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1 „Der Acker wandert zum besseren Wirt“? Agrarwachstum ohne preisbildenden Bodenmarkt im Westfalen des 19. Jahrhunderts Von Georg Fertig 1. Einführung „Der Acker wandert zum besseren Wirt“: so lautet ein Gemeinplatz der modernen Wirtschaftswissenschaft. 1 Er benennt eine wichtige Funktion von Märkten, nämlich Ressourcen dorthin umzulenken, wo sie am besten verwendet werden. Die Formel postuliert eine sich von selbst durchsetzende ökonomische Marktgesetzmäßigkeit, keine politische Zielvorstellung, und wird etwa im Zusammenhang von Firmenübernahmen und Fusionen herangezogen. 2 Merkwürdig ist freilich, dass sie im Widerspruch zu ihrem Wortlaut gerade auf den heutigen landwirtschaftlichen Bodenmarkt kaum Anwendung findet. 3 Im 20. und 21. Jahrhundert wurde und wird gerade dem landwirtschaftlichen Bodenmarkt wenig Allokationseffizienz zugetraut. 1971 konstatierte der Volkswirt Dieter Duwendag, der Bodenmarkt habe „seine ihm gegebene Chance, unter liberalen Bedingungen in wirtschaftlich und sozial befriedigender Weise zu funktionieren, vertan“. 4 Nach Oswald von Nell-Breuning 1 Die „notwendige Bewegung des Bodens zum tüchtigsten Wirt“ gilt als „geflügeltes Wort“ Friedrich Aereboes. Bei Aereboe handelt es sich allerdings um eine normative Vorstellung, siehe Karl Brandt, Aereboes Beitrag zur Agrarpolitik und Ernährungswirtschaft der Welt, in: Arthur Hanau u.a. (Hg.), Friedrich Aereboe. Würdigung und Auswahl aus seinen Werken aus Anlaß der 100. Wiederkehr seines Geburtstages, Hamburg/Berlin 1965, S. 39- 63, hier S. 61, sowie Friedrich Aereboe, Agrarpolitik. Ein Lehrbuch, Berlin 1928, S. 321. 2 Z.B.: Siegfried Utzig, Feindliche Übernahmen. Der Acker wandert zum besseren Wirt, in: Die Bank 7, 1997, S. 430-433. 3 Allenfalls fordern bäuerliche Interessensverbände: „Grund und Boden dürfen nur zum besseren Wirt wandern!“ (Homepage des Bauernbunds Brandenburg, http://www.deutscher-landwirte-verband.de/parolen.html, 21.8.2003); gemeint ist Schutz vor dem Markt: „...und nicht zum reicheren Kaufmann“ (Landwirtschaftsminister Till Backhaus (SPD), laut Pressemitteilung des Ministeriums für Ernährung, Landwirtschaft, Forsten und Fischerei Mecklenburg-Vorpommern vom 1.7.2002). 4 Dieter Duwendag, Bodenmarkt und Bodenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, in: Schmollers Jahrbuch 91, 1971, S. 583. Zeitlicher Bezug der Aussage: nach der

Von Georg Fertig Er benennt eine wichtige Funktion … · 1957, S. 235-244; Ders., Gerechter Bodenpreis, Mannheim/Ludwigshafen 1970. 6 Übersicht bei [Bas van Bavel, The Land Market

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„Der Acker wandert zum besseren Wirt“? Agrarwachstum ohne preisbildenden Bodenmarkt

im Westfalen des 19. Jahrhunderts

Von Georg Fertig

1. Einführung

„Der Acker wandert zum besseren Wirt“: so lautet ein Gemeinplatz der modernen

Wirtschaftswissenschaft.1 Er benennt eine wichtige Funktion von Märkten, nämlich

Ressourcen dorthin umzulenken, wo sie am besten verwendet werden. Die Formel postuliert

eine sich von selbst durchsetzende ökonomische Marktgesetzmäßigkeit, keine politische

Zielvorstellung, und wird etwa im Zusammenhang von Firmenübernahmen und Fusionen

herangezogen.2 Merkwürdig ist freilich, dass sie im Widerspruch zu ihrem Wortlaut gerade

auf den heutigen landwirtschaftlichen Bodenmarkt kaum Anwendung findet.3 Im 20. und 21.

Jahrhundert wurde und wird gerade dem landwirtschaftlichen Bodenmarkt wenig

Allokationseffizienz zugetraut. 1971 konstatierte der Volkswirt Dieter Duwendag, der

Bodenmarkt habe „seine ihm gegebene Chance, unter liberalen Bedingungen in wirtschaftlich

und sozial befriedigender Weise zu funktionieren, vertan“.4 Nach Oswald von Nell-Breuning

1 Die „notwendige Bewegung des Bodens zum tüchtigsten Wirt“ gilt als „geflügeltes Wort“

Friedrich Aereboes. Bei Aereboe handelt es sich allerdings um eine normative Vorstellung,

siehe Karl Brandt, Aereboes Beitrag zur Agrarpolitik und Ernährungswirtschaft der Welt,

in: Arthur Hanau u.a. (Hg.), Friedrich Aereboe. Würdigung und Auswahl aus seinen

Werken aus Anlaß der 100. Wiederkehr seines Geburtstages, Hamburg/Berlin 1965, S. 39-

63, hier S. 61, sowie Friedrich Aereboe, Agrarpolitik. Ein Lehrbuch, Berlin 1928, S. 321.2 Z.B.: Siegfried Utzig, Feindliche Übernahmen. Der Acker wandert zum besseren Wirt, in:

Die Bank 7, 1997, S. 430-433.3 Allenfalls fordern bäuerliche Interessensverbände: „Grund und Boden dürfen nur zum

besseren Wirt wandern!“ (Homepage des Bauernbunds Brandenburg,

http://www.deutscher-landwirte-verband.de/parolen.html, 21.8.2003); gemeint ist Schutz

vor dem Markt: „...und nicht zum reicheren Kaufmann“ (Landwirtschaftsminister Till

Backhaus (SPD), laut Pressemitteilung des Ministeriums für Ernährung, Landwirtschaft,

Forsten und Fischerei Mecklenburg-Vorpommern vom 1.7.2002).4 Dieter Duwendag, Bodenmarkt und Bodenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, in:

Schmollers Jahrbuch 91, 1971, S. 583. Zeitlicher Bezug der Aussage: nach der

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steht landwirtschaftlich genutzter Boden in der Bundesrepublik überwiegend im Eigentum der

„Urbesitzer“, die ihn ererbt haben und schon deshalb behalten wollen. Kontinuierlich

ansteigende Bodenpreise motivierten die Urbesitzer zusätzlich, den Boden nicht auf den

Markt zu bringen. Hinzu kommt nach Nell-Breuning eine gemeinsame hohe Meinung über

den angemessenen Preis, die wie ein Kartell wirkt.5 Gegenwärtig motivieren schließlich auch

die an die Fläche gekoppelten EU-Subventionen eine Entfaltung des landwirtschaftlichen

Bodenmarkts.

Dass die Verteilung des Bodens nicht dem marktwirtschaftlichen laissez-faire zu überlassen

sei, war seit dem 19. Jahrhundert common sense politischer Bewegungen, die im Anschluss an

Ricardos Grundrententheorie Einkommen aus dem Boden als unverdient betrachteten und

daher soziale, konservativ oder sozialistisch motivierte Reformen der liberalen Agrarreformen

anstrebten. Auf rechtlicher Ebene schränken in der Gegenwart Anerbengesetze und

Grundstücksverkehrsgesetz die Verfügungsgewalt der Eigentümer massiv ein: anders als bei

nichtlandwirtschaftlichen Flächen steht es nicht im Belieben des Hofbesitzers, sein Eigentum

zu teilen und zu verkaufen. Tatsächlich liegt in den alten Bundesländern die Umsatzrate an

Verkäufen landwirtschaftlicher Grundstücke zur Zeit deutlich niedriger als vergleichbare

spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Werte aus Süddeutschland, den Niederlanden oder

England.6 Die Abwesenheit des Landmarktes erscheint sowohl individuell als auch politisch

determiniert: einerseits wollen die Bauern ihr Land gar nicht aufteilen und nach Belieben

verkaufen, andererseits behindern staatliche Normsetzungen massiv die Entfaltung eines

freien Bodenmarktes. Dass der Acker auf dem freien Markt zirkuliert, scheint gegenwärtig

weder wahrscheinlich noch erwünscht.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts herrschte eine andere Auffassung vor. Von Adam Smith

Preisfreigabe 1960.

5 Oswald von Nell-Breuning, Preisbildung am Bodenbaumarkt, in: E. von Beckerath u.a.

(Hg.), Wirtschaftsfragen der freien Welt. Festgabe für Ludwig Erhard, Frankfurt am Main

1957, S. 235-244; Ders., Gerechter Bodenpreis, Mannheim/Ludwigshafen 1970.6 Übersicht bei [Bas van Bavel, The Land Market in the North Sea Area in a Comparative

Perspective, thirteenth to eighteenth Centuries, Prato 2003, S. 7]. ###Bavel angefragt,

publizierte Version dieses Papers?#### In NRW lag die Bodenumsatzrate 2002 bei 0,28

Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche (eigene Berechnung nach Statistisches

Bundesamt (Hg.), Fachserie 3, R 2.4 sowie Fachserie 3, R 5.1). Gesamtdeutsch lag die

Rate 2001 bei 0,6 Prozent, siehe Situationsbericht 2003. Trends und Fakten zur

Landwirtschaft, hrsg. vom Deutschen Bauernverband, Bonn 2002, S. 92.

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beeinflusste preußische Agrarreformer wie Albrecht Thaer7 bewerteten den Verkauf von

ganzen Höfen wie von einzelnen Parzellen positiv und wollten ihn in die

Entscheidungsgewalt der bäuerlichen Eigentümer stellen. Klassische Ökonomie wie auch die

neuere Institutionenökonomik sind zu diesen Reformideen kongenial. Die Vorstellung, dass

„der Boden zur kapitalistischen Handelsware im freien Güterverkehr gemacht“ wurde

(Wehler), dass mit klar spezifizierten Eigentumsrechten versehene, nicht mehr als

traditionelle ‚Bauern‘ vielfältig in Herrschaft, Genossenschaft und Familie eingebundene

kapitalistische ‚Landwirte‘ ihre Ressourcen produktiver einsetzen konnten – diese Vorstellung

passt zur gängigen Standardgeschichte von Einhegungen, Agrarwachstum, Freisetzung der

Unterschichten und Industrieller Revolution.8 In der Forschung sind die preußischen

Agrarreformen und die mit ihnen verbundene Schaffung eines freien Bodenmarkts lange als

essentieller Beitrag zum Wirtschaftswachstum gesehen worden.9 Gegenwärtig ist allerdings

umstritten, inwieweit der politisch-rechtliche Prozess der Grundlastenregulierung bzw.

