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Vorlesung WS 2014/15 Kognitive Neurowissenschaft des Gedächtnisses: Multiple Gedächtnissysteme Thomas Goschke 1 Fachrichtung Psychologie

Vorlesung WS 2014/15 Kognitive Neurowissenschaft des ... · medialen Temporallappens (inkl. des anterioren Hippocampus), als ultima ratio zur Eindämmung der Epilepsie ... kann ein

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Vorlesung WS 2014/15

Kognitive Neurowissenschaft des Gedächtnisses: Multiple Gedächtnissysteme

Thomas Goschke

1

Fachrichtung Psychologie

Literaturempfehlungen

Gluck, M.A., Mercado, E. & Myers, C.E. (2010). Lernen und Gedächtnis. Vom Gehirn zum Verhalten. Heidelberg: Spektrum Verlag. Kapitel 3.

Purves et al. (2013). Principles of cognitive neuroscience. (2nd ed.). Sinauer. Chapter 8 + 9.

Gazzaniga, M., Ivry, R. & Mangun, R. (2013). Cognitive neuroscience. The biology of the mind (4th ed.). Norton. Chapter 9.

Forschungsansätze und Paradigmen

Neurowissenschaftliche Perspektive

Grundlage aller psychischen Prozesse ist die Signalübertragung zwischen Nervenzellen

Gedächtnisleistungen beruhen auf erfahrungsabhängigen Veränderungen der neuronalen Signalübertragung

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„Any activity-dependent process that modifies, in a sufficiently stable and long-lasting way, the excitatory or inhibitory interactions between pairs of neurons could serve as a mechanism of learning, and any long-lasting alteration of inter-cellular communication can be considered an engram."

(Singer, 1990, S.211)

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Fragen zur Neuropsychologie des Gedächtnisses

Welche Hirnstrukturen sind an Gedächtnisleistungen beteiligt?

Sind Gedächtnisfunktionen an einem bestimmten Ort im Gehirn lokalisiert?

Gibt es unterschiedliche Gedächtnissysteme (und wenn ja: welche und wie viele)?

Was sind die Funktionsprinzipien unterschiedlicher Gedächtnissysteme?

Karl Lashley (1950): „In search of the engram“

Lashley trainierte Ratten, Futter in einem Labyrinth finden

Nach dem Lernen zerstörte er unterschiedliche Teile der Hirnrinde

Gedächtnisfehler hingen von Menge zerstörten kortikalen Gewebes ab; Ort der Läsion spielte geringere Rolle

Lashley schloss daraus:

• Verschiedene kortikale Areale sind gleichermaßen für das Lernen geeignet (Äquipotentialitätsthese)

• Gedächtnisspuren sind nicht an einem Ort lokalisiert, sondern über den Kortex verteilt

Kritik:

• Die Ratten nutzten u.U. Informationen aus unterschiedlichen Sinnesmodalitäten

• Keine Untersuchung subkortikaler Strukturen

Fehler beim Labyrinth-Lernen als Funktion des Ausmaßes kortikaler

Läsionen bei Ratten

Der Fall H.M.

Patient mit schwerer Epilepsie (seit dem 10. Lebensjahr)

1953 im Alter von 27 Jahren operative bilaterale Entfernung großer Teile des medialen Temporallappens (inkl. des anterioren Hippocampus), als ultima ratio zur Eindämmung der Epilepsie

Nach der OP:

• Normale Intelligenz, Intakte Wahrnehmung, Sprache

• Intaktes Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnis (normale Gedächtnisspanne)

Massive anterograde Amnesie

• Verlust der Fähigkeit, neue Ereignisse oder Fakten zu behalten

• Kann normale Unterhaltung führten, aber erinnert sich nach wenigen Minuten der Ablenkung nicht mehr an das Gespräch

Retrograde Amnesie

• Beeinträchtigte Erinnerung an Ereignisse, die vor der Operation stattfanden

• Aber: Erinnerung an weit zurückliegende Ereignisse (> 11 Jahre vor der Operation) ist erhalten

(Milner, Corkin & Teuber, 1968; Corkin, 2002)

H.M. (Henry Gustav Molaison, 1926-2008)

“Every day is alone in itself, whatever enjoyment I’ve had, and whatever sorrow I’ve had…. Right now I’m wondering, have I done or said something amiss? You see, at this moment everything looks unclear to me, but what happened just before? That’s what worries me. It’s like waking from a dream; I just don’t remember.”

