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Universität Augsburg Historisch-philologische Fakultät Lehrstuhl: Neuere deutsche Literaturwissenschaft HS: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Fiktion und Bedeutung in Sprach- und Literaturwissenschaft Dozent: Dr. Friedmann Harzer Walter Serners „Letzte Lockerung“ – Zwischen Dadaismus und Neuer Sachlichkeit? Eingereicht von: Axel Grimmeißen

Walter Serners „Letzte Lockerung“ · Neusachlicher Dada und dadaistische Sachlichkeit Die „Letzte Lockerung 1– Ein Handbrevier für Hochstapler und solche die es werden wollen“

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Page 1: Walter Serners „Letzte Lockerung“ · Neusachlicher Dada und dadaistische Sachlichkeit Die „Letzte Lockerung 1– Ein Handbrevier für Hochstapler und solche die es werden wollen“

Universität Augsburg

Historisch-philologische Fakultät

Lehrstuhl: Neuere deutsche Literaturwissenschaft

HS: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Fiktion und Bedeutung in Sprach- und

Literaturwissenschaft

Dozent: Dr. Friedmann Harzer

Walter Serners „Letzte Lockerung“ –

Zwischen Dadaismus und Neuer

Sachlichkeit?

Eingereicht von:

Axel Grimmeißen

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Inhalt1. Neusachlicher Dada und dadaistische Sachlichkeit ....................................................................... 3

2. Avantgarde und Manifest – eine Übersicht ..................................................................................... 3

3. Dada ist nicht Dada ........................................................................................................................... 5

3.1 Dada – Ein Ereignis? ................................................................................................................... 5

3.2 Expressionistischer Dadaismus – Geschichte des Wortmaterials ........................................... 7

4. Walter Serner und das Ende der -Ismen? ....................................................................................... 8

4.1 Sprich deutlicher – die Lyrik Serners ....................................................................................... 9

4.2 Die letzte Lockerung? ............................................................................................................... 12

4.3 Die Interjektion und der Klammerstil – die Rhetorik Serners ............................................. 14

4.4 Die Rolle Schads ........................................................................................................................ 15

4.5 Neue Sachlichkeit ...................................................................................................................... 16

4.5 Der Schritt vom Dadaismus in die Neue Sachlichkeit: Das Handbrevier für Hochstapler 17

Literaturverzeichnis ............................................................................................................................ 20

Anhang: ................................................................................................................................................ 22

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1. Neusachlicher Dada und dadaistische Sachlichkeit

Die „Letzte Lockerung – Ein Handbrevier für Hochstapler und solche die es werden wollen“1

von 1927 ist ein ambivalentes Werk, da es Texte aus zwei Schaffensphasen Serners collagiert.

Bei der Niederschrift des Handbreviers kombiniert Serner literarische Fragmente, die Spuren

des Dadaismus und bis in den Expressionismus aufzuweisen scheinen. Dementsprechend

gestaltet sich eine Epochenzuordnung schwierig. Über das im Titel noch mögliche Spiel mit

den Prädikaten soll diese Arbeit Aufklärung leisten. Dementsprechend muss das Werk aus dem

Kontext der zeitgenössischen Kunstproduktion gelesen werden, d.h. der historischen

Avantgarde. Diese ist eng verknüpft mit der Gattung des Manifests, das allgemein als

favorisierte Artikulationsform innerhalb der historischen Avantgarde und speziell im Umfeld

der dadaistischen Manifeste gelesen werden muss. Eine biographische Übersicht verspricht

mehr Klarheit bezüglich des phasenweisen Aufbaus der Letzten Lockerung als Textcollage –

dabei werden sowohl Walter Serner als auch sein naher Freund und Hauptbezugspunkt der

Biographen Serners. Schließlich ist es notwendig einen breitgefächerten Blick über Serners

Werk zu erlangen, um dem Facettenreichtum des Avantgardisten gerecht zu werden; hierfür

eine Übersicht über die Lyrik Serners. Abschließend müssen die Grundzüge der Neuen

Sachlichkeit für eine Verortung der Letzten Lockerung dies- oder jenseits der Strömung. Zu

unbeachtet erscheint in der Forschung die Frage: Walter Serners „Letzte Lockerung“ -

Neusachlicher Dada oder dadaistische Sachlichkeit?

2. Avantgarde und Manifest – eine Übersicht

Die breit diskutierte Frage nach dem Charakter oder einer Definition der (historischen)

Avantgarde kann und soll hier nicht beantwortet werden – stattdessen wird der Kanon der

Avantgardeforschung durch eine Setzung umgangen, die als Fundament weiterer Diskussion

dient: Mit der Konstitution der autonomen Kunst etabliert sich im 19. Jahrhundert eine

Institution, gegen die die historische Avantgarde vorgeht.2 Somit ergibt sich eine Dialektik aus

autonomer Kunst und der Avantgarde. Dabei „spitzt [jene] die Autonomie derart zu, daß sie

zerbricht und in Praxis umschlägt, denn nur die Autonomie gestattet ihr, einen Standpunkt zu

entwickeln, der die durch sie abgetrennte soziale Welt nicht mehr ignoriert, sondern

1 Vgl. Serner 1988 [LL] 2 Vgl. Asholt/ Fähnders 1997, 5

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grundsätzlich in Frage stellt“.3 Somit konstituiert sich die Avantgarde als Antipode der

autonomen Kunst. Die Avantgarde steht dabei in einem Dilemma: Die Manifestation der

Subjektivität löst diese auf, indem die Fixierung eine allgemeingültige Objektivität herbeiführt,

die das künstlerische Individuum seiner Subjektivität beraubt - schließlich ist ein Manifest, also

das Konstitutionsorgan der Avantgarde, statisch und auf der anderen Seite vermag ein

Schweigen der als Missstand empfundenen, zeitgenössischen Kunstproduktion des frühen 20.

Jahrhunderts und ihrer bürgerlichen Prägung nichts entgegen zu setzen.4 Diesem Dilemma ist

sich die Avantgarde bewusst.5 Die in der Kritik der Urteilskraft manifestierte Haltung zum

Werkbegriff als interesselos6 entkoppelt das Kunstwerk von der Institution, die eben scheinbar

ein Interesse – der Begriff wird nach Kant als das reine Geschmacksurteil trübendes Zweites

verwendet – notwendig n das Kunstobjekt knüpfen. Es ist jedoch nicht möglich, durch das

Kunstobjekt selbst – denn dies ist eine vollkommen autoritäre Vorstellung – die über es

gefällten Geschmacksurteile dadurch zur Reinheit, d.h. Entkopplung von Moral und

Angenehmem, zu bringen, dass das Kunstobjekt bar jeder Moral oder Angenehmen geschaffen

wird. Der avantgardistische Ansatz zur Befreiung der Kunst von der autoritär determinierenden

Institution – eben diese Prädikate werden zu oft getilgt – ist ein anderer:

„Die Avantgarde glaubt also, die autonome Kunst zu überwinden, indem sie deren absoluten

Geltungsanspruch, wie mit einem großen Sprung nach vorn, auf die Gesellschaft insgesamt überträgt.

