26

Diese Passage zeigt, daß die kommunikative Vernunft in dem Sinne 'immanent' ist, daß

sie außerhalb konkreter Sprachspiele und Institutionen nicht existiert, und zugleich als

eine regulative Idee diese Kontexte transzendiert.

Zwischen dem metaphysischen Denken, das von einem "festen Bestand an Formen"

ausgeht, "zu dem es erkennbare Alternativen nicht gibt", und dem Kontextualismus, der

"alles in den Strudel der Kontingenzerfahrung" bringt,27 entwirft die sprachtheoretische

Wende der Philosophie ein Konzept einer "schwachen, aber nicht defaistischen"28

25 A.a.O., S. 155. 26 A.a.O., S. 178f. 27 A.a.O., S. 179. 28 A.a.O., S. 182.

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Einheit, in dem die Vielheit miteinbezogen ist. Der Geltungsanspruch der

Verständlichkeit, die dem jeweiligen Sprachspiel innewohnt, macht diese Einheit

möglich. Die Strukturen möglicher sprachlicher Verständigung bilden nach Habermas

für alle kommunikativ Handelnde "ein Nicht-Hintergehbares."29 Von daher eröffnet

sich ein Weg, an dem Rationalismus der Aufklärung festzuhalten, indem die

Verständlichkeit in die Kategorie der Rationalität eingeführt wird.

Vier Geltungsansprüche, die die Umgangsprache begleiten, d. h. objektive Wahrheit,

normative Richtigkeit, subjektive Wahrhaftigkeit und intersubjektive Verständlichkeit,

fungieren als transzendentale bzw. regulative Ideen, die eine Handlung als rational

auszeichnen. Anders gesagt, das rationale Moment eines Handelns liegt in den ihm

innewohnenden transzendentalen Geltungsansprüchen. Habermas nennt den Zustand, in

dem die regulativen Geltungsansprüche alle erfüllt werden und dadurch eine gewaltlose

Kommunikation ermöglichen, 'ideale Sprechsituation'. Er versteht diesen Begriff als

eine Art Maßstab oder als eine regulative Idee, nicht aber als ein zu realisierendes

Projekt.

Wegen des transzendentalen Moments der Geltungsansprüche sowie der Idee der nicht

zu realisierenden 'idealen Sprechsituation' fokussiert sich die Kritik an Habermas häufig

auf die Frage, ob er damit nicht wieder zur Kantischen Zwei-Welten Lehre zurückkehrt.

Die Habermassche Einteilung der Geltungsansprüche, die in einer Analyse der

Umgangsprache herausgearbeitet werden, erinnert an die Kantische Deduktion der

Kategorien mit Hilfe einer Analyse der Vernunft. Einer der Hauptkritikpunkte, der seit

Hegel gegen Kant geltend gemacht wird, ist, daß es keine überzeugende Verbindung

zwischen dem Noumenon bzw. der intelligiblen Welt und dem Phaenomenon bzw. der

Erscheinungswelt gibt. Man kann sich daher fragen, ob sich nicht die das Handeln a

priori regulierenden Geltungen bei Habermas auf die Kantische intelligible Welt

beziehen. Wenn diese Kritik richtig ist, führt sie dazu, daß seine ursprüngliche Absicht,

die innerweltliche sittliche Totalität rational zu deuten, und sein Geltungsbegriff

miteinander in einer Spannung stehen. Habermas ist sich dieses Kritikpunkts bewußt:

"Ernster ist das Bedenken, ob nicht mit dem Begriff des kommunikativen

Handelns und der transzendierenden Kraft universalistischer

Geltungsansprüche ein Idealismus hergestellt wird, der mit den

29 A.a.O., S. 179f.

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materialistischen Einsichten des Historischen Materialismus unverträglich

ist."30

Um dieses Problem zu vermeiden, muß er daher deutlich machen, daß der Bereich der

kommunikativ eingeteilten Geltungen nicht mit dem Bereich der Kantischen

Transzendentalität identisch ist. Während die Moral-Lehre Kants von dem "Purismus

der Vernunft"31 ausgeht, setzt der Bereich der kommunikativen Geltungen immer

wirkliche Zeiten und Räume voraus. Genauer gesagt, die Theorie des kommunikativen

Handelns lehnt nicht nur den empirischen Perspektivismus, sondern auch die

Metaphysik der Vernunft oder 'den Purismus der Vernunft' ab, der davon ausgeht, daß

die Sprache erst nachträglich zu der Vernunft hinzu kommt. Das Wesen der

Geltungsansprüche besteht bei jeder Kommunikation darin, daß sie jeden lokalen

Kontext transzendieren und gleichzeitig jeweils nur in bestimmten Kontexten erhoben

werden. Das kommunikative Handeln ist also einerseits innerweltlich, weil es in der

konkreten Welt ausgeführt wird, und andererseits transzendental, weil es die über diese

Welt hinausgehende Normativität voraussetzt. Von daher spricht Habermas davon, daß

die in dem kommunikativen Handeln erhobene Geltung 'eine abgeschwächte oder

begrenzte Transzendentalität' ist.

Gerade in diesem Zusammenhang müssen die beiden oben genannten Punkte verstanden

werden, daß die Geltungsansprüche als transzendentale Ideen fungieren, die die

Rationalität einer Handlung bestimmen, und daß die ideale Sprechsituation nicht ein

real zu verwirklichendes Projekt, sondern eine regulative Idee ist. Habermas betont in

einer Abhandlung den Unterschied zwischen seiner Diskurstheorie und der Kantischen

Morallehre wie folgt:

"Erstens gibt die Diskursethik die Zwei-Rechte-Lehre auf. […] Eine

gleichsam transzendentale Nötigung, unter der sich verständigungsorientiert

eingestellte Subjekte an Geltungsansprüchen orientieren, macht sich nur in

dem Zwang bemerkbar, unter idealisierenden Voraussetzungen zu sprechen

und zu handeln. Der Hiatus zwischen Intelligiblem und Empirischem wird

zu einer Spannung abgemildert, die sich in der faktischen Kraft

kontrafaktischer Unterstellungen innerhalb der kommunikativen

30 PDM, S. 374. 31 J. Habermas, Wege der Detranszendentalisierung, a.a.O., S. 186.

181

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Alltagspraxis selber bemerkbar macht. Zweitens überwindet die

Diskursethik den bloß innerlichen, monologischen Ansatz Kants, der damit

rechnet, daß jeder Einzelne in foro interno ('im einsamen Seelenleben', wie

Husserl sagte) die Prüfung seiner Handlungsmaximen vornimmt. […]

Einzig die Universalien des Sprachgebrauchs bilden eine den Individuen

vorgängig gemeinsame Struktur. Drittens erhebt die Diskursethik den

Anspruch, jenes Begründungsproblem, dem Kant letztlich durch den

Hinweis auf ein Faktum der Vernunft – auf die Erfahrung des Genötigtseins

durch Sollen – ausweicht, mit der Ableitung von 'U' [sc. dem

Universalisierungsgrundsatz] aus allgemeinen Argumentations-

voraussetzungen gelöst zu haben."32

Von daher braucht die kommunikative Vernunft, die in der auf die Verständigung

zielenden Alltagspraxis verwirklicht ist, nicht wie Kant von zwei unversöhnlichen

Welten auszugehen. Denn die kommunikativ Handelnden setzen beim Handeln immer

die über die Zufälligkeit des jetzigen Handelns hinausgehenden allgemeinen rationalen

Geltungsansprüche voraus und sind aber gleichzeitig mit der kontextabhängigen

Faktizität verbunden. Folglich wird die unversöhnliche Trennung zwischen den zwei

Welten Kants zu einer innerlebensweltlichen Spannung zwischen Geltung und Faktizität

abgemildert.33 Habermas formuliert diesen Gedanke wie folgt:

"Die für Propositionen und Normen beanspruchte Geltung transzendiert

Räume und Zeiten, aber der Anspruch wird jeweils hier und jetzt, in

bestimmten Kontexten erhoben und mit faktischen Handlungsfolgen

akzeptiert oder zurückgewiesen."34

Ferner denkt Habermas, daß die traditionelle Einheitsidee nichts anderes als 'ein

transzendentaler Schein' ist, der durch die Hypostasierung der alltagspraktisch

vorausgesetzten Lebenswelt zur spekulativen Idee des Einen und Allen entstanden ist:

"Mythische, religiöse und eben auch metaphysische Weltbilder haben sich der

32 J. Habermas, Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?, in: ders.,

Erläuterung zur Diskursethik, Frankfurt/M. 1991, S. 20f. 33 Vgl. ND, S. 182. 34 ND, S. 179 und PDM, S. 375.

182

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vergegenständlichenden Projektion der nur intuitiv gewußten Einheit der Lebenswelt

auf die Ebene expliziten Wissens verdankt." 35 Wie schon erwähnt, bleibt die

Lebenswelt den Beteiligten als "ein intuitiv gewußter, unproblematischer und

unzerlegbarer holistischer Hintergrund im Rücken."36 Sie bildet den "Horizont an

intersubjektiv geteilten Hintergrundannahmen, in die jeder Kommunikationsprozeß

vorgängig eingebettet ist."37 Die Lebenswelt läßt sich daher nie vollständig begreifen

oder thematisieren. Die kommunikativ Handelnden müssen daher die Arbeit der

weltbildenden Synthesis übernehmen, weil die Lebenswelt "eine implizit und

vorreflexiv mitlaufende Totalität [bildet], die im Augenblick ihrer Thematisierung

zerfällt – Totalität bleibt sie nur im Modus des abgeschatteten, präsupponierten

Hintergrundwissens."38

Aus diesem Grund erkennt auch Habermas, daß seine Bemühung, das Rationalitätsideal

der Aufklärung fortzuführen, nur in abgemilderter Form verwirklicht werden kann. Dies

ist der Grund, warum er den Begriff der "transitorischen Einheit" entwickelt hat, "die

sich in der porösen und gebrochenen Intersubjektivität eines sprachlich vermittelten

Konsenses herstellt" 39 und damit die Pluralisierung der Lebensformen sowie die

Individualisierung der Lebensstile ermöglicht. Er formuliert diese Einheit als 'Einheit

der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen'. Von diesem Hintergrund charakterisiert er

das Wesen der kommunikativen Vernunft wie folgt:

"Die kommunikative Vernunft ist gewiß eine schwankende Schale – aber sie

ertrinkt nicht im Meer der Kontingenzen, auch wenn das Erzittern auf hoher

See der einzige Modus ist, in der sie Kontingenzen 'bewältigt'."40

35 ND, S. 183 36 PDM, S. 348. 37 Vgl. A. Honneth, Kritik der Macht, a.a.O., S. 318. 38 ND, S. 182f. 39 A.a.O., S. 180. 40 A.a.O., S. 184f.

