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EDITORIAL © 2014 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.phiuz.de 2/2014 (45) Phys. Unserer Zeit 55 A uch rund hundert Jahre, nachdem Pioniere der Quan- tenphysik sie prägten, strapazieren Begriffe wie Schrö- dingers Katze, Welle-Teilchen-Dualismus, Verschränkung oder spukhafte Fernwirkung immer noch unsere Vorstel- lungskraft. 2012 ging der Nobelpreis für Physik an Serge Haroche und David Wineland für die elegante Verwirkli- chung einiger paradoxer Gedankenexperimente dieser Pio- nierzeit. Es sind kleine und dennoch wichtige Schritte im Ringen um ein tieferes Begreifen der derzeit besten Natur- beschreibung. Ein populäres Rezept, den Zusammenstoß unserer Alltagserfahrung mit der Quantenmechanik zu ver- meiden, wird als „shut up and calculate“ bezeichnet – also nicht lange reden, sondern einfach das Ergebnis nach den Regeln der Quantenmechanik ausrechnen. Bei näherer Be- trachtung führt aber auch dieser Ansatz nicht sehr weit. U m einen quantenmechanischen Zustand eindeutig festzulegen, be- darf es einer Mindestmenge von In- formation. Die Zahl der Koeffizienten, um einen beliebigen Zustand von N Spin-½-Teilchen mit zwei Zuständen darzustellen, wächst wie 2 N . Was recht harmlos beginnt, übersteigt somit schnell jedes vorstellbare Maß. Wie in der bekannten Geschichte der Reiskörner auf dem Schachbrett verdoppeln sich die Koeffizienten für jedes hinzugefügte Teilchen. Für 263 Spin-½-Elektronen zum Beispiel ergibt dies 2 263 Koeffizienten – mehr als die geschätzte Zahl von Protonen im Universum. Deshalb ist es mit vorhandener Technologie nicht möglich, einen solchen Quantenzustand festzuhalten, geschweige denn seine Entwicklung zu be- rechnen. Die 263 Teilchen könnten die freien Elektronen in einem Kupferwürfel von etwa 70 nm Kantenlänge sein. Das ist etwa so groß wie die kleinsten Leiterbahnen in moder- nen Halbleiterchips. Schon solche winzigen Objekte können wir also weder mit Worten beschreiben noch mit existie- renden Methoden berechnen! E in Ausweg, für den sich der weitsichtige Richard Feyn- man schon 1982 stark machte, ist ein Quantencompu- ter. Dieser setzt für jeden Elektronenspin einen quanten- mechanischen Vertreter mit Spin ½ ein, der Quantenbit oder kurz Qubit genannt wird. Quantenmechanische Gatter er- setzen die altbekannten Boolschen Operationen und treiben so einen rein quantenmechanischen Zustand auf das End- ergebnis zu. Dieses muss dann zwar doch wieder mit Mes- sungen der Qubit-Zustände in die Alltagswelt zurückgeholt werden, aber zumindest können wir alle Observablen des so simulierten Systems bestimmen. Da nun das Rechenwerk selbst quantenmechanisch arbeitet, sind bescheidenere 263 Qubits genug, um den Zustand der Elektronen nach- zustellen. Leider existiert bislang keine Technologie, die 263 Qubits von ausreichender Qualität bereitstellen kann. Anderslautende Meldungen einzelner Firmen dienen ver- mutlich eher der Kapitalbeschaffung als der Wahrheitsfin- dung. Nach Feynmans erstem Aufruf dümpelte der Quan- tencomputer einige Zeit in den Randbezirken der theoreti- schen Physik. D as änderte sich erst, als der Mathematiker Peter Shor 1994 einen revolutionären Quanten-Algorithmus zur Faktorisierung großer ganzer Zahlen fand, der alle bis dahin bekannten Methoden in den Schatten stellte. Nun begann eine intensive Suche nach ei- ner für Quantencomputer geeigneten Technologie. Fast jeder Quanteneffekt wurde auf seine Tauglichkeit geprüft. Heute sind einige dieser Ansätze verschwunden, während andere große Fortschritte gemacht haben. Die bis dato spek- takulärsten Experimente wurden mit Photonen, supralei- tenden Schaltkreisen und atomaren Ionen gemacht, wobei die Systeme 2 bis 14 Qubits umfassen. Diese Anzahl von Qubits und auch die Qualität der Operationen reichen noch nicht aus, um bisher unberechenbare Systeme zu modellie- ren oder im großen Stil Primfaktoren zu finden. Doch die- se Ziele sind viel näher gerückt. D er Artikel von Christian Ospelkaus, Ulrich Warring und Yves Colombe in dieser Ausgabe beschreibt die jüngs- ten Entwicklungen mit atomaren Ionen. Noch weiß aber niemand, wie Quantenrechner eines Tages aussehen und auf welchem Ansatz sie beruhen werden. Es ist durchaus möglich, dass eine Mischung verschiedener Technologien zum Einsatz kommt. Statt zu spekulieren gilt hier „shut up and experiment.“ Vorstoß ins Unberechenbare Dietrich Leibfried arbeitet am National Institute of Standards and Technology in Boulder, Colorado, USA. Mit David Wine- land leitet er eine Forschungsgruppe zur Quanten-Informa- tionsverarbeitung und -kontrolle von atomaren Ionen. „NOCH WEISS KEINER, WIE QUANTENCOMPUTER AUSSEHEN WERDEN“

Vorstoß ins Unberechenbare

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E D I TO R I A L

© 2014 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.phiuz.de 2/2014 (45) Phys. Unserer Zeit 55

Auch rund hundert Jahre, nachdem Pioniere der Quan-tenphysik sie prägten, strapazieren Begriffe wie Schrö-

dingers Katze, Welle-Teilchen-Dualismus, Verschränkungoder spukhafte Fernwirkung immer noch unsere Vorstel-lungskraft. 2012 ging der Nobelpreis für Physik an SergeHaroche und David Wineland für die elegante Verwirkli-chung einiger paradoxer Gedankenexperimente dieser Pio-nierzeit. Es sind kleine und dennoch wichtige Schritte imRingen um ein tieferes Begreifen der derzeit besten Natur-beschreibung. Ein populäres Rezept, den Zusammenstoßunserer Alltagserfahrung mit der Quantenmechanik zu ver-meiden, wird als „shut up and calculate“ bezeichnet – alsonicht lange reden, sondern einfach das Ergebnis nach denRegeln der Quantenmechanik ausrechnen. Bei näherer Be-trachtung führt aber auch dieser Ansatz nicht sehr weit.

Um einen quantenmechanischenZustand eindeutig festzulegen, be-

darf es einer Mindestmenge von In-formation. Die Zahl der Koeffizienten,um einen beliebigen Zustand von N Spin-½-Teilchen mit zwei Zuständendarzustellen, wächst wie 2N. Was recht harmlos beginnt,übersteigt somit schnell jedes vorstellbare Maß. Wie in derbekannten Geschichte der Reiskörner auf dem Schachbrettverdoppeln sich die Koeffizienten für jedes hinzugefügteTeilchen. Für 263 Spin-½-Elektronen zum Beispiel ergibtdies 2263 Koeffizienten – mehr als die geschätzte Zahl vonProtonen im Universum. Deshalb ist es mit vorhandenerTechnologie nicht möglich, einen solchen Quantenzustandfestzuhalten, geschweige denn seine Entwicklung zu be-rechnen. Die 263 Teilchen könnten die freien Elektronen ineinem Kupferwürfel von etwa 70 nm Kantenlänge sein. Dasist etwa so groß wie die kleinsten Leiterbahnen in moder-nen Halbleiterchips. Schon solche winzigen Objekte könnenwir also weder mit Worten beschreiben noch mit existie-renden Methoden berechnen!

Ein Ausweg, für den sich der weitsichtige Richard Feyn-man schon 1982 stark machte, ist ein Quantencompu-

ter. Dieser setzt für jeden Elektronenspin einen quanten-mechanischen Vertreter mit Spin ½ ein, der Quantenbit oderkurz Qubit genannt wird. Quantenmechanische Gatter er-setzen die altbekannten Boolschen Operationen und treibenso einen rein quantenmechanischen Zustand auf das End-ergebnis zu. Dieses muss dann zwar doch wieder mit Mes-

sungen der Qubit-Zustände in die Alltagswelt zurückgeholtwerden, aber zumindest können wir alle Observablen desso simulierten Systems bestimmen. Da nun das Rechenwerkselbst quantenmechanisch arbeitet, sind bescheidenere 263 Qubits genug, um den Zustand der Elektronen nach-zustellen. Leider existiert bislang keine Technologie, die 263 Qubits von ausreichender Qualität bereitstellen kann.Anderslautende Meldungen einzelner Firmen dienen ver-mutlich eher der Kapitalbeschaffung als der Wahrheitsfin-dung. Nach Feynmans erstem Aufruf dümpelte der Quan-tencomputer einige Zeit in den Randbezirken der theoreti-schen Physik.

Das änderte sich erst, als der Mathematiker Peter Shor1994 einen revolutionären Quanten-Algorithmus zur

Faktorisierung großer ganzer Zahlenfand, der alle bis dahin bekannten Methoden in den Schatten stellte. Nunbegann eine intensive Suche nach ei-ner für Quantencomputer geeignetenTechnologie. Fast jeder Quanteneffektwurde auf seine Tauglichkeit geprüft.

Heute sind einige dieser Ansätze verschwunden, währendandere große Fortschritte gemacht haben. Die bis dato spek-takulärsten Experimente wurden mit Photonen, supralei-tenden Schaltkreisen und atomaren Ionen gemacht, wobeidie Systeme 2 bis 14 Qubits umfassen. Diese Anzahl von Qubits und auch die Qualität der Operationen reichen nochnicht aus, um bisher unberechenbare Systeme zu modellie-ren oder im großen Stil Primfaktoren zu finden. Doch die-se Ziele sind viel näher gerückt.

Der Artikel von Christian Ospelkaus, Ulrich Warring undYves Colombe in dieser Ausgabe beschreibt die jüngs-

ten Entwicklungen mit atomaren Ionen. Noch weiß aberniemand, wie Quantenrechner eines Tages aussehen undauf welchem Ansatz sie beruhen werden. Es ist durchausmöglich, dass eine Mischung verschiedener Technologienzum Einsatz kommt. Statt zu spekulieren gilt hier „shut upand experiment.“

Vorstoß insUnberechenbare

Dietrich Leibfried arbeitet am NationalInstitute of Standardsand Technology inBoulder, Colorado,USA. Mit David Wine-land leitet er eine Forschungsgruppe zur Quanten-Informa-tionsverarbeitungund -kontrolle vonatomaren Ionen.

„NOCH WEISS KEINER,

WIE QUANTENCOMPUTER

AUSSEHEN WERDEN“