Gemeinheitsteilung und eine Effizienzsteigerung der Landwirtschaft kausal verbunden oder

disjunkt waren.10

7 Josef Mooser, Ländliche Klassengesellschaft 1770–1848. Bauern und Unterschichten,

Landwirtschaft und Gewerbe im östlichen Westfalen, Göttingen 1984), S. 94 zitiert als

Quelle der Formulierung vom „besseren Wirt“ das von Thaer formulierte preußische

Landeskulturedikt von 1811. Dort findet sich diese sich zwar nicht wörtlich, wohl aber in §

1 die Forderung, „daß die Grundstücke, welche in der Hand eines unvermögenden

Besitzers eine Verschlechterung erlitten hätten, bei dem Verkauf in bemittelte Hände

geraten, die sie im Stande erhalten“. Günther Franz (Hg.), Quellen zur Geschichte des

deutschen Bauernstandes in der Neuzeit, Darmstadt 1963, S. 370.8 Siehe z.B. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1. Vom

Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700-

1815, München 1987, S. 412-413.9 Vgl. Hans Jürgen Teuteberg, Der Einfluß der Agrarreformen auf die Betriebsorganisation

und Produktion der bäuerlichen Wirtschaft Westfalens im 19. Jahrhundert, in: Fritz Blaich

(Hg.), Entwicklungsprobleme einer Region. Das Beispiel Rheinland und Westfalen im 19.

Jahrhundert, Berlin 1981, S. 167–276.10 Agrarwachstum als von institutionellem Wandel unabhängig sieht für England: Robert C.

Allen, Enclosure and the Yeoman. The Agricultural Development of the South Midlands

1450-1850, Oxford 1992; für Westfalen: Michael Kopsidis, Marktintegration und

Entwicklung der westfälischen Landwirtschaft 1780–1880. Marktorientierte ökonomische

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Ob im Untersuchungsgebiet dieser Studie, der preußischen Provinz Westfalen um die Mitte

des 19. Jahrhunderts, die Schaffung individuellen Eigentums zur Herausbildung eines

Bodenmarkts führte und ob dieser zu Agrarwachstum beitrug, sind offene Fragen. Die

vorliegende Studie will einen Beitrag leisten, diese beiden Fragen zu beantworten. Drei

Punkte legen auf den ersten Blick eine negative Antwort auf beide Fragen nahe. (1) Die

westfälische Landwirtschaft erscheint demographischen Befunden zufolge bereits im 18.

Jahrhundert durchaus leistungsfähig: der ländliche Raum erwirtschaftete Überschüsse, die

während der protoindustriellen Konjunktur von circa 1775-1825 eine wachsende

nichtlandwirtschaftliche Bevölkerung frei von Hunger ernährten. Das von Michael Kopsidis

für das 19. Jahrhundert festgestellte Agrarwachstum ging also von einem gehobenen Niveau

aus, das unter Bedingungen der Eigenbehörigkeit und Markenwirtschaft erreicht worden war.

(2) Auf institutioneller Ebene spielten Nutzungseinschränkungen des jeweils zum Hof

gehörenden Ackerlandes schon vor den Reformen eine ohnehin marginale Rolle. Die

Viehweide erfolgte überwiegend auf den großen Gemeinheitsflächen und nicht auf der Brache

oder abgeernteten Ackerflächen. Bäuerliche Allokationsentscheidungen wurden im Großteil

Westfalens also nicht durch kommunal geregelte Anbauzyklen und Beweidung der Brache

behindert, im Gegensatz zum open field-System Englands oder Süddeutschlands.11 Dies

spricht gegen einen deutlichen Einfluss institutioneller Reformen. (3) In Westfalen

entwickelte sich die Ablehnung des Bodenmarkts zu einem zentralen Element des im frühen

19. Jahrhundert entstehenden provinzialen Identitätsbewusstseins. Man könnte hier also

geradezu ein Restgebiet althergebrachter bäuerlicher Nichtteilnahme am Bodenmarkt

vermuten.

Während die Forschung oft die Verbindung von Eigentum, Markt und Wachstum betont,

sahen die Reformer selbst im Agrarwachstum und der „Bewegung zum besseren Wirt“ nicht

Entwicklung eines bäuerlich strukturierten Agrarsektors, Münster 1996. Zur

Leistungsfähigkeit von Kleinbetrieben und kollektiver Flächennutzung siehe mehrere

Beiträge in Reiner Prass/Jürgen Schlumbohm/Gérard Béaur/Christophe Duhamelle (Hg.),

Ländliche Gesellschaften in Deutschland und Frankreich, 18.-19. Jahrhundert, Göttingen

2003, sowie den Themenband 2002/2 des Jahrbuchs für Wirtschaftsgeschichte

(Gemeinheitsteilungen in Europa. Die Privatisierung der kollektiven Nutzung des Bodens

im 18. und 19. Jahrhundert).11 Eigentliche Zelgensysteme waren in Westfalen selten; die Hude fand überwiegend auf den

großen Gemeinheitsflächen statt. Siehe Wilhelm Müller-Wille, Der Feldbau in Westfalen

im 19. Jahrhundert, in: Westfälische Forschungen 1, 1938, S. 302-325, hier S. 310-319.

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das einzige Ziel einer Einführung von freiem bäuerlichen Eigentum. Was Thaer von der

Mobilisierung des Bodens erwartete, war nicht nur die bessere „Kultur“ des Bodens.Es ging

ihm auch darum, Familienstrategien flexibler zu machen und einen größeren Spielraum für

die Ausstattung von Kindern durch ihre Eltern zu schaffen, und um den Erwerb von

Landeigentum durch die Unterschichten.12 Damit wird eine alternative, nicht auf die Frage

des Wirtschaftswachstums fokussierte Interpretation der liberalen Agrarreformen denkbar –

institutioneller Wandel und Wirtschaftswachstum wären disjunkte Prozesse.

Diejenigen Autoren, die in Westfalen bäuerliche Interessen artikulierten und sich in Bezug auf

das langfristig vorherrschende Bauernbild durchsetzten – am wirkungsmächtigsten Ludwig

von Vincke, Johann Nepomuk von Schwerz, Burghard von Schorlemer-Alst – werteten nun

gerade die zuletzt genannten politischen Ziele explizit negativ. Sie hingen einem

Gesellschaftsideal an, das den Bauernhof analog zum fideikommisarisch geschützten

Adelsgut als generationenübergreifend stabile politisch-ökonomisch-demographische

Basiseinheit der Gesellschaft und die Ehe als Privileg ansah, das nicht jedem zugestanden

werden könne. Von diesen adligen Bauernsprechern des 19. Jahrhunderts zu den

Gesetzgebern des 20. Jahrhunderts zieht sich eine Kontinuitätslinie, die den ungeteilt im

Familienbesitz von Generation zu Generation übergebenen Hof vor dem Bodenmarkt zu

schützen sucht.13 Familienbestimmte bäuerliche Wirtschaft in der Vormoderne wird also dem

entwurzelnden anonymen Markt in der kapitalistischen Moderne entgegengestellt und vor ihm

geschützt. Neuere historische Forschungen zum Bodenmarkt akzeptieren diese Dichotomie

zwischen modernem Markt und traditionaler Familie nicht mehr. Mediävisten und

Frühneuzeitforscher haben den Bodenmarkt in vielen vorindustriellen Kontexten untersucht.14

12 Landeskulturedikt § 1, in: Franz, Quellen, S. 370.13 Johann Nepomuk von Schwerz, Beschreibung der Landwirthschaft in Westfalen und

Rheinpreussen Bd. 1, Stuttgart 1836. – Zu Vincke: Hans-Joachim Behr/Jürgen

Kloosterhuis (Hg.), Ludwig Freiherr Vincke. Ein westfälisches Profil zwischen Reform

und Restauration in Preußen, Münster 1994. – Zu Schorlemer-Alst und seinem

Nachwirken vgl. Engelbert von Kerckering zur Borg (Hg.), Beiträge zur Geschichte des

westfälischen Bauernstandes, Berlin 1912.14 Klassische sozialhistorische Studien zum Bodenmarkt sind: Giovanni Levi, Das

immaterielle Erbe. Eine bäuerliche Welt an der Schwelle zur Moderne, Berlin 1986,

insbesondere Kapitel 3, S. 75-106. – David Warren Sabean, Property, Production and

Family in Neckarhausen, 1700-1870, Cambridge 1990, insbesondere Kapitel 16, S. 371-

415. – Gérard Béaur, Le marché foncier à la veille de la Révolution. Le mouvement de

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Die folgende Fallstudie zu drei kontrastierenden Kirchspielen in Westfalen geht vergleichend

vor. Die ausgewählten Untersuchungsgebiete repräsentieren sehr unterschiedliche wichtige

westfälische Agrarregionen; Unterschiede betreffen vor allem die Bodenqualität (natürliche

Bedingungen), die Marktanbindung sowie die institutionelle Ausgestaltung der Bodennutzung

und des Bodenbesitzes.15 Die Untersuchung geht in drei Schritten vor. Zunächst werden die

drei untersuchten Orte vorgestellt, besonders mit Blick auf ein mögliches Agrarwachstum.

Dann geht es um die Frage, ob sich überhaupt im Westfalen des 19. Jahrhunderts ein

Bodenmarkt herausbildete und wie groß die Bodenmobilität, gemessen als Umsatzrate pro

Jahrzehnt, war. Dabei ist wichtig, den Markt von anderen Systemen der Güterallokation, etwa

innerhalb der Familie, abzugrenzen. In einem dritten Schritt wird gefragt, wieweit dieser

Bodenmarkt ein Preise bildender und über die Preise Kaufentscheidungen vermittelnder

Markt war, wieweit er also überhaupt in der Lage war, Ressourcen dahin zu dirigieren, wo sie

am effizientesten verwendet werden konnten.

2. Untersuchungsgebiete und Agrarwachstum

Die untersuchten Kirchspiele Löhne, Oberkirchen und Borgeln unterscheiden sich deutlich in

ihrer Agrarstruktur und in der Ausgestaltung bäuerlicher Eigentumsrechte. Löhne liegt im

protoindustriellen Ostwestfalen, Oberkirchen im gebirgigen Sauerland, Borgeln in der

fruchtbaren Soester Börde. Die Oberkirchener Gemeindefläche bestand weitgehend aus Wald

propriété baucerons dans la région de Maintenon et de Janville de 1761 à 1790, Paris 1984.

Siehe auch die Tagungsbeiträge in [Prato-Band ####].15 Die Studie beruht auf meiner Habilitationsschrift Bodenmarkt – Familienstrategien –

Verwandtschaft. Drei westfälische Kirchspiele im 19. Jahrhundert, unveröffentlichte

Habilitationsschrift Universität Münster 2001. Eine ausführlichere Diskussion von

Agrarwachstum und Gemeinheitsteilung in Löhne findet sich in Georg Fertig,

Gemeinheitsteilungen in Löhne. Eine Fallstudie zur Sozial- und Umweltgeschichte

Westfalens im 19. Jahrhundert, in Karl Ditt/Rita Gudermann/Norwich Rüße (Hg.),

Landwirtschaft und Umwelt in Westfalen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Paderborn

2001, S. 393-426. Zur demographischen Entwicklung von Oberkirchen und Borgeln siehe

Georg Fertig, Die Struktur des Raumes im 18. und 19. Jahrhundert. Bevölkerung und

demographischer Wandel, in: Karl-Peter Ellerbrock/Tanja Bessler-Worbs (Hg.), Wirtschaft

und Gesellschaft im südöstlichen Westfalen. Die IHK zu Arnsberg und ihr

Wirtschaftsraum im 19. und 20. Jahrhundert, Dortmund 2001, S. 48-82.