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2. Würdigung und Kritik der Habermasschen Theorie Das 'kommunikative Handeln' und die 'Lebenswelt' als 'komplementärer' Begriff für

jenes Handeln sind die beiden Hauptbegriffe der Theorie des kommunikativen Handelns.

Der Gedanke der dialektischen Wechselwirkung zwischen beiden Faktoren kann als die

Habermassche Antwort auf die klassische sozialphilosophische Frage nach dem

Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft gelten; während die traditionelle

Sozialphilosophie eine reduktionistische Tendenz hat, indem sie entweder der

Gesellschaft oder dem Individuum die Priorität gibt, versucht Habermas die Autonomie

des einzelnen Subjekts und gleichzeitig dessen Abhängigkeit von der Lebenswelt, die

Kontinuität der Geschichte und deren Diskontinuität sowie die Kritik an der Kultur und

die Aufnahme der kulturellen Überlieferungen etc. in einer Theorie zu vereinigen. Im

Bezug auf den philosophischen Diskurs der Moderne läßt sich daher die Position von

Habermas wie folgt zusammenfassen: Erstens: die Theorie des kommunikativen

Handelns übernimmt die Zeitdiagnose der frühen kritischen Theorie, die behauptet, daß

die moderne wissenschaftliche Vernunft eine instrumentell verkürzte Vernunft ist, die

auf die wertneutrale Objektdarstellung abzielt. Die frühen Vertreter der kritischen

Theorie sehen den Ursprung dieser Vernunft in der modernen Subjektphilosophie, die

vom erkenntnistheoretischen Subjekt-Objekt-Schema ausgeht. Die positivistische

Tendenz der modernen Wissenschaft, die durch ihre objektivistische Methode

gekennzeichnet ist, spiegelt die allmähliche Machterweiterung der instrumentellen

Vernunft wider. Das Problem ist, daß diese Vernunft zwar zu dem Fortschritt der

modernen Wissenschaft beigetragen hat, aber nicht auf ihre eigene

erkenntnistheoretische Stellung reflektiert und kein Interesse an einer Selbstkritik oder

an einer Verbesserung des Subjekts hat.

Habermas bestätigt mit der Theorie des kommunikativen Handelns die Zeitdiagnose der

frühen kritischen Theorie, die den Verlust der kritischen Funktion der Vernunft als die

Ursache der pathologischen Erscheinungen der Moderne betrachtet. Darüber hinaus

bewahrt er mit seiner Theorie die moderne rationalistische Tradition, indem er nicht der

Rationalität selbst, sondern der instrumentell verkürzten Rationalität die Verantwortung

für die pathologischen Erscheinungen zuschreibt. Das subjektphilosophische Schema

verabsolutiert die instrumentelle Vernunft, und daher führen die Modernitätskritiker,

wie z. B. die Postmodernisten, den Grund der modernen pathologischen Erscheinungen

auf die Verabsolutierung der Vernunft, also auf 'ein Zuviel an Vernunft' zurück.

184

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Habermas ist aber der Meinung, daß sowohl die Subjektphilosophie als auch der

Postmodernismus darin übereinstimmen, daß sie die instrumentelle Vernunft als

Vernunft überhaupt ansehen. Die Theorie der kommunikativen Vernunft zeigt dagegen

in der modernen Wissenschaft überhaupt die Form einer verkürzten Vernunft auf, und

somit herrscht "nicht ein Zuviel, sondern ein Zuwenig an Vernunft".41

Zweitens: diese Habermassche Antwort zeigt einen neuen Weg zu einer normativen

Basis für die Gesellschaftskritik, die der kritischen Gesellschaftstheorie fehlt; diese

Theorie, die davon ausgeht, daß die Vernunft infolge der Subjektsphilosophie ihre

kritische Funktion verliert und nur noch die instrumentelle Vernunft übrig bleibt, ist

trotzdem, so Habermas, insofern keinen Schritt über das subjektphilosophische

Denkschema hinaus gegangen, als ihre Kritik immer noch vom Ideal der Autonomie

und Freiheit geleitet ist. Nach Habermas ist dieses Ideal ein zentraler Bestandteil des

subjektphilosophischen Denkens. Der Kernpunkt der Habermasschen Kritik an der

kritischen Gesellschaftstheorie ist also, daß diese keine normative Basis hat, die die

Gültigkeit ihrer eigenen Kritik an der instrumentellen Vernunft garantieren kann.42

Die kommunikative Vernunft verabsolutiert sich selbst dagegen nicht. Daher nennt

Habermas sie eine 'bescheidene Vernunft'. Gerade weil sie eine Verständigung über

etwas in der Welt intendiert, erkennt sie die Differenz zwischen Meinungen und

Argumenten an und versucht deshalb diese Differenz durch den Prozeß der

argumentativen Auseinandersetzung, also durch eine prozeduale Rationalität,

aufzulösen. Jede reale Kommunikation enthält schon das Moment der Rationalität in

sich in dem Sinne, daß sie – wenn man der sprachpragmatischen These folgt, daß jeder

Sprechakt immer semi-transzendentale Geltungsansprüche erhebt – eine ideale

Sprechsituation voraussetzt, von der aus Fälschung, Täuschung und (oder) Mißbrauch

der Macht kritisiert werden könnten. Hierdurch kann nach Habermas die kritische

Funktion der Vernunft wiederhergestellt werden, die in der kritischen

Gesellschaftstheorie verloren gegangen ist, und die Gesellschaftskritik kann einen neuen

normativen Maßstab gewinnen, ohne in einen Selbstwiderspruch zu geraten.

Die Theorie des kommunikativen Handelns hat allerdings trotz dieser Bemühungen

noch die folgenden Schwierigkeiten. Die Verknüpfung von kommunikativem Handeln

und Lebenswelt bei Habermas kann, wie erwähnt, sozialwissenschaftlich als ein

41 PDM, S. 361. 42 NU, S. 145, PDM, S. 95ff. Vgl. Anne Créau, Kommunikative Vernunft als 'entmystifiziertes Schicksal',

Frankfurt/M. 1991, S. 139f.

185

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wechselseitiger Bedingungszusammenhang verstanden werden. Das Problem ist aber,

daß es nicht so einfach ist, sich den genauen Inhalt dieser Verknüpfung vorzustellen.

Die Lebenswelt wird als 'Ressource' und 'Horizont' des kommunikativen Handelns

angesehen. Der kommunikativ Handelnde wird dagegen als Subjekt verstanden, das die

Fähigkeit hat, rational zu handeln und durch die ungezwungene Kommunikation mit

den Anderen einen Konsens zu erreichen. Damit die Rationalität aber mit dem Begriff

der Kritik verbunden werden kann, ist für die Rationalität m. E. das Transzendieren der

gegebenen vorbewußten Bedingungen unentbehrlich. Man kann sich daher mit Recht

fragen, ob der kommunikativ Handelnde, der der apriorischen Struktur der Lebenswelt

verhaftet ist, wirklich einen ungezwungenen Konsens erreichen kann, und weiter, ob die

'ideale Sprechsituation' als theoretischer Begriff bei Habermas wirklich seine

Berechtigung hat, wenn das Subjekt stets von der Lebenswelt abhängig ist. Die 'ideale

Sprechsituation' kann daher bloß als eine Abstraktion gedeutet werden, die keine

Entsprechung in der Wirklichkeit hat.

Aus diesem Grund wird Habermas von entgegengesetzten Positionen gleichzeitig

kritisiert. Der Kern dieser Kritik an Habermas ist also, daß die Problematik der Totalität

bzw. des Ganzen bei dem Begriff des kommunikativen Handelns einerseits und die der

Individualität bzw. der Reflexionsfähigkeit des Subjekts bei dem der Lebenswelt

andererseits nicht ausreichend berücksichtigt werden können.

1) Kritik am kommunikativen Handeln:

Es wurde bereits erwähnt, daß Habermas für seine neue Rationalitätstheorie die

Sprachphilosophie auswertet, die es erlaubt, den Begriff der Rationalität mit den

Begriffen 'Einverständnis', 'Verständigung' sowie vor allem 'ungezwungener

Kooperation' zu verbinden. Also spielt das Sprachparadigma bei der Habermasschen

Rationalitätstheorie eine entscheidende Rolle. Die 'Zwanglosigkeit' nimmt einen

zentralen Platz in seiner Rationalitätstheorie ein. Die Vorstellung der 'Zwanglosigkeit'

zeigt, daß Habermas in der philosophischen Tradition steht, die das Wesen der

Demokratie in dem Konzept der freiwilligen Kooperation sieht, d. h. die vertritt, daß die

Menschen dann dem Ideal der Rationalität entsprechen, wenn ihre Verträge als

freiwillig geschlossene Abmachungen aufgefaßt werden können.

