15
Vorlesung Wintersemester 2017/18: Arbeitsfelder der Komparatistik 7. Verstehen verstehen: Grundzüge der Hermeneutik

Vorlesung Wintersemester 2017/18: Arbeitsfelder der … · 2017. 12. 7. · Diegese und Narration • Differenzierung von Rekonstruktion des Objekts (was sagt der Text?) • und Applikation

  • Upload
    others

  • View
    2

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Vorlesung Wintersemester 2017/18: Arbeitsfelder der … · 2017. 12. 7. · Diegese und Narration • Differenzierung von Rekonstruktion des Objekts (was sagt der Text?) • und Applikation

Vorlesung Wintersemester 2017/18:

Arbeitsfelder der Komparatistik

7. Verstehen verstehen:

Grundzüge der Hermeneutik

Page 2: Vorlesung Wintersemester 2017/18: Arbeitsfelder der … · 2017. 12. 7. · Diegese und Narration • Differenzierung von Rekonstruktion des Objekts (was sagt der Text?) • und Applikation

Phol ende uuodan uuorin zi holza.

du uuart demo balderes uolon sin uuoz birenkit.

thu biguol en sinthgunt, sunna era suister;

thu biguol en friia, uuolla era suister;

thu biguol en uuodan, so he uuola conda:

sose benrenki,

sose bluotrenki,

sose lidirenki:

ben zi bena, bluot zi bluoda,

lid zi geliden, sose gelimida sin.

Page 3: Vorlesung Wintersemester 2017/18: Arbeitsfelder der … · 2017. 12. 7. · Diegese und Narration • Differenzierung von Rekonstruktion des Objekts (was sagt der Text?) • und Applikation

• Wie ist der Text überliefert?

• Was für eine Sprache ist das?

Wie funktioniert ihre Grammatik? ihr Wörterbuch?

• Welche Form hat das Ganze, welche Form haben

dieTeile?

• Von wem ist die Rede?

• Welche Geschichte ist da erzählt?

• Wie ist sie aufgebaut, was ist ihre Struktur?

• Wer sind die Sprecher, wer die ursprünglichen Adressaten?

• In welcher Situation wird das erzählt?

• Und zu welchem Zweck?

• Welche Welt (-ordnung, -ansicht) wird hier vorausgesetzt?

• Was interessiert mich an diesem Text, wie gehe ich mit ihm um?

Page 4: Vorlesung Wintersemester 2017/18: Arbeitsfelder der … · 2017. 12. 7. · Diegese und Narration • Differenzierung von Rekonstruktion des Objekts (was sagt der Text?) • und Applikation

Phol ende uuodan uuorin zi holza.

du uuart demo balderes uolon sin uuoz birenkit.

thu biguol en sinthgunt, sunna era suister;

thu biguol en friia, uuolla era suister;

thu biguol en uuodan, so he uuola conda:

sose benrenki,

sose bluotrenki,

sose lidirenki:

ben zi bena, bluot zi bluoda,

lid zi geliden, sose gelimida sin.

Page 5: Vorlesung Wintersemester 2017/18: Arbeitsfelder der … · 2017. 12. 7. · Diegese und Narration • Differenzierung von Rekonstruktion des Objekts (was sagt der Text?) • und Applikation

Rainer Maria Rilke

Archaïscher Torso Apollos

Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,

darin die Augenäpfel reiften. Aber

sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,

in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,

sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug

der Brust dich blenden, und im leisen Drehen

der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen

zu jener Mitte, die die Zeugung trug.

Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz

unter der Schultern durchsichtigem Sturz

und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;

und bräche nicht aus allen seinen Rändern

aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,

die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.

Page 6: Vorlesung Wintersemester 2017/18: Arbeitsfelder der … · 2017. 12. 7. · Diegese und Narration • Differenzierung von Rekonstruktion des Objekts (was sagt der Text?) • und Applikation

Zur Unvermeidbarkeit der Hermeneutik

1. Literarisches Verstehen ist ein Sonderfall von Verstehen überhaupt, also

ein genuin dialogischer Prozess. Es geht hier wie in jedem Verstehen um

das Gesagte, das Mitgemeinte (Implizierte), um Vorwissen, Referenzen,

Kontexte.

2. Der literarische Dialog ist genuin asymmetrisch, weil medial vermittelt.

3. Die Asymmetrie nimmt mit der zeitlichen und kulturellen Distanz zu.

4. Fiktionale Texte sind genuin rezeptionsoffen bei gleichzeitigem Rezep-

tionsanspruch.

5. Verstehen erfordert eine Balance von Subjektakzentuierung und Objekt.

6. (Vor-) Verständnis des Teils und (Vor-) Verständnis des Ganzen setzen

einander voraus: erster „hermeneutischer Zirkel“.

