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Vor Ort Geschichte und Bedeutung des Bergbaus in Herne und Wanne-Eickel ralf piorr (Hg.)

Vor O rt - adhoc Verlag · 2017. 4. 3. · Mulvany engagiert und war verant - wortlich für die Einführung des „Tub - bing-Ausbaus“ im westfälischen Berg - bau. Auf den Mulvany-Zechen

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Vor OrtGeschichte und Bedeutung des Bergbaus

in Herne und Wanne-Eickel

ralf piorr (Hg.)

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Inhalt 3

Vorwort / Horst Schiereck

Zum Geleit / Ralf Piorr

I Mutung

Schicht im Schacht ? Bergbau und lokales Gedächtnis / Ralf Piorr

Orte und Menschen Fotografien / Brigitte Krämer

Vom Beginn einer neuen ZeitDie Anfänge des Bergbaus in Herne / Olaf Schmidt-Rutsch

II Zechenmit Luftbildern von Hans Blossey

Constantin / Björn Bowinkelmann

Friedrich der Große / Ralf Piorr

Hannibal 2 / Ralf Piorr

Von der Heydt / Ralf Piorr

Julia / Ralf Piorr

Königsgrube / Gevert Nörtemann

Mont Cenis / Ralf Piorr

Pluto / Björn Bowinkelmann

Shamrock / Ralf Piorr

Teutoburgia / Jan Zweyer

Unser Fritz / Dirk Fleiter

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4 Inhalt

III Flöze

Erinnerungen von Hermann Böse, Gisela Hoffmeister, Johannes Decker,

Klaus Petzel, Günter Vogelsang, Albert Kelterbaum, Bärbel König-Bargel,

Mert Ali Ergün, Karl Repons, Abdallah Bakkahli, Gottfried Zechel und

Ulrich Förster

IV Querschlag

Stadtwerdung Zur Entstehung von Herne und Wanne-Eickel / Michael Clarke

Herne 1911 Ein Reisebericht / Aurel von Jüchen

Pütt und Schreibtisch Texte aus der Arbeits- und Lebenswelt

des heimischen Bergbaus / Joachim Wittkowski

Der letzte Kumpelverein Die Glanzzeit des SV Sodingen / Ralf Piorr

Schwerstarbeit Das Leben der Bergarbeiterfrau Anna Schmidt / Uta C. Schmidt

Der Tag, an dem der Kanzler kamLudwig Erhard besucht die Zeche Friedrich der Große / Horst Martens

Schlagende Wetter Grubenunglücke und Trauerrituale / Ralf Piorr

Im Wandel Der Bergbau und die Folgen / Kai Wiedermann

Autoren- und Fotografen

Fotonachweis und Dank

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William Coulson mit Schachtabteufern,1856. Der englische Schachtbau-Unter -

nehmer wurde von William ThomasMulvany engagiert und war verant-

wortlich für die Einführung des „Tub-bing-Ausbaus“ im westfälischen Berg-bau. Auf den Mulvany-Zechen Hibernia

in Gelsenkirchen und Shamrock inHerne, beide 1856 geteuft, wurde der

Schacht nicht mehr ausgemauert, sondern mit gusseisernen ringför-

migen Segmenten ausgekleidet.

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I Mutung

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10 I Mutung / Schicht im Schacht ?

Niemand lebt nur im Augenblick. Wir erinnern uns, erfassen, wer wirsind und wodurch wir uns von anderen unterscheiden. Ohne das„schwarze Gold“ sind die Entstehung des Ruhrgebiets und die Stadtge-schichten von Herne und Wanne-Eickel nicht zu denken. Ein Jahrhun-dert lang fungierte die Kohle als Motor der industriellen Entwicklungund des Wohlstands. Rund um die Fördertürme des Ruhrgebiets wuch-sen Kleinstädte und Dörfer zu Großstädten und industriellen Zentren,verzweigten sich Verkehrsinfrastruktur und Dienstleistungsgewerbe.1956, auf dem Höhepunkt der Steinkohleproduktion, erreichte die Koh-leförderung an der Ruhr fast 125 Mio. Tonnen, zählte man 142 Schacht-anlagen, in denen rund 416.000 Kumpel arbeiteten. Zusätzlich warenfast 200.000 Menschen über Tage in den Verwaltungen und firmen-eigenen Betrieben beschäftigt. Klangvoll waren Namen wie Hibernia,Shamrock, Friedrich der Große und Zollverein.2

Schicht im Schacht?

