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Walter Benjamin Gesammelte Schriften V-i Herausgegeben von Rolf Tiedemann Suhrkamp Die Editionsarbeiten wurden durch die Stiftung Volkswagenwerk, die Fritz Thyssen Stiftung und die Hamburger Stiftung zur Forderung von Wissenschaft und Kultur ermoglicht. Die vorliegende Ausgabe ist text- und seitenidentisch mit Band V der gebundenen Ausgabe der Gesammelten Schriften Walter Benjamins. Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie http://dnb.ddb.de suhrkamp taschenbuch wissenschaft 935 Erste Auflage 1991 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1982 Suhrkamp Taschenbuch Verlag Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des offentlichen Vortrags, der Ubertragung durch Rundfunk und Fernsehen

Walter Benjamin

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Walter Benjamin

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Page 1: Walter Benjamin

Walter Benjamin Gesammelte Schriften

V-i

Herausgegeben von Rolf Tiedemann

Suhrkamp

Die Editionsarbeiten wurden durch

die Stiftung Volkswagenwerk, die Fritz Thyssen Stiftung

und die Hamburger Stiftung zur Forderung

von Wissenschaft und Kultur ermoglicht.

Die vorliegende Ausgabe ist text- und seitenidentisch

mit Band V der gebundenen Ausgabe

der Gesammelten Schriften Walter Benjamins.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie

http://dnb.ddb.de

suhrkamp taschenbuch wissenschaft 935

Erste Auflage 1991

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1982

Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das

des offentlichen Vortrags, der Ubertragung

durch Rundfunk und Fernsehen

sowie der Ubersetzung, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages

reproduziert oder unter Verwendung

Page 2: Walter Benjamin

elektronischer Systeme verarbeitet,

vervielfaltigt oder verbreitet werden.

Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden

Printed in Germany

Umschlag nach Entwurfen von

Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

ISBN3-518-28535-1

5 6 7 8 9 - 09 08 07 06

Inhalt

Das Passagen-Werk Funfter Band. Erster Teil

EinleitungdesHerausgebers 9

Exposes

Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts 45

Paris, CapitaleduXIX* me siecle 60

Auf zeichnungen und Materialien 79

Ubersicht, 81

Funfter Band. Zweiter Teil

Aufzeichnungen und Materialien (Fortsetzung) 655

ErsteNotizen:PariserPassagenI 991

Friihe Entwiirfe

Passagen 1041

PariserPassagenll 1044

DerSaturnringoderEtwasvomEisenbau 1060

Anmerkungen des Herausgebers

Editorischer Bericht io6j

Zeugnisse zur Entstehungsgeschichte 108 1

Paralipomena,UberlieferungundTextgestaltung 1206

Quellenverzeicbnis zu den » Aufzeichnungen und Materialien* , 12 yy

Inbaltsverzeichnis ijjj

Page 3: Walter Benjamin

Das Passagen-Werk

Einleitung des Herausgebers

Es gibt Biicher, die haben ein Schicksal, lange bevor sie als Biicher iiberhaupt existieren: das ist der Fall von Benjamins unvollendetem Passagenwerk. Seit Adorno, in einem 1950 publizierten Aufsatz, zum erstenmal iiber es berichtete 1 , sind mannigfache Legenden darum gewoben worden. Sie erhielten weitere Nahrung, als 1966 eine zweibandige Auswahl von »Briefen« Benjamins erschien, in der sich zahlreiche AuCerungen iiber das vom Autor Intendierte fanden, die indessen weder vollstandig waren noch in sich einstim- mig sind 2 . So konnten sich die widersprechendsten Geriichte iiber ein Werk verbreiten, auf das die konkurrierenden Deutungen Benjamins in der Hoffnung sich berufen, es werde die Ratsel schon losen, welche seine intellektuelle Physiognomie aufgibt. Solche Hoffnung diirfte triigen; die Fragmente des Passagenwerks diirften eher, wie Mephisto dem Faustischen »Da muE sich manches Ratsel losen«, die Antwort erteilen: »Doch manches Ratsel kniipft sich auch«. Die Veroffentlichung der Fragmente soil nicht zuletzt die Geriichte iiber das Passagenwerk endlich durch dieses selbst erset- zen. - Tatsachlich liegen seit langem jene Texte vor, die noch am ehesten geeignet scheinen, verlafllich Auskunft von dem Vorhaben zu geben, das Benjamin dreizehn Jahre lang, von 1927 bis zu seinem Tod 1940, beschaftigt und in dem er doch wohl sein chef-d'oeuvre gesehen hat: die Mehrzahl der grofteren Arbeiten, die er wahrend seines letzten Jahrzehnts schrieb, sind aus dem Passagenprojekt herausgewachsen. Nichts Geringeres als eine materiale Geschichts- philosophie des neunzehnten Jahrhunderts hatte das Passagenwerk dargestellt, ware es vollendet worden. Das 1935 entstandene Expose »Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts« gibt einen Abrifl der Stoffe und Themen, um die es Benjamin dabei ging. Wurde mit dem Expose der »historische Schematismus« (V, 1 1 50) 3

1 vgl. Theodor W. Adorno, Charakteristik Walter Benjamins, in: Die Neue Rundschau 61

(1950), s. 579-582-

2 vgl. Walter Benjamin, Briefe. Hg. von Gershom Scholem und Th. W. Adorno. Frankfurt a.M. 1966, passim. - Eine im Rahmen der ihm zuganglichen Korrespondenzen vollstandige Zusammenstellung von Benjamins brieflichen Aufierungen iiber das Passagenwerk gibt der Herausgeber unten, S. 1081-1183.

3 Nachweise, die sich auf die vorliegende Ausgabe der »Gesammelten Schriften« beziehen, erf olgen im Text durch Band- und Seitenzahlen in Klammern ; Zitate aus den siglierten Teilen des Passagenwerks - d.h. aus den »Aufzeichnungen und Materialien*, den »Ersten Notizen« und den »Fruhen Entwiirfen* - werden jedoch mit den Siglen der einzelnen Aufzeichnungen

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nachgewiesen.