Dies kann vermittels von Kunstwerken geschehen, schlägt sich aber vor allem in der Theorie, d.h.

Manifesten nieder. In ihnen buchstabiert die Avantgarde die verschiedenen Möglichkeiten, diesen Sprung

aus der Kunst nicht nur zu denken, sondern auch auszuprobieren und, soweit dies geht, durchzuführen.“7

Somit ergibt sich eine Entkopplung durch manifestierten Konsens bzw. die meta-

manifestierende Ästhetisierung des Auswegs aus der institutionellen, bürgerlichen Kunst.

Verblasst das Manifest also zur Bedienungsanleitung für die avantgardistische Kunst, die

dadurch das einzelne Kunstobjekt unter einem -Ismus-Projekt subsumiert, das selbstständiges

Gesamtkunstwerk einzelner Akteure ist? Sicherlich ist die Betrachtung dieses aus sozialer

Plastik und medial variablen Kunstobjekten amalgierten Gesamtkunstwerks für die

Avantgardeforschung hilfreich, um aus den einzelnen Strömungen einen Begriff – eben den der

‚Avantgarde‘ - zu konstruieren. Für die „Letzte Lockerung“ ergibt sich dementsprechend die

Notwendigkeit einer Verortung dieses Manifest in den Gesamtkontext der Avantgarde, des

3 Ebd., 5 4 Vgl. Ebd., 1 5 Vgl. Ebd., 1 6 KU § 1-22, §59 7 Vgl. Asholt/ Fähnders 1997, 5

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Dadaismus und letzten Ende des dadaistischen Manifests. Zunächst folgt also ein Blick auf den

Dadaismus.

3. Dada ist nicht Dada

Egal ob der Dadaismus mehr als seine Teile ist oder nicht: Seine Teile, also die gesamten Werke

der Dadaisten und die Stellungnahmen dazu, sind nicht homogen und damit ergibt sich eines

der größten Probleme in der Forschung zu dieser Avantgarde. So individuell wie die beteiligten

Künstler ist auch ihr Verständnis von dem, was Dada ist oder sein soll. Um ein erstes Tertium

comparationis zu konstruieren, schafft ein in seiner Verwendung wohl für die zeitgenössischen

Medien gedachter Begriff Zizeks: Das Ereignis. Der Dadaismus soll zudem als Gegenpol zu

den bisherigen -Ismen gedacht werden, der sich jedoch aus dem bereits bestehenden Material

der historischen Avantgarde bedient. Abschließend wird in einem vornehmlich philosophischen

Diskurs Revolte und Anarchismus im Dada ideengeschichtlich verortet. Hier wird also das

allgemeine Raster konstruiert, in das die Analyse des Werks Walter Serners eingebettet werden

soll.

3.1 Dada – Ein Ereignis?

Ein Ereignis ist stets ein Ereignis für jemanden. Dementsprechend ist das Ereignis subjektiv zu

Denken. Ein objektives Ereignis ist in Ermangelung eines Werturteils nicht möglich, denn das

Ereignis ist als besonderes Vorkommnis zu denken. Dem liegt eine vorläufige Zerlegung der

Geschichte in Einzelteil zugrunde, die in kausalem Zusammenhang stehen – der Begriff des

Ereignisses tilgt also notwendiger Weise eine kontinuierliche Vorstellung der Geschichte oder

setzt ein rein subjektiv-biographisches Geschichtsverständnis. Diese Einzelbausteine oder

Vorkommnisse mit dem Prädikat Ereignis zu versehen, bedeutet ein Werturteil zu fällen, dass

ihre Relevanz gegenüber den anderen Vorkommnissen hervorhebt. Wie lässt sich also

Dadaismus in diese Systematik des subjektiv gedachten Ereignisses einbetten? Zizek bietet

durch eine für seinen Text vorläufige Definition einen hervorragenden Anknüpfungspunkt:

„Dies ist ein Ereignis in seiner reinsten und minimalsten Form: etwas Schockierendes, aus den Fugen

Geratenes, etwas, das plötzlich zu geschehen scheint und den herkömmlichen Lauf der Dinge unterbricht;

etwas, das anscheinend von nirgendwo kommt, ohne erkennbare Gründe, eine Erscheinung ohne feste

Gestalt als Basis.“8

8 Zizek 2014, 8

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Auch Zizek formuliert, gemäß diesem Zitat, das Ereignis subjektiv: Es kommt anscheinend von

nirgendwo und die Gründe für es sind nicht erkennbar – also aus anderer Perspektive durchaus

mit Gründen versehbar und mit einem fixen Ursprung. Hier scheint sich ein Scheideweg zu

offenbaren: Eine Richtung führt in die Mystifikation des Ereignisses, der andere in die

(wissenschaftliche) Rekonstruktion der Kontinuität. Dies ändert die eben gestellte Frage: Für

wen ist der Dadaismus ein Ereignis? Wohl nur für diejenigen Rezipienten, die keinen Fortlauf

der Vorkommnisse überschauen und somit nur mit denjenigen Vorkommnissen in Berührung

kommen, die über ihren Rahmen hinausweisende Relevanz erlangen. Der Dadaismus muss also

in den Geschichtsverlauf eingebettet werden, um nicht einer Mystifizierung zum Opfer zu fallen

und womöglich als absurde Unsinnserscheinung instrumentalisiert zu werden, um einer

Antipode der vermeintlichen Hochkultur Legitimation zu verschaffen. Offensichtlich ist die

Kontinuitätstilgung der entscheidende Punkt – einerseits also eine Ausdifferenzierung in

subjektiv unüberschaubare Diskurse, andererseits ein streiflichtartiger Zugang zu ihnen. Somit

führt diese Definition zu einer medialen Dimension: Am Knotenpunkt der Berichterstattung

laufen die einzelnen (Geschichts-)Diskurse zusammen und artikulieren sich über Ereignisse,

sobald sie über ihren diskursbezogenen Relevanzkreis hinausweisen. Nun scheint es möglich,

diese Relevanz zu fingieren und durch die Darstellung des Dadaismus als Ereignis, das eigene

Schaffen zu propagieren. Als Syntheseleistung bereits vorhandener Elemente ist die

Avantgarde eben auf jene bereits vorhandene Materialität angewiesen und somit steigert ein

größerer Zugang zu verschiedenem Material die Möglichkeiten der Synthese. Diese Darstellung

ist also nichts anderes als ein (kunst-)historischer Materialismus.9 Ein erhöhter Zugang zu

künstlerischem Material erzeugt das Potenzial für mehr Syntheseleistungen und somit mehr

Ereignisse – schließlich ist die Kontinuität in der Kunstgeschichte zunächst nur dem Künstler