Ralf Piorr

„Ich habe sie noch gesehen, die 44er mit Kohle von Erin, sich drehende Seilscheiben auf Teutoburgia, die Fördergerüste von Mont Cenis, auch die Reste von Lothringen und Constantin,jene qualmende Kokerei von Friedrich dem Großen, und die schwarzen Häuser. Mir liegen die faulen Eier noch auf der Zunge.“ 1

Carsten Wiener

Zur Bedeutung des Bergbaus für das lokale Gedächtnis

Die industrielle „Skyline“ von Friedrich der Große, 1955

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I Mutung / Schicht im Schacht ? 11

Niemals war der Bergbau einfach nur eine Industrie, stets war er auf-geladen mit nationaler Bedeutung. Die Begehrlichkeiten des wilhelmi-nischen Kaiserreichs nach Weltmachtgeltung basierten auf dem außer-ordentlichen ökonomischen Aufschwung seit Beginn der 1880er Jahre.Die Klassenkämpfe und die politischen Konflikte der Weimarer Republikwie der Kapp-Lüttwitz-Putsch 1920 und die französische Ruhrbesetzung1923/24 konzentrirten sich rund um die Zentren der Schwerindustrie.Die Nationalsozialisten machten die Kohle zur Basis ihrer Aufrüstungs-politik. Sie diente als Koks zur Stahlproduktion, als Brennstoff für Loko-motiven und zur Herstellung von Treibstoff. Zur Sicherstellung einerstabilen Produktion wurden bis 1942 Bergleute vom Kriegsdienst freige-stellt. Über die Rede des Kreisobmanns Baum der Deutschen Arbeits-front (DAF) bei der Ehrung der Jubilare der Zeche Julia im August 1942berichtete die westfälische Landeszeitung „Rote Erde“: „Mit dem Hin-weis auf die nicht nur kriegswichtige, sondern sogar kriegsentschei-dende Be deu tung der Kohlenproduktion, zeichnete er zugleich ein Bildvon dem Wert der bergmännischen Arbeitskraft, die es vor allem jetztin der Zeit größter Entscheidung zur Herbeiführung eines totalen Siegesvoll einzusetzen gilt. Der an ihn gerichteten Forderung wird der deut-sche Bergmann in alter, bewährter Verlässlichkeit in Gegenwart wie inZukunft gerecht werden.“ Zudem wurden ab 1942 Tausende Zwangsar-beiter und Kriegsgefangene nach dem NS-Prinzip „Arbeit als Beute“ imRuhrbergbau unter zum Teil unmenschlichen Bedingungen eingesetzt.3

Das politische System wechselte, die ökonomische Triebfeder blieb.„Kohle – der Schlüssel zum Wiederaufbau“ lautete ein Aufruf an diewerktätige Bevölkerung der Stadt im September 1945, der gemeinsamvon Partei- und Gewerkschaftsführern, dem Oberbürgermeister unddem Leiter des Arbeitsamtes unterzeichnet war. Der Aufruf warb umVerständnis für den restriktiven Befehl der Militärregierung, dass „alle

Kumpels vor dem Doppelbock der Zeche Pluto-Wilhelm, 1969

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18 I Mutung / Orte und Menschen

Orte und Menschen

„Ich habe keine fertigen Bilder im Kopf. Ich bin dabei, schaue und eineSituation entwickelt sich. Und dann entstehen Kompositionen, dieetwas vom Leben erzählen“, sagt die in Wanne-Eickel lebende Foto-grafin Brigitte Kraemer über ihre Arbeit. Und „dabei sein“ heißt für sie:das alltägliche Ruhrgebiet mit seinen Besonderheiten, seinen Skurrili-täten, seinem Kitsch, seinem Charme und seinem Witz zu erleben. ImMittelpunkt ihres künstlerischen Interesses steht dabei der Mensch.„Zeit ist vielleicht das Wichtigste“, meint die Künstlerin, „wenn manMenschen fotografieren will, die ganz bei sich sind. Ohne vordergrün-dige Pose, ohne aufgesetztes Lächeln, ohne eine aufwendige Inszenie-rung mit Licht und Hintergrund. Wenn ich fotografiere, richte ich meinInteresse auf gewöhnliche Alltagssituationen. Sie müssen sich ergeben.“