12 Einleitung des Herausgebers

entworfen, an dem die Konstruktion des neunzehnten Jahrhun- derts sich orientieren sollte, so ist der Aufsatz »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« von 1935/36, der in keinem stofflichen Zusammenhang mit dem Passagenwerk steht - handelt er doch nicht von Erscheinungen des neunzehnten, sondern von solchen des zwanzigsten Jahrhunderts -, fur dessen Methodologie relevant. In ihm unternahm es Benjamin, »den genauen Ort in der Gegenwart anzugeben, auf den sich [seine] historische Konstruktion als auf ihren Fluchtpunkt beziehen« (V, 1 149) sollte. Wahrend in der grofien, ihrerseits fragmentarischen Arbeit iiber Baudelaire, die zwischen 1937 und 1939 entstand, ein »Miniaturmodell« (V, 11 64) des Passagenwerkes zu erblicken ist, wurde die methodologische Fragestellung des Kunstwerk- Aufsat- zes 1940 in den Thesen »Uber den Begriff der Geschichte« wieder- aufgenommen, die Adorno zufolge »gleichsam die erkenntnistheo- retischen Erwagungen zusammenfassen, deren Entwicklung die des Passagenentwurfs begleitet hat« 4 . Was von diesem selbst vorhanden ist: die zahllosen Notizen und Exzerpte des vorliegenden Bandes, geht unter theoretischem Aspekt nur selten iiber das in jenen Arbeiten oft verbindlicher Formulierte hinaus. Ein Studium des Passagenwerks - und blofier Lekture werden Benjamins Absichten sich schwerlich erschlieflen - hatte deshalb den Kunstwerk- Auf- satz, die Baudelaire gewidmeten Texte und die Thesen »Uber den Begriff der Geschichte« einzubeziehen und stets gegenwartig zu halten, auch wenn diese durchaus selbstandig sind; das Passagen- werk lediglich praludierende oder aus ihm ausgegliederte Schriften darstellen.

Die Fragmente des eigentlichen Passagenwerks kann man den Baumaterialien fiir ein Haus vergleichen, von dem nur gerade erst der Grundrifi abgesteckt oder die Baugrube ausgehoben ist. Mit den beiden Exposes, die der Ausgabe voranstehen, hat Benjamin seinen Plan in groften Strichen entworfen, so wie er ihm 193 5 und 1939 vor Augen stand: den sechs, bzw. fiinf Abschnitten der Exposes sollten ebenso viele Kapitel seines Buches oder, um im Bild zu bleiben, ebenso viele Geschosse in dem zu bauenden Haus entsprechen. Neben der Baugrube findet man die Exzerpte aufgehauft, aus denen die Mauern errichtet worden waren. Benjamins eigene Reflexionen

4 Adorno, Uber Walter Benjamin. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a."M. 1970, S. 16.

Einleitung des Herausgebers 1 3

aber hatten den Mortel abgegeben, durch den das Gebaude zusam- menhalten sollte. Von solchen theoretischen und interpretierenden Reflexionen sind zwar zahlreiche vorhanden, doch am Ende schei- nen sie hinter dem Exzerptenbestand fast verschwinden zu wollen. Der Herausgeber hat zuzeiten gezweifelt, ob es sinnvoll ware, diese erdriickenden Zitatmassen zu veroffentlichen; ob er sich nicht besser auf den Abdruck der Benjaminschen Texte beschrankte, die leicht in eine lesbare Anordnung gebracht werden konnten und eine konzentrierte Sammlung funkelnder Aphorismen und beunruhi- gender Fragmente ergeben hatten. Indessen ware das mit dem

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Passagenwerk Projektterte dahinter nicht einmal mehr zu erahnen gewesen. Benjamins Absicht war, Material und Theorie, Zitat und Interpretation in eine gegeniiber jeder gangigen Darstellungsform neue Konstellation zu bringen, in der alles Gewicht auf den Materialien und Zitaten liegen und Theorie und Deutung asketisch zuriicktreten sollten. Als »ein zentrales Problem des historisehen Materialismus«, das er mit dem Passagenwerk zu losen gedachte, hat er die Frage bezeichnet, »auf welchem Wege es moglich [sei], gesteigerte Anschaulichkeit mit der Durchfuhrung der marxisti- schen Methode zu verbinden. Die erste Etappe dieses Weges wird sein, das Prinzip der Montage in die Geschichte zu iibernehmen. Also die groflen Konstruktionen aus kleinsten, scharf und schnei- dend konfektionierten Baugliedern zu errichten. Ja in der Analyse , des kleinen Einzelmoments den Kristall des Totalgeschehens zu entdecken.« (N 2, 6) 5 Solche Bauglieder bilden die unzahligen Zitate, die deshalb in der Ausgabe nicht fehlen durften. Wenn der Leser sich mit der Architektur des Ganzen vertraut gemacht hat, wird er sich ohne grofie Schwierigkeiten auch in die Exzerpte einlesen und von fast jedem angeben konnen, was Benjamin daran jeweils

5 Nach Adorno war es Benjamins Absicht, »auf alle offenbare Auslegung zu verzichten und die Bedeutungen einzig durch schockhafte Montage des Materials hervortreten zu lassen. [. . .] Zur Kronung seines Antisubjektivismus sollte das Hauptwerk nur aus Zitaten bestehen.* (Adorno, a.a.O., S. 26) So genuin benjaminisch der Gedanke anmutet, der Herausgeber ist iiberzeugt, dafi Benjamin so nicht verfahren wollte. Es existiert keine briefliche AuGerung in diesem Sinn. Adorno stiitzte sich auf zwei Notizen des Passagenwerks selbst (vgl. Ni,io und N 1 a, 8), die kaum so interpretiert werden diirfen. Die eine dieser beiden Notizen findet sich zudem bereits 1928 oder 1929 in den »Ersten Notizen* (vgl. O , 36), als Benjamin erklartermafien noch an einen Essay dachte, ja diesen mit den »Fruhen Entwiirfen* zu schreiben begonnen hatte: keineswegs in der Form einer Zitatmontage.