(und diesem auch nur mit Vorbehalten) zugänglich. Der stetig steigende Zugang zu Kunst im

weitesten Sinne, steigert somit deren Ereignischarakter – schließlich ist das Kunstwerk immer

bis zu einem gewissen, variierenden Grad als Collage zu denken, als synthetisierte Einzelteile

und somit führt eine größere Varianz und Anzahl dieser Einzelteil zu einer zunehmenden

Unübersichtlichkeit. Folgt man diesem Gedanken, häufen sich die Ereignisse, d.h. die

Kunstproduktion erscheint beschleunigt. Das Dilemma zeigt sich in der Gewöhnung: Wird der

Wert oder die Bedeutung eines Kunstwerks anhand seines Ereignischarakters gemessen, verliert

es ihn in einem Umfeld mit vergleichbaren Ereignissen – also einem ähnlichem Grad an

Überschreiten der etablierten Kontinuität bzw. Geschwindigkeit der Kunstproduktion. Somit

reproduziert sich die Avantgarde und beschleunigt sich immer weiter: Die Ereignisse tilgen sich

9 Die Basis für diese Überlegungen liefert Walter Benjamins Kunstwerkaufsatz (Vgl. Benjamin 2013)

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gegenseitig und Schaffen das verlangen nach einem noch radikaleren Überschreiten des bisher

als möglich geglaubtem. Ist diese Überschreitung nicht mehr möglich oder sind, wird es nötig

den Ereignischarakter des eigenen Schaffens zu fingieren. Hier scheint also der entscheidende

Schritt heraus aus der Kunst und hin zur Radikalisierung zu liegen. Kurz gesagt: Um das

Kunstwerk als avantgardistisches zu präsentieren, ist es möglich durch eine eigene Ideologie

(ein Manifest) das eigene Schaffen vermeintlich aufzuwerten – dabei wird das bisherige als

dem eigenen unterlegen dargestellt. Die Abwehr des als minderwertig illustrierten,

vorausgehenden Schaffens gelingt dabei durch eine Erhöhung des innerhalb des im Manifest

definierten Gegenpols:

„Jedenfalls ist das Ausrufen der eigenen Bewegung als einer neuen mit entsprechend großem

Differenzpotenzial gegenüber allem Alten und Anderen der entscheidende Vorgang. […] Den Reigen

derartiger Eröffnungs-Manifeste zum Start einer Avantgarde-Bewegung begann Filippo Tommaso

Marinetti mit seinem „Le futurisme“, das am 20. Februar 1909 auf der Titelseite der Pariser

Tageszeitung Le Figaro erschien […].“10

Mit dem Manifest „Le futurisme“ schafft Marinetti eine Nachfrage nach futuristischen Werken.

Durch dieselbe Kompositabildung wie z.B. im Expression-ismus wird auf die damit tradierte

Rezeptionshaltung verwiesen. Der Futurismus wirbt sozusagen mit dem Vertrauten und setzt –

bereits allein durch die Namensgebung, noch tiefergreifend durch das Manifest selbst – dem

bisherigen ein Fortschrittsversprechen entgegen. Der „Reigen“ der Manifeste gibt somit eine

Gleichschaltung der Kunst mit dem Tempo des technischen Fortschritts vor. Es ergibt sich ein

Bild, indem der tatsächliche künstlerisch-methodische Fortschritt keine so große Rolle spielt

wie die Vermarktung und Propaganda durch die Manifeste. Inwiefern dieser Gedanke bei

Walter Serners Texten latent vorhanden ist und eventuell subvertiert wird, sollen die nächsten

Kapitel zeigen. Dabei spielt Serners - biographisch fundierte - Haltung zur Hochstapelei eine

ebenso gewichtige Rolle, wie seine Bezüge zu Expressionismus und Dadaismus. Die

Vermischung von Dadaismus und Expressionismus sollen davor – auch am Beispiel Serners –

noch illustriert werden.

3.2 Expressionistischer Dadaismus – Geschichte des Wortmaterials

Die Zugriffe der Dadaisten auf den Expressionismus sollen hier am Kriterium des

Sprachmaterials aufgezeigt und anschließend biographisch fundiert werden. Der Einzug der

Wortkunst, also der Priorisierung des Sprachmaterials in der avantgardistischen Lyrik, in die

10 Berg/ Fähnders 2009, 2 (linke Spalte)

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Avantgarde geschieht vornehmlich durch den Sturm-Kreis – die Befreiung von der Syntax

werden später im Dadaismus radikalisiert, d.h. neben der Syntax wird auch das Wort

aufgelöst.11 Auf der einen Seite versteht sich der Dadaismus konträr zum Expressionismus,

knüpft auf der anderen Seite aber an dessen avantgardistischen Gedanken der Schaffung eines

neuen Sprachmaterials an. Als expressionistisch lassen sich auch neologistische Komposita

betrachten, die sich als Erstarrung von Assoziationen denken lassen. Referenzobjekt X und Y

erfahren im Dialog mit dem Subjekt spezifische Deutung und Reaktion, die sich unter einem

synthetisierenden Begriff Z semantisieren lassen. Durch die Zusammenrückung XY wird auf

die Synthese selbst referiert, ohne eine subjektive Deutungszuschreibung vorzunehmen – wie

diese reduzierte Stellungnahme zur Wirklichkeit evoziert wurde, verlangt eine eigenständige

Untersuchung, die sicherlich die Spurensuche auch in militärischer Entindividualisierung und

der lyrischen Verarbeitung des 1. Weltkriegs beginnen muss.12 Ausdruck, als Artikulation

subjektiver Bedeutung verstanden, wird hier also nur angedeutet und kann vom Rezipienten

durch Besetzung der Komposita mit der eigenen Haltung zur Synthese der jeweiligen

Bestandteile vorgenommen werden. Insofern die Texte Serners diese Komposita enthalten – in

Kapitel 4 wird dies bestätigt und detaillierter dargestellt – ist also eine Bezugnahme auf den

Expressionismus qua Material festzustellen.

4. Walter Serner und das Ende der -Ismen?

Bevor die Lesart von Serners Manifest als Anti-manifest dargelegt werden kann, ist es sinnvoll

zunächst einige Worte über seine Biographie und Lyrik zusammenzutragen – die Eckdaten sind

allesamt der ausführlicheren Chronik Thomas Milchs entnommen.13 Am 15.1.1889 wird Walter

Serner als Walter Eduard Seligmann geboren – die Namensänderung am 19.5.1909 war mit

einem Übertritt vom jüdischen zum katholischen Glauben verbunden. Das am 30.6.1909

begonnene Jurastudium schließt Serner am 20.5.1913 mit dem Doktorgrad ab. Nennenswert

erscheint sein wohl wichtigstes Plagiat: Franz Jung stellt er ein fingiertes ärztliches Attest aus

und ermöglicht dem Deserteur somit die Flucht.14 Seine Schriften vielen der Zensur des

Nationalsozialismus zum Opfer – die Dokumentation des Lebens von Walter Serner reist mit

der Deportation am 20.8.1942 ab. Einige, unter Berücksichtigung der Letzten Lockerung

ausgewählte, Briefe zwischen Christian Schad und Serner parallelisieren sich später mit

11 Vgl. Berg/ Fähnders 2009, 361 12 Eine genauere Untersuchung anhand von August Stramms Lyrik nahm Frank Krause vor: Krause 2008, 160ff 13 Vgl. Milch 1989, 10-17 14 Vgl. Wiesner 1989, 20f; dort findet sich auch eine genauere Schilderung der Begebnisse um das Attest von Franz Jung.