Die Serie „Orte und Menschen“ fasst ausgewählte Fotografien Kraemersmit einem retrospektiven Bezug zum Bergbau zusammen. Im Alltägli-chen wird das Besondere sichtbar – in den Kolonien, bei der Tauben-zucht oder in der Vorgartengestaltung. Die Vergangenheit des Bergar-beitermilieus illuminiert die Gegenwart. In diesem Sinn kommentiertauch Dietmar Osses, Leiter des Industriemuseums Zeche Hannover,Kraemers fotografische Präsenz: „Alle Details, die zunächst als zufälli-ges Ambiente ins Bild zu geraten scheinen, ergeben auf den zweitenBlick die Milieuschilderung, die zum historischen Dokument wird. DerAugenblick erfasst das ganze Leben.“

Fotografien von Brigitte Kraemer

Rentnerin vor einem Zechenhaus, Röhlinghausen 2001

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II Zechen

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II Zechen / Friedrich der Grosse 41

Friedrich der Große

Am 31. März 1978 blies der Spielmannszug der Herner Knappenvereine Piepen-fritz das letzte Geleit. Für die 3.200 Mann zählende Belegschaft des Verbund-werkes Friedrich der Große/Mont Cenis, darunter 900 türkische Kollegen,regelte ein Sozialplan die Zukunft. Arbeitslos wurde niemand.

„Nehmen wir zum Beispiel die Schachtanlage Friedrich der Große 3/4,jenes Monstrum, mit dem ich als Jahrgang 57 aufgewachsen bin. DieKokerei hat Tag für Tag unsere Luft verpestet zahllose Lastkraftwagensind über die Von-Waldthausen-Straße gedonnert, und das großeGrabmal auf dem Horsthauser Friedhof für die verunglückten Kumpelvon 1926 spricht für sich. Wie viele Bergleute haben ihr Leben gelassenfür eine Maloche, die mit Geld kaum zu bezahlen war? (…) Für unsKinder galt: Fast alle Papas arbeiteten auf Piepenfritz im Streb oder inder Hauptverwaltung, im Magazin oder in der Markenkontrolle. In denSportvereinen ringsum war das nicht anders. Wer hier Fußball spielteoder als Zuschauer am Spielfeldrand schimpfte - sie alle hatten den-selben Brötchengeber. Außerdem konnte sich wohl in den Jahren nie-mand vorstellen, dass Piepenfritz einmal nicht mehr existieren würde.Ganz ausgeschlossen!“1

Aber beginnen wir nicht mit dem Ende, sondern hundert Jahre zuvor.„Friedrich der Große“ war die erste Zeche auf dem Herner Gebiet,deren Gründung auf rein preußisch-deutschem Kapital basierte. 1870begann man mit der Teufe von Schacht 1, vier Jahre später konnten dieersten Kohlen gefördert werden. Wassereinbrüche, Grubenbrände und

Ralf Piorr

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40 II Zechen / Friedrich der Grosse

Die Schachtanlage Friedrich der Große3/4 mit dem Blick über den Zechenha-

fen direkt am Rhein-Herne-Kanal,den beiden Fördergerüsten, der Auf-bereitung und dem Kohlenturm, um1958. Auf der Anlage befand sich seit

1928 auch die Zentralkokerei allerSchächte. Das Wahrzeichen Horsthau-sens, der 130 Meter hohe Kamin „Lan -ger Fritz“, war 1950 errichtet worden.

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48 II Zechen / Friedrich der Grosse

Das Bild aus dem Jahr 1978 zeigt dieSchächte 6 (vorn rechts), 3 und 4 der

Zeche Friedrich der Große. Linksneben den Schächten 3 und 4 dieKohlenwäsche. Links im Bild: das

Hafenbecken des Rhein-Herne-Kanals, rechts das im Jahr 1968

zunächst als Landesstraße errichteteTeilstück der A 42.

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II Zechen / Friedrich der Grosse 49

Das Bild aus dem Jahr 2010zeigt das ehemalige Zechenge-lände Friedrich der Große 3/4/6.In dem seit 1983 errichtetenGewerbegebiet Friedrich derGroße sind derzeit laut Anga-ben der Wirtschaftsförderungs-gesellschaft etwa 2800 Men-schen beschäftigt. Dort hat sichunter anderem das Logistik-Unternehmen UPS angesiedelt.Vorn im Bild der YachthafenFriedrich der Große, links dieAutobahn 42.