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fasziniert haben mufi ; welche Funktion ihm fur die Konstruktion zugekommen ware; worin es Kristall ist, zu dem das Totalgesche- hen zusammenschiefit. Freilich wird der Leser jenes Vermogen, »im unendlich Kleinen zu interpolieren«, ausbilden miissen, als das in der »Einbahnstrafie« die Phantasie definiert wird (IV, 117); begabt mit solcher Phantasie, werden fur ihn die toten Buchstaben, die Benjamin aus den staubigen Bestanden der Pariser Nationalbi- bliothek zusammentrug, zu leben beginnen, wird vielleicht sogar jenes Gebaude, das Benjamin nicht errichtet hat, vor seinem spekulativen Auge in wie immer schattenhaften Umrissen sich abbilden. - Die Schatten, die einer ubersichtlichen, konsistenten Nachzeichnung der Architektur entgegenstehen, ruhren nicht zuletzt von philologischen Schwierigkeiten her. Die meist kurzen und oft den Gedanken verkurzenden Fragmente lassen nur selten erkennen, wie Benjamin sie untereinander zu v.erbinden dachte. Haufig notierte er erste Einfalle, zugespitzte Brouillons, von denen

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nicht abzusehen ist, ob sie im Verfolg der Arbeit als verbindlich festgehalten worden waren. Unter den theoretischen Aufzeichnun- gen fehlen solche nicht, die kontradiktorisch zueinander oder doch miteinander unvereinbar sind. Zudem schliefien viele Benjaminsche Texte an Zitate an, und nicht in alien Fallen kann die blofte Interpretation der zitierten Stelle von Benjamins eigener Position gesondert werden. Es mag deshalb nutzlich sein, das Wesentliche des mit dem Passagenwerk Beabsichtigten in einer kurzen Skizze zu umreiflen, die theoretischen Gelenkstellen des Benjaminschen Vor- habens zu bezeichnen und einige seiner zentralen Kategorien der Explikation naherzubringen. Der Herausgeber versucht im fol- genden, einfach einige der Erfahrungen zu fixieren, die sich ihm bei der mehrjahrigen Arbeit an der Ausgabe aufdrangten - in der Hoffnung, dem Leser bei der ersten Orientierung in dem Laby- rinth, welches die Edition ihm zumuten muE, behilflich zu sein. In die Diskussion der theoretischen Fragen einzutreten, die das Passa- genwerk in Fiille stellt, ist nicht beabsichtigt.

Genaugenommen handelt es sich beim Passagenwerk um ein Gebaude mit zwei sehr verschiedenen Bauplanen, die jeweils einem besonderen Arbeitsstadium angehoren. Wahrend des ersten, etwa von Mitte 1927 bis Herbst 1929 zu datierenden Stadiums plante Benjamin, einen Essay mit dem Titel »Pariser Passagen. Eine

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dialektische Feerie« zu schreiben 6 . Die friihesten brieflichen Aufte- rungen sprechen von dem Projekt als von einer Fortsetzung der »Einbahnstrafie« (V, 1083); gedacht war dabei weniger an deren aphoristische Formen, als vielmehr an die spezifische Art von Konkretion, die in ihnen verfolgt wurde: »die aufierste Konkret- heit, wie sie dort hin und wieder fur Kinderspiele, fur ein Gebaude, eine Lebenslage in Erscheinung trat«, sollte jetzt »fiir ein 2eitalter« gewonnen werden (V, 1091). Benjamins Absicht war von Anfang an - und blieb all die Jahre hindurch - eine philosophische: die »Probe auf das Exempel«, »wie weit man in geschichtsphilosophischen Zusammenhangen >konkret< sein kann« (V, 1086). Als »Kommentar zu einer Wirklichkeit« (O , 9), nicht abstrakt konstruierend, suchte er die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts darzustellen. Eine Art Themenkatalog ist den »Ersten Notizen« zum Passagenwerk zu entnehmen, der erkennen lafk, wovon es auf dieser Stufe handeln sollte: die Rede ist von Strafien und Warenhausern, von Panora- men, Weltausstellungen und Beleuchtungsarten, von Mode, Reklame und Prostitution, vom Sammler, vom Flaneur und vom Spieler, von der Langeweile. Die Passagen selber sind da nur ein Thema neben vielen. Sie gehoren zu jenen stadtebaulichen Erschei- nungen, die im friihen neunzehnten Jahrhundert mit dem emphati- schen Anspruch des Neuen aufgetreten, inzwischen aber funk- tionslos gewordeh waren. In dem immer schnelleren Veralten der Neuerungen und Erfindungen, die den Produktivkraften des sich entfaltenden Kapitalismus entwachsen waren, erblickte Benjamin die Signatur der friihen Moderne insgesamt. Sie wollte er aus den Erscheinungen des Unscheinbaren intentione recta -physiognomi- sierend - gewinnen: durchs Vorzeigen der Lumpen, als Montage aus Abfallen (O , 36). Ahnlich hatte sein Denken bereits in der »Einbahnstrafie« ans Konkrete und Besondere sich verloren und ihm sein Geheimnis unmittelbar, ohne alle Vermittlung durch Theorie, zu entreiften versucht. Solche Hingabe an einzelnes Daseiendes ist das Kennzeichnende dieses Denkens iiberhaupt. Unbekiimmert um die klappernde Maschinerie der Schulphiloso-

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phie mit ihren trans zendentalen Ge- und Verbotstafeln, beschied es sich, unbescheiden genug, bei einer Art >zarter Empirie<; wie die Goethesche vermutete sie das Wesen nicht hinter oder iiber den

6 Vorausgegangen warder-wahrscheinlich nur kurzfristigverfolgte- Plan eines gememsammit Franz Hessel zu schreibenden Zeitschriftenamkels iiber Passagen; vgl. dariiber unten, S. 1341.

