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Arbeit im Bündnis mit dem revolutionären Proletariat (1929-1932) Die Weltwirtschaftskrise zeigte 1930/33 ihre furchtbaren Aus- wirkungen auch in Deutschland. 1932 sank die industrielle Produktion auf nahezu die Hälfte der Produktion von 1929 ab. Die damit ausgelöste Massenarbeitslosigkeit nahm ver- heerende Formen an. Fast die Hälfte der gewerkschaftlich or- ganisierten Arbeiter war 1932 ohne Beschäftigung. Das hin- derte die Großbourgeoisie nicht, ihr Kapital und ihre Profite sicherzustellen. Kleinere Betriebe gingen bankrott und wurden von den Monopolen aufgesogen. Der zunehmenden Armut stand auf der anderen Seite eine Konzentrierung des Kapitals gegen- über. Die verschärfte wirtschaftliche Situation brachte einen revolu-

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Arbeit im Bündnis mit demrevolutionären Proletariat (1929-1932)

Die Weltwirtschaftskrise zeigte 1930/33 ihre furchtbaren Aus-wirkungen auch in Deutschland. 1932 sank die industrielleProduktion auf nahezu die Hälfte der Produktion von 1929ab. Die damit ausgelöste Massenarbeitslosigkeit nahm ver-heerende Formen an. Fast die Hälfte der gewerkschaftlich or-ganisierten Arbeiter war 1932 ohne Beschäftigung. Das hin-derte die Großbourgeoisie nicht, ihr Kapital und ihre Profitesicherzustellen. Kleinere Betriebe gingen bankrott und wurdenvon den Monopolen aufgesogen. Der zunehmenden Armut standauf der anderen Seite eine Konzentrierung des Kapitals gegen-über.Die verschärfte wirtschaftliche Situation brachte einen revolu-

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tionären Aufschwung der Arbeiterklasse mit sich. Unter Füh-rung der Kommunistischen Partei fanden in vielen Orten Streiksstatt. Der steigende Einfluß, den die KPD auf die Massennahm, spiegelte sich in den Wahlergebnissen.Bei den Septem-berwahlen 1930 stimmten 6,4 Millionen für die Kommunisten.Unter dem Eindruck dieser Erlebnisse fanden viele Künstlerund Wissenschaftler Anschluß an die Arbeiterklasse.Brecht wählte in dieser Zeit einen Stoff aus, derihm Gelegen-heit bot, die eigentlichen Drahtzieher der Krise zu entlarven.Schon nach der .Drelgroschenopee" hatte er an einem Stück("Happy end") von Elisabeth Hauptmann mitgearbeitet, in demdie zweifelhafte Wohltätigkeit der Heilsarmee angeprangertwurde. In dem Stückfragment "Der Brotladen" (1929/30) hatteer dann versucht, "gewisse Haltungen während der Wirt-.schaftskrise jener Jahre sichtbar zu machen". über die Rolle derHeilsarmee, die auch in diesem Stück auftrat, schrieb er, siestelle einen Versuch dar, "innerhalb des Kapitalismus und mitkapitalistischen Mitteln Sozialhilfe zu treiben". Wie er im "Brot-laden" die "gesellschaftliche Rolle" darstellen wollte, die dieReligion spielt, so auch in einem Stück, das schließlich alle dieseVorarbeiten zusammenfaßte, "Die heilige [obenna der Schlacht-höfe" (1929/31). Mit dem Angriff auf die kapitalistischen Ver-hältnisse, die zu einer Wirtschaftskrise führten, trug Brechtgleichzeitig einen Angriff gegen alte ••dramatische" Darstel-lungsweisen vor. Er gestaltete einen Jeanne-d' Are-Stoff in derbrutalen Atmosphäre der Fleischhändler Chicagos.Der Fleischkönig Pierpont Mauler wird von seinen Freundenan der New Yorker Börse auf eine bevorstehende Krise imFleischhandel aufmerksam gemacht. Er verkauft unter einemfadenscheinigen Vorwand seinen Anteil an den KompagnonCridle. Um die arbeitslosen Fleischer zu trösten, begibt sichJohanna Dark, "Soldat" der "Schwarzen Strohhüte", an dieSpitze eines "Stoßtrupps" vor .die geschlossenen LennoxschenFleischfabriken, um "in finsterer Zeit blutiger Verwirrung"Gott wieder "einzuführen". Die Arbeiter hören zwar den Re-den so lange zu, wie die Suppe der Heilsarmee reicht, aberJohannas Lobpreis 'des Verzichts auf Gewaltanwendung wirdvon keinem ernst genommen. Als sie erfährt,' daß von den Ar-