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III Flöze

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164 III Flöze / Gottfried Zechel

Gottfried Zechel

Gottfried Zechel, Jahrgang 1930, arbeitete 40 Jahre lang alsBergmann. Nach der Schließung von Mont Cenis 1978wurde er zur Zeche Hugo nach Gelsenkirchen verlegt. Dortabsolvierte er sein 32. Jahr im Kohlerevier und ließ sichdann abstufen. Er leitete fortan die Förderung: „Da habeich gesehen, dass es unter Tage auch gute Arbeit gibt.“Zechel wurde 1987 pensioniert und ist Mitglied des Berg-manns-Unterstützungs-Vereins Herne-Sodingen 1885.

Gottfried Zechel nach einer Grubeneinfahrt, 1972

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III Flöze / Gottfried Zechel 165

Ich hätte nie geglaubt, dass ich mal so alt werde. 32 Jahre im Kohlenre-vier, normalerweise wird man da nicht alt. Und ich hätte nie geglaubt,dass es hier mal keinen Bergbau mehr geben wird. Ich habe dochselbst erlebt, wie man auf der Straße den Kohlenlastern hinterher ge -laufen ist, falls mal ein Stück von der Ladefläche fällt, und auf demPütt haben wir Sonntagsschichten gefahren.

Ich kam 1947 von Pirna an der Elbe nach Herne. Nach dem Wunschmeiner Mutter sollte ich Tintenpisser werden, denn mein Stiefvater warSchmied und kam immer dreckig nach Hause. Dann hörte ich, dassman mich in den Uranbergbau schicken wollte, weil ich in der HJ ge -wesen war. Also packte ich meine Sachen und fuhr mit dem Zug zueinem Cousin nach Köln, mal im Bremserhäuschen, mal auf dem Dach,und etwas zu essen, musste man sich selbst organisieren. Es war er -bärmlich. Auf dem Kölner Bahnhof kam ich mit einem Leipziger insGespräch. „Du“, sagte er, „Herne ist die goldene Stadt. Da gibt es Ar beitunter Tage und da gibt es Essen!“ Ich musste gar nicht überlegen undbin zurück nach Herne gefahren und dort sofort zur Zeche Mont Cenis.Nach der ärztlichen Untersuchung bekam ich meinen Anlegeschein unddie Markennummer 199. Am nächsten Tag habe ich im Revier die ersteSchicht verfahren. Da bin ich sofort vor Ort zum Schüppen gekommen.Ein paar Tage später hieß es: „Du gehst in den steilen Streb. Der Rut-schenmeister zeigt dir, wie das geht. Dann kannste Kohlen machen.“

Die Arbeit unter Tage hat mir nichts ausgemacht. Ich hatte Kohldampf,und da gab es zu essen. Es gibt keine schöne Arbeit, es gibt nur guteund schlechte. Die beschissenste Arbeit ist, wenn das Flöz unter 1.60Meter oder sogar unter ein Meter ist. Man kriecht in so einen Schnür-riemen rein mit dem schweren Abbauhammer in der Hand. Alles, wasim Kohlenrevier an Arbeiten anfällt, habe ich gemacht: Gedingeschlep-

per, Lehrhauer, Hauer, Ortsältester, Kolonnenführer, Aufsichtsführer,Steiger und Reviersteiger. Den Hauerkurs musste ich allerdings dreimalwiederholen. Wenn man dort zu oft gefehlt hatte, war es vorbei. Aberwenn ich von der Morgenschicht kam, bin ich erst bei Nöthe rein undhabe ein paar genommen. Und dann habe ich gedacht: „Scheiß aufden Hauerkurs, das kannst du doch.“

Natürlich bin ich bergbaubewusst, aber ich weiß auch, wie es wirklichwar. Dieses Gerede von der „großen Kameradschaft“ ist zum Teil auchdummes Geschwätz. Ich habe vier Jahre im Bullenkloster im Ostbachtalgewohnt. Wenn es vor der Währungsreform Brot gab, wurden Stückeaus dem Spind geklaut. Geld und Klamotten ebenso. Auch unter Tagewar nicht immer die große Nähe da. Einmal war ich mit einem Kumpelbeim Rauben. Wir sollten noch verwertbares Material aus dem Gruben-bau herausholen. Er war weit vorgegangen und plötzlich brach dasHangendes nach und klemmte ihm den Fuß ein. Er fing sofort an zuschreien. Ich rief ebenfalls um Hilfe, aber keiner kam, obwohl Leute inder Nähe waren. Was sollte ich machen? Ich dachte: „Mensch, gehst dudahin? Entweder geht der kaputt oder wir gehen beide kaputt.“ Wennich ein Beil dabei gehabt hätte, hätte ich ihm das Bein abgehauen, umihn herauszuziehen. Schließlich bin ich nach vorne und habe die ersteSteinplatte hochgehoben und sofort wieder zurück. Dann das gleichemit der zweiten. Beim dritten Mal habe ich ihn gepackt und rausgezo-gen. Er hatte sich die Knochen kaputt geschrammt, aber sein Bein istheute noch dran. Als alles vorbei war, kamen langsam auch die Kum-pels aus den anderen Abschnitten, um zu gucken, was passiert war.

