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19.09.18 1 Warum der Mensch bewusst wurde Die Sicht des Neurowissenschaftlers C. W. Hess Neurologie Bern 18. September 2018 „qualitativ“: Bewusstseinsstörungen: stark vereinfacht Grosshirnrinde Zwischen- & Mittelhirn Delirium = verwirrt und wach (evtl. sogar erregt) Wachkoma = bewusstlos und wach „quantitativ“: somnolent (pathologische Schläfrigkeit) soporös (nur für kurze Zeit «weckbar») komatös (pathologische Bewusstlosigkeit) ≈ Zustand totaler Demenz

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19.09.18

1

Warum der Mensch bewusst wurdeDie Sicht des Neurowissenschaftlers

C. W. HessNeurologie Bern

18. September 2018

¶„qualitativ“:

Bewusstseinsstörungen: stark vereinfacht

Grosshirnrinde

Zwischen- & Mittelhirn

Delirium = verwirrt und wach (evtl. sogar erregt)

Wachkoma = bewusstlos und wach

„quantitativ“:

somnolent (pathologische Schläfrigkeit)

soporös (nur für kurze Zeit «weckbar»)

komatös (pathologische Bewusstlosigkeit)

≈ Zustand totaler Demenz

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- Arbeitsgedächtnis (Kurzzeitspeicher)

Was braucht es, um bewusst zu sein?

- Zugriff auf’s Langzeit-Gedächtnis: abspeichern / abrufen

- Aufmerksamkeit: fokussiert - konzentriert ↔ diffus - locker

autobiographisches „Ich“ → Persönlichkeit

- Wachheit

¶¶

Bewusstsein: neuronale Korrelate(stark vereinfacht)

Kleinhirn

Wachheit

Aufmerksamkeit

Grosshirn

wahrnehmen, erkennen,erinnern, denken, vorstellen,werten, planen, rechnen, fühlen (Emotionen, Stimmungen),entscheiden, handeln,musizieren (aktiv & passiv), sprechen, verstehen, . . . .

Bewussteinsinhalte

Zwischenhirn

basales Vorderhirn

vorderesCingulum

Mittelhirn

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3

- gewahr sein seiner selbst und seiner Umgebung

ich-bewusstdurch Introspektion

subjektiv: was heisst bewusst sein ?

- begrifflich denken (konkret und abstrakt) Inhalt kann verbal berichtet werden

Wahrnehmungdurch Sinnesorgane

- Stimmungen und Gefühle empfinden

- bewusst Aktionen planen & durchführen

- erinnern und in die Zukunft denken

Charakteristika des Bewusstseins (subjektiv)

- und es bezieht sich immer auf einen Inhalt, der verbal mitgeteilt werden kann («reportability»)

intentioneller Charakter des Bewusstseins [F.C. Brentano, 1874]

- d.h. das Bewusstsein ist einheitlich & unteilbarEinheit des Bewusstseins [Immanuel Kant, 1770]

“einziges unteilbares Bewusstsein“ [W.G. Farther, 1984]

voll erhaltenes Bewusstsein:

- ist nie inhaltsleerselbst während des passiven Tagträumens denkt man immer etwas

- sog. geteilte Aufmerksamkeit nur bedingt möglichwichtige Rolle des Unterbewussten!

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bewusst – unterbewusst – unbewusst

Psyche

bewusst

unter-bewusst

nachdenkenetwas wahrnehmenwerten / urteilenEntscheide fällenAktionen planensich erinnernEmotionen

unbewusst

bewusst – unterbewusst – unbewusst(Begriffe werden uneinheitlich gebraucht)

unterbewusst (engl. subconscious, franz. subconscient):Grundsätzlich bewusstseinsfähige oder bewusstseinsnahe Inhalte unterhalb der Bewusstseinsschwelle, die durch Reflexion bewusst gemacht werden können. Unbewusste Inhalte stehen ausserhalb des Fokus der Aufmerksamkeit.

unbewusst (engl. unconscious, franz. inconscient):Überbegriff, der auch Inhalte (Information) umfasst, welche dem Bewusstsein grundsätzlich nicht zugänglich sind. Darunter kann theoretisch sogar die Erbinformation (genetische Codes) des jeweiligen Menschen subsummiert werden. (letzteres liegt aber natürlich klar ausserhalb der Psyche!)