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beitern Pierpont Mauler als Urheber aller Not angegeben wird,geht sie zu ihm. Inzwischen hat sich die Krise verschärft: DieFabriken von Mauler und Lennox sind geschlossen, die Arbei-ter ausgesperrt. Cridle ist, nachdem die Fleischpreise gesunkensind, kaum noch in der Lage.•die Maulersehen Anteile vertrags-gemäß auszuzahlen. Johannas Haltung "rührt" Mauler; ihm ist,"als weht aus einer andern Welt ein Hauch" ihn an, und erspendet das Geld, das er den umstehenden Händlern undMetzgern aus den Taschen nimmt, für die "Schwarzen Stroh-hüte". Auf Maulers Anordnung soll Johanna die Schlechtigkeitder Menschen in den Schlachthöfen gezeigt werden. Aber siesieht, wie notleidende Menschen, um ihren Unterhalt ringend,zur Schlechtigkeit gezwungen werden. Sie erkennt "der ArmenArmut". Auf der Viehbörse tobt ein verzweifelter Kampf. Mau-ler versucht nach der Vernichtung Lennox' auch noch.den Kom-pagnon Cridle aus dem Unternehmen zu drängen. Cridle mußdie Anteile zu niedrigen Preisen absetzen. Die Folge ist eingewaltiger Kurssturz in der Viehbörse. Maulers Spekulationengründen sich auf weitere Informationen aus New York; manhofft, die Ausfuhrzölle in die Südstaaten zu senken und. dortdas überzählige Fleisch loszuwerden. Unter dem Einfluß derJohanna kauft Mauler in dieser ungewissen Zeit alle vorhan-denen Fleischkonserven und schließlich auch das Vieh auf.Aber weder der Viehkauf noch der Büchsenkauf konnte die Notder Arbeitslosen beseitigen, wie Johanna gehofft hatte';" ~achwie vor sind die Fabriken geschlossen. Das Elend greift auchauf die "Schwarzen Strohhüte" über. Ihr Major Snyder will dieMietschulden von den führenden Kapitalisten der Stadt zahlenlassen. Da er ihnen die "bolschewistische Gefahr" klarmachtund die Heilsarmee als Gegenmittel einsetzen will, sind dieHändler zur Finanzierung bereit. Doch Johanna vereitelt die-sen Plan, denn sie beschuldigt die Händler als Urheber derNot: "Wer denen, die da arm sind, helfen will, der muß ihnen,scheint's, von euch helfen" und vertreibt sie schließlich aus"dem Tempel". Snyder wirft sie daraufhin hinaus.Johanna, die Maulers Geld für die Finanzierung der Armeeabweist, geht jetzt zu den Arbeitslosen in die Schlachthöfe. DieZollschranken im Süden sind gefallen, die Fleischpreise begin-

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nen zu steigen. Johanna bietet den gewerkschaftlich organisier-ten Arbeitern ihre Hilfe an. Ein Arbeiterführer erklärt, daß indieser Situation nur Gewalt helfen kann. In Briefen sollen dieeinzelnen Gruppen der Arbeiter zum Generalstreik aufgefor-dert werden.

'Man gibt auch Johanna einen der Briefe, da sie, bekannt alsHeilsarmistin, bei der Polizei als ungefährlich gilt. An derViehbörse verkaufen jetzt Mauler und sein Makler das billigeingetriebene Vieh zu immer höheren Preisen, bis auch die Pak-