Beim Unglück 1965 war ich in der Grubenwehr. Neun Leute sind umge-kommen, vier haben wir unter Tage lassen müssen. Nach dem es ge -knallt hatte, sind wir als Trupp mit Maske und Flammenschutzanzug

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166 III Flöze / Gottfried Zechel

Karte von Flöz Karl der Schachtanlage MontCenis mit einer Verortung der Verletzten undToten in der Abbaustrecke nach dem Gru-benunglück am 22. Juni 1965. Die Kartegehört zum Material der Untersuchungs-kommission des Bergamtes, die ihren 85-seitigen Schlussbericht am 9. März 1966vorlegte. Abschließend heißt es dort: „Ausden Maßnahmen, die getroffen oder mögli-cherweise unterlassen worden sind, ist esnicht möglich, eine so große Fahrlässigkeitabzuleiten, dass daraufhin eine Strafverfol-gung eingeleitet werden könnte, die Aus-sicht auf Erfolg hätte.“

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III Flöze / Gottfried Zechel 167

runter zur 7. Sohle, 1.000 Meter Tiefe. Nach 400 Metern im Streb habeich jemanden rufen hören. Da lag Paul Wirtulla, eingeklemmt, na -ckend, nur Schuhe an, dem hatte es alles vom Körper gerissen. Er sagteuns, dass am Hilfsantrieb noch Leute waren. Für ihn haben wir überdas Telefon Hilfe geordert: „Mannschaft kommen lassen, Schleifkorb.“Er ist später im Bergmannsheil an seinen Verbrennungen gestor ben.Wir sind weiter und kamen an eine Störung, das heißt, das Ab bauflözging mit einem Knick in halbsteile Lage rung über. Wir gingen auf derVersatzseite neben dem Panzerförderer her. Und genau in dem Knicklag ein Toter. Ich bin auf den Panzer ge stiegen, um ihn herauszuziehen.In dem Augenblick wurde es ganz ruhig. Als ob die Stille jegliches Ge -räusch in sich aufgesogen hätte. Und dann bin ich durch die Gegendgeflogen. Das war die dritte und schwerste Explosion, die durch den

Streb gezogen war. Wir hatten alle Verbrennungen. Da sind wir nurnoch raus und haben den Mann nicht mehr mitgenommen. Und dannwar Schluss, dann wurde zugemauert.

Es ist nicht einfach, wenn man einen Kumpel liegen lassen muss. Ichhabe ihn ja an der Hand gehabt. Mit allem, was dann kam, war manallein. Wir hatten keinen Psychologen. Wenn ich danach einen getrun-ken hatte, habe ich gesponnen und bin unter die Couch gekrochen,weil ich dachte, die Flamme kommt. Sechs Wochen habe ich ge braucht,bis es wieder normal wurde. Wenn ich darüber im Detail rede, kom-men mir heute noch die Tränen. Ich kann verstehen, wenn Väter ihrenSöhnen gesagt haben: „Du wirst kein Bergmann.“ Die haben Recht. Esist nicht einfach, das alles mitzumachen.

Hunderte von Menschen umsäumten am 22. Juli1963 den Eingang von Mont Cenis, während das„Clinomobil“ des Bergmannsheil Bochum zwi-schen der Zeche und dem Krankenhaus un -entwegt hin- und herpendelte.

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IV Querschlag

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IV Querschlag / Pütt und Schreibtisch 191

Kohlegewinnung von Hand. Der Streb ist mit Holzstempeln, Schalhölzern und Spitzen-verzug gesichert. Die Stempel weisen bereits erhebliche Brüche auf. Die engen räumli-chen Verhältnisse sind deutlich zu erkennen. Per Hand wird die Kohle in die nebenste-hende Karre geschippt.