Dies spiegelt einen modernen rationalistischen Optimismus wider, der von der

Selbständigkeit des einzelnen Subjekts und auch von der Möglichkeit einer

grundsätzlichen Kritik an der Kultur ausgeht. In der Tat deutet er selbst auf eine

Möglichkeit der Kritik an dem gesamten kulturellen Bereich hin: "Die kulturelle

186

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Überlieferung muß ein reflexives Verhältnis zu sich selbst gestatten; sie muß ihrer

Dogmatik soweit entkleidet sein, daß die durch Tradition gespeisten Interpretationen

grundsätzlich in Frage gestellt und einer kritischen Revision unterzogen werden

dürfen."43

Es fragt sich aber, ob diese grundsätzliche Kritik an der Kultur möglich sein kann, wenn

die Interaktionsbeteiligten nicht vollständig frei von äußeren materiellen sowie von

internalisierten Zwängen sind, welche außerhalb der Reichweite ihres Bewußtseins

liegen und dennoch ihr Verhalten beeinflussen oder sogar verursachen können. Diese

skeptische Frage bringt die weiteren Fragen mit sich, ob sich die Interaktionsbeteiligten

des Sinns ihrer Aussagen und ihres Tuns vollständig bewußt sein können, ob sie ihre

Sprache und ihr Weltbild überhaupt einer rationalen Überprüfung unterwerfen können

und ob die sprachlich strukturierten Weltbilder einfach als von Menschen konstituierte

Interpretationen betrachtet werden können, die vollständig der Kritik offen sind. Diese

Fragestellungen haben wiederum etwas mit einer anderen, für die Habermassche

Rationalitätstheorie entscheidenden Frage zu tun, ob ungezwungenes, bewußtes,

rationales Einverständnis überhaupt möglich ist, wenn die an der Kommunikation

Beteiligten unvermeidlich von der vorbewußten Tiefenstruktur der Symbole und der

Zeichenbedeutungen geprägt sind.

In seiner Rationalitätstheorie, die von der Vorstellung der Zwanglosigkeit der idealen

Sprechsituation ausgeht, scheint Habermas – entgegen seiner Absicht – die

Abhängigkeit der Menschen von den unbewußt wirkenden Strukturen der Lebenswelt

zu unterschätzen. Um seiner These gerecht zu werden, daß die Rationalität oder die

Freiheit des Menschen nicht in der vollständigen Befreiung von solchen Strukturen liegt,

sondern nur in dem Maße verwirklicht werden kann, in dem Kooperation innerhalb der

Strukturen der Lebenswelt zustande kommt, müßte Habermas statt der Vorstellung der

Zwanglosigkeit und der Idee der idealen Sprechsituation die empirischen Tatsachen

stärker in seiner Theorie berücksichtigen. Die Erfahrung lehrt, daß die Ansichten einer

Gesellschaft über die Gegenstände in der Welt und über die Normen des Handelns in

der Regel unkritisch und unhinterfragt von den einzelnen Subjekten übernommen

werden. Dies zeigt sich beispielsweise darin, daß selbst die modernen, rationalen

Weltdeutungen häufig arationale Momente enthalten und daher nach J. Alexander auch

43 TkH 1, S. 109.

187

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in der Moderne das Mystische noch eine Rolle spielt.44 Das Problem ist, daß es nicht

einfach ist zu beurteilen, ob diese Weltdeutungen irrational sind. Aus diesem Grund ist

Alexander der Ansicht, daß die Rationalitätstheorie von Habermas, da sie das sprech-

handelnde Subjekt zu stark akzentuiert, die vorbewußten Strukturen des Kulturcodes

unterschätzt und insofern in den Verdacht gerät, daß sie "in antagonistischer Beziehung

zur Kultur"45 steht. Diese Kritik weist also darauf hin, daß die Habermassche Theorie

ebenfalls dem Ideal der modernen Subjektphilosophie verhaftet ist, die zwar von der

Idee der absoluten Kritikmöglichkeit bzw. der absoluten Autonomie des

transzendentalen Subjekts ausgeht, aber mit der Paradoxie der Rationalität endet.

2) Kritik an der Lebenswelt:

Der Begriff der Lebenswelt führt zu einer ganz anderen Kritik. Während der Begriff des

kommunikativen Handelns bei Habermas an die typische moderne Auffassung von der

Autonomie des Subjekts anknüpft, erhellt am Begriff der Lebenswelt, daß Habermas die

Leistungen der Moderne unterschätzt. Er versucht mit Hilfe des Begriffs der Lebenswelt,

einerseits die Idee der Totalität der Gesellschaft zu rekonstruieren und andererseits die

Beziehungen der einzelnen Handlungen zur Lebenswelt darzustellen. Er betrachtet also

das Verhältnis zwischen der Totalität der Lebenswelt und der Autonomie des Handelns.

Dies ist die Habermassche Version der alten klassischen Frage nach dem Verhältnis von

Einem und Vielem. Es ist aber fraglich, ob die Lebenswelt – als nicht thematisierbare

Totalität oder als transzendentaler Ort, auf den sich die Interaktionsteilnehmer

gemeinsam beziehen sollen, – ein wissenschaftlicher oder philosophischer Begriff sein

kann. Eine der wichtigen Kritikpunkte Luhmanns an Habermas fokussiert sich gerade

auf dieses Problem:

"Ein unbestreitbar schöner, sich gut anfühlender Begriff: konkret und robust,

nah und fern zugleich, reich an empirischem Gehalt und doch mit den

Eigenschaften der äußersten Sphäre ausgestattet: se ipsa et omnia continens.

Gleichwohl steckt in diesem Begriff eine eigentümliche Ambibalenz, die

Aussagen über Lebenswelt unscharf werden lassen. Als Begriff läßt dieser

Weltbegriff sich von anderen Weltbegriffen […] und erst recht von allen

Sachbegriffen absetzen. Der Sachverhalt, den er bezeichnet, verträgt jedoch

44 Vgl. J. Alexander, Habermas' neue Kritische Theorie: Anspruch und Probleme, in: Kommunikatives

Handeln, A. Honneth / H. Joas (Hg.), Frankfurt/M. 1986, S. 103. 45 Ebd.

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keine Exklusion.46 Auch die Wissenschaft findet in der Lebenswelt statt.

Alles, was ist, ist in der Lebenswelt aufweisbar. Die Lebenswelt ist die Welt.

[…] Wir haben also einen Begriff, der die Begriffe, die er ausschließt, in

den Sachverhalt einschließt, den er bezeichnet. Daß mit dieser paradoxen

Struktur jedes Problem, auch das der Intersubjektivität, erfaßt werden kann,

ist leicht zu sehen. Aber was hilft die Umsetzung eines Problems in eine

Paradoxie?"47

Auch D. Henrich, der eine ganz andere philosophische Position als Luhmann einnimmt,

sieht den Schwachpunkt der Habermasschen Theorie in diesem Begriff. Der Begriff der

Lebenswelt relativiert bei Habermas, wie schon erwähnt, den Begriff der Reflexion, der

als der Ausgangspunkt der modernen Philosophie gelten kann. Dies bedeutet umgekehrt,

daß dieser Begriff dafür Raum lassen könnte, die unmittelbare Totalität oder die

metaphysische Einheit wieder zu beleben, der sich die Reflexion einst mühevoll

entzogen hat. 'Reflexion' ist nach ihm ein Grundterminus im Denken der Moderne, der

nichts anderes meint als "das Bewußtsein von den Unterschieden zwischen den

Verständigungsarten, welche sich in der Spontaneität des bewußten Lebens ausgebildet

haben", und "eine Distanznahme zu den primären Tendenzen der Verstehensarten und

Selbstbeschreibungen insgesamt."48 Die Reflexion ist also nach Henrich ein Resultat

der anstrengenden Bemühungen des menschlichen Denkens, sich der Unmittelbarkeit

des Seins zu entziehen. Aber mit der Einführung des Lebensweltbegriffs bringe

Habermas nur "eine längst verlorene Unmittelbarkeit"49 in Umlauf und könne dadurch

den Begriff der Reflexion und dessen Vorzüge nicht angemessen würdigen. Einer

überzeugenden Analyse der Reflexion, so D. Henrich, "weicht aber eine Theoriesprache

wie die von Habermas aus, die, wie immer unfreiwillig, für Unmittelbarkeit optiert,

46 Dies bedeutet nach Luhmann, daß die Lebenswelt nur durch interne Distinktion charakterisiert werden

kann. N. Luhmann, Intersubjektivität oder Kommunikation: Unterschiedliche Ausgangspunkte

soziologischer Theoriebildung, in: Archivio di Filosofia, Marco M. Olivetti (Hg.), Cedam 1986,

Anmerkung, S. 49. 47 Ebd. Hervorhebung im Original. 48 D. Henrich, Was ist Metaphysik – was Moderne? – Zwölf Thesen gegen J. Habermas; in: ders.,

Konzepte, Frankfurt/M. 1987, S. 18f. 49 Ebd.

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indem sie die Ressourcen der Lebenswelt ohne weiteres als zuletzt verläßlich geltend

machen will."50

50 A.a.O., S.19.

190

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191

Zusammenfassung

Die Fragestellung Die Philosophie bemüht sich heutzutage darum, das Wesen der Moderne zu verstehen.

Die verschiedenen Deutungen der Moderne stehen dabei in einem engen

Zusammenhang mit der Art und Weise, wie man viele sozialpathologische

Erscheinungen behandelt, die die Entwicklung der Technik mit sich bringt und die das

Leben des Menschen selbst gefährden. Die Teilnehmer an dem Diskurs der Moderne

gehen in der Regel davon aus, daß die Moderne, um sich von der mythischen,

metaphysischen Denkweise und der autoritären Kultur der Vergangenheit zu befreien,

in einer erkenntnistheoretischen Wende des Denkens die Problematik der Subjektivität

in den Vordergrund gestellt hat. Im Verlaufe der Zeit sei die Moderne, der es um die

Freiheit des Menschen ging, aber "einem neuen Mythos zum Opfer" TPF

1FPT gefallen.