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und Weideland, die sich zu erheblichen Teilen in kollektivem Eigentum befanden. Löhne mit

seinen teils sandigen, teils nassen Böden war ebenfalls nicht begünstigt, auch wenn die

Reinertragswerte pro Morgen um 1830 schon das Vierfache von Oberkirchen betrugen. Hier

wurden im Untersuchungszeitraum große Gemeinheitsflächen aufgeteilt und an zuvor

landlose Heuerlinge verkauft. Im fruchtbaren Borgeln lagen die Ertragswerte bereits 1830

etwas höher als in Löhne, bei einer geringeren Weidefläche dominierte der Ackerbau. In

dieser Region waren die Gemeinheiten bereits im 18. Jahrhundert weitgehend aufgelöst

worden. Löhne verfügte spätestens mit dem Eisenbahnbau 1847 über einen leichten Zugang

zu Märkten. Allerdings wurde die lokale Agrarproduktion vollständig von der zahlreichen

lokalen Bevölkerung konsumiert. Für den Export in überregionale Märkte produzierte Löhne

Textilien, nicht aber Getreide. Die agrarische Überschussregion Soester Börde mit Borgeln

lag dagegen nah am wachsenden Absatzmarkt Ruhrgebiet und wurde ebenfalls ins

Eisenbahnnetz integriert. Oberkirchen war ein vergleichsweise isoliertes Gebirgstal mit einer

großen Entfernung zur nächsten Bahnstation.

Die Unterschichten in Löhne lebten als Heuerlinge in einem für Nordwestdeutschland

typischen Abhängigkeitsverhältnis zu den landbesitzenden Bauern (Colonen), das Elemente

von Arbeits-, Pacht- und Mietverträgen miteinander verband; zu ihren Einkommensquellen

zählte neben der landwirtschaftlichen Arbeit für die Colone auch das Spinnen von Garn aus

Flachs. In Oberkirchen und Borgeln hatten die Unterschichten eigenen Hausbesitz. In Borgeln

waren sie weitgehend Tagelöhner, während in Oberkirchen auch Wanderhandel und Reste

von Eisenindustrie eine Rolle spielten. Eigentumsrechte der ehemaligen Grundherren –

einschließlich des Heimfallrechts und einer Genehmigungspflicht für die Aufteilung von

Grundstücken – hatten in Löhne und Borgeln nach den Regulierungsgesetzen von 1825 weiter

Bestand und wurden nur Grundstück für Grundstück abgelöst. Dagegen waren sie im

ehemaligen Herzogtum Westfalen mit Oberkirchen bereits zu napoleonischer Zeit komplett

aufgehoben worden, zusammen mit allen Teilungsverboten. Borgeln war schließlich als Teil

der Soester Börde mit der Stadt Soest vielfach verflochten; so traten Soester Bürger als

Grundherren und Gutsbesitzer auf, und die früh gegründete Soester Sparkasse vergab viele

Kredite. In Löhne und Oberkirchen waren dagegen einzelne lokale Amtsträger auch wichtige

Kreditgeber und Akteure auf dem Bodenmarkt.16

16 Zu den Kreditbeziehungen in Borgeln siehe Christine Fertig, [Arbeitstitel: Kredit in

Borgeln], in Thijs Lambrecht (Hg.), [CORN conference volume], im Druck. #### sowie

das in Münster laufende Promotionsvorhaben von Johannes Bracht.

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Es ist nicht möglich, im zeitlichen Verlauf die Ernteerträge auf der Ebene der einzelnen

untersuchten Orte zu ermitteln. Auf der Ebene der Landkreise hat Kopsidis die

landwirtschaftliche Wertschöpfung geschätzt, allerdings nur für die westlichen

Regierungsbezirke Westfalens, nicht für den Regierungsbezirk Minden mit Löhne. Diese

Schätzung beruht auf Berechnungen der pflanzlichen und tierischen Produktion für den

Zeitraum 1822/35 einerseits und 1878/82 andererseits, also auf Quellen, die den Output der

landwirtschaftlichen Produktion mengenmäßig festhielten (Wertschätzungsverhandlungen

und Erntestatistiken).17 Sauer- und Siegerland, also die Regionen um Oberkirchen, wiesen

hiernach die niedrigsten Zuwachsraten bei der agrarischen Wertschöpfung auf. Dennoch kam

es dort in konstanten Preisen gerechnet immerhin zu einer Verdoppelung der Produktion.18

Der Hellweg, dem Borgeln zuzuordnen ist, war dagegen die wachstumsstärkste Region im

westlichen Westfalen, mit einem Zuwachs von 183 Prozent.19 Einen wichtigen Beitrag zur

Produktivitätssteigerung leistete die Viehwirtschaft. Beim Rindvieh wies der Hellweg die

höchste Zuwachsrate auf (über 30 Prozent, gemessen in Stückzahlen); im Sauerland

stagnierten die Viehbestände dagegen.20 Die Analyse der Wertschöpfung legt also sowohl für

den Hellweg als auch für das Sauerland ein Wachstum der landwirtschaftlichen Produktion

nahe, allerdings mit deutlich höheren Wachstumsraten in der ‚Kornkammer‘ Hellweg.

Auf der Ebene einzelner Gemeinden liegen uns solche Mengenschätzungen nicht vor, nur die

monetären Reinerträge als Grundlagen der Grundsteuerberechnung für die Zeiträume 1822/35

und 1861/65. Der Reinertrag informiert uns nicht über die tatsächliche Leistung der

Landwirtschaft, sondern über das Potential, das den Böden bestimmter Klassen in einem

Aushandlungsprozess zwischen Bauern und Steuerbeamten zugeschrieben wurde; generell

scheint dabei die Schätzung von 1866 etwas großzügiger (also niedriger) ausgefallen zu sein

als die frühere. Reinertragswerte sind also jeweils regional und innerhalb von Gemeinden

17 Für eine Diskussion der Quellen siehe Kopsidis, Marktintegration, S. 148-155. Siehe auch

Wilhelm Müller-Wille, Die Akten der Katastralabschätzung 1822-35 und der

Grundsteuerregelung 1861-1865 in ihrer Bedeutung für die Landesforschung in Westfalen,

in: Westfälische Forschungen 3, 1940, S. 48-64. Für einen älteren Schätzungsversuch siehe

Teuteberg, Agrarreform, S. 204.18 In Gewichtseinheiten gerechnet, lagen die Ertragssteigerungen in derselben

Größenordnung. Kopsidis, Marktintegration, S. 157.19 Ebd., S. 199.20 Ebd., S. 183.

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vergleichbar (Steuergerechtigkeit war ein wichtiges Ziel im benannten Aushandlungsprozess),

aber nicht über die Zeit hinweg. Aus einem Rückgang der monetären Reinerträge können wir

nicht auf einen Rückgang der agrarischen Wertschöpfung oder gar der produzierten Mengen

schließen. Kreisweise gerechnet, weist Soest mit Borgeln einen Zuwachs von 47 Prozent auf,

übertroffen nur vom Kreis Bochum. Meschede mit Oberkirchen erfuhr dagegen einen

deutlichen Rückgang der Reinerträge (18 Prozent). Zu diesem Rückgang trugen vermutlich

auch Beschwerden der sauerländischen Landbesitzer bei, die Einschätzung von 1822/35 sei zu

hoch gewesen.21

Die Entwicklung der monetären Reinerträge, nicht der physischen Erträge, lässt sich auch für

unsere drei Untersuchungsgebiete ermitteln. Tabelle 1 beruht auf einer Auswertung von

Katasterunterlagen auf Parzellenebene: der „Güterverzeichnisse“ von 1830 und der

„Güterauszüge“ von 1866. Angegeben werden für die einzelnen Kulturarten jeweils die

Gesamtzahl der erfassten Parzellen, die Fläche in Morgen, der Reinertrag in Reichstalern und

der Quotient aus beiden, der Reinertrag pro Morgen. Neben den Werten für 1830 und 1866

wird für jeden Wert auch der Zuwachs in Prozent (bei negativen Werten: der Rückgang)

angegeben.

(Tabelle 1)

In Löhne sank der Reinertrag um etwa ein Viertel. Den größten Anteil am Reinertrag hatten

die Ackerflächen, im wesentlichen geht der Ertragsrückgang auf einen Rückgang des Ertrags

pro Morgen beim Ackerland zurück. Hervorgerufen wurde dieser durch die

Gemeinheitsteilung, in deren Folge extensiv genutzte Weiden (minus zwei Drittel) in Äcker

mit geringem Ertrag umgewandelt wurden. Auffällig ist, dass auch bei den Wiesen die

Entwicklung eher statisch war. Es deutet also wenig auf eine Modernisierung der

Landwirtschaft etwa auf dem Wege einer verstärkten Stallfütterung mit Wiesenheu. Die

Daten bedeuten nicht, dass weniger produziert worden wäre, sondern dass in Löhne die

Ertragssteigerung relativ gering blieb.22 Woran lag das? Veränderungen der einzelnen

Arbeitsabläufe in der Landwirtschaft sind nicht rekonstruierbar, wohl aber aus den

21 Ebd., S. 124 und 128.22 Der Rückgang der Reinerträge entspricht in der Größenordnung etwa dem von Kopsidis

auf Kreisebene festgestellten Reinertragsrückgang im Kreis Altena; dort kam es im

Zeitraum bis 1880 nicht etwa zu einem Rückgang der landwirtschaftlichen Wertschöpfung,

sondern lediglich zu einer etwas weniger starken Zunahme um nur 120 Prozent (ebd., S.

128, 199).

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sogenannten Wertschätzungsverhandlungen der Zustand um 1825. Auf bereits relativ stark

ausgenutzte Innovationschancen, also auf eine bereits um 1825 im zeitgenössischen Maße

‚fortschrittliche‘ und damit nicht besonders stark steigerungsfähige landwirtschaftliche

Technik deutet die Angabe, dass die Anbauzyklen zu allen vier Qualitätsklassen des

Ackerlandes auch Stickstoffsammler (Klee, Hülsenfrüchte) enthielten. Andererseits wird in

den Wertschätzungsverhandlungen beklagt, dass Wiesenbau, Kleebau und Stallfütterung noch

sehr zurück lägen.23 Minimale Zuwachsraten bei den Wiesenflächen zwischen 1830 und 1866

deuten nicht darauf hin, dass sich hieran viel geändert hätte; die Viehzahlen stagnierten beim

Rindvieh und wuchsen bei Schweinen und Ziegen. Denselben Quellen ist auch eine

Einschätzung zum „Verkehr mit den Grundstücken“ zu entnehmen: dieser „kömmt in diesen

Gemeinden wenig vor, da die Eigenbehörigkeits-Verhältnisse diesem noch im Wege stehen.“

Verkäufe kämen nur bei Konkursen im Wege der gerichtlichen Zwangsversteigerung

(Subhastation) vor.24 Die relative Stagnation der Erträge könnte auch damit zu erklären sein,

dass zwar vor Ort ein erheblicher Absatz von Getreide an die Heuerlingsbevölkerung möglich

war, dass diese aber gerade während der Krisenjahre der ostwestfälischen Heimnidustrie

wenig kaufkräftig waren und keine monetären Anreize für eine Steigerung der Produktion

lieferten.