Streckenvortrieb in geneigter Lagerung mit Eisenausbau. Die Eisen-Segmente konntengrößere Kräfte aufnehmen und schoben sich bei größerer Belastung zusammen, sodass sie nicht brachen. An der Decke sieht man eine elektrische Lampe, die zur Orien-tierung und Signalgebung diente.

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192 IV Querschlag / SV Sodingen

Alfred Schmidt mit seiner alten Torwartkappe, 2006

Der letzte Kumpelverein

Ralf Piorr

Die Glanzzeit des SV Sodingen

Zu Anfang hat Hännes Adamik noch vor Kohle gearbeitet, später war erAnschläger auf Mont Cenis 2/4. Leo Konopczynski war Fördermaschinist.„Das war schon was Besseres“, erinnert sich Torhüter Alfred Schmidt andie Tage, als der SV Sodingen Fußballgeschichte in der Oberliga Westschrieb. „Mich hat die Mannschaft mal zu einem Nachholspiel gegenSchalke von der Arbeit abgeholt. Mit dem Bus vorgefahren, Schuhe reinund dann ab. Ich habe als Schweißer Akkord gearbeitet. Nach achtStunden Arbeit kam das Torwart-Training: Sandkuhle und immer hinund her. Mir ist dann abends beim Essen manchmal der Löffel vor Er -schöpfung aus der Hand gefallen.“ Das Sodinger Fußball-Wunder be -gann nach dem Zweiten Weltkrieg mit einer goldenen Generation vonFußballern. Die jungen Spieler zogen von Haus zu Haus, um eine freiwil-lige Kohlenspende für die Mannschaft einzusammeln. Der „Schwatte“Hännes Adamik immer voran, schließlich war der Torjäger der Bekann-

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IV Querschlag / SV Sodingen 193

Nirgendwo sonst lagen Bergbau und Fußball so nah beieinander wie in Sodingen. Die Spieler Nowak, Geesmann und Schuhmacher

bahnen sich einen Weg durch die Menschenmenge, 1953.

teste. Als man genug hatte, stapelte man die Kohlensäcke auf einenLastwagen, fuhr in die Textilstadt Wuppertal und tauschte das begehrte„schwarze Gold“ gegen einen Satz neuer Kluften ein. Trainiert wurdezum Teil in der Dunkelheit auf einem alten Aschenplatz, „Aschenkippe“genannt. Irgendwann spendierte die Zechenleitung einen Scheinwerfer,damit wenigstens eine Ecke des Spielfeldes ausgeleuchtet werdenkonnte. „Wir haben die Bälle mit weißer Farbe vom Pütt angemalt,damit man die überhaupt sehen konnte“, sagt Alfred Schmid undgrinst amüsiert.

Innerhalb von wenigen Jahren gelang der Bergarbeiter-Truppe derDurchmarsch von ganz unten bis zur Oberliga West (1952), der damalshöchsten Spielklasse. „Als wir den Aufstieg bei einem Auswärtsspiel inBielefeld geschafft hatten und mit einem alten Bus zurückkamen, dawaren die Straßen schwarz vor Menschen. Wir mussten aussteigen undzu Fuß bis zu unserem Vereinslokal gehen“, sagt Schmidt, der aufgrundseiner Gelenkigkeit und seiner Paraden bald den Beinamen „Der Gum-mimann“ erhielt. Er ist der letzte Lebende der „drei Idole“, StürmerHännes Adamik (†2005), Verteidiger Leo Konopczynski (†2003) undSchmidt selbst, die in ihrer gesamten Karriere nur in Sodingen gespielthaben und wesentlich zum Erfolg des Vereins beitrugen.1

Sodingen - das war Fußball im Schatten des Förderturms, umgebenvon den typischen Bergarbeiterkolonien mit ihren unverputzten, ruß-geschwärzten Ziegelbauten; und das war die Zeche Mont Cenis, die über

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IV Querschlag / Schlagende Wetter 211

Schlagende Wetter

Ralf Piorr

Grubenunglücke und Trauerrituale

Die Knappen sind in die Jahre gekommen. An diesem unwirtlichenNovembertag tragen sie ihre Fahnen über den Friedhof, die Gruben-lampe in der Hand und den Ehrenkranz voran. An ihren schwarzenUniformen blitzen die goldenen Knöpfe. Das Gedenken zum Volkstrau-ertag ist bei ihnen zum Ritual geworden. „Tief in der Erde Schoß, istunser Los.“ Im Zeichen von Schlägel und Eisen halten sie die Erinne-rung wach. „Man wollte die Opfer des Bergbaus nicht vergessen, dashatte man einst geschworen, und dieses Versprechen halten wir auf-recht“, sagt Manfred König, Jahrgang 1940, Geschäftsführer des HernerRings, in dem die sieben verbliebenen Herner und Wanne-EickelerKnappenvereine mit ihren etwa 700 Mitgliedern organisiert sind. „Wirsind älter und weniger geworden“, räumt König ein, „aber an unsererTradition halten wir fest. Denn der Bergbau, der nicht nur diese Regionhat entstehen lassen, hat doch vielen Kumpels das Leben gekostet.“