Diese Zeitdiagnose hat drei verschiedene philosophische Antworten hervorgerufen: 1)

die postmoderne Position, die das Projekt der vernünftigen, rationalen Emanzipation der

Moderne als Mißerfolg bestimmt und damit in die Richtung eines Irrationalismus oder

Antirationalismus geht, 2) die subjektphilosophische Position, die davon aus geht, daß

die sozialpathologischen Erscheinungen der Moderne aus einer inkonsequenten

Anwendung der modernen Vernunftidee resultieren und daher nicht daran zweifelt, daß

innerhalb der Philosophie die Vernunft der oberste Richter sei; sie vertritt also einen

starken rationalistischen Optimismus und geht davon aus, daß das Paradox der

Aufklärung durch die Entwicklung der auf der modernen Rationalität basierenden

Wissenschaft und Technik aufgehoben werden sollte; 3) die intersubjektivitäts-

philosophische Position, die die sozialpathologischen Erscheinungen der Moderne zwar

als Resultat der monologischen, vom Subjekt-Objekt-Schema ausgehenden

subjektivistischen Vernunft anerkennt, aber gleichzeitig die Wiederherstellung der

emanzipatorischen Funktion der Vernunft zu erreichen versucht, indem sie von einem

intersubjektiven, dialogischen Vernunftkonzept ausgeht. Anders gesagt, diese Position

kritisiert zwar die Moderne in dem Punkt, daß sie die monologische, subjektivistische

Vernunft ablehnt, aber sie nimmt durch die Erweiterung des Bereiches der Vernunft die

rationalistische Tradition der Moderne über. Dadurch gewinnt sie eine Möglichkeit,

innerhalb der rationalistischen Tradition der Moderne das Projekt der Moderne weiter

TP

1PT M. Jay, Dialektische Phantasie, a.a.O., S. 305.

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zu entwickeln, während die ersten beiden Positionen dem Schema von Vernunft/Nicht-

Vernunft verhaftet sind und daher entweder in einen Rationalismus oder in einen Ir-

bzw. Antirationalismus fallen.

Also zeichnet sich die erste Position durch eine Radikalisierung der dezentrierenden

Tendenzen, die zweite durch die entschlossene Beibehaltung des klassischen

Autonomieideals und die dritte durch eine Rekonstruktion der Vernunft durch die Idee

der Intersubjektivität aus.TPF

2FPT

Der Ausgangspunkt des Habermasschen Denkens Habermas beurteilt den Paradigmenwechsel von der Subjektivität zur Intersubjektivität

als "die eigentliche philosophische Leistung unserer Epoche."TPF

3FPT Nach ihm sind die erste

und die zweite Position insofern einseitig, als sie die subjektivistische bzw.

instrumentelle Vernunft als einzige Form der Vernunft betrachten; die Differenz

zwischen ihnen liegt nur darin, daß die erste Position diese Vernunftkonzeption

abschaffen will, während die zweite an ihr festhalten möchte. Nach Habermas

überwindet die Subjektivitätsphilosophie nicht den monologischen, verdinglichenden

Charakter der Vorstellung eines einsamen, abgeschlossenen Subjektes, das sich die Welt

unterwirft, während die postmoderne Position insofern problematisch, ja

selbstwidersprüchlich ist, als sie ihre eigenen ir- oder antirationalistische Ansichten

selbst noch mit rationalen, d. h. vernünftigen Argumenten rechtfertigt.

Aus dieser Sicht betrachtet Habermas die gegenwärtigen sozialpathologischen

Erscheinungen weder als einen direkten Beweis für den Mißerfolg des Projektes der

Moderne noch als einen Grund für den Übergang zur Postmoderne, noch sieht er diese

Probleme als Resultat einer inkonsequenten Anwendung der modernen Vernunftidee an;

vielmehr versteht er sie als Ausdruck der "mit sich selber zerfallenen Moderne".TPF

4FPT Dies

bedeutet, daß das Projekt der Moderne mit dem Rationalisierungsprozeß zwar verzogen

wurde, aber innerhalb der Moderne weitergeführt werden kann und muß. Er strebt also

eine Versöhnung der mit sich selber zerfallenen Moderne an. Diese Versöhnung

bedeutet für ihn vor allem, Formen des vernünftigen Zusammenlebens zu finden, ohne

die in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen erscheinenden Differenzierungen

TP

2PT Vgl. A. Honneth, Dezentrierte Autonomie, a.a.O., S. 238f.

TP

3 PTNU, S. 134TP

.

TP

4PT A.a.O., S. 202.

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preiszugeben.TPF

5FPT Vor diesem Hintergrund kann er 'die mit sich zerfallene Moderne' nicht

als Scheitern der Moderne bzw. der Aufklärung, sondern als 'ein unvollendetes Projekt'

ansehen:TPF

6FPT "Die Hoffnung auf Emanzipation der Menschen aus selbstverschuldeter

Unmündigkeit und erniedrigenden Lebensumständen hat ihre Kraft nicht verloren."TPF

7FPT

Hegel und Habermas Habermas sieht in der Philosophie des jungen Hegel den ersten Versuch, die Moderne

nicht als gescheitert, sondern als in sich gespalten zu betrachten. Anders gesagt, Hegel

ist der erste Philosoph, der das Problem der 'Entzweiung' der Moderne analysiert. Das

ist der Grund, warum Hegel in seiner früheren Zeit den Begriff einer versöhnenden

Vernunft entwickelt hat und nicht, wie die Postmoderne, den Begriff der Nicht-Vernunft

zur zentralen Kategorie erhebt. "Entzweiung ist der Quell des Bedürfnisses der

Philosophie", TPF

8FPT deren Aufgabe es ist, die Trennung in eine Einheit zu bringen.

In seiner Kritik an den positiven Systemen, wie z. B. an der christlichen Religion und an

der Reflexionsphilosophie, zeigt er, daß die moderne Subjektivität nichts anderes als

eine verengte, einseitige isolierte Reflexion ist.TPF

9FPT Diese Reflexion erlaubt, so Hegel, zwar

eine Emanzipation von der religiösen, mythtischen und metaphysischen Weltsicht, aber

sie führt zu einer dualistischen Entzweiung des Lebens und macht eine lebendige

Einheit von 'privatem und öffentlichem Leben', von 'Sein und Sollen' und von 'Glauben

und Wissen' etc. unmöglich. Der Hauptkritikpunkt von Hegel an der modernen

subjektivistischen Vernunft besteht also darin, daß diese Vernunft zwar eine

Emanzipation von der christlichen Weltanschauung ermöglicht hat, aber daß sie wegen

ihrer strikten Selbstbeziehung keine Einheit mit dem Anderen, wie z. B. mit dem

Glauben, herstellen konnte.

Hegel geht von dieser kritischen Überlegung zum Entwurf einer 'versöhnenden

Vernunft' über, durch die das getrennte Leben wieder vereinigt werden kann. Dieser

TP

5PT Vgl. Ebd.

TP

6PT Habermas hielt bei dem Empfang des 'Adorno-Preises' der Stadt Frankfurt 1980 einen Vortrag, dessen

Titel: "Die Moderne – ein unvollendetes Projekt" lautet. Dieser Titel deutet sehr gut die Zielsetzung von

Habermas an. Dieser Artikel befindet sich in: J. Habermas, Kleine Politische Schriften, Frankfurt/M. 1981.

TP

7PT J. Habermas, Die nachholende Revolution, a.a.O., S. 203.

TP

8PT G. W. F. Hegel, Differenzschrift, S. 12. Hervorhebung im Original.

TP

9PT Vgl. A.a.O., S. 16. Der Jenaer Hegel schlägt statt dieser isolierten Reflexion eine philosophische

Reflexion, d. h. die Vernunft bzw. Spekulation als einen philosophischen Begriff für eine wahre

Vereinigung vor.

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Übergang geht von der Überlegung aus, daß die isolierte Reflexion, d. h. die

subjekphilosophische Vernunft die Aufgabe der Vereinigung des Lebens nicht erfüllen

kann; sie behandelt das Andere in dem erkenntnistheorischen Denkschema von Subjekt

und Objekt und enthält daher praktisch schon einen Keim der Herrschaftsstruktur in sich.

Hegel konkretisiert dagegen in seiner Frankfurter Zeit die Idee der 'versöhnenden

Vernunft' mit Hilfe der Begriffe der Liebe und des Lebens. Liebe bedeutet bei Hegel,

das Andere als notwendige Bedingung für die eigene Existenz anzusehen, also das

Selbst im Anderen zu finden, und Leben bedeutet für ihn, Manigfaltiges und

Einheitliches, Endliches und Unendliches als eine Einheit zu verstehen, ebenso wie ein

Organismus viele Glieder in sich vereint. Hegel bezeichnet vor diesem Hintergrund das

Leben als "die Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung."TPF

10FPT

Es wird also deutlich, daß Hegel das Leben als ein 'Zusammenleben' bzw. als ein

gesellschaftliches Leben versteht. Die positiven Institutionen und die

Reflexionsphilosophie dienen für Hegel nur dem, die Trennung des einzelnen Lebens

vom Zusammenleben zu rechtfertigen, wie anhand der Geschichte Abrahams deutlich

wird, dessen Zerreißung der "Bande des Zusammenlebens und der Liebe"TPF

11FPT ihn zum

Stammvater einer Nation machte, die dem Geist der Trennung verhaftet war. Die

'versöhnende Vernunft' bezweckt also die Wiederherstellung einer sittlichen

Gemeinschaft.

Habermas findet in dem Begriff der 'versöhnenden Vernunft' des jungen Hegel ein

Vorbild seiner Philosophie; durch die Erhebung der Liebe und des Lebens zu einer

Form der Vernunft konnte Hegel die Vernunft nicht mehr als etwas Substanzielles,

sondern als ein Medium betrachten, das das Selbst und das Andere miteinander

verbindet. Hegel entwickelt in der Philosophie des Geistes der Jenaer Zeit den Begriff

der Vernunft als Medium noch systematischer, wo er den subjektiven Geist in Sprache,

Arbeit (bzw. Werkzeug) und Familie (bzw. Liebe) unterteilt; die Funktion der Sprache

besteht in der Darstellung des Verhältnisses zwischen dem erkennenden Subjekt und

dem erkannten Gegenstand, das Werkzeug vermittelt die Natur und das handelnde

Subjekt, und die Liebe bezieht die handelnden Subjekte aufeinander.

Dieser Gedanke unterscheidet sich stark von dem Begriff des Selbstbewußtseins der

Reflexionsphilosophie, den Habermas eine 'narzißtische', transzendentale Subjektivität

nennt, weil er auf dem "reinen, sich auf sich selbst beziehenden Bewußtsein der

TP

10PT G. W. F. Hegel, TW, Bd. 1, S. 422.