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Lesarten des Manifests Letzte Lockerung – denn die im folgenden zitierten Stellen sind die

Fundstellen zur (Re-)Konstruktion autobiographischer Bezüge und sollen der Transparenz

willen vorangestellt werden. So schreibt Schad rückblickend über Serner:

„Sein stets wacher Intellekt, der vor keiner Selbstsezierung zurückschreckte, und seine Fähigkeit, sich

selbst als agierende Puppe zu sehen, gaben ihm die Möglichkeit, bewußt in Dinge sich hineinzusteigern,

sie heftig zu erleben und dann plötzlich und ganz bewußt dieser Begeisterung als ‚vagem Irresein‘ ein

Ende zu machen. In meinem ganzen Leben habe ich keinen Menschen getroffen, der die Klaviatur der

menschlichen Möglichkeiten so virtuos und auch so sauber beherrschte und handhaben konnte wie er.“15

Und Serner am 18.2.1922, nachdem er ihn in München wenig zuvor besucht hatte16, an Schad:

„Ich versichere Sie, ich hatte, seit ich München verlassen habe, schwere und häufige Selbstmord-

Gedanken, aber lediglich auf Grund meiner Gesamtkatastrophe. […] Begreifen Sie jetzt meine Berliner

Dummheiten endlich? Dass ein Mensch wie ich, fertig bis zum Nichts mit allem, Blödheiten letzten Grades

macht, um sich auszuhalten?“17

Die Verwendung von „Blödheiten letzten Grades“ gegen suizidale Hoffnungslosigkeit und das

selbstparodierende Moment, das Schad hervorhebt, wurde in den folgenden Analysen

mitbedacht, wird später aber vornehmlich für eine Interpretation der Letzten Lockerung

relevant.

4.1 Sprich deutlicher – die Lyrik Serners

Für eine Systematisierung des kompakten lyrischen Gesamtwerk Serners18 lassen sich

sicherlich die Manschettengedichte als eigenständige Kategorie betrachten – es handelt sich

hierbei um sieben Gedichte mit dem Titel Manschette und einer willkürlich erscheinenden

Nummerierung.19 Während drei davon groß geschrieben sind und mit unter dem Titel in

Klammern gesetzten Gattungsangabe versehen wurden, sind vier davon klein geschrieben und

entweder ohne oder mit einem Begriff (oder einem hier nicht näher definierbarem Prinzip der

Gattungszuschreibung) untertitelt. An dieser Stelle muss die mögliche Unvollständigkeit eines

größer angelegten Manschettenzyklus bedacht werden: Glaubt man den Nummerierungen, sind

mindestens 787 davon entstanden. Aus dem vorhandenen Material ergibt sich jedoch

15 Milch 1977, 90 16 Vgl. Wiesner 1989, 12f 17Ebd., 39; den letzten Absatz desselben Briefes verwendet Serner später literarisch (Vgl. Ebd., 36) – wiederum ein Beleg für die collagenhafte Versatzstückarbeit Serners, wie in „die wohltemperierte chloral-pleiade“ (Abb. 1). 18 Vgl. Renner 1988, 53-55 [SD]; der Auflistung in diesem Werk ist mit Bedacht zu vertrauen. Bei 77° handelt es sich um einen Teil aus der letzten Lockerung, die in Graden nummeriert ist – die Lyrik Serners erschien gesammelt in Band 2 der Gesamtausgabe von Thomas Milch (vgl. Serner 1988) 19 Vgl. Serner 1988, 329 [H]

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grundsätzlich eine Lesart, die in Manschette 7, 9 und 5 die Gattungsfiktion bzw. eine Parodie

der paratextuellen Gattungszuschreibung als gemeinsamen Nenner erkennen lässt und lässt sich

somit zu Lesarten parallelisieren, die in Kurt Schwitters „An Anna Blume“ eine Parodie der

Liebeslyrik sehen und ich auf den revoltierenden Spiegelcharakter Dadas festlegen. Mit

Sicherheit lässt sich jedoch sagen, dass die Gattungsbezeichnungen der Manschettengedichte

die Leser*innen grundsätzlich vor das Problem stellen, mit ihnen umgehen zu müssen und ein

Urteil zu fällen – bewusst oder unbewusst. Schenkt man ihnen glauben, transformiert dies die

Rezeptionshaltung gegenüber dem Text hin zur jeweils von der genannten Gattung geforderten

– wendet man sich von der Gattungsbezeichnung ab, müsste gleichsam jegliche paratextuelle

Gattungszuschreibung (z.B. „Roman“) novelliert werden oder die von Serner vorweggegriffene

Zuordnung als unsinnig verstanden werden. Wie man sich auch entscheidet: Die

Manschettengedichte evozieren den Diskurs über Paratextualität stets in irgendeiner Form,

gerade da in manschette 6, 22, 202 und 787 mit der bisherigen Systematik gebrochen wird.

Letztendlich ist der Leser gefordert, Stellung zur Autorität dieser Paratexte zu beziehen und

hier scheint das avantgardistische Potenzial der Texte verankert zu sein. Das Machtgefälle

zwischen Autor und Rezipient tritt hervor – der Rezipient entscheidet über ganz wesentliche

Prägungen der Texte selbst und potenziell bewusst und autonom – es zeigen sich im Fall von

Manschette 5 dementsprechend prinzipiell drei Texte: Eine (fiktive) Grabinschrift, die Parodie

einer Grabinschrift und eine unsinnige Textcollage. Zudem fungieren die Untertitel der

Manschetten sozusagen als Definition des Assoziationsrahmens – sicherlich war Serner mit den

Schriften Freuds bzw. der Psychoanalyse zumindest rudimentär vertraut. Unterstützt wird diese

Lesart im Abgleich mit den Lautgedichten Hugo Balls, von denen „Karawane“ als am

passendsten für eine Ausführung erscheint. Die strukturelle Überschneidung zu Serner ist

hierbei die Verankerung eines Assoziationsfeldes für die Rezeption des Gedichts mittels des

Titels. Als einziger vollständig semantisierter Teil determiniert der Titel bei Balls Karawane

die (vermeintliche) Diegese. Während sich dadurch bei Ball die Verse als onomatopoetische

Mimese einer Karawane auffassen lassen – das „ba – umf“ in der letzten Zeile z.B. als

aufstampfen – und dadurch der Titel eine Monopolstellung in der Konstruktion einer Diegese

innehat, drängen bei Serner die Gattungszuschreibungen die willkürlich erscheinenden

Fragmente in eine bestimmte Richtung und offenbaren den semantischen Raum bei Balls

Texten und das gattungsnormative Ordnungsprinzip bei Serner, das den Textmosaiken

zugrunde liegt.