7. Vorverständnis und Korrekturbereitschaft setzen einander voraus:

zweiter „hermeneutischer Zirkel“.

8. Rekonstruktion und Applikation setzen einander voraus: dritter

„hermeneutischer Zirkel“.

Page 7: Vorlesung Wintersemester 2017/18: Arbeitsfelder der … · 2017. 12. 7. · Diegese und Narration • Differenzierung von Rekonstruktion des Objekts (was sagt der Text?) • und Applikation

Die Geburt der modernen Hermeneutik aus der

Bibel-Exegese

Die Bibel als Provokation der Hermeneutik:

• die Eine Schrift, das heilige Gotteswort von

universalem Geltungsanspruch

• in der Sammlung vieler verschiedener

Schriften, Menschenworte in verschiedenen

Sprachen

• mit jeweils konkreten einzelnen Adressaten

• in einer Heterogenität des Kanons,

• die offensiv ausgestellt wird –

• im Verhältnis einzelner Schriften, ja sogar

einzelner Teile von Schriften

• und im Verhältnis von Thora (als dem „Alten

Testament“) zum „Neuen Testament“.

Page 8: Vorlesung Wintersemester 2017/18: Arbeitsfelder der … · 2017. 12. 7. · Diegese und Narration • Differenzierung von Rekonstruktion des Objekts (was sagt der Text?) • und Applikation

Vierfacher Schriftsinn, nach dem Hl. Augustinus (zuvor der griechischen

Interpretation der Epen Homers) – am Beispiel des Zeichens „Jerusalem“

1. sensus historicus

(die Bezeichnung der konkreten Sache: „Jerusalem“ ist eine Stadt in

Palästina)

2. sensus allegoricus

(heilsgeschichtlicher Sinn im typologischen Verhältnis zwischen dem

Alten Testament als der zeichenhaften Vorausdeutung auf die Erfüllung

im Neuen Testament: „Jerusalem“ bezeichnet das Zentrum des Gottes-

volkes – die Stadt des jüdischen Tempels ist Vor-Bild der christlichen

Kirche, also der Gesamtheit des neuen Gottesvolkes)

3. sensus moralis

(moralisch-individuell: „Jerusalem“ als Ort des Tempels bezeichnet die

Seele des / der einzelnen Gläubigen, in der Gottes Geist gegenwärtig ist)

4. sensus anagogicus [oder propheticus]

(vorausdeutender Sinn als Verweis auf die vollendete Gottes-Welt: Vor-

Bild „Jerusalem“ verweist auf das „Himmlische Jerusalem“)

Page 9: Vorlesung Wintersemester 2017/18: Arbeitsfelder der … · 2017. 12. 7. · Diegese und Narration • Differenzierung von Rekonstruktion des Objekts (was sagt der Text?) • und Applikation

Die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn

als Grundlage der Hermeneutik:

• Differenzierung mehrerer Bedeutungsschichten

• Differenzierung von „matière“ und „san“, Stoff und Sinn (Chrétien de

Troyes), wörtlicher Bedeutung und ‚tieferem‘ Sinn – aber auch schon

Diegese und Narration

• Differenzierung von Rekonstruktion des Objekts (was sagt der Text?)

• und Applikation (was sagt der Text mir?)

• die genuin geschichtliche Dimension des Verhältnisses von Ausleger

und Ausgelegtem (am deutlichsten sichtbar in der Typologie:

Verstehen in der Zeit vor Christus und in der Zeit nach Christus)

Gefahr des Schematismus einfacher Eins-zu-Eins-Übersetzungen.

Page 10: Vorlesung Wintersemester 2017/18: Arbeitsfelder der … · 2017. 12. 7. · Diegese und Narration • Differenzierung von Rekonstruktion des Objekts (was sagt der Text?) • und Applikation

Martin Luthers neuartige Lektüre des

Römerbriefs von Paulus:

1. Die Schrift „aus sich selbst heraus“ verstehen

(„scriptura sui ipsius interpres“),

2. und zwar nach einem möglichst einfachen

und einheitlichen Sinn

(„scripturam tradere simplici sensu“)

statt eines bloß schematischen Übersetzens

von Allegorien,

3. dabei Orientierung an der einen zentralen Glaubenswahrheit (der

Erlösung allein durch Christus und den Glauben an ihn) – also der ‚Mitte

des Evangeliums‘, nach der alles Übrige ausgerichtet und bewertet wird.

4. Also nicht „wort uß wort“ verstehen, sondern „sin uß sin“.

Doppelter hermeneutischer Zirkel:

1) den Teil aus dem Ganzen erklären – das Ganze aus seinen Teilen,

2) den fremden Text aus eigener Situation heraus befragen – ihn auf

diese Situation zurückbeziehen (Rekonstruktion und Appilkation).