_ker nicht mehr zahlen könne~ und damit die ganze Börse mitMauler zusammenbricht. Als seine bankrotten Geschäftsfreundeerfahren, daß er mit New Yorker Wallstreet-Bankiers befreun-det ist, --legen sie erneut ihr Geschäftsschicksal in MaulersHände und gewähren ihm, in einem Trust, die Monopolstel-lung. Seine ersten Maßnahmen sind: Beschränkung der Auf-zuchr.Vemlchtung der überzähligen Fleischbestände und Lohn-senkurig.Johanna ist hungrig in der Kälte bei den Arbeitern geblieben;als aber bereits geschossen wird und nur noch die gewaltsameAuseinandersetzung Aussicht auf Verbesserung der Lage bie-tet, verläßt sie die Arbeitslosen und gibt den Brief nicht wei-ter. Der Streik wird niedergeschlagen. Von zwei Arbeitern hörtsie, daß sie einen Teil Schuld am Nichtzustandekommen desStreiks trägt. Johanna irrt auf den _Schlachthöfen umher, bissie vor Hunger und Kälte zusammenbricht. Polizisten tragen siezum Haus der "Schwarzen Strohhüte". Die Fleischhändler be-schließen, sie zu kanonisieren zum Beweis, "daß die Mensch-lichkeit bei uns einen hohen Platz einnimmt". Während aber die"Schwarzen Strohhüte" und die Packherren ihrem kapitalisti-schen System Lobhymnen singen, kommt die Sterbende zurEinsicht ihres Fehlers.

Denn nichts werde gezählt als gut, und sehe esaus wie immer, als was

Wirklich hIlft, und nichts gelte als ehrenhaft mehr,als was

Diese Welt endgültig ändert: sie braucht es.Wie gerufen kam ich den Unterdrückern!Oh, folgenlose Güte! Unmerkliche Gesinnung!

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Ich habe nichts geändert.Schnell verschwindend aus dieser Welt ohne FruchtSage ich euch:Sorgt doch, daß ihr die Welt verlassendNicht nur gut wart, sondern verlaßtEine gute Welt I

Sie revidiert ihre frühere Meinung mit den Worten:

Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht, undes helfen nur Menschen, wo Menschen sind.

Das Stück "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" gab 'die Ver-haltensweisen der Menschen in unmittelbarer Abhängigkeit vonden ökonomischen Prozessen wieder. Während der Arbeit andem Stück hatte Brecht, wie ausgeführt, bei einer Untersuchungüber das Verhältnis der Stoffe zu den Formen auf die Kom-pliziertheit der "Handlungen von heute" hingewiesen. In demgenannten Stück wurde dargestellt, wie "die Katastrophen vonheute. " in der Form von Krisenzyklen" verlaufen; der mar-xistisch geschulte Brecht stellte die Phasen einer zyklischenKrise dar. Durch Überproduktion finden die Fleischhändlerkeinen Absatz für ihre Waren. Sie legen die Fabriken' still, dasHeer der Arbeitslosen wird immer größer. Da die Preise fal-len, verkaufen sie ihre Waren mit großen Verlusten. Nunmehrsind typische Vorgänge szenisch ausgeführt: Die Kapitalistenversuchen - wie Cridle - ihren technischen Apparat zu ver-bessern:

••• ich sperr zu und warteBis sich der Markt erholt. Ich wasche meine HöfeUnd öl die Messer durch und stell mir einigeVon diesen neuen Packmaschinen auf, mit denen manEin hübsches Sümmchen Arbeitslohn einspart.'s gibt da ein neues System. Höchst listig ist's.Das Schwein fährt hoch am Band aus DrahtgeflechtIns höchste Stockwerk, dort beginnt die Schlachtung.Fast ohne Hilfe stürzt das Schwein sich selbstVon oben in die Messer. Gut? Das SchweinSchlachtet sich selbst. Und macht sich selbst zu Wurst.Denn nun, fallend von Stock zu Stock, verlassenVon seiner Haut, die sich in Leder wandelt

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Sich'trennend audi alsdann von 6ein~nBorstenDie Bürsten werden, endlich seine KnochenAbwerfend, draus wird Mehl, drängt's durch sein eigenesGewicht nach unten in die Blechbüchs.