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Diese Argumentation soll anhand der Manschette 9 präzisiert werden.20 Die mit „Elegie“

untertitelte neunte Manschette ist in drei Strophen und drei Einschübe unterteilt. Nicht nur dass

Fehlen der Interpunktion, sondern auch die unzusammenhängenden Versatzstücke der Strophen

erschweren den Zugang. Vor diesem hermetisch anmutenden Gedicht bleibt zunächst nichts als

der Hinweis, dass es sich um eine Elegie handeln solle – bestätigt durch die

gattungsspezifischen, klagenden Zwischenrufe „(o) sprich deutlicher“, beinahe als

kommentierte eine zweite Erzählstimme den Wortsalat einer ersten. Die Strophen selbst sind

(der Reihe nach) in drei, sechs und drei Verse unterteilt, die unzusammenhängend erscheinen.

Weiterhin lassen sich nun die Verse als alleinstehend und in der Tat willkürlich begreifen –

somit verstärkt sich das Bild eines Dialoges, bei dem eine Erzählstimme um die Deutlichkeit

der anderen, die nur in Fetzen spricht, bittet. Aus diesem Gedanken ergäbe sich als Leitmotiv

z.B. die Thematisierung der Sprachskepsis oder das tragische Moment eines misslingenden

Gesprächs. Versucht man die Verse zu einem Ganzen zu setzen, muss die Stringenz konstruiert

werden und eine Diegese ergibt sich gleichsam nur durch Konstruktion – die semantischen

Leerstellen müssen dafür willkürlich aufgefüllt werden, Sinn lässt sich hier nur unterstellen.

Lyrik wie malen nach Zahlen? In dieser Metapher bilden die Gattungszuschreibungen, parallel

zu Balls Titel Karawane, die richtungsweisenden Zahlen.

Eine weniger komplex gedachte Lesart wurde bereits in Bezug auf Schwitters vorgestellt, nach

der Manschette 9 als eine Parodie der Elegie zu verstehen ist. Es ergibt sich eine skurrile Szene

zwischen zwei Erzählstimmen im Dialog, von denen eine nicht vermag Zusammenhängendes

von sich zu geben und die andere in tragischer Manier um Deutlichkeit fleht. Letztendlich bleibt

aber auch hier die Gattungszuschreibungen der fundamentale Bestandteil für die Wirkung des

Gedichts – schließlich liegt das humoristische Moment in der unverhältnismäßigen,

hyperbolischen Klage nach elegischer Manier.

Das Manuskript zum Gedicht „die wohltemperierte chloral-pleiade“ 21 soll abschließend die

Schaffensweise Serners illustrieren. Der erste Setzungsakt mittels Schreibmaschine wurde

intensiv nachbearbeitet. So wurde z.B. der Titel um < chloral- > ergänzt, das Versmaß verändert

(<die sterilste> wurde von Vers 16 in Vers 15 verschoben) und eine spanischsprachige

Ergänzung dem sonst deutsch-französischen Text angehängt. Da sich der Schaffensprozess

nicht in seiner Gesamtheit untersuchen lässt, ist es schwierig dessen Verlauf stichfest zu

rekonstruieren, jedoch lässt sich durch den zuletzt angehängten Teil auf eine collagierende

20 Vgl. Serner 1988, 66 [H] 21 Vgl. Abb. 1

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Arbeitsweise spekulieren und zumindest für das untersuchte Gedicht lässt sich der Verdacht

einer vollkommen willkürlichen Aneinanderreihung von Worten abwehren.

Die Lyrik Serners erweist sich nach den Untersuchungen in dieser Arbeit als teils

mehrsprachiger, collagiert anmutender, mit Sinn versehener Unsinn und zeigt humoristische,

parodierende Tendenzen. Besonders auffällig erscheint zudem die Wortwahl: Ein Hang zu

Wortskurrilitäten22, die morgensterneske Häufung verspielter Neologismen23 und Begriffe

akademischer Diskursfelder die durch Kombination mit Anstößigkeiten24 umgewertet werden,

lassen sich einerseits als Parodie verklausulierter Ausdrucksweise lesen und führen andererseits

die Ästhetik der Texte hin zum Sprachmaterial, das bis zum Äußersten ausgeschöpft erscheint.

Durch ein stroboskopartiges Aufflackern von Begriffen, gelesen als pars pro toto ihrer

jeweiligen Diskurse, schneiden die Gedichte Serners quer durch die Sprachlichkeit einer sich

ausdifferenzierenden, unübersichtlichen Moderne.

4.2 Die letzte Lockerung?

Die Avantgarde und somit auch der Dadaismus sind notwendigerweise an konstituierende

Texte geknüpft um Verbreitung zu finden und sich zu etablieren – schließlich wird ein Abbild

der bisherigen Kunst geschaffen, das abgelöst werden soll und dem somit (vermeintlich) über

eine neue Dogmatik ein Gegenpol entgegengesetzt werden muss.25 Dies lässt sich auch als ein

durch das Manifest generiertes Ereignis in der Kunstgeschichte auffassen – hier zeigt sich also,

rückblickend auf die Stellungnahmen zum Ereignis in dieser Arbeit - bereits der massiv

konstruierte Charakter der Avantgarde.26 Diese Tendenz ist - ebenfalls notwendig –

selbstauflösend, denn bereits in der Konstitution neuer Leitlinien der Kunst wird das (oft

vermeintlich, da nur vereinnahmt) Neue historisch und schließt sich an eben die Linie an, die

aufgelöst werden soll. Diese Tatsache scheint den Dadaisten bewusst zu sein und gerade an den

dadaistischen Manifesten lässt sich dieses Bewusstwerden der Avantgarde ablesen.27 Setzt man

diesem Bewusstsein lediglich eine Artikulation eben dieses Bewusstseins entgegen – so eine

Lesart der Manifeste Balls, Tzaras oder Huelsenbecks – ergibt sich wiederum ein infiniter

22 „Äser“ in: manschette 6, Vers 5 (Serner 1988, 68 [H]); „Krachmandel“ in: Manschette 7, Vers 7 (Ebd., 65); „elmsfeuer“ in: Die Hyperbel vom Krokodilcoiffeur und dem Spazierstock, Vers 1 (Ebd., 72) 23 „busenschautze“ in: manschette 22, Vers 2 (Ebd., 69); „Bodenbepurzelndes“ in: Bestes Pflaster auch roter Segen, Vers 1 (Ebd., 30) 24 „metaphysisches Rülpsen“ in: Manschette 9 (Ebd., 66) 25 Vgl. Wagner 1997, 39 ff 26 Der Wandel der Medienlandschaft liefert sicherlich neue Methoden der Konstitution avantgardistischer Strömungen - hier wird die Avantgarde bis 1920 betrachtet. 27 Vgl. Backes-Haase 1992, 259