Beispiel für H.M.‘s Beeinträchtigung beim Lernen und Abrufen neuer Fakten

Gabrieli, Cohen & Corkin, 1988

• H.M. und neurologisch gesunde Kontrollprobanden sollten Definitionen von Worten lernen, die sie vorher nicht kannten

• Auswahl der korrekten Definition, eines Synonyms oder passenden Satzrahmens

13 © 2011 Cengage Learning

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Dissoziation von Arbeitsgedächtnis und deklarativem Gedächtnis

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Patient K.F.: Läsion im linken temporoparietalen Kortex

Patient H.M.: Läsion im bilateralen anterioren medialen Temporallappen

Medial-temporales Gedächtnissystem

Temporallappen

Hippokampus

Amygdala

Gazzaniga et al. (2010). © W.W.Norton

Medial-temporales Gedächtnissystem

Gluck, Mercado and Myers: Learning and Memory,

Copyright © 2008 by Worth Publishers

Medial-temporales Gedächtnissystem

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H.M.‘s Läsion

21 Corkin et al. (2007). H.M.’s medial temporal lobe lesion: Findings from magnetic resonance imaging. Journal of Neuroscience 17: 3964–3979.

Strukturen im medialen Temporallappen, von denen man aufgrund des Berichts des Chirurgen annahm, dass sie bei H.M. entfernt worden waren

Späterer MRT Scan zeigte, dass Teile von H.M.’s posteriorem Hippocampus nicht entfernt worden waren. Allerdings zeigte Gewebe Anzeichen von Atrophie.

MRT-Scans von H.M.’s Gehirnläsion

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Anteriorer Hippocampus wurde vollständig entfernt

Posteriorer Hippocampus ist in beiden Hemisphären noch vorhanden Widerlegte die 40 Jahre lang vorherrschende Meinung, dass H.M. keinen Hippocampus mehr hat!

Amnesien

Hirnorganisch bedingte Gedächtnisstörungen als Folge von chirurgischen Eingriffen, Schädel-Hirn-Traumata, Schlaganfällen, Infektionen (Enzephalitis), Neurodegenerativen Erkrankungen (Alzheimer- u. Korsakoff-Krankheit)

• medialer Temporallappen (Hippokampus u. angrenzende Gebiete)

• Operation (H.M.) • Sauerstoffmangel (R.B.)

• Diencephalon (dorsomedialer Kern des Thalamus; Mammilarkörper)

• Pat. N.A. (Fechtverletzung) • Korsakoffkrankheit (Vitamin-B1-Mangel als Folge

von Unterernähung bei Alkoholsucht)

© 2013 by Worth Publishers

Beeinträchtigte freie Reproduktion bei Patient N.A. und Korsakoffpatienten

Evidenz für die Rolle des Hippokampus für die Enkodierung ins deklarative Gedächtnis

• Enkodierung (im MRT-Scanner): • Probanden kategorisierten Worte als belebt/unbelebt oder groß/klein • Farbe signalisiert die jeweils auszuführende Kategorisierung

• Test (nach der MRT-Session): • Probanden beurteilten alte und neue Worte danach, • (a) wie sicher sie diese wiedererkannten • (b) ob sie zuvor in rot oder grün dargeboten worden waren

Subsequent-memory effect

Aktivierung im posterioren Hippocampus und posterioren parahippocampalen Kortex sowie im Frontalkortex während der Enkodierung korrelierte mit der späteren Erinnerungsleistung

Konsolidierung und Interaktionen zwischen Hippokampus und Neocortex

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Hirnschädigung

Zeit

Retrograde Amnesie Beeinträchtigte Gedächtnis für Ereignisse, die vor der der Hirnverletzung stattfanden

Anterograde Amnesie Beeinträchtigtes Gedächtnis für Ereignisse oder neue Fakten, die nach der Hirnverletzung enkodiert werden

Gluck, Mercado and Myers: Learning and Memory, Copyright © 2008 by Worth Publishers

Zeitlicher Gradient bei der retrograden Amnesie

Ribot (1882): Retrograde Amnesie nach Kopfverletzungen betrifft ältere Erinnerungen weniger stark als jüngere Erinnerungen

Zeitlicher Gradient bei der retrograden Amnesie

0,5

Ged

äch

tnis

leis

tun

g

Zeit zwischen Lernen und

Zeitpunkt der Läsion

Kontrollgruppe

Hippokampusläsion

Weiter zurückliegende

Ereignisse sind

weniger von der

Läsion betroffen!

Normale

Vergessenskurve

Zeitlicher Gradient bei retrograder Amnesie

Days between prior learning and lesion

(a) Ratten; Futterpräferenz

(b) Ratten; kontextuelle Furchtkonditionierung

(c) Affen; Objektdiskrimination

Kreise: Hippokampale Läsion

Quadrate: Kontrollgruppe

McClelland et al., 1995, Psychol Rev

Zeitlicher Gradient bei zeitweiser retrograder Amnesie nach einer elektrokonvulsiven Behandlung

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Evidence of temporally limited retrograde amnesia in patients who have undergone

electroconvulsive treatment.