Aber gleichzeitig tobt unter ihnen ein Konkurrenzkampf, der -nach Lenins bekannter Analyse - im Imperialismus zunehmendzur Monopolisierung führt. Das wurde von Brecht am Bei-spiel des Fleischkönigs Mauler gezeigt, der seinerseits mit denWallstreet-Bankiers liiert ist. Auch die Ausdehnung des Mark-tes auf neue Gebiete ist eine typische Folge der Krise im impe-rialistischen Staat. Die Maßnahmen, die Mauler, jetzt Haupt-aktionär eines Fleischrings, den Teilhabern vorschlägt, nämlichdas überzählige Vieh zu verbrennen und gleichzeitig die Ar-beitslöhne zu senken, waren grausame Wirklichkeit im ChicagoAnfang der dreißiger Jahre.Auf der anderen Seite verstärkte die wirtschaftliche Not derArbeitslosen ihre politische Aktivität. Zum erstenmal in einemStück gestaltete Brecht den Kampf organisierter Arbeiter. Dieklassen bewußten unter ihnen durchschauen die Hintergründeder Spekulationen und holen zu einem Hauptschlag gegen dieKapitalisten aus. Bei der Vorbereitung eines Generalstreiksmüssen viele ihre Ffeiheit lassen. Johanna sieht, wie von derPolizei fünf Arbeiter abgeführt werden, und hört folgendesGespräch:

DER EINE: Was sind das für Leute?DER ANDERE: Keiner von diesen da

Hat nur für sich gesorgt.Sondern für fremder Leute BrotLiefen sie ruhlos.

DER EINE: Warum ruhlos?DER ANDERE: Der Ungerechte geht offen über die Straße,

aber der Gerechte versteckt sich.DER EINE: Was geschieht mit ihnen? .

DER ANDERE:'Obgleich sieUm geringen Lohn arbeiten und für viele nützlich

sindLebt keiner von ihnen seine Jahre zu EndeIßt sein Brot, stirbt satt und wird '

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In Ehren begraben, sondernVor ihrer Zeit enden-sie und sindErschlagen und zerstampft und in Schande

verscharrt."

DEli. EINE: Warum hört man nie von ihnen?DER ANDERE : Wenn du in den Zeitungen liest, daß einige

Verbrecher erschossen oderIn die Zuchthäuser geworfen worden sind,

, dann sind sie es.DER EINE: Wird das, immer so gehen?

DER ANDERE: Nein.

Zwischen den Kapitalisten und den Proletariern steht Johanna.Ihr Versuch, die Not der Arbeiter mit Hilfe der Religion zulindern, muß ebenso scheitern wie ihr Versuch, Kapitalisten zu"guten Taten" zu bewegen. Ihr "Vorgesetzter" Snyder weiß ihreWohltä,tigkeitsbestrebungen sehr realistisch einzuschätzen, wenner sagt:

Arme Unwissende!Was du nicht siehst: aufgebautIn riesigen Kadern stehn sich gegenüberArbeitgeber und ArbeitnehmerKämpfende Fronten: unversöhnlich.Laufe herum zwischen ihnen. Versöhnlerin und

VermittlerinNütze keiner und gehe zugrund.

Bevor Johanna zugrunde geht, erkennt sie jedoch die Zusam-menhänge und Ursachen des menschlichen Elends, gegen das sieseit früher Jugend vorgehen wollte. Johanna vertritt am Endedie Forderung, "das System, das sie gemacht haben: / Ausbeu-tung und Unordnung, tierisch und also / Unverständlich" mitGewalt zu ändern. Ihre Forderung ist:

Sorgt doch. daß ihr die Welt verlassend'N'icht nur gut wart, sondern verlaßtEine gute Welt!

In klassischer Form ein ergreifender Aufruf zur revolutionärenPraxis, die sie nicht ausgeübt hat. Auch hierin stimmt SnydersProphezeiung: Johanna nützte auch den Arbeitern nichts. In

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einer Anwandlung kleinbürgerlichen Ressentiments vor Ge-waltanwendung kehrt sie den streikenden Arbeitern den Rük-ken und schadet einer Sache, die sie zu spät als richtig erkennt.Johannas Weg führt von einem fragwürdigen Wohltätigkeits-institut zur revolutionären Bewegung, nicht aber zur revolu-tionären Praxis; diesen letzten Schritt vollzieht sie nur intel-lektuell. Es ist deshalb eine besonders bissige Ironie. wenn dieHändler trotzdem kurz vor ihrem Tode eine Heiligsprechungbeschließen. An der Leiche Johannas, die wie beim historischenVorbild mit Fahnen bedeckt wird, singen sie zusammen mit denSchlächtern. Viehzüchtern und "Schwarzen Strohhüten" ihr Ho-heslied auf den im Kapitalismus lebenden Menschen:

Mensch, es wohnen dir zwei SeelenIn der Brust!Such nicht eine auszuwihlenDa du beide haben mußt.Bleibe stets mit dir im Streite IBleib der Eine, stets EntzweitelHalte die hohe, halte die niedereHalte die rohe, halte die biedereHalte sie beideI

Die klare Darstellung .komplizierter Vorgänge machte dasStück "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" zu einem Höhe-punkt im bisherigen Schaffen Brechts. Die Arbeiter erschienenals eine Macht. die vom Stückeschreiber vertreten wurde. Mitdem neuen Inhalt stellte Brecht zugleich "gewisse historischeDarstellungsweisen" zur Diskussion. Er wollte die Verbunden-heit von Handlungsweisen der Menschen mit ihrer Ausdrucksart

.demonstrieren und "bestimmte Darstellungsweisen" zerstören,"indem ihre soziale Funktion gezeigt wird", Die große Formdes klassischen Dramas (mit Blankversen und Chören), inder die Fleischpacker ihre Geschäfte abwickeln, weist auf denMißbrauch hin, den das untergehende Bürgertum mit de~klassischen Erbe treibt. Andererseits wurden gerade durchdiese "große Form" Erscheinungen des Alltags der dreißigerJahre historisiert, das heißt in einer ihrer ökonomischen Wich-tigkeit entsprechenden Form wiedergegeben. Wie Cridle die:geplante technische Rekonstruktion seines Betriebes zum Zwecke

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einer Erhöhung der Arbeitsproduktivität schildert oder wieder Fleischfabrikant Graham vom Zusammenbruch der Börseberichtet, das entspricht in der Form genau den Darstellungenschicksalhafter Ereignisse im antiken Drama. Waren es dortmeist Schlachten, Entscheidungen von Herrschern, so sind esin der "Heiligen Johanna der Schlachthöfe" anscheinend un-kriegerische, unblutige Ereignisse und die Entscheidungen vonGeschäftsleuten. Indem sie in dieser Form ihre alltäglichen Ge-schäfte abwickeln, werden die Geschäfte in ihrer Bedeutungfür das Leben der Menschen dieser Zeit bloßgestellt.Mit der "Heiligen Johanna der Schlachthöfe" gelang eine neueQualität in der deutschen Dramatik. Mit dem neuen Inhaltwurde zugleich die alte Form des klassischen Dramas kritischund in neuer Funktion verwendet.Die Faschisten nahmen Anfang der dreißiger Jahre bereitsstarken Einfluß auf das Kulturleben in der Weiß1arer Repu-blik. Es war 1931 nicht mehr ohne weiteres möglich, politischeAnsichten, die denen der Nazis widersprachen, ohne Gefahr,zu äußern. In der Krise wurden viele Theater geschlossen, an-dere stellten ihre Produktion endgültig auf harmlose Revuenum. Das Stück "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" wurdevon keiner deutschen Bühne der Weimarer Republik mehr auf-geführt. Lediglich Radio Berlin übertrug 1932 einige Szenenmit Carola Neher, Fritz Kortner, Helene Weigel, Ernst Busch,Friedrich Gnass u. a. Als ein Kritiker in einer Rezensiö'ri for-derte, man solle das. Stück auf die Bühne bringen, schrieb einefaschistische Zeitschrift, die von dem berüchtigten Blut-und-Boden-Literaten Will Vesper herausgegeben wurde, das "deut-sche Volk" werde. sich vor solch "von innen aushöhlender Ver- "höhnung der Vernichtung seiner wertvollsten Güter" zu schüt-zen wissen. Die faschistische Reaktion bereitete den Griff aufTheater und Film vor.

Einige Komponisten und Schriftsteller suchten die Prinzipien-losigkeit der Theater zu überwinden, indem sie Stücke schrie-ben, die eine "nützliche" Funktion ausüben sollten. Strawinskyhatte 1926/27 die Musik für eine Oper "Oedipus Rex" kompo-riiert. In der gleichen Art waren "Das Wasser" von Tochund