In Oberkirchen bietet sich ein grundsätzlich ähnliches Bild: die nominellen monetären

Reinerträge sanken um etwa ein Viertel, allerdings auf einem deutlich niedrigeren Niveau als

in Löhne. Die Niveauunterschiede im Ertrag überraschen nicht: Die Orte des Kirchspiels

Oberkirchen liegen auf 430 bis 600 Metern Höhe verstreut in engen, waldreichen

Mittelgebirgstälern; die niederschlagsreiche Region zählt zum auf Getreideimporte

angewiesenen Hafer- und Kartoffelanbaugebiet des Sauerlands; nicht das Ackerland, sondern

Wiesen und Wälder waren für den überwiegenden Teil der Erträge verantwortlich. In beiden

Getreideimportregionen sanken also die monetären Erträge. Anders als Löhne erfolgten in

Oberkirchen keine Gemeinheitsteilungen; bei unterschiedlichem institutionellem Wandel

resultierten also parallele Entwicklungen der Produktion. Auffällig ist in Oberkirchen, dass

die Ackerflächen relativ stark ausgebaut wurden, ohne dass sich die Reinertragssumme

erhöhte. Offenbar wurden auch hier marginale Flächen unter den Pflug genommen; darauf

deutet auch der Rückgang der extensiv genutzten Flächen.25 Stark zurück ging die Zahl der

23 Staatsarchiv Detmold M 5 C 54, fol. 38.24 Staatsarchiv Detmold M 5 C 54, fol. 37.25 Bernward Selter, Waldnutzung und ländliche Gesellschaft. Landwirtschaftlicher

‚Nährwald‘ und neue Holzökonomie im Sauerland des 18. und 19. Jahrhunderts, Paderborn

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Eisenhämmer; das Oberkirchener Metallgewerbe erfuhr in dieser Zeit einen langfristigen

Verfall.26 Anders als in Löhne und Borgeln stehen keine Wertschätzungsverhandlungen zur

Verfügung, daher wurden die der nächstgelegenen Verbände Medebach (Kreis Brilon) und

Kirchhundem (Kreis Olpe) herangezogen.27 In beiden Fällen war um 1825 die Aufnahme von

Hackfrüchten und Stickstoffsammlern in die Anbauzyklen bereits erfolgt: in Kirchhundem

findet sich der Anbau von Kartoffeln in allen Ackerklassen und von Klee auf den besseren

Flächen; im höhergelegenen Medebach wurden Kartoffeln in den beiden besseren

Ackerklassen angebaut. In beiden Bezirken findet sich Viehweide (Dreisch, Hude) als

Bestandteil der Anbauzyklen bei den schlechteren Bodenqualitäten; solche ‚Wechselsysteme‘

herrschten im Sauerland das ganze 19. Jahrhundert über vor. Typisch für die dortigen

Anbauformen ist auch die starke Rolle landwirtschaftlicher Nebennutzungen der Wälder, vor

allem der Düngung mit Waldstreu.28 Unspektakulär war im gesamten Landkreis die

Entwicklung der Rindviehbestände,29 allerdings auf hohem Niveau: Bei der Viehzählung

1873 wies Oberkirchen fast zwei Kühe pro Haushalt auf, Löhne dagegen weniger als eine.30

In beiden benachbarten Wertschätzungsverbänden wurde bereits um 1825 eine „nicht ganz

unbedeutende“31 Rindviehzucht betrieben. Zum Bodenmarkt finden sich in den benachbarten

Wertschätzungsbezirken unterschiedliche Einschätzungen, wobei grundherrschaftliche

1995, S. 307.

26 Georg Korte/Wilfried Reininghaus, Gewerbe und Handel in den Kreisen Arnsberg,

Meschede, Brilon, Soest und Lippstadt, 1800-1914, in: Karl-Peter Ellerbrock/Tanja

Bessler-Worbs (Hg.), Wirtschaft und Gesellschaft im südöstlichen Westfalen. Die IHK zu

Arnsberg und ihr Wirtschaftsraum im 19. und 20. Jahrhundert, Dortmund 2001, S. 132-

173.27 Staatsarchiv Münster, Katasterbücher Arnsberg, Nr. 90 (Kirchhundem) und 84

(Medebach).28 Selter, Waldnutzung, S. 306.29 Ebd., S. 282, 323.30 Der Viehbestand der Gemeinden und Gutsbezirke im Preußischen Staate. Nach den

Urmaterialien der allgemeinen Viehzählung vom 10. Januar 1873, bearb. und

zusammengestellt von Königlichen Statistischen Bureau, Heft 3, enthaltend die Provinzen

Schleswig-Holstein, Hannover, Westfalen, Hessen-Nassau und Rheinland mit

Hohenzollern, Berlin 1874.31 Staatsarchiv Münster, Katasterbücher Arnsberg, Nr. 90 (Kirchhundem), Statistik der

Gemeinden, Teil II.

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Verhältnisse nicht erwähnt werden: der Verkehr mit den Grundstücken sei „gering“

(Kirchhundem)32 bzw. „nur zum Nachteil der Kultur vorhanden“ (Medebach, ein

Realteilungsgebiet).33

Die Produktivitätsentwicklung in Borgeln war schließlich spektakulär. Hinter dem Zuwachs

von über 70 Prozent bei den monetären Reinerträgen dürfte sich ein deutlich stärkerer

Zuwachs der tatsächlichen Wertschöpfung verbergen. Bereits zu Beginn des

Untersuchungszeitraums nahm Borgeln einen Spitzenwert bei den monetären Reinerträgen

ein. Borgeln war reich. Wie der Verfasser der Wertschätzungsverhandlungen beklagte, ging

es Knechten, Mägden und Bauern allesamt zu gut – die Mägde konnten aufgrund des Mangels

an Arbeitskräften durchsetzen, dass ihre unehelichen Kinder von den Bauern verpflegt

wurden, die Knechte erfreuten sich eines übertrieben hohen Lohnniveaus, und die Bauern

konnten unnötigen Luxus mit „kostbaren Hengsten“ treiben: „Gänzliche Ruinierung des

Hofes ist die häufige Folge, da der Landmann des Handels unkundig in die Hände der Juden

fällt und von diesen förmlich ausgesogen wird.“34 Ein Bodenmarkt, so die

Wertschätzungsverhandlungen, war auch in Borgeln praktisch nicht vorhanden.35

Stickstoffsammler (Klee und Hülsenfrüchte, jeweils im vierten Jahr eines sechsjährigen, mit

der Brache eingeleiteten Anbauzyklus) waren in Borgeln bereits in den 1820er Jahren in die

Fruchtfolgen integriert.36 Das Innovationspotential der Landwirtschaft sah der Verfasser der

Wertschätzungsverhandlungen vor allem beim Anbau von Futterkräutern (Esparsette oder

Luzerne): an Wiesenheu bestehe allgemeiner Mangel, die Stallfütterung könne daher nur auf

32 Staatsarchiv Münster, Katasterbücher Arnsberg, Nr. 90, Landwirtschaftliche

Beschreibung, Abschnitt 11.33 Staatsarchiv Münster, Katasterbücher Arnsberg, Nr. 84, Landwirtschaftliche

Beschreibung, Abschnitt 11.34 Staatsarchiv Münster, Katasterbücher Arnsberg, Nr. 92, Landwirtschaftliche

Beschreibung, Abschnitt 12.35 Ebd., Abschnitt 11.36 Staatsarchiv Münster, Katasterbücher Arnsberg, Nr. 92, Berechnung des Roh-Ertrages.

Siehe auch Arnold Geck, Topographisch-historisch-statistische Beschreibung der Stadt

Soest und der Soester Börde, Soest 1825, S. 32 sowie Emil Bimberg, Es war einmal.

Lebensweise, Sitten und Gebräuche im Amt und Kirchspiel Borgeln und der Soester

Börde. Lebens-Erinnerungen eines Landwirts der Niederbörde, Soest 1911, S. 66.

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diesem Wege allgemein eingeführt werden.37 Optimiert werden konnte auch der Umgang mit

dem Mist: die flach angelegte Dungstätte, über die hinweg man Ställe und Tennen betrete,

nehme das Regenwasser auf und lasse die fette Jauche ungenutzt verfließen.38 Die Zunahme

an Vieh war zwischen 1828 und 1873 in Borgeln etwas geringer als in der Hellwegregion

insgesamt: Das Rindvieh nahm in der Steuergemeinde von 535 auf 643 Stück zu, also um 20

Prozent bei steigenden Gewichten.39 Die Zunahme der Wiesenflächen bei gleichzeitiger

Abnahme der Weiden und stagnierenden Ackerflächen deutet darauf hin, dass in Borgeln eine

Intensivierung der Landwirtschaft auf dem Wege vermehrter Stallfütterung und

Düngerbewirtschaftung erfolgte. Ein weiterer landwirtschaftlicher Wachstumsschub erfolgte

in den 1880er Jahren mit dem Beginn des Zuckerrübenanbaus.40

Der bisherige Befund legt nahe, dass in allen drei Dörfern agrarisches Wachstum in

unterschiedlicher Ausprägung stattfand, ohne dass es auf den ersten Blick zu nennenswerten

Bewegungen auf dem Bodenmarkt kam. Nach Meinung der Autoren der

Wertschätzungsprotokolle gab es um 1825 in allen drei Untersuchungsgebieten noch keinen

nennenswerten Bodenmarkt. Über die Entwickung nach der Grundlastenablösung, die den

eigentlichen Vollzug der Agrarreformen ausmachte, können diese sehr groben,

möglicherweise auch aus zu hoch gesteckten Reformerwartungen resultierenden

Einschätzungen der zeitgenössischen Beamten uns nichts sagen. Erforderlich ist daher eine

empirische Untersuchung der Bodenmobilität in den untersuchten Gemeinden. Im folgenden

gilt es die Hypothese, dass regionale Wachstumsunterschiede zum Teil auf differierender

Mobilität auf Faktormärkten zurückzuführen sind, anhand eines detaillierten Vergleiches des

Grundstückverkehrs in allen drei Dörfern zu untersuchen. Die Hypothese lässt sich aufrecht

erhalten, wenn die Intensität von Bodenmarktransaktionen mit dem Agrarwachstum positiv

37 Staatsarchiv Münster, Katasterbücher Arnsberg, Nr. 92, Landwirtschaftliche

Beschreibung, Abschnitt 13.38 Staatsarchiv Münster, Katasterbücher Arnsberg, Nr. 92, Landwirtschaftliche

Beschreibung, Abschnitt 9.39 Volker Lünnemann, Bevölkerung, Landwirtschaft und Umwelt in den Regionen Hellweg

und östliches Sandmünsterland im 19. Jahrhundert, in: Karl Ditt, Rita Gudermann,

Norwich Rüße (Hg.), Landwirtschaft und Umwelt in Westfalen vom 18. bis zum 20.

Jahrhundert, Paderborn 2001, S. 427-449, hier Tabelle 10, S. 445; Kopsidis,

Marktintegration, S. 180-191.40 Bimberg, Lebensweise, S. 66.

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korreliert. Ein solcher Befund würde es nahe legen, dass Faktor- bzw. Bodenmärkte einen

deutlichen Beitrag für Effizienzsteigerungen in der Ressourcenallokation und somit für

beschleunigtes Agrarwachstum geleistet haben.