Tatsächlich ist die Bergbaugeschichte auch eine Geschichte der Gruben-unglücke. Je weiter der Ruhrbergbau im 19. Jahrhundert nördlich einerLinie der heutigen A40 voran schreitet, desto größer werden die Gefah-

ren. Lagen im südlichen Ruhrgebiet die Flöze noch oberflächennah, somuss man im nördlichen Teil Tiefbauschächte durch die starke Mergel-schicht treiben, um die reichhaltigen Fettkohlevorkommen zu erschlie-ßen. Aber die begehrte Kohle birgt auch neue Risiken. Da die Flöze voneiner Kreideschicht überlagert sind, konnte die Kohle nicht über dieJahrhunderte hinweg „ausgasen“. Das eingeschlossene Methangaswird erst beim Abbau frei und ist bei einer bestimmten Konzentrationexplosiv: Schlagwetterexplosionen fordern seit 1860 auf jeder der neuentstehenden Schachtanlagen ihre Toten.1 Und oft sind sie nur Auslöserfür Kohlenstaubexplosionen, in deren Folge gewaltige Feuerwalzenund Druckwellen durch die Strecken unter Tage rasen. Dazu kommendie Gefahren durch Grubenbrände, Steinschläge und Strebbrüche.

Von 1859 bis 1973 werden für Herne und Wanne-Eickel über 100 Gru-benunglücke mit tödlichem Ausgang notiert, bei denen über 600 Berg-leute umkamen. Wohl jeder Bergmann in den Zeiten vor der Vollme-chanisierung unter Tage hat in seinem Arbeitsleben mehrere tödlicheUnglücke in der Grube, im Revier oder auf seinem Pütt miterlebt. NochMitte der 1950er Jahre verunglücken im Ruhrbergbau monatlich etwa45 Bergleute tödlich, dabei nehmen die großen Katastrophen der Zeit(Schlagwetterexplosion auf der Schachtanlage Grimberg 3/4 in Kamenmit 405 Toten am 20. Februar 1946 und die Schlagwetterexplosionenauf der Zeche Dahlbusch in Gelsenkirchen am 20. Mai 1950 mit 78Toten) an der Gesamtzahl der Opfer nur einen geringen Prozentsatz ein.Vor allem sind es Arbeitsunfälle, die unter den erschwerten Bedingun-gen fatale Folgen haben. So berichtet am 19. März 1951 die Herner Zei-tung in einer Kurznotiz: „In der Nacht zum Samstag verunglückte imUntertagebetrieb der Zeche Julia, Revier 4, der 27jährige Hauer ErichWeinberg beim Umsetzen von leeren Wagen tödlich. Der Unfall ereig-nete sich, als das Haspelseil der Streckenförderung riss.“

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210 IV Querschlag / Schlagende Wetter

Trauerfeier für die Opfer desGrubenunglücks auf Shamrock,1. September 1959. Bereits am29. Juli 1959 wurden JohannIrlbacher, Wilhelm Frerichs,Hans Fest, Johann Hadas,Wolfgang Meier, WolfgangMüller und Lothar Paul bei

einem Strebbruch auf der 750-Meter-Sohle im Flöz Präsident

verschüttet. Schnell wurdeklar, dass für die sieben Ver-

missten keine Überlebenschancemehr bestand. Die Bergungder Leichen dauerte einen

Monat. An dem Tag als sechsGrubenopfer auf dem Wiescher -

friedhof beerdigt wurden,wurde auch die letzte Leiche,

der Reviersteiger Johann Irlba-cher, geborgen - 34 Tage nach

dem Unglück.

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216 IV Querschlag / Im Wandel

Im Wandel

Kai Wiedermann

Werden, verdrängen, werden:der Bergbau und die Folgen

Der Begriff Strukturwandel ist so beliebt wie undefiniert. Er umschreibteinen Prozess, der stattfinden muss, weil ein anderer Prozess erst sei-nen Höhepunkt erreicht und dann umkippt. Der Vormarsch der Mon-tanindustrie hat über Jahrzehnte hinweg ein landschaftlich geprägtesLeben umgekrempelt. Aus Monokultur eins entwickelt der MenschMonokultur zwei - Vergehen, Verdrängen, Werden. Es entsteht das, wasim 21. Jahrhundert unter dem Begriff „Boom“ firmiert. Ein Boom istsattsam, aber hat auch seine Schattenseiten. Er bedeutet Reichtum,Planlosigkeit und Ausbeutung. Wer das Geschehen in Herne undWanne-Eickel ins Heute übersetzt, würde es womöglich so formulieren:China lässt grüßen.

Um 1850 ist Herne auf der Landkarte kaum verzeichnet - „ein kleinesDorf mit wenigen hundert Einwohnern, inmitten seiner schönen Wal-dungen und in unmittelbarer Nähe der Ausläufer des Ruhrgebirges“.1

In vielen Schritten wachsen durch die Ansiedlung von Zechen, durchden Abbau von Rohstoffen und das Verteilen von Geld zwei Städte

heran, die nach ihrer Verschmelzung 1975 weit über 200.000 Einwohnerzählen. Was der Bergbau innerhalb von 125 Jahren auslöst, ist nurschwer zu begreifen: Mentalitäten, Landschaften, Kultur und Wirtschaftwandeln sich in einem Ausmaß, den das Wort „Struktur“ nicht treffendbezeichnet.

Als der Bergbau gegen Anfang der 1960er Jahre mit Wucht in seinefinale Krise stürzt, ist klar: Den Menschen in Herne und Wanne-Eickelsteht der nächste Wandel bevor. Keine 20 Jahre später schließen mit„Pluto-Wilhelm“ 1976 und „Friedrich der Große/Mont Cenis“ 1978 dieletzten von elf eigenständigen Zechen in Herne und Wanne-Eickel.Nicht einmal zwei Jahrzehnte hat das Sterben gedauert - ein schnellerTod, historisch betrachtet. Was folgt, ist das Ringen um Zukunft, das bisheute anhält. Dem Werden, Verdrängen und Vergehen, so der Plan, sollneues Werden folgen. Undenkbar, dass sich Herne und Wanne-Eickelzu dem zurückentwickeln, was sie waren: Dörfer.

Phasen und Kategorien Bei genauer Betrachtung muss die Geschichte des Strukturwandels inmehrere Phasen und Kategorien unterteilt werden. Ende der 1920erJahre fordert die erste Welle der Rationalisierung im Bergbeu ihren Tri-but (Teutoburgia, 1925; Hannibal 2, 1926; Unser Fritz 1/4, 1928). Aber siemacht aus Zechen nicht zwangsläufig tote Orte, sie wandelt sie zu neuenProduktionsstätten. So entwickelt sich ein Wirtschaftszweig, der inleicht abgewandelter Form bis heute existiert: die chemische Industrie.Sasol Solvents (Shamrock, 1928 und 1947) oder Evonik Degussa (Hanni-bal 2, 1936) produzieren noch heute an ehemaligen Zechenstandorten.Die Chemie gilt dabei als relativ stabiler Wirtschaftszweig mit etwa 800Arbeitsplätzen. Der erste Wandel ist zart. Er gründet sich auf den Berg-bau und hinterlässt nur wenige Brachen.

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IV Querschlag / Im Wandel 217

Rund um den Malakowturm auf Unser-Fritz 1/4 unweit der Autobahn 42 sollen sich Unternehmen der Logistik-Branche ansiedeln.

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Gestaltung: Kerstin RauKonzept: Ralf Piorr, Kerstin Rau, Kai WiedermannBildbearbeitung: Harald KrugDruck: Druckverlag Kettler GmbH

adhoc VerlagRalf Piorr & Kerstin RauGoethestr. 51D-44623 Hernewww.adhoc-verlag.de

1. Auflage Dezember 2010© adhoc Verlag, 2010ISBN 978-3-9814087-0-6Die Deutsche Bibliothek verzeichnet dieses Buch unter http://dnb/ddb/deAlle Rechte vorbehalten

Mit freundlicher Unterstützung

Der Film „Vor Ort – Erinnerungen an den Bergbau in Herne und Wanne-Eickel“ von Young-Soo Chang und Ralf Piorr unter: www.youtube.com