Konsolidierungshypothese

Abruf neuer Gedächtnisinhalte hängt nur für gewisse Zeit von medial-temporalen Strukturen ab

Medial-temporale Strukturen können nicht der anatomische Ort sein, an dem Gedächtnisspuren langfristig gespeichert werden

Konsolidierungshypothese (vgl. bereits Müller & Pilzecker, 1900)

• Neue Gedächtnisspuren sind zunächst labil und störanfällig

• Langzeitgedächtnis beruht auf strukturellen Änderungen neuronaler Verknüpfungen

• Diese Veränderungen benötigen Zeit („Konsolidierung“)

Neues Ereignis

Konsolidierungshypothese

Evidenz für Konsolidierungsprozesse

• Ereignisse nach der Enkodierung können die Stabilität neuer Gedächtnisspuren beeinflussen

z.B. Elektroschocks; elektrische Reizung von Nervenzellen; Hemmung der Proteinsynthese; Blockierung von Neurotransmittern; Ausschüttung von Hormonen oder Peptiden; Stress und Emotionen;

• Effekte werden kleiner, je größer der zeitliche Abstand zur Lernepisode ist

Zwei Arten von Konsolidierungsprozessen (Dudai, 2011)

1. Bildung neuer Gedächtnisspuren als Folge synaptischer Veränderungen (Minuten – Stunden)

2. Stabilisierung und Reorganisation von Gedächtnisspuren (Wochen – Jahre)

Zwei Formen der Konsolidierung

Mögliche Funktion des hippokampalen Systems

Einzelaspekte eines Ereignisses (Ort, Form, Farbe, Bedeutung etc.) werden in verteilten Regionen des Neokortex repräsentiert

Vermutete Funktion des HS = Schnelle Bindung von Einzelaspekten einer neuen Episode zu einer Gesamtrepräsentation

Beim Abruf ist HS für gewisse Zeit notwendig, um Einzelaspekte der Episode in verteilten neokortikalen Arealen zu reaktivieren

Wiederholte Reaktivation Bildung direkter Assoziationen zwischen den im Neokortex gespeicherten Teilaspekten

Sind diese Assoziationen hinreichend stark Aktivierung eines Teilaspekts führt zum Abruf der gesamten Episode HS ist nicht länger notwendig für den Abruf

Standardmodell der Interaktion von Hippokampus und Neokortex während der Konsolidierung

© 2008 Worth Publishers

© 2013 Sinauer Ass.

Standardmodell der Interaktion von Hippokampus und Neokortex während der Konsolidierung

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Einzelaspekte eines Ereignisses werden in verteilten Kortexregionen gespeichert, die an der Verarbeitung des Ereignisses beteiligt sind Im Hippokampus werden „kondensierte“ Repräsentationen gespeichert, die wie „Zeiger“ oder „Indizes“ auf die kortikalen Repräsentationen verweisen

Während der Konsolidierung werden die Gedächtnisspuren stabilisiert Im Lauf der Zeit werden direkte Assoziationen zwischen den Aspekten des Ereignisses in neokortikalen Regionen etabliert

Abrufhinweise aktivieren die hippokampale „Indizes“, was zur Reaktivierung der kortikalen Gedächtnis-spuren und zum Abruf des Ereignisses führt Abrufhinweise können externe Reize sein oder intern generiert werden (unter Beteiligung des PFC)

Wenn sich direkte Assoziationen zwischen den Aspekten des Ereignisses in neokortikalen Regionen gebildet haben, kann ein Einzelaspekt zur Reaktivierung der gesamten Gedächtnisspur führen (inhaltsadressierter Abruf)

Erklärung der Folgen von Hirnschädigungen durch das Standardmodell

Kleine kortikale Läsionen

nur schwache Effekte auf deklaratives Gedächtnis, da Gedächtnisspuren distribuiert in mehreren Regionen gespeichert sind

selektive Gedächtnisausfälle, je nachdem welche Region geschädigt ist (z.B. Ausfall kategorienspezifischen Wissens über belebte Dinge)

Hippokampusläsionen

anterograde Amnesie, da keine neuen „Indexspuren“ angelegt werden können

retrograde Amnesie für rezente Erinnerungen, da Zerstörung der „Indexspuren“ Zugriff auf die kortikalen Gedächtnisspuren blockiert

Weiter zurückliegende (konsolidierte) Erinnerungen sind weniger stark betroffen, da diese unabhängig vom Hippokampus durch Abrufhinweise reaktiviert werden können