3. Wie lebhaft war der Bodenmarkt?

Versuchen wir nun also, den Bodenmarkt in seinem Umfang zu messen. Dazu benötigen wir

Quellen, die Eigentum an Land dokumentieren. Als geeignet haben sich die

Hypothekenbücher erwiesen. Zwar erfasste auch der in Westfalen früh, nämlich ab 1820

angelegte Kataster die Landeigentümer als Steuerpflichtige. Kataster dienten aber lediglich als

eine Art Adresszeichnis für die Steuereinnehmer mit ungenauen und nur gelegentlich

aktualisierten Personenbezeichnungen (meist nur Hofnamen und Hausnummern); juristisch

gesehen genossen sie auch keinen ‚öffentlichen Glauben‘. Hypothekenbücher dienten

dagegen explizit der Öffentlichmachung von Eigentum, und sie bieten bei jeder Übertragung

von Land innerhalb der Familie einen so genauen Bericht über die Familienverhältnisse, dass

man die beteiligten Personen im Kirchenbuch identifizieren kann. Zudem werden dingliche

Rechte auch jenseits des Eigentumsrechts von Einzelnen und Personengruppen festgehalten.

Das Zivilrecht des 19. Jahrhunderts erzwang keinen Agrarindividualismus, es stellte vielmehr

Begriffe für auf mehrere Akteure verteilte dingliche Rechte zur Verfügung, und diese werden

nur im Hypothekenbuch transparent.

Aus den Hypothekenbüchern wurden alle Eigentumsveränderungen zwischen 1830 und 1866

erhoben. Jede dieser Transaktionen wurde in einer relationalen Datenbank einerseits mit allen

jeweils betroffenen Parzellen (deren Reinertragswert aus den Katastern bekannt ist),

andererseits mit den beteiligten Personen verknüpft, zu denen jeweils das gesamte Kirchspiel

umfassende Familienrekonstitutionsdaten vorliegen. Erfasst wurden auf diese Weise 900

Eigentumsveränderungen in Löhne, 1.114 in Oberkirchen, 997 in Borgeln. Jährlich

wechselten zwischen 3 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche (im gebirgigen

Oberkirchen, dessen Waldflächen zu großen Teilen nie im Hypothekenbuch auftauchten) und

6 bis 8 Prozent (in den beiden anderen Gemeinden) den Eigentümer (Tabelle 2). Das ist sehr

viel – in Nordrhein-Westfalen wurden 2002 nur 0,28 Prozent der landwirtschaftlichen

Nutzflächen veräußert. Freilich: welche von diesen Eigentumsveränderungen sind ‚der

Markt‘?

Auf den ersten Blick bieten sich zwei Ansätze an. Einerseits könnte man versuchen, den

Markt und das Familiensystem als zwei alternative Kanäle voneinander abzugrenzen, über die

Ressourcen verteilt werden. Andererseits könnte man sich auf den Standpunkt zurückziehen,

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dass Markt und Familie sich ohnehin gegenseitig durchdringen, und dass man daher den

Begriff des Marktes auf Käufe im Sinne vertraglicher, mit Gegenleistungen verbundener

Übereignungen auch innerhalb der Familie beziehen sollte. Ich werde im folgenden

versuchen, im Sinne des ersten Ansatzes den Bodenmarkt als ein von anderen, etwa

familiären Allokationssystemen begrifflich abgesetztes System quantitativ zu fassen, so weit

das eben geht. In einem zweiten Schritt ist dann zu fragen, wieweit der in unseren

Untersuchungsorten historisch beobachtbare Bodenmarkt dem ökonomischen Modell eines

Marktes entspricht. Es geht darum, empirisch nur dünn gestützte Annahmen der Ökonomie zu

überprüfen, die eine Tendenz zur zunehmenden Durchsetzung von Märkten im Sinne ihrer

Modelle behaupten.41 Dazu ist wenigstens der Versuch, eine Grenze zwischen Markt und

Familie zu ziehen, unabdingbar.

Ich unterscheide im folgenden nicht einfach dichotomisch zwischen Markt und Familie,

sondern zwischen Markttausch, Redistribution und Reziprozität. Für Markttransaktionen

konstitutiv sind (mindestens) drei Merkmale. Erstens bilden sich Märkte für knappe Güter, die

nicht ohne Gegenleistung abgegeben werden. Zweitens werden die getauschten Güter

vollständig spezifiziert. Längerfristige Beziehungen werden nicht durch eine einzelne

Markttransaktion hergestellt, sondern allenfalls durch die zu Marktversagen führende

Verknüpfung mehrerer Märkte (z.B. bei der Bindung von Krediten an Arbeitsverhältnisse)42

oder durch außerökonomisch produzierte Ideologien.43 Drittens ist für den Markttausch

konstitutiv, dass man das erworbene Gut auch aus anderer Quelle zu einem anderen Preis, in

anderen Mengen oder mit anderen Qualitätsmerkmalen beschaffen könnte.

Markttransaktionen realisieren also die für den jeweiligen Akteur optimale von vielen

Tauschoptionen. Ökonomie versteht sich als Wissenschaft von Handlungsoptionen angesichts

begrenzter Möglichkeiten44; wenn Optionen – etwa angesichts von brauchtümlichen

41 Vgl. Douglass C. North, Theorie des institutionellen Wandels. Eine neue Sicht der

Wirtschaftsgeschichte, Tübingen 1988, S. 213.42 Pranab K. Bardhan, Interlocking Factor Markets and Agrarian Development. A Review of

Issues, in: Oxford Economic Papers 32, 1980, S. 82-98.43 North, Theorie, S. 42, 187 und passim; Hansjörg Siegenthaler, Geschichte und Ökonomie

nach der kulturalistischen Wende, in: Geschichte und Gesellschaft 25, 1999, S. 276-301,

hier S. 291.44 Zum Kostenbegriff der Ökonomie siehe Siegenthaler, Geschichte und Ökonomie, S. 283-

284.

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Festlegungen – gar nicht vorhanden sind, passt das Modell des Marktes nicht. Märkte im

Sinne der neoklassischen Ökonomie sind nicht an Orte und Institutionen gebunden, etwa an

wöchentlich stattfindende Getreidemärkte in Gemeinden, die das entsprechende Stadt- oder

Marktrecht besitzen. Sie sind vielmehr raumübergreifend dadurch definiert, „that the prices of

the same goods tend to equality easily and quickly“ (Alfred Marshall, unter Rückgriff auf eine

Formulierung von Antoine Cournot).45 Mit anderen Worten, die Logik des Marktes

funktioniert über freie Entscheidungen, mit denen auf Preisverhältnisse reagiert werden kann.

In der sozialhistorischen Forschung finden sich andere Logiken als die des Marktes vor allem

in zwei Modellen, die in der Sprache der ökonomischen Anthropologie als ‚Redistribution‘

und ‚Reziprozität‘ bezeichnet werden, und die – wie hier entwickelt werden soll – mit den

Kategorien der Familie und der Verwandtschaft eng verbunden sind.46 Redistribution meint

die Akkumulation und Neuverteilung von Ressourcen durch eine zentrale Autorität – einen

adligen Herrscher, eine staatliche Verwaltung, den Vorstand eines Haushalts. Unentgeltliche

Transferleistungen passen in diese Kategorie, weil sie nicht durch eine sofortige oder spätere

Gegenleistung ausbalanciert werden müssen. Das gilt etwa für die Versorgung von kleinen

Kindern durch ihre Eltern (für die die Kinder nichts zahlen), für die Vergabe von Bauernhöfen

durch die Grundherrschaft (‚Bestiftung‘), für „lohnlose Familienarbeit“ (die Otto Brunner als

zentrales Charakteristikum des „Ganzen Hauses“ sah47) und für Erbschaften, die den letzten

Willen des jeweiligen Erblassers vollziehen. Man kann Transfers mit der Innenseite der

ökonomischen Handlungseinheit Haushalt assoziieren, dann nämlich, wenn man politische

Einheiten als eine Art von Haushalten (und Haushalte als Herrschaftseinheiten) interpretiert.48

45 Alfred Marshall, Principles of Economics, London 1947, Nachdruck der 8. Aufl. von

1920, S. 324.46 Klassisch: Karl Polanyi, The economy as instituted process, in: Karl Polanyi/Conrad

Arensberg/Harry Pearson (Hg.), Trade and Markets in the Early Empires, Glencoe 1957, S.

243-270, hier S. 254. Kritik hieran: Douglass C. North, Markets and Other Allocation

Systems in History. The Challenge of Karl Polanyi, in: Journal of Economic History, 1977,

S. 703-716. Als Einstieg in die ökonomische Anthropologie für Historiker eignet sich:

Dieter Groh, Anthropologische Dimensionen der Geschichte, Frankfurt am Main 1992.47 Otto Brunner, Das ‚ganze Haus‘ und die alteuropäische ‚Ökonomik‘, in: Ders., Neue

Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, Göttingen 1968, 2. Aufl., S. 103-127, 107-

108.48 So die zentrale These von Leonhard Bauer/Herbert Matis, Geburt der Neuzeit. Vom

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So transferieren Erbschaften Güter in der Regel zwischen Personen, die nicht nur eng

verwandt sind, sondern auch zeitweilig im selben Haushalt gelebt haben. Insofern folgen

Transfers bestimmten Beziehungen innerhalb von Haushalten und Familien. Dasselbe gilt für

Unterhaltsleistungen, die ebenfalls normativ festgeschrieben, durch zentrale Autoritäten

sanktioniert und nicht auf einen Ausgleich von Leistung und Gegenleistung angelegt sind:

Eltern müssen ihre Kinder und Kinder müssen ihre Eltern versorgen, aber es besteht keine

Chance, dass die Eltern jemals auch nur auf lange Sicht ihre Unterhaltsleistungen (geschweige

denn die Erbschaft) von den Kindern zurückerhalten.49

Wenn man nur mit den Kategorien von Markt und Redistribution arbeitet, scheint aus einem

relativ geringen Anteil familiärer Transfers der Markt-Charakter und ‚Individualismus‘ der

untersuchten Gesellschaft zu folgen: Je weniger Redistribution innerhalb von durch den land-

family-bond konstituierten Einheiten aus Familie und Hof, desto mehr Markt. Ein solcher

Schluss ist etwa von Alan Macfarlane für das spätmittelalterliche England gezogen worden.50

Hierin lag ein wesentlicher Erkenntnisfortschritt gegenüber älteren Positionen, die dem Markt

gar keine Rolle in der vormodernen Gesellschaft zubilligen wollten. Zugleich legt

Macfarlanes Position allerdings auch die fragwürdige Auffassung nahe, England habe in

einem Gegensatz zu einem „familistischen“51 Kontinentaleuropa gestanden.

David Sabean hat in seinen klassischen Arbeiten über Neckarhausen diese Voraussetzung

einer Dichotomie zwischen Markt und Familie in Frage gestellt und Verwandtschaft als eine

zentrale weitere Kategorie eingeführt – alternativ sowohl zum modernen individualistischen

Markt als auch zum Brunner/Chayanovschen ländlichen Haushalt. Sabean schreibt gegen die

Vorstellung an, es sei aus dem Vorkommen von Käufen auf ein Vordringen „des Marktes“ als

Feudalsystem zur Marktgesellschaft, München 1988 zum „Super-Oikos“.