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Dingen, sondern wufite es in ihnen, - Die Surrealisten hatten als erste die spezifische Dingwelt des neunzehnten Jahrhunderts ent- deckt und in ihr jene mythologie moderne> der Aragon sein Vorwort zum »Paysan de Paris« widmete und in deren kunstlichen Himmel Bretons Nadja ragt. In seinem »Surrealismus«-Essay, den er einen »lichtundurchlassigen Paravent vor der Passagenarbeit« nannte (V, 1 090), riihmte Benjamin dem Surrealismus nach : »Er zuerst stiefi auf die revolutionaren Energien, die im >Veralteten< erscheinen, in den ersten Eisenkonstruktionen, den ersten Fabrikgebauden, den frii- hesten Photos, den Gegenstanden, die anfangen auszusterben, den Salonflugeln, den Kleidern von vor funf Jahren, den mondanen Versammlungslokalen, wenn die vogue beginnt sich von ihnen zuruckzuziehen.« (II, 299) Dieser Stoffschicht, dem Bodensatz des Jungstvergangenen, gait auch das Passagenwerk; wie Aragon, durch die Passage de l'Opera flanierend, von einer vague de rives in fremde, nie zuvor erblickte Bereiche des Wirklichen gezogen ward, so wollte Benjamin in bislang unbeachtete, verachtete Bezirke der Geschichte tauchen und heraufholen, was vor ihm noch keiner gesehen hatte.

Das fast schon entvolkerte aquarium humain, als das Aragon 1927 die zwei Jahre zuvor dem Zusammenschluft des inneren Boulevard- rings geopferte Passage de l'Opera schilderte: eine Ruine von gestern, in der die Ratsel des heute sich losen, ist unvergleichlich anregend fur das Passagenwerk gewesen (vgl. V, 1 1 17). Wiederholt zitierte Benjamin die lueur glauque der Aragonschen Passagen: das Licht, in welches die Dinge durch den Traum getaucht were! en, der sie fremd zugleich und hautnah erscheinen lafit. Bildete die Kon- zeption des Konkreten den einen Pol von Benjamins theoretischer Armatur, so die surrealistische Traumtheorie den anderen; in dem Kraftfeld zwischen Konkretion und Traum finden die Divagatio- nen des ersten Passagenentwurfs 7 statt. In Traumen hatten die friihen Surrealisten die empirische Wirklichkeit insgesamt ent- machtigt, sie traktierten deren zweckrationale Organisation wie

7 Hier und im folgenden ist vom ersten und zweiten Entwurf so die Rede, wie Benjamin selber, in seinem Brief vom 16. 8. 1935 an Gretel Adorno (vgl. unten, S. 1 138), davon sprach: sozusagen nur in Anfiihrungszeichen. Gemeint wird mit Entwurf kein fixierter einzelner Text; mit dem zweiten Entwurf insbesondere auch nicht das Expose von 1935. Gedacht wird an die Idee des Werkes, wie sie mittels Interpretation aus der Gesamtheit der jeweils wahrend eines der beiden Stadien der Arbeit entstandenen Aufzeichnungen zu erschhefien ist.

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blofien Trauminhalt, dessen Sprache nur indirekt sich entziffern lafk: indem die Optik des Traums auf die Wachwelt gerichtet wurde, sollten die verborgenen, latenten Gedanken, die in ihrem Schoft schlummerten, entbunden werden. Ein ahnliches Verfahren wollte Benjamin fur die Darstellung der Geschichte fruchtbar machen; die Dingwelt des neunzehnten Jahrhunderts behandeln, als handle es sich um eine Welt getraumter Dinge. Dem bewufklo- sen Tun des traumenden Individuums ist die Geschichte unter kapitalistischen Produktionsverhaltnissen jedenfalls darin ver- gleichbar, daf? sie zwar von Menschen gemacht, aber ohne BewuEt- sein und Plan, gleichwie im Traum, gemacht wird. »Um die Passagen aus dem Grunde zu verstehen, versenken wir sie in die tiefste Traumschicht« (F°, 34): diese Anwendung des Traummo- dells auf das neunzehnte Jahrhundert sollte der Epoche den Cha- rakter des Abgeschlossenen und ein fur allemal Vergangenen, des buchstablich Geschichte Gewordenen nehmen. Ihre Produktions- mittel und Lebensformen erschopften sich nicht in dem, was sie an Ort und Stelle, innerhalb der herrschenden Produktionsordnung, gewesen waren; in ihnen sah Benjamin zugleich die Bildphantasie eines kollektiven Unbewufiten am Werk, das traumend seine historischen Grenzen uberschritt und an die Gegenwart bereits heranreichte. Indem er den von der Psychoanalyse gelehrten »durchaus fluktuierenden Zustand eines zwischen Wachen und Schlaf jederzeit vielspaltig zerteilten Bewufitseins« »vom Indivi- duum aus aufs Kollektiv« iibertrug (G°, 27), wollte er aufzeigen, dafi etwa architektonische Gebilde wie die Passagen zwar der industriellen Produktionsordnung sich verdankten und ihr dienten, gleichzeitig aber auch ein innerhalb des Kapitalismus Uneingelo- stes, Uneinlosbares in sich enthielten: hier die von Benjamin oft visierte Glasarchitektur der Zukunft. »Jede Epoche« habe eine »Traumen zugewandte Seite, die Kinderseite« (F°, 7): der Blick, den Benjamins Betrachtung dieser Seite der Geschichte zuwandte, sollte »die ungeheuren Krafte der Geschichte freimachen [...], die im >es war einmal< der klassischen historischen Erzahlung einge- schlafert werden« (O , 71).

Fast gleichzeitig mit den ersten Aufzeichnungen zum Passagenwerk finden'sich in Benjamins Schriften zahlreiche Protokolle eigener Traume, damals begann er auch, mit Drogen zu experimentieren: beides Unternehmungen, in denen er die Erstarrungen und Verkru-

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stungen aufzubrechen suchte, zu welchen das Denken wie sein Gegenstand, Subjekt und Objekt, unterm Druck der industriellen Produktion geronnen sind 8 . Im Traum nicht anders als im narkoti- schen Rausch sah er »eine Welt von besondern geheimen Affinita- ten« (A , 4) sich offenbaren, in der die Dinge »die widersprechend- ste Verbindung« eingehen und >unbestimmte Verwandtschaften< zeigen konnten (A°, 5). Traum wie Rausch schienen ihm einen Bereich von Erfahrungen aufzuschlieEen, in dem das Ich noch mimetisch-leibhaft mit den Dingen kommunizierte. Seit seinen philosophischen Anfangen war Benjamin auf der Suche nach einem Erfahrungsbegriff, der die von Kant gesetzten Einschrankungen sprengen und »die Fiille des Erfahrungsbegriffes der friihern Phi- losophen« wiedergewinnen, die Erfahrungen derTheologie restitu- ieren sollte 9 . Die Erfahrungen der Surrealisten lehrten ihn freilich, dafi es nicht um die Wiederherstellung theologischer Erfahrung

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gehen konnte, sondern um deren Uberfuhrung in Profanitat: »Diese Erfahrungen beschranken sich durchaus nicht auf den Traum, auf Stunden des Haschischessens oder des Opiumrauchens. Es ist ja ein so grofier Irrtum, zu meinen, von >surrealistischen Erfahrungen< kennten wir nur die religiosen Ekstasen oder die Ekstasen der Drogen. [. . .] Die wahre, schopferische Uberwindung religioser Erleuchtung aber liegt nun wahrhaftig nicht bei den Rauschgiften. Sie liegt in einer profanen Erleuchtung y einer materia- listischen, anthropologischen Inspiration, zu der Haschisch, Opium oder was immer sonst die Vorschule abgeben konnen.« (II, 297) Solche profane Erleuchtung wollte Benjamin in die Geschichte tragen, indem er an der Dingwelt des neunzehnten Jahrhunderts als TraurWewter sich betatigte. Die darin sich bekundende Erkenntnis- intention scheint in den Zusammenhang von Benjamins wenig spater formulierter Theorie des mimetischen Vermogens zu geho- ren, die im Kern eine Theorie der Erfahrung ist 10 . Erfahrung beruht

8 vgl. Hermann Schweppenhauser, Die Vorschule der profanen Erleuchtung, in: Benjamin, Uber Haschisch. Novellistisches, Berichte, Materialien. Hg. von Tillman Rexroth. 4. Aufl., Frankfurt a.M. 198 1, S. 9-30.

9 vgl. vor allem »Uber das Programm der kommenden Philosophic* (II, 1 57-171); das Zitat entstarnmt einem friihen Fragment »Uber die Wahrnehmung«, das in Band VI der »Gesammel- ten Schriften* abgedruckt wird.

10 vgl. »Lehre vom Ahnlichen« und »Ober das mimetische Vermogen* (II, 204-213). - Einer der spatesten Texte der »Ersten Notizen« zum Passagenwerk scheint eine Keimzelle der Benjaminschen Mimesis-Theorie zu bilden (vgl, Q°, 24).

Einleitung des Herausgebers 19

danach auf der Gabe, Ahnlichkeiten zu produzieren und wahrzu- nehmen; einer Gabe, die im Verlauf der Gattungsgeschichte star- kem Wandel unterlag. Urspriinglich ein sinnlich-qualitatives Ver- halten des Menschen zu den Dingen, transformierte es sich phylo- genetisch immer mehr zu dem Vermogen, unsinnliche Ahnlichkei- ten zu apperzipieren, worin flir Benjamin die Leistungen von Sprache und Schrift bestanden. Gegemiber der abstrahierenden Erkenntnis wollte die Benjaminsche Erfahrung unmittelbaren Kon- takt mit mimetischem Verhalten wahren. Ihm war es um ein >gefuhltes Wissen< zu tun, welches »nicht nur Nahrung aus dem, was ihm sinnlich vor Augen kommt«, zieht, sondern das »des bloften Wissens, ja toter Daten wie eines Erfahrenen und Gelebten sich zu bemachtigen« vermag (e°, 1). An die Stelle der Begriffe traten Bilder: die Ratsel- und Vexierbilder des Traums, in denen sich versteckt halt, was durch die weiten Maschen der Semiotik hindurchfallt und doch allein die Anstrengung von Erkenntnis lohnt; die Bildersprache des neunzehnten Jahrhunderts, die dessen »am tiefsten schlummernde Schicht« (G°, 27) darstellt; eine, die im Passagenwerk zum Erwachen kommen sollte. Mit dem Motiv des Erwachens wuftte sich Benjamin zugleichauch von den Surrealisten geschieden. Diese suchten, die Demarkations- linien zwischen Leben und Kunst niederzulegen; das Dichten >abzustellen< (II, 621), um Dichtung zu leben oder Leben zu

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dichten. Den friihen Surrealisten verfransten sich Wirklichkeit und Traum zu getraumter, entwirklichter Wirklichkeit, aus der kein Weg zuriick, zur aktuellen Praxis und ihren Anforderungen fuhrte. Gegen Aragon wandte Benjamin ein, dafi er »im Traumbereiche beharrt«, daft bei ihm die Mythologie >bleibe< (H°, 17); will sagen: die Aragonsche Mythologie bleibe blojle Mythologie, werde von der Vernunft nicht wiederum durchdrungen. Die surrealistischen Imagerien ebneten die Differenzen ein, die das Jetzt vom Gestern scheiden; anstatt das Vergangene in die Gegenwart einzubringen, riickten sie »die Dinge wieder fern« und blieben der »romantischen Fernsicht in das historische Bereich« (C°, 5) verwandt. Benjamin dagegen wollte »die Dinge raumlich heran[rucken]«, »sie in unser Leben treten« lassen (1°, 2). Was ihn mit den surrealistischen Verfahrungsweisen verband: das Absenken des Gewesenen in Traumschichten, bedeutete fur das Passagenwerk nicht Selbst- zweck, sondern war methodische Veranstaltung, eine Art Ver-

20 Einleitung des Herausgebers

suchsanordnung. Das neunzehnte Jahrhundert ist der Traum, aus dem es zu erwachen gilt: ein Alptraum, der solange auf der Gegenwart lasten wird, wie sein Bann ungebrochen ist. Die Bilder des Traums und das Erwachen daraus verhalten sich Benjamin zufolge wie Ausdruck und Deutung, allererst von den gedeuteten Bildern versprach er sich die Losung des Banns. Das Benjaminsche Erwachen meinte die »echte Ablosung von einer Epoche« (h°, 3), im Doppelsinn der Hegelschen Aufhebung: die Uberwindung des neunzehnten Jahrhunderts in seiner Aufbewahrung, seiner >Ret- tung< fiir die Gegenwart. Benjamin definierte als »die neue, die dialektische Methode der Historik: mit der Intensitat eines Trau- mes das Gewesene durchzumachen, um die Gegenwart als die Wachwelt zu erfahren, auf die der Traum sich bezieht« (F°, 6). Der Vorstellung liegt ein mystischer Geschichtsbegriff zugrunde, von dem Benjamin bis zu den spaten Thesen »Uber den Begriff der Geschichte« nicht gelassen hat. Jede Gegenwart sollte so mit bestimmten Momenten der Geschichte synchronistisch sein, wie alles einzelne Gewesene jeweils nur in einer bestimmten Epoche >lesbar< werde - »der namlich, in der die Menschheit, die Augen sich reibend, gerade dieses Traumbild als solches erkennt. In diesem Augenblick ist es, dafi der Historiker an ihm die Aufgabe der Traumdeutung ubernimmt.« (N 4, 1) Dazu aber hilft kein Fernriik- ken des Vergangenen ins Mythologische, sondern, im Gegenteil, »Auflosung der >Mythologie< in den Geschkhtsraum« (H°, 17). So forderte Benjamin »konkrete, materialistische Besinnung auf das Nachste«, ihm war »nur die Darlegung des uns Verwandten, uns Bedingenden« wichtig (C°, 5). Der Historiker in diesem Sinn sollte nicht langer sich in" die Geschichte versetzen, er sollte das Gewesene in sein Leben treten lassen; ein »Pathos der Nahe« (1°, 2) hatte die wegfluchtende >Einfuhlung< abzulosen. Die vergangenen Gegen- stande und Ereignisse waren dann kein Festes, dem Historiker unveranderlich Gegebenes, sondern »die Dialektik durchwiihlt sie, revolutioniert sie, sie walzt das oberste zu unterst« (D°, 4): das hatte das Erwachen aus dem Traum des neunzehnten Jahrhunderts zu vollbringen. Der »Versuch, aus einem Traum zu erwachen«, kann Benjamin deshalb »als bestes Beispiel des dialektischen Umschla- gens« gelten (D°, 7).

Schliisselfunktion fiir das, was ihm bei der Arbeit am ersten Passagenentwurf vorschwebte, mag dem Satz zukommen: »Der

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Einleitung des Herausgebers 2 1

Kapitalismus war eine Naturerscheinung, mit der ein neuerTraum- schlaf iiber Europa kam und in ihm eine Reaktivierung der mythi- schen Krafte.« (K i a, 8) Die Fragestellung: das Interesse an der Erkenntnis des Kapitalismus, teilte Benjamin mit dem historischen Materialismus, wenn anders er sie nicht sogar von diesem iiber- nahm; die Begriffe indessen, derer er zur Bestimmung des Kapita- lismus sich bediente: Natur, Traum und Mythos, entstammen der Terminologie seines eigenen, urspriinglich metaphysisch-theolo- gisch inspirierten Denkens. Um eine Kritik des Mythos als des verhangten Heteronomen, das die Menschen wahrend der Vorzeit in stummer Unmiindigkeit gebannt hielt und das in aller Geschichte seither unter den verschiedensten Formen, als unmittelbare Gewalt so gut wie im burgerlichen Recht iiberlebte, waren die geschichts- philosophischen Vorstellungen des jungen Benjamin zentriert gewesen 11 . Kritik am Mythos blieb auch die Kapitalismuskritik des ersten Passagenentwurfs, in dem das neunzehnte Jahrhundert als ein Gebiet erscheint, auf dem »bisher nur der Wahnsinn wuchert« : »Aber aller Boden muftte einmal von der Vernunft untergemischt, vom Gestriipp des Wahns und des Mythos gereinigt werden. Dies soil fur den des 19. Jahrhunderts hier geleistet werden. « (G°, 13) Die herrschenden Bewufttseinsinhalte und Vorstellungsformen des beginnenden Hochkapitalismus: die »Sensation des Neuesten, Modernsten« einerseits und andererseits das Bild einer »ewigen Wiederkehr alles gleichen« -beides »Traumform des Geschehens«, von einem Kollektiv getraumt, das »keine Geschichte« kennt (M°, 14) -, Benjamins Deutung erkannte in ihnen noch ungeschichtliche, dem Mythos immer noch verhaftete Formen, die erst in solcher Deutung sich anschickten, den Mythos zu entmachten, aus ihm zu erwachen. Unmittelbar theologisch redete er in der Deutung der Moderne als der »Zeit der H6lle« : »Es handelt sich [. . .] darum, daft das Gesicht der Welt, das iibergrofte Haupt, gerade in dem, was das Neueste ist, sich nie verandert, daft dies >Neueste< in alien Stiicken immer das namliche bleibt. Das konstituiert die Ewigkeit der Holle und die Neuerungslust des Sadisten. Die Totalitat der Ziige zu bestimmen, in denen dies >Moderne< sich auspragt, heiftt die Holle darstellen.« (G°, 17) Als >Kommentar zu einer Wirklichkeit<, der

11 vgl. R. Tiedemann, Studien zur Philosophic Walter Benjamins. 2. Aufl,, Frankfurt a.M. !973» S. j6f. und 98 f.

22 Einleitung des Herausgebers

ins Geschichtliche wie in einen Text sich versenkt und es auslegt, sollte Theologie »die Grundwissenschaft« des Passagenwerks abge- ben (O , 9), ineins damit aber Politik »den Primat liber die Geschichte« erhalten (h°, 2). Auf der Stufe des ersten Passagenent- wurfs dachte Benjamin weniger an eine Vermittlung theologischer und politischer Kategorien als - sehr ahnlich wie Bloch im »Geist der Utopie« und in ausdrucklichem Anschlufi an diesen - an beider Identitat. Mehrfach rekurrierte er zur Kennzeichnung des eigenen Vorhabens auf Blochische Begriffe, so etwa: »Die Mode steht im Dunkel des gelebten Augenblicks, aber im kollektiven.« (O , 11) Wie fur Bloch das erlebende Individuum seiner selbst im Augen-

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blick des Erlebens noch nicht inne ist, so waren fur Benjamin die geschichtlichen Phanomene dem traumenden Rollektiv selber undurchsichtig, unerhellt; wie nach Bloch die individuelle Erfah- rung immer diejenige von gerade Vergangenem ist, so sieht Benja- mins Deutung der Gegenwart sich verwiesen auf die jiingste Vergangenheit: gegenwartiges Handeln war ihm Erwachen aus dem Traum der Geschichte, >Explosion< des Gewesenen, revolutionarer Umschlag. Er war iiberzeugt, daft »samtliche Sachverhalte, mit denen [die Passagen-jArbeit es zu tun« hatte, »im Selbstbewufit- werdungsprozefl des Proletariats sich erhellen« wiirden (O , 68); er zogerte nicht, jene als ein Stuck Vorbereitung der proletarischen Revolution zu verstehen. »Die dialektische Durchdringung und Vergegenwartigung vergangner Zusammenhange ist die Probe auf die Wahrheit des gegenwartigen Handelns« (O , 5) - nicht dieses Handeln selber schon, aber ein Beitrag zu dessen Theorie. Das bestimmte die Aufgabe des Historikers als >Rettung< der Vergan- genheit oder - wie Benjamin mit einem anderen Begriff Blochs es formulierte - als »Erweckung eines noch nicht bewufken Wissens vom Gewesenen« (H°, 17); durch die Anwendung der »Lehre vom Noch nicht bewufken Wissen« »auf die Kollektive, in ihren Epo- chen« (O , 50). In diesem Stadium der Arbeit ward das Passagen- werk als mystische Wiederherstellung konzipiert: dialektisches Denken, wie Benjamin es begriff, hatte in der Geschichte jeweils das zukunftsvolle, >positive< Element vom nickstandigen, >negati- ven< zu sondern, um sodann dem »vorab ausgeschiednen, negativen Teile von neuem eine Teilung zu applizieren, derart, dafi, mit einer Verschiebung des Gesichtswinkels [. . .] auch in ihm von neuem ein Positives und ein anderes zu Tage tritt als das vorher bezeichnete.

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Und so weiter in infinitum, bis die ganze Vergangenheit in einer historischen Apokatastasis in die Gegenwart eingebracht ist. « (N 1 a, 3) So sollte im Passagenwerk das neunzehnte Jahrhundert in die Gegenwart eingebracht werden, um keinen geringeren Preis war revolutionares Handeln fur Benjamin erlaubt. Revolution war ihm zuhochst Erlosung der Vergangenheit, welche »die Unzerstorbar- keit des hochsten Lebens in alien Dingen« (O , 1) zu erweisen hatte. - Ende der zwanziger Jahre konvergierten in Benjamins Denken Theologie und Kommunismus. Die metaphysisch-geschichtsphilo- sophischen und theologischen Quellen, aus denen sein esoterisches Friihwerk sowohl wie die groflen asthetischen Schriften bis zum »Ursprung des deutschen Trauerspiels« sich genahrt hatten, waren unverschiittet und sollten auch das Passagenwerk speisen.

Dies alles sollte das Passagenwerk werden, und nichts von dem alien ist es geworden - so ist man versucht, einen Satz Benjamins abzuwandeln. Die Unterbrechung der Arbeit im Herbst 1929 hatte unterschiedliche Griinde. Benjamin selbst hat retrospektiv vorab Fragen der Darstellung verantwortlich gemacht: deren »rhapsodi- scher Charakter«, wie er sich bereits im Untertitel des ersten Entwurfs - »Eine dialektische Feerie« - ankiindigte (V, 11 17); die »unerlaubt >dichterische<« Gestaltung (V, 1138), auf welche Benja- min sich damals verwiesen meinte, waren wohl unvereinbar mit einer Arbeit, die »die entscheidenden geschichtlichen Interessen unserer Generation zum Gegenstand« (V, 11 37) haben sollte. Diese Interessen glaubte Benjamin allein bexm historischen Materialismus gewahrt; die Aporien, vor denen er sich bei der Niederschrift des Passagenwerks fand, kulminierten denn auch fraglos in dessen Stellung zur marxistischen Theorie. Hatte Benjamin sich zunachst

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zur Politik der kommunistischen Parteien bekannt, so mufke er sich mittlerweile von der Notwendigkeit uberzeugen, vom politischen Bekenntnis zur theoretischen Aufarbeitung des Marxismus fortzu- schreiten, die er zumindest solange als Aneignung sich vorstellte, wie sie nicht wenigstens begonnen war. Das Passagenwerk gait es, »gegen alle Einreden« zu sichern, »welche die Metaphysik provo- ziert«; »die ganze, urspriinglich metaphysisch bewegte Gedanken- masse« mufke einem >Umschmelzungsprozefi< unterworfen wer- den, der den Autor instand setzte, »mit Gelassenheit dem entgegen- [zujsehen, was etwa von Seiten des orthodoxen Marxismus gegen

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die Methode der Arbeit mobil gemacht werden mag« (V, 1 1 1 8). Das Ende seines »unbekummert archaischen, naturbefangenen Philoso- phierens«, das der »romantischen Form« und »rhapsodischen Naivitat« des ersten Entwurfs zugrunde lag, hat Benjamin auf von ihm selber als »historisch« charakterisierte Gesprache mit Horkhei- mer und Adorno zuruckgefuhrt (V, 1 1 17), die im September oder Oktober 1929 in Frankfurt und Konigstein stattfanden. Wahr- scheinlich insistierten beide in der Diskussion der damals vorliegen- den Texte - das waren in erster Linie die vom Herausgeber als »Fruhe Entwiirfe« betitelten - darauf, dafi man vom neunzehnten Jahrhundert nicht ernsthaft handeln konne, ohne die Marxsche Kapitalanalyse zu beriicksichtigen, und es ist durchaus moglich, daft Benjamin, der zu diesem Zeitpunkt von Marx noch kaum etwas gelesen hatte, von einem soichen Hinweis sich beeindrucken liefi 12 . Jedenfalls findet sich in seinem Brief vom 20. 1. 1930 an Scholem eine Bemerkung, derzufolge ein Abschlufi der Arbeit erforderte, zuvor bestimmte Aspekte sowohl der Hegelschen Philosophic wie des »Kapitals« zu studieren (V, 1094). Dieses Studium war keines- wegs schon absolviert, als Benjamin sich vier Jahre spater, Anfang 1934, erneut dem Passagenprojekt zuwandte. Das »neue Gesicht« (V, 1 103), welches die Arbeit wohl nicht zuletzt aufgrund der politischen Erfahrungen des Exils hervorkehrte, bekundete sich in einem nachdriickhchen Rekurs auf die Sozialgeschichte, deren der erste Entwurf zwar nicht vollig entbehrt hatte, die in diesem jedoch von der surrealistischen Intention iiberlagert war. Von den alten

12 In den »Ersten Notizen«, in denen okonomische Kategorien nur desultorisch und meist in metaphorischem Gebrauch begegnen, finden sich kommentarlose Verweise auf zwei Stellen im ersten und dritten Band des »Kapitals«, und zwar wird auf die »Originalausgabe« verwiesen (vgl. Q°, 4). Das konnte besonders im Fall des ersten Bandes aufschlufireich sein, dessen erste Auflage von 1867- sie ist mit »Originalausgabe« gemeint - auflerst selten ist und nach der fast nie zitiert wird. Zu vermuten steht, daft Horkheimer oder Adorno bei den >historischen Gesprachen< im Herbst 1929 Benjamin jene Seitennachweise gaben; in der Bibliothek des Instituts fiir Sozialfor- schung befand sich damals ein Exemplar der Erstausgabe, und Horkheimer jedenfalls pflegte gem nach entlegenen Ausgaben zu zitieren. Gesttitzt wird die Vermutung, wenn man die entsprechende Stelle in der Erstauflage des »Kapitals« nachschlagt: es handelt sich um die

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entscheidenden Formulierungen iiber den Fetischcharakter der Ware - also um jenen Begriff, dessen >Entfaltung< >im Mittelpunkt< des zweiten Passagenentwurfs stehen sollte (vgl. unten, S. 25). Da das Manuskript der »Ersten Notizen* bald nach der fraglichen Eintragung abgebro- chen worden ist, konnte dieser Abbruch sehr wohl im Zusammenhang mit den Schwierigkeiten gestanden haben, vor die Benjamin sich durch den Hinwets auf die Notwendigkeit der »KapitaI«-Lektiire gestellt sah.

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Motiven wurde keines aufgegeben, aber das Gebaude erhielt ein tragfahigeres Fundament. Hinzu kamen Themen wie: Haussman- nisierung, Barrikadenkampfe, Eisenbahnen, Konspirationen, com- pagnonnage, soziale Bewegung, die Borse, Wirtschaftsgeschichte, die Kommune, Sektengeschichte, Ecole poly technique; weiter wurden jetzt Exzerptensammlungen zu Marx, Fourier und Saint- Simon angelegt. Diese Erweiterung der Thematik bedeutete aller- dmgs kaum, daft Benjamin jedem der neuen Themen ein eigenes Kapitel des Buches - ein Buchplan war an die Stelle des Essayplans getreten - vorbehielt. Dessen Gegenstand wurde jetzt als »Schicksal der Kunst im neunzehnten Jahrhundert« (V, 1151) bestimmt und schien damit enger gefaftt als in dem fruheren Entwurf, doch will das nicht allzu wortlich genommen werden: das Expose von 1935, in dem das im zweiten Stadium der Arbeit Beabsichtigte deutlicher als irgendwo sonst skizziert ist, fuhrt immerhin all jene Themen noch auf, von denen das Passagenwerk von Anfang an handeln sollte: Passagen, Panoramen und Weltausstellungen, das Interieur und die Pariser Strafien. Der Titel dieses Exposes, »Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts«, blieb fortan verbindlich und wurde 1939 auch fur ein weiteres, franzosisch geschriebenes Expose ubernommen. Er enthalt einen entschiedenen Hinweis auf »die neuen und eingreifenden soziologischen Perspektiven« des zweiten Entwurfs, von denen Benjamin schrieb, daft sie »den gesicherten Rahmen der interpretativen Verspannungen hergeben« wurden (V, 1 1 18). Die Interpretation aber sollte jetzt die Gegenstande des Buches - den kulturellen Uberbau des neunzehnten Jahrhunderts in Frankreich - auf den von Marx so genannten Fetischcharakter der Ware zuruckfuhren: 1935 hieft es, »die Entfaltung« dieses Begriffs werde »im Mittelpunkt« des geplanten Buches stehen (V, 1 1 1 2), und 1938, »die grundlegenden Kategorien« des Passagenwerks wurden »in der Bestimmung des Fetischcharakters der Ware ubereinkom- men« (V, n 66). Im ersten Entwurf begegnet der Begriff nur ganz isoliert, an einer einzigen Stelle (O , 38); unverkennbar konnte damals noch keine Rede davon sein, daft der Warenfetischismus bestimmt war, das zentrale Interpretationsschema des gesamten Passagenwerks abzugeben. Als Benjamin im Mai 1935 das altere Expose schrieb, diirften ihm die einschlagigen Ausfiihrungen bei Marx selber noch gar nicht vertraut gewesen sein; anscheinend begann er erst Anfang Juni 1935, nach Abschluft des Exposes, im

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