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Regress. Die Lösung dieses avantgardistischen Problems des immerfort konstruierten28 Neuen

ließe sich lediglich durch Schweigen lösen – oder vehemente Selbstrelativierung, die jede

Aussage über die Kunst oder die Philosophie durch Selbstparodie und Selbstironie (man könnte

sie in Anspielung auf die Verknüpfung von Philosophie und Autorfiktion auch kierkegaardesk

nennen). Soll der Dadaismus die -ismen auflösen, muss er in letzter Konsequenz auch sich

selbst auflösen – genau aus dieser Perspektive muss das sprechende Schweigen der letzten

Lockerung betrachtet werden, denn aus ihr ergibt sich eine Erklärung für die Materialität bzw.

den buntstiftigen Duktus, den Peter Gilgen folgend zusammenfasst:

„Die Letzte Lockerung bildet ein dichtes Geflecht verschiedenster Diskurse und Anspielungen. […]

Einmal von den Regeln konventioneller Sprachspiele befreit, stehen wilde Assoziationen gleichberechtigt

neben logischen Deduktionen, Alliteratonen und Interjektionen neben apodiktischen Aussagen, die

poetische Sprachfunktion neben der darstellenden und der appellativen.“ 29

Die Opposition aus philosophischer Dekonstruktion und scheinbarem Gedankenstrom

relativieren sich gegenseitig. Dieser Dualismus führt letzten Endes zur Auflösung jeglicher

Affirmation gegenüber Sinn. Erschöpfend führt Gilgen den Weg dahin - Inhalt, Struktur und

Form des Manifests - aus und zeichnet die dem Text zugrunde liegende Begriffs- und

Ideengeschichte nach30 - im Verbund mit der angeführten Sekundärliteratur ergibt sich bereits

eine umfassende Analyse des Texts, auf die hier nur verwiesen werden soll.31 Die erwähnten

Beiträge bündelnd, lässt sich eine Dekonstruktion mannigfaltiger Position zu Kultur und

Philosophie festhalten, eingebettet in einen schizophren anmutenden Gedankenstrom. Gilgen

bezeichnet die Teilstücke des Manifests als Aphorismen, was den Text zur Versatzstückcollage

transformieren würde – rein materiell ist der Collagencharakter des Manifests nachweisbar:

Teile der Letzten Lockerung wurden bereits in den Zeitschriften „Ministral“ und „Sirius“.32

Zwar behandeln die insgesamt 78 Teilstücke oftmals bestimmte Themen – beispielsweise die

Dämonie in Nummer 3833 - jedoch tilgt die Titulierung als Aphorismus die Kohärenz des

Textes, die durch Gemengelagen an Motiven wie Langeweile34 oder den Seidenstrümpfen35

festzumachen ist. Die letzteren lassen sich – der Zeit entsprechend als Rekursion auf Freud

28 Tatsächliche Neuerungen der künstlerischen Techniken liefert z.B. die Schadographie (Vgl. Kapitel 3.4) 29 Gilgen 1994, 27 30 Vgl. Ebd., 9-26; insbesondere die Bedeutung Heine Kraus‘ für Serner hält Gilgen hoch und zeigt den Weg bis zur Orientierung Serners an Christian Schad – die Werke beider sind teilweise bis heute noch zusammen archiviert (Vgl. www.christian-schad-museumsfreunde.de (Aufgerufen am 12.09.2018)) 31 Vgl. Ebd., 27-49 und die zitierte Literatur 32 Backes-Haase 1989, 43 33 Vgl. Serner 1920, 25 34 Vgl. Ebd., 3 und 9 35 Vgl. Ebd., 12f und 14

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psychoanalytisch gelesen – als metonymisches Resultat unterdrückter männlicher Libido

verstehen (Die Damenseidenstrümpfe werden „unterschätzt“) und im Abgleich mit dem

Gegenpol der Gauguins36 würde die expressionistische Bezugsgröße dieses Malers für die

Expressionisten stehen – der Erzähler der Letzten Lockerung würfe dementsprechend mittels

dieses Chauvinismus den Expressionisten vor, dass ihre Grundmotivation zur Kunst die

Unterdrückung ihrer Libido sei. Der Text zeigt also nicht nur die Art und Weise identitärer

Fehlschlüsse auf, sondern führt sie freudianisch gleichsam auf ihren Ursprung zurück: Die

interne Tilgung oder externe Unterdrückung der eigenen Bedürfnisse. Die Auflösung identitärer

Konstrukte per se zeigt sich, die bisherige Argumentation stützend, unter Punkt 5:

„Jeder ist (mehr oder weniger) ein überaus luftiges Gebilde, dieu merci“37

Das „Gebilde“ – es tritt somit als Gebautes auf – ist „luftig“ und damit grundsätzlich wandelbar.

Bei all der Auflösung in diesem Manifest, „das in seiner Radikalität weder von den

spielerischen Manifesten Tzaras, noch von den durch direkte politische Stellungnahmen

gekennzeichneten Pamphleten der Berliner Dadaisten übertroffen wird […]“,38 bleibt –

konsequent gedacht – am Ende nichts mehr übrig. Der Dadaismus wird also inhaltsleer, da die

radikale Absage an Kulturnormativität und den konstruierten Charakter der Kultur in der Folge

auch dem Dadaismus zuzuschreiben ist - Dada wird ein Füllwort für das künstlerische Vakuum

der moderne, bedeutet nichts, alles, aber dadurch gerade vielleicht dadurch die Artikulation

einer Sehnsucht nach Sinn und einer Konstitutionsmöglichkeit des modernen Künstlers.

4.3 Die Interjektion und der Klammerstil – die Rhetorik Serners

Die umgehend auffällige Häufung von Klammern in Serners Manifest ist ebenso

ausschlaggebend für die Ästhetik des Werks wie die Wertung und Verwendung der Interjektion.

Im 14° äußert wird die Klammer thematisiert:

„Man setze stets das Ganze (inkl. Atem- und Expreßzüge) in Klammern: auch in den nächsthausenden

Täuschungsdingen vermag man solcherart sachte zu bestülpen, daß mit dieser eingeklammerten Größe

nicht einmal fiktiv zu krebsen ist.“39

Die eingeklammerten Größen, Freiheit und Willensfreiheit, lassen sich zu philosophischen

Positionen in Verbindung bringen die eben diese Größen beschneiden (Kant, Schopenhauer).