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Döblin und "Der neue Hieb" von Reutter und Seitz 1930 ent-standen. Brecht, der seit früher Zeit Arbeiten mit ••Gebrauchs-wert" anfertigte, beteiligte sich an dieser Bewegung und wurdebald ihr anerkannter Mittelpunkt.Für die Baden-Badener Musikfesttage schrieb er' 1928/29 einRadiolehrstück für Knaben und Mädchen "Der Ozean{lug"(vertont sowohl von Paul Hindemith wie von Kurt Weill) und"Das Badener Lehrstück vom Einverständnis" (vertont vonPaul Hindemith). Für Schulen entstand 1929/30.nach der Vor-lage eines japanischen No-Spiels die Oper "Der Jasager", dernach Überprüfung der Wirkung auf die Kinder "Der Nein-sager" folgte. Brecht wollte Theater für einen neuenZweckeinsetzen; ••der neue Zweck heißt: Pädagogik", schrieb er 1929.Die Belehrung durch szenische Darstellung, die sowohl auf dieZuschauer wie auf die Darstellenden wirkte, lernte Brecht ken-nen, je mehr er mit Arbeitern in Verbindung kam. In Veran-staltungen der KPD, bei Arbeiterzusammenkünften traten Agit-proptruppen auf, nach ihrem Programm ••Agitatoren und Pro-pagandisten des proletarischen Klassenkampfes". Diese kleinenGruppen, bestehend aus Laien, sangen Lieder und gaben denArbeitern in kleinen Szenen Anschauungsunterricht in dialek-tischem Materialismus. Brecht sah die Notwendigkeit einesintensiven Studiums ~er materialistischen Dialektik; nur da-durch konnten die Arbeiter die Fähigkeit erwerben, die Ver-hältnisse, wie sie sich in der Krise darboten, zu ändern. DaßBrecht seine Lehrstücke aus diesem Grunde schrieb, beweist einLenin-Zitat, das er in den Anmerkungen zum Lehrstück ••dieMaßnahme" anführte:

"Es gibt noch keine Antwort auf die wichtigste, wesentlichste Frage: Wieund was soll man lernen? Hier aber handelt es sich in der Hauptsache dar-um, daß zugleich mit der Umgestaltung der alten kapitalistischen Gesell-schaft die Unterweisung, Erziehung und Bildung der neuen Generationen,die die kommunistische Gesellschaft aufbauen werden, nicht.nach den altenMethoden betrieben werden kann."

Brecht schrieb die Lehrstücke zur Tagesagitation für Säle, Ver-sammlungsräume, in denen nur wenige oder gar keine Deko-rationsstücke untergebracht werden konnten. Zuschauer waren

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die Arbeiter, für die der Gebrauchswert der kleinen Stückeund Opern auf der Hand lag: Sie waren die aufstrebendeKlasse; sie mußten in der Lage sein, die politischen Vorgängein ihrem ursächlichen Zusammenhang zu erkennen, mußten be-fähigt sein, die leitenden Positionen des Staates zu überneh-men.

Lob des Lernens(Aus: "Die Mutter")

Lerne das Einfachste IFür dieDeren Zeit gekommen istIst es nie zu spätILerne das Abc, cs genügt nicht, aberLerne esILaß es dich nicht verdrießenFang anl Du mußt alles wissenIDu mußt die Führung übernehmen.

Lerne, Mann im Asyl ILerne, Mann im Gefängnis ILerne, Frau in der KüchelLerne, SechzigjährigelDu mußt die Führung übernehmcn.Suchedie Schule auf, ObdachloserIVerschaffe dir Wissen, FrierenderlHungriger, greif nach dem Buch: es ist eine Waffe.Du mußt die Führung übernehmen.

Scheue dich nicht zu fragen, GenosseILaß dir nichts einredenSieh selber nachIWas du nicht selber weißtWeißt du nicht.Prüfe die Rechnung.Du mußt sie bezahlen.Lege den Finger auf jeden PostenDu mußt die Führung übernehmen.Frage: wie kommt er hierher?

Die Lehrstücke der dreißiger Jahre waren als Waffen imKampf um die Befreiung der Arbeiterklasse gedacht, Mit demStück "Die Maßnahme" (1929/30) wollten Brecht und seineMitarbeiter Slatan Dudow und Hanns Eisler den Arbeitern