Page 11: Vorlesung Wintersemester 2017/18: Arbeitsfelder der … · 2017. 12. 7. · Diegese und Narration • Differenzierung von Rekonstruktion des Objekts (was sagt der Text?) • und Applikation

Wilhelm von Humboldts „kopernikanische Wende“

der Sprachphilosophie (im Anschluss an Joh. Gottfried Herder):

„[Es] liegt in jeder Sprache eine eigentümliche Weltansicht.“

…und ihre Folgen für die Hermeneutik:

Friedrich Schleiermachers Berliner Vorlesungen. Schleiermacher steht

• als Theologe in der Tradition der protestantischen Bibel-Hermeneutik;

• zugleich ist er als Philosoph Übersetzer antiker Texte, namentlich der

Dialoge Platos

• und endlich Theoretiker der allgemeinen Hermeneutik im weiteren

• und der Übersetzungswissenschaft im engeren Sinne.

Page 12: Vorlesung Wintersemester 2017/18: Arbeitsfelder der … · 2017. 12. 7. · Diegese und Narration • Differenzierung von Rekonstruktion des Objekts (was sagt der Text?) • und Applikation

Friedrich Schleiermacher,

aus den Vorlesungen über Hermeneutik und Kritik

(hg. von Friedrich Lücke,

gehalten Berlin 1810-1830,

Neuausgabe : Manfred Frank, Frankfurt/M. 1977)

(1)

„die Mitteilung setzt auf jeden Fall

die Gemeinschaftlichkeit der Sprache [...] voraus“.

(2)

„niemand kann denken ohne Worte“

„Ohne Worte ist der Gedanke noch nicht fertig und klar.“

(3)

„Der Einzelne ist in seinem Denken

durch die (gemeinsame) Sprache bedingt

und kann nur die Gedanken denken,

welche in seiner Sprache schon ihre Bezeichnung haben.“

Page 13: Vorlesung Wintersemester 2017/18: Arbeitsfelder der … · 2017. 12. 7. · Diegese und Narration • Differenzierung von Rekonstruktion des Objekts (was sagt der Text?) • und Applikation

(4)

„Wie jede Rede eine zwiefache Beziehung hat,

auf die Gesamtheit der Sprache

und auf das gesamte Denken ihres Urhebers:

so besteht auch alles Verstehen

aus den zwei Momenten,

die Rede zu verstehen als herausgenommen

aus der Sprache,

und sie zu verstehen als Tatsache [actus] im Denkenden.“

„Hiernach ist jeder Mensch

• auf der einen Seite ein Ort, in welchem sich eine gegebene Sprache auf

eine eigentümliche Weise gestaltet, und seine Rede ist nur zu verstehen

aus der Totalität der Sprache.

• Dann aber ist er auch ein sich stetig entwickelnder Geist, und seine

Rede ist nur [vorhanden] als eine Tatsache von diesem“.

Page 14: Vorlesung Wintersemester 2017/18: Arbeitsfelder der … · 2017. 12. 7. · Diegese und Narration • Differenzierung von Rekonstruktion des Objekts (was sagt der Text?) • und Applikation

Zwei Grundtypen von „Interpretation“:

• „grammatische“ Interpretation

(die allgemeine Sprache, als deren Ort der Einzelne erscheint:

der Einzeltext als Dokument einer kollektiven Sprache und Kultur,

eines „Lebens“-Zusammenhangs)

• „psychologische“ Interpretation

(der Einzelne, der die allgemeine Sprache in besonderer Weise

gebraucht:

der Einzeltext als Dokument einer individuellen Hervorbringung).

„Divination“:

„Das Auslegen ist Kunst. … Die glückliche Ausübung der Kunst beruht

auf dem Sprachtalent und dem Talent der einzelnen Menschenkenntnis.“

Page 15: Vorlesung Wintersemester 2017/18: Arbeitsfelder der … · 2017. 12. 7. · Diegese und Narration • Differenzierung von Rekonstruktion des Objekts (was sagt der Text?) • und Applikation

Hans-Georg Gadamer:

• Schreiben, Lesen, Interpretieren, Übersetzen

• sind Teile eines (durch die Kontinuität der

Sprache und der Überlieferung ermög-

lichten) Gesprächs;

• die Summe der Rezeptionen sind das

„Überlieferungsgeschehen“

• als produktive, vom reflektierten „Vorurteil“

ausgehende Anverwandlung

• und Gesamtheit aller „Horizont-

verschmelzungen“.

„Jeder Akt des Verstehens ist nach Schleier-

macher Umkehrung eines Aktes des Redens,

die Nachkonstruktion einer Konstruktion. Die

Hermeneutik ist entsprechend eine Art Um-

kehrung zur Rhetorik und Poetik.“ (Gadamer)