36 Vgl. Ebd., 3 37 Serner 1920, 4 38 Gilgen 1994, 9f 39 Serner 1920, 10

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Sind die Größen – metaphorisch – eingeklammert, lässt sich mit ihnen „nicht einmal fiktiv

krebsen“ und man müsste stattdessen „das Ganze“ in Klammern setzen. Erweist sich das

gesamte Bewusstsein als Häufung von pierceschen thought-signs - wie 10° vermuten lässt40 -

ist ein weiterer Nachweis von Konstruktivität nicht nötig und somit muss das Ganze, nicht die

Teile in Klammern gesetzt werden. Dementsprechend erhält die Klammer ihr relativierendes

Moment in der Letzten Lockerung und baut eine Dialektik eines konstruierenden und

anschließend in Klammern dekonstruierenden Erzählers auf. Immer wieder fällt der Erzähler

sich selbst ins Wort, liefert mögliche Einwände und Zusammenhangsloses. Insgesamt erreicht

der Text dadurch ein gewisses Grad an mündlicher Konzeption und scheint der Rede näher

verwand zu sein als dem Manifest. Kohäsion schafft der doppelte Aufgriff der Interjektion in

6° und 11°, die an beiden Stellen formverwandt zur gleichnamigen Trope thematisiert wird.

Damit zeigt sich ein Konzept, das nahe der écriture automatique zu liegen scheint: Die

Interjektion ist eine unmittelbare Stellungnahme zur Wirklichkeit, sie ist Dada oder wie

Huelsenbeck im April 1918 formuliert:

„Das Wort Dada symbolisiert das primitivste Verhältnis zur umgebenden Wirklichkeit, mit dem

Dadaismus tritt eine neue Realität in ihre Rechte.“41

Dieses „primitive42 Verhältnis“ ist wohl als unvoreingenommen oder direkt zu interpretieren

und verschränkt sich dadurch mit der Illustration der Interjektion Serners. Dementsprechend

sind wohl auch die Einwürfe zu deuten: Als scheinbar direkte selbstreferentielle

Stellungnahmen eines – bis zu einem gewissen und schwankenden Grad - depersonalisierten

Erzählers.43

4.4 Die Rolle Schads

Um die Bezugnahme zu Serners Biographie abzuschließen und um die personellen Bezüge

Serners zur Neuen Sachlichkeit aufzuzeigen, erscheint ein Überblick über die Biographie

Schads geeignet zu sein – schließlich löste er Kraus als Orientierungspunkt Serners ab.44 Falls

die starke Fixierung auf Kraus45 durch eine auf Schad substituiert wird, muss Schads Werk über

den Filter Serners in dessen Werk transformiert sein – die Spuren würden sich dementsprechend

40 Vgl. Ebd., 8 41 Huelsenbeck 1987, 38 42 Der Begriff primitiv dient zeitgenössisch wohl – als ex negativo konstituierender Gegenbegriff - der Errichtung eines nicht-primitiven, vermeintlich weiter entwickelten Okzidents; trotz der Umwertung des Begriffs durch die positive Vereinnahmung als Schaffensprinzip des Dadaismus‘ bleibt er dieser Dialektik verhaftet. 43 Vgl. Backes-Haase 1989, 58-67 44 Vgl. Gilgen 1994, 10 45 Serner erhebt ihn zur geisteswissenschaftlichen Monumentalgestalt (Vgl. Ebd., 11ff)

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bei eingehender Untersuchung finden lassen. Serner macht Schads Bekanntschaft im Sommer

1915 in Zürich und pflegt die Freundschaft von da an durch zahlreiche Besuche.46 Schad selbst

wird am 21. August 1894 geboren, verbringt seine Jugend in München und entkommt im Juli

1915 seiner Einberufung in die Infanterie, um im August in Zürich zu landen.47 Durchgehend

ist Schad an den Aktionen der Dadaisten beteiligt – sein Schritt in die Neue Sachlichkeit beginnt

mit den ersten neusachlichen Gemälden 1923, nach einer realistischen (Ablöse-)Phase in

Neapel.48 Somit geschieht die Abkehr beider vom Dadaismus etwa zeitgleich, was für ein

paralleles Konzept der beiden spricht.

4.5 Neue Sachlichkeit

Im Gegensatz zum Dadaismus artikuliert die Neue Sachlichkeit ihre Überlegungen zu einer

Literatur, die adäquat auf die Gegebenheiten der Zeit rekurrieren und diese reflektiert

präsentieren soll, nicht über Manifeste und pompöse öffentliche Proklamationen, sondern setzt

den Diskurs in Zeitschriften wie der „Weltbühne“ in die Öffentlichkeit – die Neue Sachlichkeit

ist also vielmehr ein Stilbegriff, als ein lebensphilosophisch mitgeprägtes Gesamtkonzept.49 Die

utopischen Konzepte der historischen Avantgarde weichen einem materialistischen Ansatz:

„[Die] historische Leistung [der Neuen Sachlichkeit liegt] dennoch in der Etablierung einer neuen

Einstellung dem gesellschaftlichen Entwicklungsstand gegenüber und in der Zurückdrängung der bis zu

diesem Zeitpunkt in der Literatur dominanten kulturpessimistischen und fortschrittsfeindlichen Anti-

Moderne. Es ist das Verdienst der Neuen Sachlichkeit, den Modernisierungsschritt, dem die Gesellschaft

in diesen Jahren in der Folge von Industrialisierung, Technisierung und Urbanisierung unterworfen war,

mitvollzogen und der Literatur auf diese Weise eine fundierte gesellschaftskritische Funktion gesichert

zu haben.“50

Mit dieser Negativfolie erscheinen die plurimedialen Darbietungen im Cabaret Voltaire eher

eskapistisch – also als Flucht vor dem „Problem Moderne“. In der Rezeption des Dadaismus ist

jedoch stets die Exilsituation in Zürich zu bedenken, aus der Dada emergiert ist – so ergibt sich

die These, dass mangels der Möglichkeit zu einem rationalen Umgang mit der Moderne, also

einem gewissen Grad von Exilquarantäne Dada Zürich der Schritt in die Realität – natürlich

mit dadaistischer Prägung - erst in Berlin oder auf anderen Wegen gelang. Dieser Bezug zur

Realität gestaltet sich durch eine Akzeptanz und darauffolgend einer Darstellung der dinglichen

46 Milch 1989, 12ff 47 Vgl. Richter 1997, 172 linke Spalte 48 Vgl. Ebd., 137 linke Spalte 49 Vgl. Becker 2000, 45ff 50 Ebd., 53

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Welt und dem Subjekt, anstatt wie im Expressionismus lediglich die Haltung des Subjekts zur

Wirklichkeit bei gleichzeitiger Tilgung dieser darzustellen:

„Nicht zuletzt versteht man unter einer Versachlichung der Literatur demnach die Versachlichung der

Inhalte mittels der Aufwertung der empirischen Realität zu einem zentralen literarischen Sujet. […] Das

aus dieser veränderten Einstellung resultierende Bedürfnis nach mehr Realitätsbezug und Faktizität von

Literatur, der Ruf nach Fakten statt nach Utopien korreliert unmittelbar mit der antiexpressionistischen

Dimension der Neuen Sachlichkeit.“51

Im Gegensatz zum Realismus ist also nicht die formal möglichst realitätsnahe Mimesis des

Phantastischen, sondern die mündige Stellungnahme zur in der Moderne veränderten

Materialität mittels einer Darstellung dieser. Betrachtet man die Lyrik Serners als

Collagenwerk, also eine Lyrik des Showings – gezeigt werden demnach, selbstverständlich

problematisierend, fiktive Textartefakte. Somit tritt der Autor vor dem Rezipienten zurück und

liefert im wie ein Spiegel die fiktiven partes pro toto der Dokumente seiner Zeit.