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"durch ein Lehrstück ein bestimmtes eingreifendes Verhalten"einüben. Wie in der "Heiligen Johanna der Schlachthöfe" be-schäftigte sich der Stückeschreiber auch hier mit dem Problemder Gewaltanwendung. Während aber dort das praktische Ver-sagen der Kleinbürgerirr Johanna Dark vorgeführt wurde,stellte Brecht in dem Lehrstück kommunistische Agitatorendar, die eine Gewaltmaßnahme getroffen hatten und nun voreinem Parteigericht, dem "Kontrollchor", ihre Entscheidungverantworten; Bei der Ausführung eines illegalen Auftrags imfeudal-kapitalistischen China wird der Erfolg der Bemühungendurch einen jungen Genossen gefährdet. Entgegen dem tak-tischen Plan hat er Arbeiter zu einem gewaltsamen Aufstandaufgefordert, der in dieser Situation geradezu selbstmörderischschien. Der junge Genosse verteidigt diese Entscheidung vorden anderen Agitatoren:

DER JUNGEGENOSSE: Hier, bei uns drinnen, sind sieben, die im Auftrag

der Arbeitslosen zu uns gekommen sind, hinterihnen stehen siebentausend, und sie wissen: dasUnglück wächst nicht wie auf der Brust der Aus-satz; die Armut fällt nicht von den Dächern wieder Dachziegel; sondern Unglück und Armut sind~enschenwerk; der Mangel wird für sie gekocht,aber ihr Jammern wird verzehrt als Speise. Sie wis-sen alles.

DIE DREIAGITATOREN: Wissen sie, wieviel Regimenter die Regierung hat?

DER JUNGEGENOSSE: Nein.DIE DREI

AGITATOREN: Dann wissen sie zuwenig. Wo sind eure Waffen?DER JUNGE

GENOSSE: (zeigt die Hände) Wir werden mit Zähnen undNägeln kämpfen.

ors DREIAGITATOREN: Das reicht nicht aus. Du siehst nur das Elend der

Arbeitslosen, aber nicht das Elend der Arbeiten-den. Du siehst nur die Stadt. aber nicht die Bauerndes flachen Lands; Du siehst die Soldaten nur alsUnterdrückende und nicht als unterdrückendeElende in Uniform. Geh also zu den Arbeitslosen,widerrufe deinen Rat, die Kasernen zu stürmen,und überzeuge sie, daß sie heute Abend an der

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Demonstration der Arbeiter aus den Betrieben teil-nehmen sollen, und wir werden die unzufriedenenSoldaten zu überzeugen versuchen, daß sie in Uni-form ebenfalls mit uns demonstrieren.

DER JUNGEGENOSSE: Ich habe die Arbeitslosen daran erinnert, wie oft

die Soldaten auf sie geschossen haben. Soll ichihnen jetzt sagen, daß sie mit Mördern demon-strieren sollen?

DIE DREIAGITATOREN: Ja, denn die Soldaten können erkennen, daß es

falsch war, auf die Elenden ihrer eigenen Klassezu schießen. Erinnere dich doch an den klassischenRat des Genossen Lenin, nicht alle Bauern alsKlassenfeinde zu betrachten, sondern die Dorf-armut als Mitkämpfer zu gewinnen.

DER JUNGEGENOSSE: SOfrage ich: dulden die Klassiker, daß das Elend

wartet?DIE DREI

AGITATOREN: Sie sprechen von Methoden, welche das Elend inseiner Gänze erfassen.

DER JUNGEGENOSSE: Dann sind die Klassiker also nicht dafür, daß

jedem Elenden gleich und sofort und vor allem ge-holfen wird?

DIE DREIAGITATOREN: Nein.

DER JUNGEGENOSSE: Dann sind die Klassiker Dreck, und ich zerreiße

sie; denn der Mensch, der lebendige, brüllt, undsein Elend zerreißt alte Dämme der Lehre. Darummache ich jetzt die Aktion, jetzt und sofort; dennich brülle. und ich zerreiße die Dämme der Lehre.(Er zerreißt die Schriften.)

DIE DREIAGITATOREN: Zerreiße sie nicht! Wir brauchen sie. Jede einzelne.

Sieh doch die Wirklichkeit! Deine Revolution istschnell gemacht und dauert einen Tag und ist mor-gen abgewürgt. Aber unsere Revolution beginntmorgen, siegt und verändert die Welt. DeineRevolution hört auf, wenn du aufhörst. Wenn duaufgehört hast, geht unsere Revolution weiter.

Der junge Genosse verrät, in guter Absicht, den gemeinsamenAuftrag; die Agitatoren werden verfolgt, sie müssen fliehen,sehen schließlich keine andere Möglichkeit, als "abzuschneiden