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1846

Carl Gustav Carus (1789 -1869)Mediziner, Universalgelehrter, Kunstmaler

„Entdecker“ des Unbewussten

bewusste und unterbewusste Verarbeitung dargebotener Stimuliam Beispiel eines akustischen Reizes

Dehaene S. & Changeux J-P. Neuron 2011; 70: 200-227

bewusst wahrgenommen

fMRI

Hörrinde

Schläfenlappen

Hirnrinde(rechte Hirnhälfte)

hörbarer Laut knapp unhörbarer Laut

nur unterbewusst wahrgenommen(beeinflusst z.B. nachweislich unmittelbar nachfolgende mentale Vorgänge!)

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Dehaene S. Neuron 2011; 70: 200-227

von der unterbewussten zur bewussten Verarbeitung

schematisch dargestellt am Bsp. eines visuellen Reizes

(subconscious processing)

kon$nuierliches Emporarbeiten entlang der hierarchischen Gliederung der sensorischen Areale - aber nicht weiter

zusätzlicher Einbezug höherer Zentren im Scheitel- und Vorderlappen über lange, reziproke Verbindungen→ kohärente Repräsentation im Bewusstsein

Hirnrinde(rechte Hirnhälfte)

nur unterbewusst wahrgenommen bewusst wahrgenommen

Bereitschaftspotential Bewegung der rechten Hand

Kornhuber H.H. & Deeke L. Pflügers Archiv für die gesamte Physiologie 1965;284:1-17

EEG = Hirnströme

Bew

egun

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7

P

P

W

B

Benjamin Libets Experiment (1983)

-

-550 ms -200 ms -100 ms 0 ms

Beginn desBereitschaftspotentials

W

„bewussterWillensakt“

B

Bewegungbeginnt

LIBET, B. et al. Brain 1983;106:623-42

EEG = Hirnströme

Max Planck Institute for Human Cognitive and Brain Sciences, Stephanstrasse 1A,

04103 Leipzig, Germany

Libet-Experiment weiter entwickelt:

Mittels fMRI –Aktivität den bewussten Entscheid „in Voraus“ entziffern

Soon C S et al. Nature Neuroscience 2008; 1:543-545

L oder R

Dekodierung des Ergebnisses von Entscheidungen,bevor sie bewusst werden. Farbcodierte Hirnareale zeigen Regionen, in denen das spezifische Ergebnis einer motorischen Entscheidung dekodiert werden konnte, bevor sie scheinbar getroffen wurde (grün auf der nächsten Folie). Das Diagramm (Folie unten) stellt für jeden Zeitpunkt separat die Genauigkeit dar, mit der die freie Wahl des Probanden, den linken oder rechten Knopf zu drücken, aus dem räumlichen Muster der Gehirnaktivität in diesem Bereich entschlüsselt werden konnte. Die vertikale rote Linie zeigt den frühesten Zeitpunkt, zu dem die Probanden subjektiv die Wahl bewusst getroffen hat.

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8

Wah

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Vora

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) %60

50

Beobachter (“von aussen“) kann die getroffene Wahl entziffern bevor der Proband subjektiv bewusst entschieden hat!Technik der multivarianten

Mustererkennnung im fMRI

Soon, Ch S et al. Nature Neuroscience 2008; 11:543-545

Bewusstwerdendes Entscheides

ob links oder rechts

Knopfdruck

frühester Vorhersagezeitpunkt

Time (s)

Konsequenzen aus Benjamin Libets Experiment

- zuerst viel Skepsis & v.a. methodologische Kritik

- Befürchtungen bezüglich des „freien Willens“ etc. (Libet selbst sah den freien Willen durch seine Experimente nicht in Frage gestellt)

- Experimente seither mit besserer Methodik reproduziert & Resultate bestätigt

inzwischen weitgehend akzeptierte Erkenntnisse:

- viele, wenn nicht alle, selbst initiierten Handlungen entstehen unbewusst (reflexive Handlungen als unmittelbare Reaktion auf äusseren Reiz ohnehin)

- introspektiv erhobene Erkenntnisse sind oft verzerrt & trügerisch(sog. „Erst-Person-Priorität“ ist eine Illusion,engl. „first hand knowledge“ der Introspektion ist nicht zuverlässig!)

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primäres Bewusstsein

(„Kernbewusstsein“)

begriffliches=sekundäres

=konzeptionellesBewusstsein

handelnwahrnehmen

fühlenStimmungenMotivation

Begriffe – Abstrak=onenerinnern

in die Zukun? planenIntrospek9on

Metakogni9onEmpathie

einfühlen – hineindenkengeplante Willensaktekomplexe Emo9onen

Ich-Bewusstsein

U m w e l t± spezifisch

menschlich!„kogni9veRevolu9on“

Inhalt kann verbal mitgeteilt werden

Funktion / biologischer Sinn des begrifflichen Bewusstseins?

notwendig für:

➜ ungewohnte Situationen, schwierige Problemewenn wir nicht wissen, was uns erwartet

grosse Palette kritischer Informationen muss „aktiv gehalten werden“ werden oder rasch aus dem Langzeit-Gedächtnis abrufbar sein ➜ Lösung finden

➜ komplexe & abstrakte Inhalte & deren verbale Kommunikation das begriffliche Bewusstsein ermöglicht die Ausbildung von Ideen, theoretischen Konzepten, Werten, Normen, übergeordneten Idealen, religiösen Vorstellungen etc.