TP

11PT A.a.O., S. 277.

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195

ursprünglichen Apperzeption"TPF

12FPT basiert. Der Geist wird dagegen bei Hegel als eine

Einheit zwischen Subjekt und Objekt konzipiert: "Es muß eigentlich weder von einem

solchen Subjekte noch Objekte die Rede sein, sondern vom Geiste." TPF

13FPT Habermas

schreibt dazu: "Anstelle der fruchtlosen Kontroversen der Erkenntnistheorie will Hegel

die Diskussion auf jene 'Medien' lenken, die die Beziehungen zwischen Subjekt und

Objekt bereits vor jeder aktuellen Begegnung strukturieren. Beide Seiten, Subjekt und

Objekt, sind Relata, die nur mit und in ihren Beziehungen zueinander existieren. [...]

Gleichwohl gebraucht Hegel den Terminus 'Geist' für die Medien von Sprache, Arbeit

und Interaktion [...]." TPF

14FPT Wenn das Subjekt in der Welt als ein in den

Weltzusammenhang integrietes Element vorhanden ist, dann kann es keine

philosophische Aufgabe des Subjektes sein, eine Kluft zwischen sich und einem von

ihm separierten Anderen zu überbrücken.

Habermas ist der Ansicht, daß Hegel die problematischen Aspekte der Moderne zwar

richtig erkannt hat, aber keine überzeugende Lösung anbietet. Beispiele dafür sind, daß

Hegel in der Frankfurter Zeit, entgegen dem Bedürfnis der Moderne nach

Selbstbegründung,TPF

15FPT die vormoderne, antike Gesellschaftsform als Vorbild für eine neue

Gesellschaft betrachtete und daß er in der Jenaer Zeit das Problem der modernen

Gegensätze mit dem Begriff des absoluten Geistes zu lösen versuchte, der nichts

anderes ist als eine alle Unterschiede unter sich subsumierende substanzielle Vernunft;

seine zutreffende Kritik an der Aufklärung, von der er sich wegen ihrer Abhängigkeit

von der substanziellen, abstrakten Vernunft abgrenzen möchte, endete nach Habermas

lediglich mit einer Zementierung der substanziellen Vernunft. Habermas betrachtet dies

als die Grenze des mentalistischen Denkens, das seit Descartes die europäische

Philosophie beherrscht.TPF

16FPT

Die Linguistische Wende der Philosophie 1) Die Charakteristik des Sprechens: die Erhebung der Geltungsansprüche

Das ursprüngliche Projekt des jungen Hegel, eine versöhnende Vernunft zu entwerfen,

die die Differenzierung der Moderne als solche anerkennt und gleichzeitig eine rationale

TP

12PT J. Habermas, Wege der Detranszendentalisierung, a.a.O., S. 195.

TP

13PT G. W. F. Hegel, Jenaer Systementwürfe I, in: GW, Bd. 6, S. 205.

TP

14PT J. Habermas, Wege der Detranszendentalisierung, a.a.O., S. 195f.

TP

15PT Siehe zur Auffassung der Moderne den 1. Abschnitt des II. Kapitels in dieser Arbeit.

TP

16PT Siehe dazu J. Habermas, Wege der Detranszendentalisierung, a.a.O., S. 186.

Page 197: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

196

Einheit hervorbringt, kann nach Habermas erst durch den Paradigmenwechsel vom

bewußtseinsphilosophischen zum linguistischen Paradigma verwirklicht werden.

Eine der interessantesten Eigenschaften der Sprache ist nach ihm, daß jeder Sprechakt

immer von einem Geltungsanspruch begleitet wird; jeder konkrete Sprechakt verweist

auf einen bestimmten Kontext, in dem er gültig ist, und setzt damit einen die

Konkretheit dieses Aktes transzendierenden Bereich voraus. Die Äußerung: "Dies ist

ein Kugelschreiber" z. B. verweist um ihrer Gültigkeit willen auf einen bestimmten

Kontext, in dem sie beispielsweise als wahr oder als falsch beurteilt werden kann. Diese

Äußerung erhebt in diesem Fall den Geltungsanspruch der Wahrheit.

Dieses Beispiel zeigt, daß die im Sprechakt vollzogenen Geltungsansprüche als

Ansprüche jeden lokalen Kontext transzendieren und zugleich hier und jetzt erhoben

sowie faktisch anerkannt werden: Die "Geltung transzendiert Räume und Zeiten, 'tilgt'

Raum und Zeit, aber der Anspruch wird jeweils hier und jetzt, in bestimmten Kontexten,

erhoben und mit faktischen Handlungsfolgen akzeptiert oder zurückgewiesen."TPF

17FPT Also

geht es bei der sprachphilosophischen, kommunikativen Reflexion um diese konkrete

und geschichtliche Transzendentalität, während es bei der bewußtseinsphilosophischen,

vorsprachlich-einsamen Reflexion um die formale und überzeitiliche Transzendentalität

geht.TPF

18FPT

Habermas sieht in dieser linguistischen Theorie eine Möglichkeit, sowohl den 'Purismus

der Vernunft' der Kantischen Ethik, die den von der konkreten Realität unabhängigen

Kategorischen Imperativ herstellt, als auch die utilitaristische Ethik des Empirismus zu

überwinden, der keine (rein) vernünftige Realität anerkennt. Die Semi-

Transzendentalität der den Sprechakt begleitenden Geltungsansprüche kann nach

Habermas deutlich machen, daß diese zwei philosophischen Positionen lediglich zwei

Extremfälle sind, die in der Ethik jeweils nur einen Aspekt der Sprechakte

(Tranzendentalität oder Empirizität) berücksichtigen. Die sprachphilosophische Wende

der Philosophie macht die traditionelle philosophische Grundfrage nach dem Verhältnis

von Empirie und Transzendentalität sowie Individualität und Universalität etc.

gegenstandlos.

2) Das Wesen der Sprache: die Kommunikation

Auch die Sprechakttheorie, die für die Habermassche Gesellschaftstheorie eine

entscheidende Rolle spielt, nimmt als eine Sprachtheorie die sprachphilosophische

TP

17PT PDM, S. 375.

TP

18PT A.a.O., S. 371.

Page 198: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

197

Einsicht auf, daß jeden konkreten Sprechakt semi-transzendentale Geltungsansprüche

begleiten. Darüber hinaus sieht sie das Wesen der Sprache in deren kommunikativem

Charakter, nicht in deren Sachverhalte darstellender Funktion. Diese Auffassung der

Sprache unterscheidet sich vor allem von der Wahrheitssemantik bzw. von der

Bedeutungstheorie. Die Bedeutungstheorie geht davon aus, daß die Funktion der

Sprache in der objektiven Darstellung der Tatsachen bzw. der Sachverhalte besteht. Die

Gültigkeit dieser objektiven Darstellung, die mit den Kategorien wahr/falsch zum

Ausdruck gebracht wird, hängt vollständig davon ab, ob das darstellende Subjekt eine

objektive Distanz zu dem dargestellten Objekt, d. h. eine Beobachterperspektive,

einnimmt. Wenn man unter Rationalität, so Habermas, "die Wissenserwerbung und –

verwendung der Subjekte"TPF

19FPT versteht, bemißt sich Rationalität bei dieser

Bedeutungstheorie daran, "wie sich das einsame Subjekt an seinen Vorstellungs- und

Aussageinhalten orientiert."TPF

20FPT Für diese Position ist die objektive Welt bloß das Korrelat

aller wahren assertorischen Sätze. Habermas sieht darin eine sprachphilosophische

Version der modernen Subjektphilosophie bzw. der positivistischen Neigung der

modernen Wissenschaft.

Im Gegensatz zur Bedeutungstheorie geht die Sprechakttheorie davon aus, daß für die

gesellschaftliche und kulturelle Lebensform der Menschen nicht primär der Gebrauch

der Propositionen, die einer Abbildung der Dinge bzw. der Sachverhalte dienen,

entscheidend ist, sondern der kommunikative Gebrauch der propositionell konstituierten

Sprache. Dies schließt ein, daß das Wesen der Sprache in der 'Verständigung über etwas

in der Welt' liegt. Bei diesem Gedanke ist also immer die Interaktion zwischen

Subjekten vorausgesetzt. Die Interaktionsteilnehmer nehmen nicht eine objektive

Beobachterperspektive für die Darstellung der Sachverhalte ein, sondern eine

Teilnehmerperspektive, von der aus sie durch den Austausch ihrer Meinungen

bestimmte Resultate erreichen können. Bei dieser Theorie bemißt sich Rationalität an

der "Fähigkeit zurechnungsfähiger Interaktionsteilnehmer, sich an Geltungsansprüchen,

die auf intersubjektive Anerkennung angelegt sind, zu orientieren", und die

Rationalitätsmaßstäbe der kommunikativen Vernunft finden sich in "den

argumentativen Verfahren der direkten oder indirekten Einlösung von Ansprüchen auf

TP

19PT Vgl. TkH 1, 25f. und PDM, S. 366.

TP

20PT PDM, S. 366.

Page 199: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

198

propositionale Wahrheit, normative Richtigkeit, subjektive Wahrhaftigkeit und

ästhetische Stimmigkeit."TPF

21FPT

Die Sprechakttheorie geht von der These aus: "etwas sagen [heißt] etwas tun."TPF

22FPT Dies

bedeutet, daß die Funktion eines Sprechaktes nicht in dem Abbild der Dinge bzw. der

Sachverhalte, sondern in der Kommunikation besteht, die als eine Interaktion der

Subjekte auf eine bestimmte Verständigung abzielt. Nach dieser Theorie enthalten

elementare Sprechakte wenigstens drei Bestandteile: 1) den propositionalen

(lokutionären) Akt, in dem die Sachverhalte objektiv dargestellt werden, 2) den

performativen (illokutionären) Akt, der den Sprecher und den Hörer in eine

intersubjektive Verbindung bringt, und 3) den expressiven (perlokutionären) Akt, in

dem sich die Intention des Sprechers zeigt.TPF

23FPT

Wenn alle Sprechakte aus den aufeinander nicht reduzierbaren drei verschiedenen

Bestandteilen bestehen, muß jeder Sprechakt, endsprechend jenem

sprachphilosophischen Prinzip: 'jeder Sprechakt erhebt Geltungsansprüche', unter drei

Geltungsaspekten analysiert werden. Ein Hörer kann z. B. eine Äußerung eines

Sprechers zurückweisen, weil sie entweder objektiv nicht wahr, normativ nicht richtig

oder subjektiv nicht wahrhaftig ist. Im ersten Fall fungiert die objektive Wahrheit, im

zweiten die normative Richtigkeit und im dritten die subjektive Wahrhaftigkeit als

Geltungskriterium der Aussage. Aus der Sicht der Sprechakttheorie wird also die

Geltung einer Äußerung nicht bloß auf die Problematik der Wahrheit reduziert;

vielmehr bezieht sich eine Äußerung je nach dem Kontext auf verschiedene,

aufeinander nicht reduzierbare Geltungsbereiche.TP

F

24FPT

TP

21PT Ebd.

TP

22PT John L. Austin, Zur Thoerie der Sprechakte, a.a.O., S. 35.

TP

23PT Siehe dazu PDM, S. 363.

TP

24PT Wie ein Satz kommunikativ benutzt wird, zeigt Habermas durch einen exemplarischen Satz (TkH 1, S.

411f.); wenn ein Professor einen Seminarteilnehmer auffordert: "Bitte, bringen Sie mir ein Glas Wasser!",

kann der aufgeforderte Seminarteilnehmer diese Aufforderung prinzipiell im Hinblick auf die drei

Geltungsansprüche ablehnen: 1) "Nein, Sie können mich nicht wie einen Ihrer Angestellten behandeln."

2) "Nein, eigentlich haben Sie ja nur die Absicht, mich vor anderen Seminarteilnehmern in ein schiefes

Licht zu bringen." 3) "Nein, die nächste Wasserleitung ist so weit entfernt, daß ich vor Ende der Sitzung

nicht zurück sein könnte." Er stellt bei der ersten Antwort die normative Angemessenheit der Äußerung

des Professors in Frage, bei der zweiten die subjektive Wahrhaftigkeit und bei der dritten die

Exsistenzpräsuppositionen der Aussage. Dieses Beispiel verdeutlicht, daß sich ein kommunikatives

Handeln je nach den Handlungskontexten ganz verschieden entwickeln kann.

Page 200: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

199

Hier ist zu betonen, daß die Sprechakttheorie die Welt nicht nur als die Gesamtheit von

Gegenständen oder existierenden Sachverhalten begreift, wie es die Ontologie der

Bewußtseinsphilosophie tut; außer der Welt des Objektiven werden auch die Welt des

Normativen sowie die Welt des Subjektiven postuliert. "Mit jedem Sprechakt bezieht

sich der Sprecher gleichzeitig auf etwas in der objektiven, in einer gemeinsamen

sozialen und in seiner subjektiven Welt."TPF

25FPT Der kommunikativ verstandene Sprechakt

besteht also darin, daß das Subjekt den Gegenstand durch die Interaktion mit anderen

Subjekten reflexiv rekonstruiert.

Die Habermassche Anwendung der Sprechakttheorie auf die

Handlungs- und die Gesellschaftstheorie Habermas nimmt den Grundgedanken der Sprechakttheorie als Grundlage für eine neue

Handlungs- bzw. Gesellschaftstheorie. Die menschlichen Handlungen werden

gewöhnlich als eine Form der Zwecktätigkeit begriffen, mit der "ein Aktor in die Welt

eingreift, um durch die Wahl und den Einsatz geeigneter Mittel gesetzte Ziele zu

realisieren."TPF

26FPT Durch die Arbeit, eine besondere Form dieser Zwecktätigkeit, will das

Subjekt den gegebenen Gegenstand zu seinem Zweck verändern. Die Arbeit kann also

als ein Ausdruck der Zweck-Mittel-Beziehung verstanden werden. Über dieses

instrumentelle Handeln herrscht daher die instrumentelle Rationalität bzw. die

Zweckrationalität. Die klassische Sozialwissenschaft wie z. B. bei K. Marx betrachtet

diese Zwecktätigkeit als ihren Hauptgegenstand.

Habermas versteht diese Handlungstheorie, die das Objekt als das ansieht, was vom

Subjekt bearbeitet wird oder werden muß, als eine sozialwissenschaftliche Version der

Subjektsphilosophie. Bei der Subjektsphilosophie wird "Wissen ausschließlich als

Wissen von etwas in der Welt"TPF

27FPT verstanden, und der Handlungserfolg hängt vollständig

davon ab, ob das Subjekt seine Beziehung zur Welt möglicher Objekte richtig beurteilen

kann. Wenn man die sprachpragmatischen Annahmen – 1) jeder Sprechakt erhebt

Geltungansprüche, die über den konkreten Kontext hinausgehen, 2) es gibt mindestens

drei verschiedene Bestandteile in dem Sprechakt und dementsprechend drei

Geltungsbereiche und 3) der Sprechakt zielt auf die Verständigung ab – auf diesen

Handlungsbegriff anwendet, kann ein ganz anderer Typ der Handlung zum Vorschein

TP

25PT PDM, S. 365.

TP

26PT ND, S. 63.

TP

27PT PDM, S. 366.

Page 201: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

200

kommen. Habermas nennt ihn 'sprachlich vermittelte Interaktion', also 'kommunikatives

Handeln'.

Habermas unterscheidet das kommunikative Handeln nicht nur von jenem einfachen

instrumentellen Handeln, sondern auch vom reinen Sprechakt. Der reine Sprechakt wird

bei der Sprechakttheorie als eine Handlung unter vielen menschlichen Handlungen

angesehen. Habermas geht aber bei seiner Konzeption des kommunikativen Handelns

davon aus, daß jedes menschliche Handeln sprachlich vermittelt ist und daß es somit auf

die Verständigung abzielt. Dies ist der Grund, warum Habermas die Sprechakttheorie

zur 'Universalpragmatik' verallgemeinert. Kommunikatives Handeln ist daher weder

eine Handlung, die von der Beziehung des einsamen Subjektes zum Objekt ausgeht,

noch ein Sprechakt, der bloß auf eine kognitive Verständigung abzielt, sondern eine

Interaktion der sprech-handelnden Subjekte, die sich auf die praktische Verständigung

richtet. Das kommunikative Handeln läßt sich entsprechend den drei Bestandteilen des

Sprechaktes und dessen drei Geltungsansprüchen jeweils in strategisches, normatives

und dramaturgisches Handeln unterteilen.

Strategisches Handeln, das dem propositonellen Gebrauch des Sprechaktes entspricht,

ist ein anderer Name für die utilitaristische Seite des kommunikativen Handelns, die auf

die Realisierung eines Zwecks durch die Wahl der erfolgversprechenden Mittel und

deren Anwendung abzielt. Die Interaktionsbeteiligten erscheinen hier als egozentrische

bzw. erfolgsorientierte Subjekte. Dieses Handeln findet sich besonders im

Tauschverhältnis in dem ökonomischen sowie im Machtverhältnis im politischen

Bereich. Die Gesellschaft ist von diesem Standpunkt aus betrachtet als 'eine

instrumentelle Ordnung', die die Handlungsgrenze der erfolgsorientiert handelnden

Subjekte bestimmt.

Normatives Handeln, das dem illokutionären Gebrauch des Sprechaktes entspricht, ist

eine Handlung, die von den anderen Mitgliedern einer Gruppe erwartet wird. Die

Gesellschaft ist hier nichts anderes als ein System anerkannter Normen.

Dramaturgisches Handeln, das dem perlokutionären Gebrauch des Sprechaktes

entspricht, ist eine Handlung, durch die die Interaktionsbeteiligten füreinander das

Publikum bilden und bei der ein Aktor sich selbst vor dem Publikum präsentiert, indem

er sich selbst kontrolliert. Bei diesem Hadeln geht es um die Selbstrepräsentation des

Subjektes.

Die sprachtheoretische Wende der Handlungstheorie zeigt, daß einerseits die vom

teleologischen Handlungsbegriff ausgehende traditionelle Handlungstheorie nur eine

Page 202: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

201

sehr begrenzte Gültigkeit hat und nicht alle Formen der Handlungen berücksichtigt.

Andererseits können alle Geltungsansprüche, also die Wahrheit (bzw. Nützlichkeit) bei

dem teleologischen (bzw. strategischen), die Richtigkeit bei dem normativen und die

Wahrhaftigkeit bei dem dramaturgischen Handeln, nur innerhalb der Kategorie der

'Verständigung' bei dem komunikativen Handeln sinnvoll betrachtet werden. Aus dieser

Sicht erscheinen die oben beschriebenen drei Handlungstypen als 'Grenzenfälle' des

kommunikativen Handelns.

Ideale Sprechsituation: Die bei jedem Sprechakt vorausgesetzten Geltungsansprüche

bedeuten die Einbeziehung des Aktors in einen universellen Diskurs. Die Mitglieder

einer Gemeinschaft können in einem bestimmten Konfliktfall mit Hilfe dieser

Geltungsansprüche einen Platz jenseits der bestehenden Ordnung einnehmen, von dem

aus sie auch einen Konsens über die gewandelten Sitten und über die Neudefinition von

Werten erzielen können. Anders gesagt, die Interaktionsteilnehmer setzen immer eine

ideale Sprechsituation voraus, die "die Idee einer unversehrten Intersubjektivität"

beinhaltet, die nichts anderes als "symmetrische Verhältnisse freier reziproker

Anerkennung" TPF

28FPT meint. Habermas grenzt sich aber dabei von dem Versuch ab, die Idee

der idealen Sprechsituation zur Totalität einer versöhnten Lebensform auszumalen und

als Utopie in die Zukunft zu projizieren. Er beschreibt mit dieser Idee die notwendigen

Bedingungen für nicht antizipierbare Formen eines nicht verfehlten Lebens. Von

zentraler Bedeutung sind dabei nicht die materiellen Inhalte einer nicht verfehlten

Lebensform, sondern die formale Wichtigkeit des "eigenen, nicht etwa konfliktfreien,

aber solidarischen Zusammenwirkens"TPF

29FPT der Beteiligten, damit ein besseres Leben

überhaupt realisiert werden kann. In dieser Idee konkretisiert Habermas daher eine in

den Bedingungen des kommunikativ erreichten Konsenses ausgedrückte Rationalität, d.

h. die prozedurale Rationalität.