49 Zur ungleichen Balance von Transfers zwischen Eltern und Kindern siehe Ronald Lee, A

Cross-Cultural Perspective on Intergenerational Transfers and the Economic Life Cycle,

in: Andrew Mason/Georges Tapinos (Hg.), Sharing the Wealth: Demographic Change and

Economic Transfers between Generations, Oxford 2000, S. 17-56.50 Alan Macfarlane, The origins of English individualism: The family, property and social

transition, Oxford 1978.51 Roger Schofield, Family Structure, Demographic Behaviour, and Economic Growth, in:

John Walter/Roger Schofield (Hg.), Famine, Disease and the Social Order in Early Modern

Society, Cambridge 1989, S. 279-304, hier S. 285.

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einer entwurzelnden, „abstrahierenden Kraft“52 zu schließen, die die Rolle der Familie

zurückdränge. Verwandtschaft als ein von Reziprozitätsbeziehungen strukturiertes Feld

erklärt Sabean zufolge, weshalb die Zirkulation von Land von Verpflichtungen bestimmt ist.53

Reziprozität meint wechselseitigen Austausch, der über längere Zeit hinweg in keinesfalls

kurzfristig verpflichtender Weise nicht allzu klar spezifizierte Güter direkt oder vermittelt

über Dritte zirkulieren lässt: „to return a gift too quickly is to reject it“. Anders als

Markttausch kann Reziprozität stabile soziale Beziehungen stiften. Diese Art von Austausch

ist eine (oder: die) zentrale Kategorie der Verwandtschaftsethnologie im Anschluss an Claude

Lévi-Strauss. Sabean geht in seiner Analyse des Bodenmarktes nicht taxonomisch vor, er teilt

also nicht einzelne Akte der Zirkulation von Land in solche des familiären Transfers, des

anonymen Marktes und der verwandtschaftlichen Reziprozitätsbeziehungen ein, und er greift

auch Karl Polanyis Klassifikation ökonomischer Austauschsysteme in Markt, Redistribution

und Reziprozität nicht explizit auf. Vielmehr betont er den reziproken Charakter sowohl der

Beziehungen innerhalb der Kernfamilie als auch solcher im weiteren Verwandtschaftskreis.

Käufe kamen in Neckarhausen zu etwa zwei Dritteln im Rahmen der Verwandtschaft

zustande; Verkäufer mussten durch eine bestehende Beziehung dazu motiviert werden, Land

zur Verfügung zu stellen.54

Transaktionen innerhalb der Verwandtschaft können sich also von Markttransaktionen in zwei

verschiedenen Punkten unterscheiden: Einerseits kann es sich um unentgeltliche Transfers

handeln, z.B. um den Übergang des Eigentums von einem Verstorbenen – der keine

Gegenleistung mehr in Empfang nehmen kann – auf dessen Erben. Andererseits ist es

möglich, dass ein bestimmtes Stück Land, vor allem der Kernbestand des Hofes, nicht an

jedermann, sondern nur an Verwandte abgegeben wird, sodass die Wahlmöglichkeiten stark

eingeschränkt sind und ein Marktpreis sich nicht bildet.

Für unser Abgrenzungsproblem ergibt sich aus dem Gesagten zunächst die Notwendigkeit,

die unentgeltlichen Transfers bei der Berechnung von Umsatzraten wegzulassen. Bei

Todesfällen ist das trivial. Aber ein Großteil der Transaktionen fällt in die Kategorie

Übertragungsvertrag oder Übergaben. Typische Formulierungen im Grundbuch lauten z.B.:

„Colon Andreas Hunold zu Stocklarn hat dieses Grundstück durch den mit seinen Eltern, den

Eheleuten Christoph Hunold und Wilhelmine geb. Carie am 23. Juni 1843 abgeschlossenen

52 Sabean, Property, S. 412.53 Ebd., S. 416.54 Ebd., S. 383.

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Übertragungsvertrag eigenthümlich erworben. Eingetragen infolge der Verfügung vom 13.

Sept. 1843“.55 In solchen Übertragungsverträgen wurden regelmäßig im Gegenzug zur

Überlassung des Eigentums Verpflichtungen wie die Auszahlung der Geschwister, Unterhalt

oder freier Zutritt zur Speisekammer übernommen; manche wurden im Vertragstext explizit

als Kaufverträge bezeichnet oder enthielten Preisangaben. Obwohl es sich hier um

rechtsgeschäftliche, vertragliche Eigentumsveränderungen handelt, ist es nicht sinnvoll, sie

als Teil des Marktes zu behandeln. Das Problem besteht dabei in der Verknüpfung von

Tauschakten mit anderen, nicht explizit erfassten Transaktionen wie Unterhalt, Erbschaft und

Abfindung, und darin, dass eine freie Auswahl des Vertragspartners deshalb nicht möglich ist.

Die Übereignung eines Hofes an eines der Kinder ist mit nichtentgeltlichen Transfers derart

verknüpft, dass die Beteiligten keine alternativen Tauschoptionen gegeneinander abwägen

können: Kein Verkauf von Eltern an Kinder findet statt, bei dem nicht die bestehenden

Beziehungen von Unterhalt und Erbschaft das Kalkül der Beteiligten berühren. Damit werden

allerdings nicht nur die Übertragungen, sondern auch die Käufe innerhalb der Kernfamilie

problematisch.

In Westfalen ist es schon deswegen sinnvoll, nur einen Teil der Verkäufe als

Markttransaktionen anzusehen, weil die den Hof über einen kaufförmigen Übergabevertrag

übernehmenden Anerben einen Anspruch (eine Erbanwartschaft) darauf hatten, genau diesen

Hof zu übernehmen. Der Unterschied zum Spiel von Angebot und Nachfrage ist

offensichtlich. Eine solche Unterscheidung zwischen marktförmigen und mit Transfers

verknüpften Käufen kann allerdings nur gelingen, wenn im Einzelfall auch die

Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Käufern und Verkäufern bekannt sind.56 Zugleich

zeigen diese Überlegungen, dass ein taxonomisches, Einzelfälle sortierendes Vorgehen auf

der Ebene der einzelnen Transaktionen tatsächlich an seine Grenzen stößt. Der Markt ist

sowenig die Summe aller Kaufverträge wie das Erbsystem die Summe aller Erbfälle. Es

kommt nicht nur auf die Inhalte der einzelnen Transaktionen an, sondern auch auf ihren

Kontext, auf die anderen Transaktionen, mit denen sie jeweils verbunden sind.

(Tabelle 2)

Tabelle 2 weist den im Sinne dieser Überlegungen schrittweise auf seinen nicht-

55 Staatsarchiv Münster, Hypothekenbuch Borgeln 2, Folium 58.56 So auch Hermann Zeitlhofer, Besitztransfer und sozialer Wandel in einer ländlichen

Gesellschaft der Frühen Neuzeit. Das Beispiel der südböhmischen Pfarre Kaplicky, 1640-

1840, unveröffentlichte Disseration Wien 2001, Anm. 451.

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redistributiven Kern reduzierten Bodenmarkt in den drei Untersuchungsgebieten aus –

eingeschränkt nicht nur auf vertragliche, sondern auch auf die explizit als Käufe erkennbaren

sowie auf die außerhalb der Kernfamilie und damit außerhalb der Reichweite von Erbschafts-

und Unterhaltsbeziehungen liegenden Transaktionen. Die Zahlen sind konservativ berechnet

(also möglicherweise eher zu niedrig); sie beziehen sich jeweils im Nenner nicht nur auf die

im bäuerlichen Besitz befindlichen und in den Grundbüchern erfassten Parzellen, sondern

auch auf noch nicht im Grundbuch eingetragene Flächen oder (was in Oberkirchen stark ins

Gewicht fällt) im Kollektiveigentum stehende Wälder. Es zeigt sich, dass der Bodenmarkt in

Oberkirchen und Borgeln – also im marginalen Gebirgstal und im reichen Ackerbauerndorf –

gleichermaßen schwach ausgeprägt war. Allerdings übertraf er den der Gegenwart immer

noch um das Doppelte. Löhne hingegen wies einen sehr viel ausgeprägteren Bodenmarkt auf.

Hier spielte die starke Nachfrage der Heuerlinge und (werdenden) Neubauern nach Land aus

der Gemeinheitsteilung eine gewichtige Rolle. Die Hypothese, dass zwischen agrarischem

Wachstum (wie in Borgeln) und einem ausgeprägten Bodenmarkt ein linearer Zusammenhang

bestehe, kann offensichtlich nicht bestätigt werden.

4. Preisbildender Markt und Verwandtschaftssystem

„Aber war es wirklich ein Markt“ (Levi)57, was wir hier schrittweise isoliert haben? Giovanni

Levi hat am piemontesischen Beispiel argumentiert, dass die Überlagerung mit

Reziprozitätsbeziehungen (und das heißt: nicht etwa die mit Erbschafts- und

Unterhaltsbeziehungen) in Nachbarschaft und Verwandtschaft die stark fluktuierenden Preise

auf dem Bodenmarkt bestimmt habe. Sabean betont, dass der Zugang zu Land über den Markt

von verwandtschaftlichen Beziehungen gesteuert war. Von der Modellvorstellung eines

„unpersönlichen Faktormarktes“ weichen beide Varianten offensichtlich ab. Im folgenden soll

einerseits untersucht werden, ob – jenseits des engen Kreises der Kernfamilie – Verwandte

einen bevorzugten Zugang zum Boden hatten. Hierzu gilt es, die Häufigkeit von

Transaktionen zwischen Kaufpartnern, die in bestimmten Kategorien von Beziehungen

standen (etwa Geschwister, Cousins etc.), mit denjenigen Häufigkeiten zu vergleichen, die

man bei einer zufälligen Verteilung der Transaktionen ohne Ansehen der

Verwandtschaftsbeziehung erwarten würde. Zusätzlich gilt es zu analysieren, ob die

vereinbarten Preise von verwandtschaftlichen Beziehungen beeinflusst wurden.

Die Beziehungen zwischen je zwei Personen wurden anhand der

57 Levi, Erbe, S. 86.

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Familienrekonstitutionsdaten ermittelt. Es ließen sich alle aus den Familienrekonstitutionen

erschließbaren Verwandtschaftsbeziehungen der in den Grund- und Katasterbüchern erfassten

Akteure untereinander und zu Dritten feststellen, bis zu einer Reichweite von sieben

Schritten.58 Häufig bestanden mehrfache Beziehungen zwischen zwei Akteuren; in diesen

Fällen wurde jeweils die kürzeste gewählt. Die Beziehungen wurden folgenden Kategorien

zugeordnet:59

- 0: überlappende Gruppen: Abgeber und/oder Erwerber bestehen aus Personengruppen

ausschließlich Ehepaaren, und mindestens ein Mitglied der Eigentümergemeinschaft

bleibt dies; hier wurden auch Transaktionen einsortiert, bei denen kein ursprünglicher

Besitzer genannt war (z.B. Gemeinheitsteilungen und Umschreibungen).

- 1: Kernfamilie (Eltern, Geschwister, Schwiegereltern, Schwäger, Großeltern und Enkel);

- 2: Neffen, Onkel usw. (Geschwister der Eltern und Großeltern, Kinder und Enkel der

Geschwister);

- 3: Cousin 1. Grades (in Anlehnung an Sabeans Einteilung: auch cousins once removed,

also Cousins 1. Grades der Eltern sowie Kinder von Cousins 1. Grades);

- 4: Cousin 2. Grades (auch once removed);

- 5: andere Blutsverwandte (bis zu sieben Schritten);

- 6: andere affinale Verwandte (ebenfalls bis zu sieben Schritten);

- 7: nicht verwandte Einzelpersonen (ohne juristische oder nichtidentifizierte Personen);

- 8: nicht identifizierte Einzelpersonen;

- 9: nicht überlappende Gruppen (einschließlich juristischer Personen).

In die Kategorien 1 bis 7 können auch die innerhalb des untersuchten Akteursfelds insgesamt

bestehenden Beziehungen aufgeteilt werden. Ein Befund, dass z.B. an nichtverwandte

Einzelpersonen wenig Land verkauft worden sei, ist nämlich dann nicht sinnvoll

58 Ein Schritt heißt: Vater, Ehefrau, Sohn usw.; sieben Schritte z.B.: Enkel des früheren

Ehemanns der Ehefrau des Mutterbruders des Vaters. Die Begrenzung auf sieben Schritte

erfolgte, weil sonst die Dateien zu groß für das verwendete Betriebssystem wurden (in

Löhne hat die komplette Tabelle aller von den 870 Akteuren ausgehenden Beziehungen

über 12,5 Millionen Einträge). Eigene Programmierung mit SAS.59 Ich folge dabei der Einteilung von Sabean, Property, S. 374-375.

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interpretierbar, wenn ohnehin fast jeder mit jedem verwandt war.60 Tabelle 3 vergleicht die

Häufigkeit der tatsächlich vorkommenden Käufe mit der bei einer Zufallsverteilung

erwartbaren Häufigkeit, und gibt die jeweilige Abweichung nach oben oder unten in Prozent

an.

(Tabelle 3)

Dass Eltern, Schwäger oder Geschwister um ein vielfaches so häufig Kaufpartner waren, als

bei einer zufälligen Verteilung zu erwarten wäre, muss nicht überraschen. Bemerkenswert ist,

dass Cousins 1. Grades, in Borgeln auch 2. Grades klar höhere Chancen auf Landkäufe hatten;

besonders auffällig ist der stark erhöhte Wert in Oberkirchen (plus 102 Prozent, also mehr als

doppelt soviel Transaktionen wie erwartet). In einem Realteilungsgebiet wäre es plausibel,

dass Cousins – als Erben von Teilen derselben Grundstücke – ein erhöhtes Interesse haben,

diese miteinander zu handeln. Eine solche Erklärung käme höchstens für Oberkirchen infrage,

wo Teilungsbeschränkungen schon vor unserem Untersuchungszeitraum aufgehoben wurden

und Land im Todesfall regelmäßig an Erbengemeinschaften fiel. Andererseits nahm die Zahl

der Parzellen in allen drei Gebieten zwischen 1830 und 1866 nur schwach zu (Tabelle 1), was

für die Zeit nach 1830 auf eine geringe Rolle dieses (vielleicht zuvor in Oberkirchen

gewichtigeren) Parzellierungseffektes deutet. Alternative Erklärungen könnten in der

Überlegung bestehen, dass man sich nahestehenden Verwandten, etwa Cousins, besonders

verpflichtet fühlte, oder dass man sie über ihr familiäres Prestige kontrollieren und ihnen

deshalb vertrauen konnte, oder dass man ihnen häufig begegnete und deshalb am ehesten an

sie Informationen weitergab. Ob Reziprozität, Vertrauen oder Information – jenseits der

Sphäre der Cousins machten verwandtschaftliche Beziehungen den Zugang zu Land

jedenfalls nicht mehr leichter. Nichtverwandte schließlich wurden zwar nicht gerade

boykottiert, ihre Chancen auf Landkäufe waren aber um ein Drittel und mehr reduziert.

Sabeans These, wonach der Zugang zu Land durch Verwandtschaft erleichtert (und durch

Nichtverwandtschaft erschwert) ist, wird durch diese Ergebnisse also bestätigt. Allerdings gilt

dies nicht für den von ihm betonten Bereich der auch für das Heiratsverhalten wichtigen

weiteren Verwandtschaftsbeziehungen. Andere Erklärungen als die Reziprozitätsthese

scheinen denkbar.

Abschließend soll im Anschluss an Levi der Einfluss der Verwandtschaft auf die Preisbildung

betrachtet werden. Dabei stellt sich allerdings die Frage, ob es Preisbildung im Sinne der

„raschen Konvergenz“ (Marshall) überhaupt gab. Nicht viel anders als in Levis Santena waren

60 Was nicht der Fall ist: in Borgeln waren z.B. die Landbesitzer im Untersuchungszeitraum

zu 45 Prozent nicht erkennbar miteinander verwandt.

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in unseren Gemeinden die Bodenpreise sehr heterogen.61 Man vereinbarte eher runde Preise,

als etwa – was nach der Katasteraufnahme durchaus möglich gewesen wäre – ein Vielfaches

des Katasterwertes zu wählen. Graphische Darstellungen der pro Taler Steuerwert

vereinbarten Preise ergeben weitgestreute Punktwolken; numerisch überstieg die

Standardabweichung meist den Durchschnittspreis. Man kann also gar nichts Verläßliches

darüber sagen, wie hoch der Preis von Land einer bestimmten Qualität war – auf dem

Bodenmarkt wurden zwar Preise vereinbart, er bildete aber keine Preise.

Die in der folgenden Tabelle 4 präsentierte Regressionsanalyse modelliert die jeweils

vereinbarten Preise als Funktion des Steuerwertes der jeweiligen Parzellen einerseits, der

Beziehung zwischen Käufer und Verkäufer andererseits, und zwar in multiplikativer,

logarithmischer Form.62 Bei der Interpretation der Tabelle kommt es zunächst auf den

Regressionskoeffizienten α an. Dieser sagt uns, dass nichtverwandte Kaufpartner bei

Parzellen mit dem Steuerwert von einem Taler63 Preise zwischen 73 (Borgeln) und 59

(Oberkirchen) Talern vereinbarten (e4,29 bzw. e4,08). Die weiteren Parameter β1 bis β9 sagen

uns, um wie viel dieser Preis bei bestimmten Beziehungen nach oben (positive Koeffizienten)

oder unten (negative) abwich. In Löhne und Borgeln gab es signifikante Preisabschläge im

Bereich der Kernfamilie und z.T. gegenüber Onkeln und Neffen, aber nicht mehr gegenüber

den Cousins. Entfernter verwandt zu sein, bedeutete keinen messbaren Preisvorteil; in

Oberkirchen waren (ausweislich des verbundenen F-Tests) alle Beziehungsformen ohne

Einfluss. Freundschaftspreise wurden also an den Verwandtenkreis deutlich restriktiver

gewährt als der in Tabelle 3 gemessene bloße Zugang zu Land.

(Tabelle 4)

Die beobachteten Standardfehler messen, wie chaotisch die Preise in den einzelnen

Beziehungskategorien waren. Deutlich ist, dass mit wachsender Entfernung die

Standardfehler geringer werden. Dies deutet darauf hin, dass die Preise im näheren

Verwandtschaftsfeld uneinheitlicher waren als zwischen Personen, deren Beziehung

„unpersönlicher“ oder zumindest nicht so stark von anderen, ob redistributiven oder

reziproken Beziehungen beeinflusst war.

Schließlich fällt der Parameter γ auf. Wenn zwischen Preis und Steuerwert der Parzellen eine

61 Levi, Erbe.62 Siehe die Anmerkung zur Tabelle. Man muss also immer e hoch Parameter rechnen. e ist

eine Konstante, die Basis des natürlichen Logarithmus (ca. 2,72).

63 Bei einem Steuerwert von einem Taler gilt nämlich: Steuerwert γ = 1.

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lineare Beziehung bestünde, müsste γ den Wert 1 haben. Tatsächlich ging aber eine

Verdoppelung der Fläche bzw. Bodenqualität nur mit einer Erhöhung der Preise um ca. 64

Prozent (Löhne, Oberkirchen) bzw. 82 Prozent (Borgeln) einher. Dieser sogenannte Plattage-

Effekt ist aus Untersuchungen zu städtischen Bodenmärkten im 20. Jahrhundert bekannt.64

Wäre es möglich, Land ohne Kosten für diese Transaktion zu teilen, würden Arbitrageure so

lange Land kaufen, aufteilen und wieder verkaufen, bis der Preis pro Flächeneinheit bei allen

Größeneinheiten derselbe und γ gleich 1 wäre. Wenn Preise nichtlinear sind, deutet das darauf

hin, dass ein solches Aufteilen mit Kosten verbunden ist. Diese scheinen vor allem in Löhne

und Oberkirchen erheblich gewesen zu sein, etwas weniger in Borgeln. Plattage bedeutet,

dass kleine Grundstücke relativ höher geschätzt werden als große Grundstücke derselben

Bodenqualität. Wenn man annimmt, dass Märkte eine optimale Ressourcenverwendung

herbeiführen, folgt daraus, dass die Höfe in Westfalen tendenziell zu groß waren und eine

Aufteilung vom Markt belohnt worden wäre. Die Landbesitzer wollten diese Belohnung aber

offenbar nicht haben; sie verzichteten trotz möglicher Gewinne auf die berüchtigte, von

Bauernschützern oft an die Wand gemalte ‚Höfeschlächterei‘.

5. Abschlussdiskussion

Unsere Ergebnisse sind drei Themenkomplexen zuzuordnen: es geht zum einen um die Frage,

wieweit bäuerliche Gesellschaften sich auf den Markt einlassen, zum zweiten darum, was das

für ein Markt ist, und schließlich um das Verhältnis zwischen institutioneller Reform und

Wachstum.

Die untersuchten westfälischen Gemeinden gingen einen bäuerlichen Weg zum

Agrarwachstum. Borgeln mit seinen großen Höfen war sicherlich die am stärksten bäuerlich

geprägte von den drei Gemeinden; hier wurde der Bodenmarkt mit am wenigsten genutzt, und

das Wachstum war am stärksten. Marktferne auf der Ebene des Bodenmarktes musste also

nichts mit Ferne gegenüber anderen Faktor- oder Produktmärkten zu tun haben. Gerade in

Borgeln mit seiner hohen Gesinderate war der Arbeitsmarkt stark ausgeprägt, und

selbstverständlich wurde das Getreide für überlokale Märkte produziert. Man konnte also den

Bodenmarkt ungenutzt lassen, ohne Arbeits-, Kredit- und Gütermärkte zu meiden; auf

bäuerliche Marktfeindschaft und die mythische Subsistenzorientierung muß aus unseren

64 Der klassische Text ist Peter F. Colwell, Nonlinear Urban Land Prices, in: Urban

Geography 1, 1980, S. 141-152. Plattage ist das Gegenstück zum älteren Begriff der

plottage, der die Möglichkeit zum Zusammenlegen von Parzellen bezeichnet.

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Ergebnissen nicht geschlossen werden.

Warum wurde der Bodenmarkt nicht genutzt? Zunächst: die Frequenz von Parzellenverkäufen

war so gering, dass diese niedrige Frequenz sich schon fast selbst erklärt. Parzellen in

derselben Gemeinde wurden außerhalb der Kernfamilie vielleicht jeden Monat einmal

verkauft. Aus der Perspektive eines einzelnen Landbesitzers lagen die meisten davon jeweils

in der falschen Flur. Es ist kein Wunder, dass bei einem so wenig liquiden Markt nicht

deutlich wurde, was der richtige Preis war. Unsicherheit über den richtigen Gegenwert führte

zu schwierigeren Vertragsschlüssen und damit zu erhöhten Transaktionskosten.