Mit diesen neuen Erkenntnissen abschließend, soll nun das Handbrevier – die letzte Lockerung

der Letzten Lockerung – interpretiert werden.

4.5 Der Schritt vom Dadaismus in die Neue Sachlichkeit: Das Handbrevier für

Hochstapler

Nachdem Serner den Text über einen längeren Zeitraum stetig weiterentwickelte, fand die

endgültige Version als Kapitel „Das prinzipielle Handbrevier“ Einzug in Serners 1927 im

Verlag Steegemann erschienenes „Letzte Lockerung – Ein Handbrevier für Hochstapler und

solche, die es werden wollen“ – bei dieser letzten Transformation wurden sämtliche Bezüge

zum Dadaismus getilgt, einige Abschnitte erweitert und verändert.52 Zudem wurde „Vive Dada“

durch „Vive le Rasta“ ersetzt.53 Die dadaistische Letzte Lockerung wird somit integraler

Bestandteil des - mindestens zeitlich - in die Neue Sachlichkeit fallenden Handbreviers, denn

das Handbrevier für Hochstapler gibt sich qua Titel und Struktur als Ratgeber aus und schlägt

somit neusachlichen Bestrebungen entgegen:

„Mit der Verpflichtung der Autoren auf realitätsnahe und aktuelle Sujets korreliert die Forderung nach

einer lebensnahen Gebrauchsliteratur und umgekehrt. Man produziert und bewertet Literatur m Hinblick

51 Ebd., 139 52 Vgl. Backes-Haase 1989, 43 und Serner 1988, 167 [LL] 53 Vgl. Ebd., 20 und 60; Serner 1920, 9 und 45

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auf ihren Nutzaspekt: Literatur müsse, so lautet eine allenthalben geäußerte Vorstellung, einen

funktionalen Charakter haben.“54

Die geforderte Gebrauchsliteratur liefert das Handbrevier, subvertiert aber das Ratgeber-

Format durch den sarkastischen und ironischen, karnevalisierten und relativierenden Ton. Hier

zeigt sich der proklamierte Dualismus Serners: Einerseits geht der Text neusachlichen

Bestrebungen nach und ist weniger ein gestaltender Text eines Phantasmas, als vielmehr eine

Bedienungsanleitung für die Wirklichkeit. Andererseits werden die Ratschläge im Kapitel „Das

praktische Handbrevier“ durch den komischen, überspitzten Rahmen eingeschränkt:

„Jede Regel hat ihre Ausnahme, zweifellos. Also regelmäßig. Deshalb höchste Vorsicht: jede Regel ist

als Ausnahme zu setzen, denn die Regel ist die Ausnahme. (Wichtige Regel!).“55

Das Werk erscheint dadurch vielmehr als Werkzeugkasten und verweigert einen ideologischen

Standpunkt. Im Abschnitt 79° ergibt sich ein struktureller Knotenpunkt des Werks, dessen

Relevanz für die Epochenforschung ebenso hochgradig wie seine Betitelung ist: Die

expressionistischen Komposita werden derart gehäuft und trivialisiert, dass sie als Parodie

dieser Wortwahl lesbar werden. Die semantische Entleerung lässt dabei das Wortmaterial

vielmehr durch seine akustischen Komponenten, also im Sinne einer dadaistischen Lautmalerei,

auftreten.56 Diese Verschränkung lässt sich durch den Rahmen noch um ein drittes erweitern:

Unter Einbezug des neusachlichen Gesamtkonzepts ergibt sich epochaler Trialismus, das

Handbrevier wird zur Gemengelage dreier Strömungen. Materialistisch gedacht ergibt sich ein

anderes Bild, denn vermutlich war einem Großteil der Leser diese aufgebauschte Lesart bei der

Lektüre des humoristischen Ratgebers nicht bewusst. Den Kompromiss bringt die Lockerung

der kalten Sachlichkeit: Liest man das Werk als bezeichnend für die neusachliche Strömung,

ergibt sich für diese insgesamt ein weniger rationalistischer Bezug zur Wirklichkeit im Sinne

einer kühl distanzierten Darstellung des Empirischen. Nicht nur da Serner und Schad dieser

Transferschritt gelang, dürfte eine weitere Erforschung der Ambivalenz von Dadaismus und

Neuer Sachlichkeit die Literaturgeschichte der Weimarer Republik um einige Dimensionen

erweitern, denn

„[d]as neusachliche Konzept einer funktionalen, auf Allgemeinverständlichkeit und Massenwirksamkeit

abzielenden Gebrauchsliteratur findet in dem dadaistischen Entwurf einer dem Leben angenäherten

54 Ebd., 230 55 Serner 1988, 32 [LL] 56 Ebd., 57ff

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Kunst, in dem dadaistischen Versuch der Angleichung von künstlerischer Ästhetik und gesellschaftlicher

Realität seine Vorwegnahme.“57

Anhand des Handbreviers lässt sich diese Vorarbeit strukturell bis in den Expressionismus

zurückverfolgen und somit lassen sich dieser und die Neue Sachlichkeit nicht nur als zwei Pole

begreifen – das Neusachliche dementsprechend als Negativ des Expressionismus – sondern als

Teile vielgestaltiger Reaktionen auf die materialistischen Neuerungen der Moderne, die bis

heute bearbeitet werden und sich lediglich in ihrer Tragweite verstärken, also ein zweiter

Naturalismus im Sinne einer literarischen Bearbeitung der hegelschen zweiten Natur.

Nach allem bisherigen ergibt sich eine geerdete Position zur epochalen Verortung des

Handbreviers: Die Materialentnahme aus dem Expressionismus und dem Dadaismus sind nicht

zu leugnen, jedoch bleibt der Hochstaplerleitfaden eine neusachliche Erscheinung, denn die

praktisch gedachte, lebensphilosophische (Gattungs-)Form ist hier entscheidend.

Hervorzuheben ist der seismographische Moment des Werkes – die Spuren von zwei

Jahrzehnten sind darin destilliert.

57 Becker 2000, 94

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www.christian-schad-museumsfreunde.de (Aufgerufen am 12.09.2018)

Lexika und sonstige Hilfsmittel

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Stuttgart 2009.

Siglen

[H] = Das Hirngeschwür.

[KU] = Kritik der Urteilskraft.

[LL] = Letzte Lockerung. Ein Handbrevier für Hochstapler und solche die es werden

wollen.

[SD] = Sprich Deutlicher. Gedichte.

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Anhang:

Abbildung 1: die wohltemperierte chloral-pleiade58

58 Renner 1988, 30