Lebenswelt: Während das Konzept eines nicht verfehlten Lebens bei Habermas als ein

Idealtypus fungiert, drückt die Lebenswelt die konkrete Totalität des sittlichen Lebens

aus; die Lebenswelt ist den verständigungsorientiert handelnden Subjekten immer nur

'mitgegeben' und kann niemals thematisiert werden. Die Sprechsituation, die die

Handelnden in bestimmte Kontexte einbindet, weist auf ihre Beziehung zur Lebenswelt

hin. Die Lebenswelt kann selbst nicht thematisiert werden und fungiert bei den

konkreten Sprechsituationen nur als 'Ressource' der Interaktionsbeteiligten. Je nach der

TP

28PT ND, S. 185.

TP

29PT A.a.O., S. 186.

Page 203: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch

202

Sprechsituation erscheint die Lebenswelt, entsprechend der Triade der Sprechakttheorie,

mal als Totalität des traditionell anerkannten Wissens (als Kultur), mal als Totalität der

gebräuchlichen Normen (als Gesellschaft) und mal als Totalität der Sozialisation der

Individuen (als Person).

Reproduktion der Lebenswelt: Wenn die Lebenswelt nicht thematisiert werden kann

und bei jedem Handeln stets 'präreflexiv' bleibt, wie kann die Reproduktion der

Lebenswelt aufgefaßt werden? Habermas erfaßt diesen Vorgang als wechselseitige

Beziehung zwischen der Lebenswelt und der kritischen Reflexion der sprech-

handelnden Subjekte. Während die vorsprachliche einsame Reflexion des

Erkenntnissubjektes sich objektivierend auf sich bezieht und daher eine

weltkonstituierende Stellung einnimmt, hat die kommunikative Reflexion eine andere

Ausrichtung; jedes konkrete kommunikative Handeln beinhaltet die Geltungsansprüche,

über die die Interaktionsteilnehmer mit ihren Ja/Nein-Stellungnahmen streiten können;

dieser argumentative Streit über die Geltungsansprüche setzt also schon eine

Reflexionsform voraus, die die Selbstbeziehung des Subjekts mit dem intersubjektiven

Gegenüber von Proponenten und Opponenten vermittelt. Dies besagt, daß beim Verlauf

der Argumentationen schon die Momente der Selbstreflexion der Sprecher

vorausgesetzt sind und die Reflexion sich daher nicht auf das Ganze der Lebenswelt

bzw. das lebensweltliche Hintergrundwissen bezieht, sondern sie nur indirekt die

Lebenswelt ändert, indem sie die bis dahin anerkannten Deutungsmuster transformiert.

Diese Reflexion ist also keine weltkonstituierende Fähigkeit des einsamen Subjekts,

sondern eine Rekonstruktionsfähigkeit einer intersubjektiven Gemeinschaft.

Der Strukturwandel der Lebenswelt bedeutet bei Habermas, neu auftretende Situationen

an die bestehenden Weltzustände anzuschließen.TPF

30FPT Es geht dabei um die Verstärkung

der Kontinuität einer kulturellen Überlieferung durch die diskontinuierenden Mittel der

Kritik, um die Festigung der Solidarität in Lebenszusammenhängen durch die riskanten

Mittel des universalistischen Verfahrens diskursiver Willensbildung sowie um die

Stabilisierung eines Prozesses der Vergesellschaftung durch das Mittel der erweiterten

Spielräume für Individuierung. Die 'Reproduktion der Lebenswelt' dient also der

Überlieferung kulturellen Wissens und dessen Erneuerung in der kulturellen Dimension,

der sozialen Integration und der Herstellung neuer Formen der Solidarität in der

räumlichen, sozialen Dimension und der Ausbildung von personalen Identitäten in der

zeitlichen, historischen Dimension. Die Lebenswelt reproduziert sich also allein durch

TP

30PT Siehe dazu TkH 2, S. 209 und PDM, S. 398.

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203

eine dialektische Einheit von Kontinuität und Bruch, d. h. durch "eine

Traditionsfortsetzung und -erneuerung, die sich zwischen den Extremen der bloßen

Fortschreibung von, und eines Bruches mit Traditionen bewegt."TPF

31FPT

Kolonialisierung der Lebenswelt: Die Darstellung des Strukturwandels der

Lebenswelt enthält die Antwort von Habermas auf 'die Paradoxie der Rationalisierung',

die darin besteht, daß die sozialpathologischen Probleme der Moderne durch die

Rationalisierung paradoxerweise verstärkt werden. Die Analyse der Wechselwirkung

zwischen der konstituiven Autonomie des Subjekts und der Funktionsweise der

Lebenswelt, die jene Autonomie einschränkt, ist ein wesentlicher Bestandteil der

Habermasschen Gesellschaftstheorie. Diese Theorie widmet somit dem

Spannungsverhältnis zwischen der Tendenz des Subjekts, die Lebenswelt zu

vergegenständlichen, und der Charakteristik der Lebenswelt, sich von solcher

Vergegenständlichung immer wieder zu entziehen, besondere Aufmerksamkeit. Sie

unterscheidet sich damit vor allem von der Auffassung der Gesellschaft als System, die

heutzutage bei der Analyse der 'Tausch- und Machtverhältnisse' vorherrscht. Habermas

ist der Ansicht, daß die Systemtheorie die Lebenswelt unzulässigerweise

vergegenständlicht, d. h. technisiert. Die Systemtheorie ist nach Habermas eine

Variation der klassischen Gesellschaftstheorie, die die gesellschaftlichen Systeme aus

der Perspektive des auf der Zweckrationalität beruhenden instrumentellen Handelns

ananlysiert. Die klassische Gesellschaftstheorie ist wiederum eine

gesellschaftsphilosophische Version der Subjektphilosophie, die als Ausdruck des

modernen Denkens angesehen wird, das von einer instrumentell verkürzten Vernunft

ausgeht. Von daher läßt sich nach Habermas 'die Paradoxie der Rationalisierung' durch

die Systemtheorie nicht auflösen, obwohl sie sich mit dieser Paradoxie gründlich

beschäftigt.

Im Gegensatz dazu entwirft Habermas eine zweistufige Gesellschaftstheorie von

System und Lebenswelt. Der Ausgang vom System betont hierbei die

Beobachterperspektive und die konstituive Fähigkeit des Subjekts, sich etwas zum

Objekt machen zu können. Die Einbeziehung der Lebenswelt betont im Gegenzug die

Teilnehmerperspektive des Subjekts und dessen Abhängigkeit von der Allgemeinheit.

Das Wesen der Modernisierung besteht nun nach Habermas in einer massiven

Verdrängung der Kommunikationsstruktur der Lebenswelt durch das System, das zu

einer Überhandnahme der Zweckrationalität in der Gesellschaft führt. Diese Zerstörung

TP

31PT TkH 2, S. 210.

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204

des Gleichgewichtes zwischen System und Lebenswelt nennt Habermas die "systemisch

induzierte Lebensweltpathologie" bzw. "die Kolonialisierung der Lebenswelt".TPF

32FPT

Habermas versucht mit dieser zweistufigen Gesellschaftstheorie von System und

Lebenswelt die Autonomie des einzelnen Subjekts und gleichzeitig dessen

Abhängigkeit von der Lebenswelt, die Kontinuität der Geschichte und deren

Diskontinuität sowie die Kritik an der Kultur und die Aufnahme der kulturellen

Überlieferungen etc. in einer Theorie zu vereinigen. Hiermit erhellt sich seine Absicht,

durch diese Theorie die zeitgenössische Kritik an der Moderne aufzunehmen und

dennoch eine von der Rationalität ausgehende Gesellschaftstheorie zu entwerfen.

Die 'Vernunft' in der Theorie von Habermas Habermas versteht die sittliche Totalität des jungen Hegel als die "reziproken

Anerkennungsverhältnisse eines intersubjektiv konstituierten Lebenszusammenhangs"TPF

33FPT

bzw. als die "Formen des vernünftigen Zusammenlebens". TPF

34FPT Die Realisierung dieser

Idee ist nach ihm nur mit dem Paradigmenwechsel von der Subjektivität zur

Intersubjektivität möglich. Denn das vernünftige Zusammenleben heißt bei ihm,

"Autonomie und Abhängigkeit in ein befriedetes Verhalten"TPF

35FPT einzutreten.

Der Gedanke der Autonomie des Subjekts und dessen Abhängigkeit von der

Gesellschaft enthält die Habermassche Antwort auf die alte metaphysische Frage nach

dem Verhältnis zwischen dem Einen und Vielen, der Vernunft und dem Anderen, dem

Allgemeinen und dem Besonderen sowie der Notwendigkeit und dem Akzidentellen etc.

Die Metaphysik, das Besondere nur relativ zum Allgemeinen betrachtet, bringt nach

Habermas wegen dieser "gewaltigen Abstraktion" TPF

36FPT die drei unlösbaren philosophischen

Probleme mit sich: (1) das Problem des Verhältnisses von Identität und Differenz, (2)

das Problem der Individualität und (3) das Unbehagen am affirmativen Denken.TPF

37FPT

Diese Probleme der metaphysischen All-Einheitslehre rechtfertigen aber den

postmodernen bzw. kontextualistischen Versuch nicht, die Einheit der Vernunft

vollständig zu verneinen und die Vielheit, das Andere und die Differenz etc. zum

TP

32PT TkH 2, S. 293.

TP

33PT PDM, S. 40.

TP

34PT NU, S. 202.

TP

35PT J. Habermas, Die nachholende Revolution, a.a.O., S. 202.

TP

36PT ND, S. 156.

TP

37PT Siehe dazu oben S. 171ff.

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205

Prinzip der Philosophie zu erheben. Denn eine Stimmungslage der Zeit "ersetzt noch

keine Argumente."TPF

38FPT

Habermas versucht in dieser Problemlage, die von der Einheit der Vernunft ausgehende

metaphysische und die kontextualistische Position miteinander zu verbinden, die davon

ausgeht, daß die Entstehung und die Tätigkeit der Vernunft durchaus akzidentiell sind.

Die kommunikative Vernunft, die Wert auf den Verfahrensbegriff der

argumentgeleiteten Kommunikation legt, richtet sich darauf, unter bestimmten

Bedingungen die Wahrheit einer bestimmten Aussage oder die Richtigkeit einer

Handlung herauszufinden. Es geht bei dieser Vernunft um das Abwägen von Gründen

und Gegengründen, durch das erst die Erkenntnis der Wahrheit von Aussagen und der

Richtigkeit einer Handlung erreicht werden kann.

Die Theorie der kommunikativen Vernunft steht daher genau zwischen einem

Relativismus und einem Objektivismus in dem Sinne, daß diese Vernunft einerseits alle

historischen Tatsachen und sogar die Entstehung der Vernunft selbst als kontingent

ansieht und andererseits die Eigenschaft des Mediums sprachlicher Verständigung

anerkennt, die Grenzen angeblich inkommensurabler Welten zu transzendieren. Dieser

Vernunftbegriff erscheint deshalb zwar aus der Sicht der Objektivisten als 'zu schwach',

aber aus der Sicht der Relativisten als 'zu stark',TPF

39FPT aber er entwickelt eine "schwache,

aber nicht defaistische"TPF

40FPT Einheit, in der die Vielheit miteinbezogen ist, indem er den

metaphysischen Vorrang der Einheit vor der Vielheit sowie den kontextualistischen

Vorrang der Vielheit vor der Einheit als zwei Seiten derselben Medaille betrachtet.

Die Bemühung, das Rationalitätsideal der Aufklärung fortzuführen, kann daher nur in

abgemilderter Form verwirklicht werden. Dies ist der Grund, warum Habermas den

Begriff der "transitorischen Einheit" entwickelt hat, "die sich in der porösen und

gebrochenen Intersubjektivität eines sprachlich vermittelten Konsenses herstellt"TPF

41FPT und

damit die Pluralisierung der Lebensformen sowie die Individualisierung der Lebensstile

ermöglicht. Er formuliert diese Einheit als "Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer

Stimmen".TPF

42FPT

Die Theorie des kommunikativen Handelns stellt aber andere Probleme her, die daraus

entstehen, daß es nicht einfach ist, den wechselseitigen Bedingungszusammenhang von TP

38PT A.a.O., S. 172.

TP

39PT A.a.O., S. 154.

TP

40PT A.a.O., S. 182.

TP

41PT A.a.O., S. 180.

TP

42PT A.a.O. S. 115.

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206

kommunikativem Handeln und Lebenswelt genau vorzustellen; die Lebenswelt fungiert

als 'Ressource' des kommunikativen Handelns, und der kommunikativ Handelnde wird

als Subjekt angesehen, das durch die ungezwungene Kommunikation mit den Anderen

einen Konsens erreichen kann; wenn man aktzeptiert, daß das Transzendieren der

gegebenen vorbewußten Bedingungen für die Kritik als Kernbegriff der Rationalität

notwendig ist, wie kann der lebensweltabhängig kommunikativ Handelnde wirklich

einen ungezwungenen Konsens erreichen?

Der Grund, daß Habermas von entgegengesetzten Positionen gleichzeitig kritisiert wird,

liegt darin, daß die Problematik der Totalität bei dem Begriff des kommunikativen

Handelns einerseits und die der Reflexionsfähigkeit des Subjekts bei dem der

Lebenswelt andererseits nicht ausreichend berücksichtigt werden können.

1) Kritik an dem kommunikativen Handeln:

Habermas verbindet mit Hilfe der Sprachphilosophie den Begriff der Rationalität mit

den Begriffen 'Einverständnis', 'Verständigung' sowie vor allem 'ungezwungener

Kooperation'. Die Idee der 'Zwanglosigkeit', eines der zentralen Begriffe der

Habermasschen Rationalitätstheorie, spiegelt einen modernen rationalistischen

Optimismus wider, der von der Autonomie des Subjekts und auch von der Möglichkeit

einer grundsätzlichen Kritik an der Kultur ausgeht. In der Tat deutet er selbst auf eine

Möglichkeit der Kritik an dem gesamten kulturellen Bereich hin: "Die kulturelle

Überlieferung muß ein reflexives Verhältnis zu sich selbst gestatten; sie muß ihrer

Dogmatik soweit entkleidet sein, daß die durch Tradition gespeisten Interpretationen

grundsätzlich in Frage gestellt und einer kritischen Revision unterzogen werden

dürfen." TPF

43FPT

Aber wenn die Interaktionsbeteiligten nicht vollständig frei von äußeren sowie von

internalisierten Zwängen sind, ist diese grundsätzliche Kritik an der Kultur möglich?

Können sich die Interaktionsbeteiligten des Sinns ihrer Aussagen und ihres Tuns

vollständig bewußt sein? Können die sprachlich strukturierten Weltbilder einfach als

von Menschen konstituierte Interpretationen betrachtet werden, die vollständig der

Kritik offen sind? Diese Fragestellungen sind daran angeschlossen, ob ungezwungenes,

bewußtes, rationales Einverständnis überhaupt möglich ist, wenn die Beteiligten

unvermeidlich von der vorbewußten Tiefenstruktur der Symbole geprägt sind.

In seiner Rationalitätstheorie scheint Habermas – entgegen seiner Absicht – die

Abhängigkeit der Menschen von den unbewußt wirkenden Strukturen der Lebenswelt

TP

43PT TkH 1, S. 109.

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zu unterschätzen. Um seiner These gerecht zu werden, daß die Rationalität des

Menschen nicht in der vollständigen Befreiung von solchen Strukturen liegt, sondern

nur in dem Maße verwirklicht werden kann, in dem Kooperation innerhalb der

Strukturen der Lebenswelt zustande kommt, müßte Habermas statt der Vorstellung der

Zwanglosigkeit die empirischen Tatsachen stärker in seiner Theorie berücksichtigen.

Die Erfahrung lehrt, daß es nicht einfach ist zu beurteilen, ob moderne Weltdeutungen,

die häufig arationale Momente enthalten, wirklich irrational sind. Aus diesem Grund ist

Alexander der Ansicht, daß die Rationalitätstheorie von Habermas, da sie das sprech-

handelnde Subjekt zu stark akzentuiert, die vorbewußten Strukturen des Kulturcodes

unterschätzt und insofern in den Verdacht gerät, daß sie "in antagonistischer Beziehung

zur Kultur"TPF

44FPT steht.

Diese Kritik weist also darauf hin, daß die Habermassche Theorie ebenfalls dem Ideal

der modernen Subjektphilosophie verhaftet ist, die zwar von der Idee der absoluten

Autonomie des transzendentalen Subjekts ausgeht, aber mit der Paradoxie der

Rationalität endet.

2) Kritik an der Lebenswelt: Der Begriff der Lebenswelt führt zu einer ganz anderen

Kritik. Habermas versucht mit Hilfe des Begriffs der Lebenswelt einerseits die Idee der

Totalität der Gesellschaft zu rekonstruieren und andererseits die Beziehungen der

einzelnen Handlungen zur Lebenswelt darzustellen. Es ist aber fraglich, ob die

Lebenswelt ein wissenschaftlicher oder philosophischer Begriff sein kann, wenn selbst

die Wissenschaft, die dieses Weltkonzept zu einem wissenschaftlichen Begriff erhebt,

nach Luhmann paradoxerweise aus diesem Weltbegriff entsteht. Der Begriff der

Lebenswelt führt also in eine Paradoxie. Luhmann fragt vor diesem Hintergrund

ironisch: "Aber was hilft die Umsetzung eines Problems in eine Paradoxie?"TPF

45FPT

Der Begriff der Lebenswelt von Habermas scheint außerdem die Leistungen der

Moderne zu unterschätzen; dieser Begriff relativiert den Begriff der Reflexion, der als

der Ausgangspunkt der modernen Philosophie gelten kann. 'Reflexion' ist nach Henrich

ein Grundterminus im Denken der Moderne, der nichts anderes meint als "das

Bewußtsein von den Unterschieden zwischen den Verständigungsarten, welche sich in

der Spontaneität des bewußten Lebens ausgebildet haben", und "eine Distanznahme zu

den primären Tendenzen der Verstehensarten und Selbstbeschreibungen insgesamt."TPF

46FPT

TP

44PT J. Alexander, Habermas' neue Kritische Theorie: Anspruch und Probleme, a.a.O., S. 103.

TP

45PT N. Luhmann, Intersubjektivität oder Kommunikation, a.a.O., S. 49.

TP

46PT D. Henrich, Was ist Metaphysik - was Moderne? - Zwölf Thesen gegen J. Habermas. a.a.O., S. 18f.

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Die Reflexion ist also ein Resultat der anstrengenden Bemühungen des menschlichen

Denkens, sich der Unmittelbarkeit des Seins zu entziehen. Aber mit der Einführung des

Lebensweltbegriffs bringe Habermas nach Henrich nur "eine längst verlorene

Unmittelbarkeit"TPF

47FPT oder eine metaphysische Einheit in Umlauf und könne dadurch den

Begriff der Reflexion und dessen Vorzüge nicht angemessen würdigen.

TP

47PT Ebd.

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* Lebenslauf 1964: Geboren in Kohung in S-Korea 1984-1990: Philosophiestudium an der Yonsei Uni. in Seoul(Magisterarbeit: Kritik der Positivitaet vom jungen Hegel) 1991-1992: Militaerdienst 1992-1995: Doktorand an der Uni. Yonsei in Seoul 1993-1995: Dozent an der Uni. Yonsei in Seoul 1996-2003: Promotion an der Ruhr Universitaet Bochum(Dissertation: Von der Subjektivitaet zur Intersubjektivitaet - Die Auseinandersetzung von Habermas mit der Subjektivitaetsphilosophie