Douglass C. North hat in seiner Kritik an Polanyi argumentiert, dass Märkte immer schon das

wichtigste Allokationssystem dargestellt hätten, es seien aber erst seit dem 19. Jahrhundert

preisbildende Märkte gewesen.65 Das ist ein sehr schwaches Argument, weil es, um

Redistribution und Reziprozität herunterzuspielen, den neoklassischen Marktbegriff aufgibt

und die Kategorie eines Pseudomarktes einführt, in dem Entscheidungen irgendwie, jedenfalls

nicht aufgrund von Preisrelationen getroffen werden. Dennoch mag es stärker überzeugen als

die konträre Auffassung Levis. Für diesen ist der Schluss eindeutig: wenn der Markt keine

Preise bildet, bestimmt Reziprozität das Geschehen. In Westfalen funktionierte die

Zirkulation von Land dagegen im wesentlichen in Form von Redistribution, von

unentgeltlichen Transfers. Auch dort, wo rechtsgeschäftliche Übereignungen Leistung und

Gegenleistung verbanden, lag häufig ein „interlocking market“ (Pranab K. Bardhan) vor: es

wäre nicht möglich, das betreffende Rechtsgeschäft aus seinem Kontext von Unterhalt und

Erbanspruch zu lösen.66 Dennoch gab es eben einen Rest von Käufen unter relativ

fernstehenden Partnern, und es ist uns nicht gelungen, klare Anzeichen für einen Einfluss von

Reziprozitätsbeziehungen zu finden. Nichtpreisbildender, versagender Markt – so könnten

diese marginalen Käufe aus ökonomischer Sicht also durchaus charakterisiert werden.67

Aber müssen wir die institutionellen Reformen des frühen 19. Jahrhunderts überhaupt in

erster Linie unter dem Gesichtspunkt von Markt und Wachstum betrachten? Thaer wollte

nicht nur die Bewegung des Bodens zum besten Wirt, sondern auch einen erleichterten

Zugang der Unterschichten zum Boden und eine verbesserte Fähigkeit von Eltern, alle ihre

Kinder gut auszustatten. Die besonders in Westfalen artikulierte Hof- und Bauerngesinnung

hat sich gegen beide Ziele gestellt und einen Abschließungsprozess der Hofbesitzer und

65 North, Markets.66 Bardhan, Interlocking Factor Markets.67 Allen, Enclosure S. 176-179 argumentiert, dass historische Bodenmärkte häufig nicht im

Gleichgewicht waren.

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Anerben gefördert. Wieweit die von Thaer artikulierten Ziele von den Bauern und ländlichen

Nicht-Bauern im 19. Jahrhundert dennoch erreicht wurden, ist eine offene Forschungsfrage.

Nicht nur die ländlichen Bodenmärkte, sondern auch die ländlichen Redistributionssysteme

bedürfen daher weiterer empirischer Forschung.

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Tabelle 1: Die Entwicklung der Parzellenzahl, der Anbaufläche und der monetären

Reinerträge nach Kulturarten in Löhne, Oberkirchen und Borgeln, 1830-1866

1830 1866 Zuwachs (Prozent)

Parz Mg Rt Rt/Mg Parz Mg Rt Rt/Mg Parz Mg Rt Rt/Mg

Löhne:

insgesamt 2.259 3.201 6.452 2,02 2.545 3.104 4.688 1,51 13 -3 -27 -25

Acker 1.198 2.120 4.815 2,27 1.530 2.319 3.865 1,67 28 9 -20 -27

Wiese 155 152 525 3,46 175 172 410 2,38 13 13 -22 -31

Weide 457 672 362 0,54 267 196 181 0,93 -42 -71 -50 72

Oberkirchen:

insgesamt 3.100 24.348 12.481 0,51 3.291 24.415 8.984 0,37 6 0 -28 -28

Acker 712 3352 2573 0,77 1.168 5.343 2.444 0,46 64 59 -5 -40

Wiese 499 1681 3438 2,05 583 1.773 2.560 1,44 17 5 -26 -29

Weide 922 6506 1362 0,21 699 3.682 489 0,13 -24 -43 -64 -37

Borgeln:

insgesamt 1.063 3.341 8.630 2,58 1.200 3.300 14.618 4,43 13 -1 69 71

Acker 662 2.581 6.693 2,59 830 2.664 12.408 4,66 25 3 85 80

Wiese 21 64 202 3,14 56 151 758 5,02 167 135 275 60

Weide 86 296 676 2,28 52 147 606 4,13 -40 -50 -10 81

Anmerkung: Parz = Parzellen, Mg = Morgen (1 Mg = 0,2553 ha), Rt = Reichstaler.Quelle: Güterverzeichnisse und Güterauszüge, eigene Berechnungen.

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Tabelle 2: Umsatzraten (Prozent) auf dem Bodenmarkt der untersuchten Gemeinden, 1830-

1866

Löhne Oberkirchen Borgelnf

Fälle Umsatzratee Fälle Umsatzratee Fälle Umsatzratee

Eigentumswechsela 900 5,9 1.114 3,4 997 7,6

davon vertraglichb 646 3,4 863 2,2 758 4,2

davon Käufec 531 2,2 603 1,0 399 0,7

davon außerhalb der

Kernfamilied

450 1,4 501 0,5 358 0,6

a) alle Eigentumsveränderungen ohne „Besitz“, das heißt „Berichtigung“, „Besitz

aufgrund Vertrages“, „Umschreibung“ und ähnliches.

b) nur Erbpacht, Kauf, Tausch, Übergabe.

c) nur im Grundbuch als Kauf erkennbare Eigentumsveränderungen.

d) ohne Transaktionen zwischen überlappenden Gruppen (zum Beispiel Ausscheiden

Einzelner aus Erbengemeinschaften) sowie zwischen Ehegatten, Geschwistern,

Eltern und Kindern.

e) Berechnungsweg: Es wurde für jede Transaktion der Reinertragswert der

beteiligten Parzellen in Reichstalern ermittelt. Dieser wurde dividiert durch die im

Güterverzeichnis von 1830 ausgewiesene Reinertragssumme der jeweils erfassten

Gesamtfläche. Das Ergebnis wurde durch die Zahl der Jahre (36) dividiert.

f) In Borgeln wurden aus den Hypothekenbüchern diejenigen Transaktionen mit

allen zugehörigen Parzellen ermittelt, bei denen die zugehörigen Häuser und Höfe

in den Fluren Borgeln 1-5 und 7 sowie Stocklarn 3 lagen; die Gesamtfläche dieser

Fluren diente als Grundlage für die Berechnung der Umsatzrate. Die Auswahl

dieser Fluren war notwendig, da Steuer- und Kirchengemeinden in Borgeln nicht

deckungsgleich waren.

Quelle: Hypothekenbücher, Kataster und Familienrekonstitutionen Löhne, Borgeln,

Oberkirchen. Eigene Berechnungen.

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Tabelle 3: Abweichung der tatsächlich vorkommenden Verwandtschaftsbeziehungen bei

Käufen von denen bei simulierten Transaktionen (in Prozent)

Löhne Oberkirchen Borgeln

1: Kernfamilie + 1.139 + 1.624 + 783

2: Neffen, Onkel usw. + 92 + 166 + 118

3: Cousin 1. Grades + 36 + 102 + 48

4: Cousin 2. Grades – 18 + 8 + 34

5: andere Blutsverwandte + 21 – 18 – 25

6: andere affinale Verwandte – 12 – 22 – 11

7: nichtverwandte Einzelpersonen – 41 – 45 – 31

Fallzahl 286 380 203

Anmerkung: Bei den simulierten Vergleichswerten wird jeweils eine Transaktion jedes mit

jedem Landbesitzer im Untersuchungszeitraum angenommen, ohne Gewichtung nach

gleichzeitiger Lebensdauer. Bei den tatsächlichen Käufen wird jeder Kauf gleich gewichtet,

mehrfache Käufe zwischen denselben Partnern werden nicht berücksichtigt. Beziehungen

werden unabhängig vom Zeitpunkt ihres Entstehens berücksichtigt.

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Tabelle 4: Regressionsergebnisse zur Preisbildung: Relationen zwischen Preis und Steuerwert

unter Berücksichtigung von Verwandtschaftsbeziehungen

Löhne Oberkirchen Borgeln

B SF T B SF T B SF T

α Konstante 4,12 0,11 35,98** 4,08 0,10 39,96** 4,29 0,12 35,69**

β1 überlappend -0,98 0,34 -2,90** 0,50 0,31 1,59 -1,29 0,30 -4,30**

β2 Kernfamilie -0,51 0,23 -2,26* -0,14 0,21 -0,68 -0,36 0,21 -1,70+

β3 Neffen etc. -0,18 0,39 -0,46 0,16 0,31 0,51 -0,61 0,30 -2,03*

β4 Cousin I -0,13 0,22 -0,61 0,00 0,19 0,00 -0,19 0,25 -0,76

β5 Cousin II 0,02 0,20 0,11 0,06 0,18 0,31 0,20 0,18 1,08

β6 consanguinal 0,04 0,24 0,18 0,21 0,28 0,76 0,13 0,36 0,37

β7 affinal 0,05 0,16 0,31 0,14 0,16 0,85 -0,07 0,17 -0,42

nicht verwandt , , , , , , , , ,

β8 nicht id. einzeln 0,53 0,17 3,03** -0,15 0,18 -0,85 -0,01 0,14 -0,04

β9 andere Gruppen0,52 0,20 2,63** 0,34 0,18 1,88+ -0,84 0,13 -6,45**

γ Steuerwert 0,64 0,03 , 0,65 0,04 , 0,82 0,05 ,

F 40,21** 28,70** 38,10**

F Steuerwerta 110,95** 80,72** 13,24**

Verbundener F-Testb 4,63** 1,14 8,97**

Verbundener F-Testc 3,89** 1,22 7,33**

Verbundener F-Testd 0,19 0,30 0,66

Adjustiertes R2 0,61 0,49 0,61

Fallzahl 256 284 242

Anmerkung: Untersucht wurden nur Käufe von Flächen mit bekanntem Steuerwert, ohne

Käufe ganzer Höfe, von Häusern und Hofräumen. Geschätztes Modell: Kaufpreis = e(α + β1

× überlappend + β2 × Kernfamilie + ... β7 × affinal + β8 × nicht identifizierte Einzelpersonen

+ β9 × andere Gruppen) × Steuerwert γ × eε. Für die Bezeichnungen der einzelnen Parameter

(überlappend usw.) siehe den Text; es handelt sich jeweils um Dummyvariablen mit den

Ausprägungen 0 und 1. Signifikante Regressionskoeffizienten sind fettgedruckt. B ist der

Regressionskoeffizient, SF der Standardfehler, T und F sind Teststatistiken. a) H0: γ = 1

(korrekt spezifizierte Nullhypothese zum Parameter γ); b) H0: β1 = β2 = ... = β9 = 0 (alle

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Beziehungsformen ohne Einfluss); c) H0: β1 = β2 = β3 = 0 (engere Verwandtschaft ohne

Einfluss); d) H0: β4 = β5 = β6 = β7 = 0 (weitere Verwandtschaft ohne Einfluss).

Quelle: Hypothekenbücher, Familienrekonstitutionen, Kataster, eigene Berechnungen.