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Simulationsmodell der Interaktion von Hippokampus und Neokortex (Alvarez & Squire, 1994)

Simuliertes neuronales Netzwerk wurde mit Mustern trainiert

Verbindungen zwischen kortikalen Regionen ändern sich nur langsam

Verbindungen zwischen medial-temporalem System (MTL) und Kortex ändern sich schnell

Nachdem Muster im Kortex enkodiert ist, wird es wiederholt durch das MTL-System reaktiviert inkrementelle Verstärkung der Verbindungen zwischen den kortikalen Repräsentationen

Simulationsmodell der Interaktion von Hippokampus und Neokortex (Alvarez & Squire, 1994)

Nach dem Lernen: „Läsion“ des medial-temporalen Systems

Test: Aktivierung eines Teilmusters in Kortexregion 1 Wie gut wird assoziiertes Muster in Kortexregion 2 reaktiviert?

Lädiertes Modell produziert zeitlich abgestufte retrograde Amnesie

Verbindungen zwischen Hippokampus und Neokortex

Neokortikale Assoziationsareale projizieren zum parahippokampalen + perirhinalen Kortex

Von dort gelangt die Information zum entorhinalen Kortex = Konvergenzzone, in der hoch verarbeitete Informationen aus neokortikalen Systemen zu einer Gesamtrepräsentation integriert werden

Diese Information gelangt über den Gyrus Dentatus zur CA3- und CA1-Region des Hippokampus

und wird von dort über das Subiculum zurück zum entorhinalen Kortex geleitet, der zurück in die neokortikalen Regionen projiziert, aus denen die Informationen stammten

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Famous faces test

Probanden sahen berühmte und nicht berühmte Gesichter und sollten versuchen, sich an die Namen der Personen zu erinnern

Hirnaktivität während des Famous faces test

Aktivierung im rechten enthorinalen Kortex nahm umso mehr ab, je weiter zurück die abzurufenden Erinnerungen lagen

(enthorinaler Kortex: Region, durch die Information vom Kortex zum Hippokampus und umgekehrt geleitet wird)

Haist et al., 2001

Rekonsolidierung

Standard-Konsolidierungs-Modell:

• Neue Gedächtnisspuren sind für eine gewisse Zeit nach der Enkodierung labil und interferenzanfällig

Rekonsolidierungshypothese

• Auch ältere (konsolidierte) Gedächtnisspuren können wieder anfällig für Störungen werden, sobald sie abgerufen werden

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Rekonsolidierung

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Furchtkonditonierung: Ton + Schock Bedingung 1: • 24 Std. später wurde der CS präsentiert

um die Furcht-Gedächtnisspur zu reaktivieren

• Direkt danach erhielten einige Tiere einen electrokonvulsiven Schock (ECS) und andere nicht

Bedingung 2: • Keine Reaktivierung der Gedächtnisspur • ECS vs. kein ECS A.V.: Konditionierte Furchtreaktion Resultat: • nach Reaktivierung der Gedächtnispur

störte ECS den Abruf der gelernten Assoziation

• ECS hatte keinen Effekt, wenn die Gedächtnisspur nicht reaktiviert wurde

Rekonsolidierung

Gedächtnisinhalte können in aktivem (Kurzzeitgedächtnis) oder inaktivem (Langzeitgedächtnis) Zustand sein

Zwei Möglichkeiten, Gedächtnisspuren in aktiven Zustand zu versetzen:

• Neue Erfahrungen erzeugen aktive Gedächtnisspur

• Abruf / Reaktivierung gespeicherter Gedächtnisspuren transformiert diese wieder in aktiven Zustand

Aktivierte Gedächtnispuren sind anfällig für Störungen

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Rekonsolidierung Experiment von Nader et al 2000)

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Ratten wurden auf einen auditorischen CS konditioniert, der mit einem Schock (US) gepaart wurde Nach der Reaktivierung der konditionierten Furchtreaktion wurde die Proteinsynthese im basolateralen Kern der Amygdala gehemmt Anisomycin beeinträchtigte das Langzeitgedächtnis für die konditionierte Furchtassoziation, aber hatte keinen Effekt auf die kurzzeitige Speicherung

Rekonsolidierungshypothese

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• Abruf einer Gedächtnisspur hat zwei Effekte:

• (A) Die synaptischen Verbindungen zwischen den Neuronen, die die Gedächtnisspur enkodieren,

werden aufgelöst

• (B) Ein neuerlicher Prozess der Proteinsynthese wird ausgelöst, der zur Rekonsolidierung der

Gedächtnisspur führt.

• Wird dieser Prozess gestört / unterbunden, wird die Gedächtnisspur geschwächt oder geht verloren.