➜ Entwicklung menschlicher Kulturen

für was braucht es überhaupt ein Bewusstsein ?

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„kogni&ve Revolu&on“ des Homo sapiens vor etwa 70‘000 Jahren(Y N Harari)

stark erweiterte kognitive Fähigkeiten des Bewusstseins :

- erstmals abstraktes & symbolisches Denken: hierarchische Konzepte mit Bezeichnungen für KategorienAnalyse der Vergangenheit – Planung in die ZukunftBezeichnung für immaterielle & imaginäre (vorgestellte, nicht existente) Dinge Legenden, Mythen, Götter – religiöse Überzeugungen (Grabbeigaben!)Werte, Normen, übergeordnete Ideale (für die man zu kämpfen bereit war)

- parallele Entwicklung der Sprache (ikonisch ➜ symbolisch)

- ermöglichte die Bildung grosser kohärenter Menschengruppen und menschlicher Kulturen (➜ Völker, Nationen, Staaten)

Yuval Noah Harari: Sapiens: A Brief History of Humankind, Vintage London 2011

Präfrontaler Kortexsteht im Dienste der differenzierten kognitiven, Handlungs-bezogenenund emotionellen Funktionen inklusive Persönlichkeit / Charakter

Sulcus c

entralis

motorischprämotorisch

prä-frontal

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Der präfrontale Kortex (vereinfacht)

steht im Dienste der differenzierten kognitiven, Handlungs-bezogenen

und emotionellen Funktionen inklusive Persönlichkeit / Charakter

Neugierde, Willen,

entscheiden, handeln

Gefühlskontrolle

Antrieb

Konfliktmanagement

soziale Wahrnehmung

Motivation, Emotionen

Humor (re > li)

Selbstkontrolle, Urteilsvermögen

Ethik, Empathie, EinfühlungsvermögenProf. Ch. W. Hess

bewegen

Kleinhirn

linke Hirnhälfte

rechte

Hirnhälfte

10-12 Tage

3-4 Monate

8 Monate

2 Jahre

6 Jahre

reagie

rt auf

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Enttäu

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4 Jahre

3 Wochen

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6 Monate

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Körper

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Einige Meilensteine bei der Bewusstseinsentwicklung des Säuglings und des Kindes

Ähnlich könnte sich das Bewusstsein in der Evolutionsgeschichte des Menschenentwickelt haben, nach dem Prinzip Ontogenese ≈ Phylogenese.(biogenetsche Grundregel nach Ernst Haeckel)

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„Denkpause“: Konzentrationsspanne unterbrochen. . . tagträumen . . abschweifen der Gedanken

gibt es einen biologischen Sinn? einen Nutzen?

für was eigentlich?

oder ist es lediglich ein lästiger Störfaktor beim denken?

beim lesen z.B.?

zeitlich bis zu 50% des Wachseins!

Fox M. D. et al. Proc. Natl. Acad. Sci. USA 2005; 102, 9673–9678

während anspruchsvoller kognitiver Aufgabe: AKTIV (warme Farben) oder deaktiviert - gebremst (kalte Farben)

resting state fMRI(Korrelation der spontanen Aktivitäts-Fluktuationen ➜ funktionelle Konnektivität)

AKTIVINAKTIV

MedianflächeMedianfläche

von oben gesehen

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während des Nichtstuns / Tagträumens: AKTIV (warme Farben) oder deaktiviert - gebremst (kalte Farben)

resting state fMRI(Korrelation der spontanen Aktivitäts-Fluktuationen ➜ funktionelle Konnektivität)

IPS = intraparietale Sulcus PCC = posteriores Cingulum + Praecuneus

AKTIVINAKTIV

Medianflächeder linken H.

linke Hirnhälftevon aussen gesehen

hinten

Fox M. D. et al. Proc. Natl. Acad. Sci. USA 2005; 102, 9673–9678

- persönliche Reflexionen über Ereignisse Erfahrungen- abwägen / in Zukunft planen- „nachgrübeln“- „Geist öffnen“ ➜ gedankliche Assoziationen ermöglichen

während des Nichtstuns / Tagträumens: