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Weltraumfahrer, Extremathleten, Katastrophenhelfer Was treibt die Abenteuer-Ärzte? Ärzte sind mutig. Sie stellen sich nicht nur den oft erheblichen He- rausforderungen der alltäglichen Medizin, viele gehen auch darüber hinaus und suchen das wirkliche, ganz große Abenteuer, sei es im Privatleben, sei es im Arztberuf selbst. Von Kollegen, die allein den Atlantik überquerten, die sich als Expeditionsärzte zum Südpol auf- machten oder die als Ärzte ohne Grenzen in Katastrophen- und Kriegsgebieten ihr Leben aufs Spiel setzen, ist im folgenden Report die Rede. Dr. Bernhard Mäulen vom Institut für Ärztegesundheit in Villingen geht der Frage nach, was diese Ärzte antreibt. nerlei finanzielle oder logistische Unter- stützung, musste alle Lebensmittel, vor allem das kostbare Wasser, mitnehmen. Ausgangspunkt waren die Kanarischen Inseln. Das Ziel, St. Martin auf den Nie- derländischen Antillen, erreichte Linde- mann mit einem um 25 kg geringeren Körpergewicht als beim Start. Zwischen- durch war er konfrontiert mit Stürmen, kenterte, aß rohen Fisch und hielt sein Faltboot Tag und Nacht auf Kurs. All dies war eine enorme körperliche und psychische Anstrengung im Grenzbe- reich menschlicher Leistungsfähigkeit. Weil Neider behaupteten, er habe einfach nur Glück gehabt, wiederholte er drei Jahre später die Atlantiküberquerung! Als Drachenseglerin auf Wolke 7 – bis zum Absturz Dr. Anne Pieper ist Orthopädin und Kitesurferin. Nach dem Gewinn der deutschen Meisterschaſt und der Vize- Europameisterschaſt 2005 hatte sie 2008 einen folgenschweren Unfall. Der Wind schleuderte sie 40 m weit auf felsigen Grund, sie erlitt ein Hochgeschwindig- keitsaufpralltrauma mit Frakturen an - In diesem Artikel geben wir einen Überblick über zwei Gruppen von Ärz- ten: Zum einen Kollegen und Kollegin- nen, die sich im persönlichen Lebensbe- reich besonderen Herausforderungen, Risiken oder Naturgewalten stellen: bei Erstbesteigungen, Ozeanüberquerun- gen, in härtesten körperlichen Wettbe- werben. Zum anderen geht es um Ärzte, die beruflich riskante Einsatzgebiete wählen, etwa als Expeditionsarzt, Schiffsarzt, Arzt im Weltraum oder in der Arktis. Hierzu gehören auch die Kol- legen, die sich im Rahmen von medizi- nischer Not- und Krisenhilfe an die Kri- senherde der Welt begeben. Ärzte auf der Suche nach dem privaten Abenteuer Zahllos sind die Berichte von Ärzten und Ärztinnen, die private Abenteuer ver- wirklicht haben – auf allen Kontinenten, in allen Klimazonen und unter Inkauf- nahme allergrößter Risiken. Hier kann nur ein kleiner Ausschnitt davon wieder- gegeben werden. Allein im Faltboot über den Atlantik Ein früher Abenteurerarzt war Dr. Han- nes Lindemann. Nach zwei abgebroche- nen Versuchen gelang dem Arzt die At- lantiküberquerung 1956 allein in seinem Klepperfaltboot in 72 Tagen. Er hatte kei- © picture alliance / Philipp Ziser 18 MMW-Fortschr. Med. 2013; 155 (21-22)

Was treibt die Abenteuer-Ärzte?

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Page 1: Was treibt die Abenteuer-Ärzte?

Weltraumfahrer, Extremathleten, Katastrophenhelfer

Was treibt die Abenteuer-Ärzte?Ärzte sind mutig. Sie stellen sich nicht nur den oft erheblichen He-rausforderungen der alltäglichen Medizin, viele gehen auch darüber hinaus und suchen das wirkliche, ganz große Abenteuer, sei es im Privatleben, sei es im Arztberuf selbst. Von Kollegen, die allein den Atlantik überquerten, die sich als Expeditionsärzte zum Südpol auf-machten oder die als Ärzte ohne Grenzen in Katastrophen- und Kriegsgebieten ihr Leben aufs Spiel setzen, ist im folgenden Report die Rede. Dr. Bernhard Mäulen vom Institut für Ärztegesundheit in Villingen geht der Frage nach, was diese Ärzte antreibt.

nerlei �nanzielle oder logistische Unter-stützung, musste alle Lebensmittel, vor allem das kostbare Wasser, mitnehmen. Ausgangspunkt waren die Kanarischen Inseln. Das Ziel, St. Martin auf den Nie-derländischen Antillen, erreichte Linde-mann mit einem um 25 kg geringeren Körpergewicht als beim Start. Zwischen-durch war er konfrontiert mit Stürmen, kenterte, aß rohen Fisch und hielt sein Faltboot Tag und Nacht auf Kurs. All dies war eine enorme körperliche und psychische Anstrengung im Grenzbe-reich menschlicher Leistungsfähigkeit. Weil Neider behaupteten, er habe einfach nur Glück gehabt, wiederholte er drei Jahre später die Atlantiküberquerung!

Als Drachenseglerin auf Wolke 7 – bis zum AbsturzDr. Anne Pieper ist Orthopädin und Kitesurferin. Nach dem Gewinn der deutschen Meisterscha� und der Vize-Europameisterscha� 2005 hatte sie 2008 einen folgenschweren Unfall. Der Wind schleuderte sie 40 m weit auf felsigen Grund, sie erlitt ein Hochgeschwindig-keitsaufpralltrauma mit Frakturen an

− In diesem Artikel geben wir einen Überblick über zwei Gruppen von Ärz-ten: Zum einen Kollegen und Kollegin-nen, die sich im persönlichen Lebensbe-reich besonderen Herausforderungen, Risiken oder Naturgewalten stellen: bei Erstbesteigungen, Ozeanüberquerun-gen, in härtesten körperlichen Wettbe-werben. Zum anderen geht es um Ärzte, die beru�ich riskante Einsatzgebiete wählen, etwa als Expeditionsarzt, Schi�sarzt, Arzt im Weltraum oder in der Arktis. Hierzu gehören auch die Kol-legen, die sich im Rahmen von medizi-nischer Not- und Krisenhilfe an die Kri-senherde der Welt begeben.

Ärzte auf der Suche nach dem privaten AbenteuerZahllos sind die Berichte von Ärzten und Ärztinnen, die private Abenteuer ver-wirklicht haben – auf allen Kontinenten, in allen Klimazonen und unter Inkauf-nahme allergrößter Risiken. Hier kann nur ein kleiner Ausschnitt davon wieder-gegeben werden.

Allein im Faltboot über den AtlantikEin früher Abenteurerarzt war Dr. Han-nes Lindemann. Nach zwei abgebroche-nen Versuchen gelang dem Arzt die At-lantiküberquerung 1956 allein in seinem Klepperfaltboot in 72 Tagen. Er hatte kei-

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Grenzerfahrung und GlücksmomenteKreuzbein, Becken, Oberschenkel und Hü�e. Ihre Heilungsreise ging über 20 schwierige Monate und war durch meh-rere Rückschläge, u. a. eine Hü�kopf-nekrose, die eine Endoprothese nötig machte, gekennzeichnet. Sie sagt: „Ex-tremsport ist cool und lässt das Herz ei-nes Abenteurers höher schlagen. Wer fühlt sich nicht nach einer super Session wie auf Wolke 7? Alles gut, bis dann plötzlich der vermeintlich unwahr-scheinliche Fall eintritt und es haar-scharf nicht klappt. Wie geht man damit um und wie scha� man es, diese Le-bensaufgabe mit gleicher Intensität an-zugehen wie zuvor den Sport?“

Harter Kerl beim HindernislaufKnut Höhler steht in der Endphase sei-nes Medizinstudiums und ist Extrem-sportler. Er hat schon dreimal das

„Tough guy“-Rennen in Perton, Großbri-tannien gewonnen – bei 5000 Teilneh-mern ist das keine Kleinigkeit. Im kalten Januar geht es über 13 km durch eiskal-tes Wasser, brennendes Stroh, Glas-scherben und andere Hindernisse. Fast muss man den Kopf schütteln, wenn man die Bilder sieht, wie Höhler mit blu-tender Kopfplatzwunde nach 1 Stunde

11 Minuten ins Ziel wankt. Respekt vor der unglaublichen Leistung und Zweifel an der Sinnha�igkeit liegen da nah bei-einander. Aber Abenteurer sind alles au-ßer vernün�ig. Allerdings sind sie sehr zielorientiert und trainieren über Mona-te und Jahre für die selbst gewählte He-rausforderung!

Rund um die Erde im BallonBertrand Piccard ist Schweizer Psychia-ter, Wissenscha�ler und Abenteurer. Nach zwei abgebrochenen Versuchen ge-lang ihm im dritten Anlauf mit dem Bal-lon die Erdumrundung. Von der Schweiz aus über Europa, Asien, den Pazi�k, Amerika, den Atlantik bis zur Landung in der Wüste Ägyptens überquerten er und sein Kopilot 45 755 Kilometer. Er hat damit den längsten Flug der Lu�-fahrtgeschichte verwirklicht und sieben Weltrekorde aufgestellt. Auf dem Weg zu diesem Rekord gab es viele Probleme zu überwinden, u. a. waren tückische Wet-terentwicklungen zu überstehen.

Immer wieder ruft der BergProf. Dr. Michael Trede war als Direktor der Chirurgischen Uniklinik Mann-heim gefragter Referent auf vielen inter-nationalen Kongressen. Wo immer mög-lich, ging er dabei auch auf herausfor-dernde Bergtouren, u. a. gelang ihm eine

Winterbesteigung des Fuji in Japan und die nicht ungefährliche Besteigung des Popocatepetl in Mexiko. Im Laufe vieler Jahre kam so etwas wie eine Kette von kleinen und großen Bergabenteuern zu-sammen, die für sein Leben und seine gefühlte Lebendigkeit außerordentlich positiv waren.

Zum Glück ist immer der Arzt dabeiAuch wenn die hier genannten, vielfälti-gen Abenteuer von Ärzten privater Na-tur waren, heißt das nicht, dass die eige-nen Medizinkenntnisse nicht nützlich, z. T. gar lebensrettend waren.

Hannes Lindemann hatte sich durch autogenes Training intensiv vorbereitet. Seine posthypnotischen Formeln waren:

„Ich scha�e es – nicht aufgeben – Kurs West.“ Selbst in der tiefsten Erschöpfung, nach tagelangem Sturm, halfen ihm die-se Formeln, sein Ziel zu erreichen.

Bertrand Piccard hat sich ähnlich mit seinem Entschluss „Wir geben nicht auf“ gegen Ängste und situative Verzwei�ung gewappnet. Als er an einem besonders schwierigen Punkt der Erdumrundung war und a�ektiv in kritischer Verfassung, half ihm eine hypnotherapeutische Sit-zung per Telefon, weiter zu machen.

Viele andere Abenteurer-Ärzte haben sich selbst behandelt. Hierzu Linde-mann: „Ich bin besser dran als die meis-

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Warum wir das Abenteuer suchen

Im Abenteuer gehen wir an und über Grenzen, wir setzen uns unnötigen Risi-ken aus, obwohl wir genauso gut in Si-cherheit zu Hause, im Krankenhaus oder in der Praxis bleiben könnten. Meist wird das ungewöhnliche, das riskante, das nicht kontrollierbare Erlebnis ge-sucht, um auf diese Weise besonders in-tensive Eindrücke und Gefühle zu erle-ben. Ärzte haben hier eine besondere Chance, weil sie bei den meisten aben-teuerlichen Unternehmungen in einem Team gern mitgenommen werden. Ich persönlich habe das Glück gehabt, einige Abenteuer zu erleben: am Him-mel allein im Cockpit der Cessna, als Wind und Wetter schwieriger waren als im Wetterbrie�ng ersichtlich, auf einer

einwöchigen Wanderung auf dem West Coast Trail inmitten der Kanadischen Naturparks, hunderte von Meilen von der nächsten Straße oder Ortschaft ent-fernt, allein in meinem Kajak auf der Ostsee bei Windstärke 7. Es gibt einen Teil in mir, der will diese Mischung aus Wachheit, Angst, gefühlter eigener Kleinheit und Verletzlichkeit zulassen und erleben. Auf diese Weise erlebt man sich selbst viel direkter, weil man mitbekommt, wer man im Innern ist, was persönlich wirklich für einen zählt und auch wie unglaublich toll und herausfordernd es ist, hier auf der Erde zu leben!

Bernhard Mäulen ■

Mediziner Knut Höhler beim Strongman Run 2010.

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Schi�sarzt – nicht immer ein Traumjob

Schi�sarzt – das klingt nach Weite, O�-ziersuniform, Captains Dinner und kos-tenloser Weltreise. Aber dieser Beruf hat auch ganz andere Seiten. Heutzutage sind viele Kreuzfahrtschi�e schwimmen-de Altersheime: Viele Gäste sind multi-morbide, und bei rauer See kann es ge-häuft zu Frakturen kommen. Immer wie-der ereignen sich massive Infektionen an Bord. Was tun, wenn Sie Hunderte von Patienten mit einem Norovirus-Infekt be-treuen müssen? Das ist medizinische Schwerstarbeit! Eine Kollegin, die gele-gentlich als Schi�särztin auf einer größe-ren Luxusyacht fuhr, berichtete mir von einem ihrer Fälle: Eine über 70-jährige

Passagierin war nachts an Deck gegan-gen und vier Meter in eine Ladeluke her-ab gestürzt. Sie hatte diverse Frakturen und eine Hirnkontusion, die sich an Bord nicht weiter abklären ließ. Da wetterbe-dingt kein Hubschrauber kommen konn-te, musste sie die alte Dame über 36 Stun-den alleine betreuen, bis eine Übergabe möglich war.In früheren Jahrzehnten machten die vie-len Verletzungen der Mannschaften den Hauptteil der Arbeit ausmachten. Schi�e sind keineswegs ungefährliche Arbeits-plätze, Stürze auf dem Deck, die Abgän-ge hinunter, Verbrennungen, schwerste Traumata beim Zerreißen von Stahltros-

sen bestimmten den Alltag an Bord. Quasi stationäre Schi�särzte sind heute die Ärzte auf Ölplattformen, weit drau-ßen im Meer. Trotz modernster Schutz-maßnahmen für Plattformarbeiter müs-sen diese Kollegen auch immer wieder schwere Arbeitsunfälle behandeln.

Altersheime auf hoher See

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ten anderen, denn ich habe den Arzt da-bei“, und er spritzte sich Penicillin in-traartikulär in das kindskopfgroß ge-schwollene Kniegelenk.

Ärzte und das beru�iche Abenteuer Für mich persönlich war und ist die Me-dizin per se ein Abenteuer: Es fängt an mit dem Anatomiekurs und der Heraus-forderung, eine Leiche zu präparieren; später dann der erste Patient, wenn die Erkenntnis grei�, wie wenig die Realität mit der klaren Au�eilung eines Lehrbu-ches übereinstimmt; wenn man gerade als Anfänger immer wieder die Erfah-rung macht, dass man nie genug weiß. Später dann das Abenteuer des ersten Nachtdienstes, das Nebeneinander von Angst vor dem, was kommen könnte, und aufgeregter Lebendigkeit, wenn man nachts gerufen wird. Die ersten Notarztdienste, die erste Leichenschau ... Alles in allem hat man als Arzt einen abenteuerlichen Beruf.

Und doch kann nach Jahren gleicher Tätigkeit die Begeisterung in Langewei-le übergehen, können Überdruss entste-hen und die Suche nach dem beru�ichen Abenteuer beginnen. Für manche Aben-teurer-Ärzte kommt die Idee, „Ich könn-te doch auch was anderes machen“, beim Lesen einer Anzeige. So z. B. für Dr. Ro-bertson, als er im British Medical Jour-nal las: „Arzt für Walfang�otte gesucht.“

Andere hören von einer Stelle als Schi�s-arzt, als Expeditionsarzt und ähnliches mehr. Wieder andere Ärzte werden Wel-tenbummler, wie Somerset Maugham oder Archibald Cronin.

Nicht zu unterschlagen sind auch an-dere Motive wie etwa die Flucht aus ei-ner Krise, einem ehelichen Kon�ikt, der unau�öslich scheint, oder unre�ektier-tes Helfen-Müssen bei den Ärmsten der Armen. Manchmal treibt den Arzt auch die Flucht vor dem Staatsanwalt oder Gerichtsvollzieher – es gibt sehr viele Motive für Ärzte, sich ins Abenteuer zu stürzen!

Auch hier seien aus einer Überfülle von Arztschicksalen einige Einzelbei-spiele herausgesucht.

Bei den Royal Flying Doctors Auf eine Annonce im Australian Medi-cal Journal meldete sich Dr. Kenyon St Vincent Welch im Mai 1928 als erster Fliegender Arzt für das australische Back Country. Welch führte damals eine erfolgreiche chirurgische Praxis, er war in mittleren Jahren und ließ seine Fami-lie in Sydney zurück. Zwölf Monate lang riskierte er Kopf und Kragen, um unter schwierigsten Bedingungen und weitab von der Zivilisation alleine medizini-sche Notfälle zu versorgen. Danach nahm er seine Tätigkeit in seiner Praxis wieder auf.

Arzt bei den EskimosDirekt nach dem Examen, ohne Fach-arztausbildung und noch sehr jung, nahm Dr. Joseph Moody eine Stelle in der Arktis im hohen Norden Kanadas an. Mit Frau und Kleinkind riskierte er es, einziger Arzt auf eineinhalb Millionen Quadratkilometern zu sein mit monate-langen Temperaturen unter 40 Grad. Unter primitiven Verhältnissen tat er sein Bestes und riskierte immer wieder sein Leben, um auch in entlegenen Eski-modörfern medizinisch zu helfen. Ein-brüche ins Eis, Schneestürme, Ausblei-ben von Lebensmitteln, eine überra-schende Polioepidemie mit vielen Toten und Gelähmten stand er alleine durch. Erst nach dreijähriger Tätigkeit im Nordeis kam der erste Urlaub.

Inselarzt auf HelgolandEinen sehr viel kleineren Wirkungskreis, der jedoch damals bei widrigem Wetter auch genug abgeschieden war, suchte sich Dr. Walter Kropatschek. 1952 ging er nach Helgoland und versorgte zu-nächst nur mit minimaler Ausrüstung (das meiste war im Krieg zerstört oder wurde auf dem Festland dringender ge-braucht) als Inselarzt größere und klei-nere Verletzungen, Unfälle, Notfälle, nicht selten auch durch explodierende Minen, die rund um die Insel noch im Meer trieben.

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Er wird stellvertretend für viele Ärz-te genannt, die bei uns nach dem Krieg vor dem Nichts standen und mit primi-tiven Mitteln die medizinische Versor-gung absichern mussten.

Tropenarzt, Er�nder, Forscher, WeltenbummlerErnest Guglielminetti war ein Schweizer Arzt, der mit 24 Jahren zunächst als Tro-penarzt im Kolonialdienst in Sumatra arbeitete. Später studierte er die „Berg-krankheit“, wie die Höhenkrankheit früher genannt wurde. Während einer Expedition auf den Mont Blanc erlebte er an sich die Folgen des Sauersto�man-gels in der Höhe, wurde krank, ein Kol-lege starb daran.

Aus diesen Erfahrungen heraus ent-wickelte Guglielminetti zusammen mit den Drägerwerken, Lübeck, erste Sauer-sto�apparate – eine lebensrettende Er-�ndung, die ihn international bekannt machte und in seiner Weiterentwicklung als Drägeratmungsapparat Feuerwehr-leute in ganz Europa vor Rauchvergif-tungen schützte.

Eine weitere seiner Er�ndungen nutzt heute alle Welt und brachte ihm den Beinamen Docteur Goudron (fran-zösisch für „Teer“) ein: Guglielminetti erfand die Straßenteerung, um die

„Staubplage“ auf Monte Carlos Straßen zu reduzieren. Erste Versuche wiesen dann so viele Vorteile der Straßentee-rung nach, dass diese sich binnen kur-zem weit verbreitete. Kollege Goudron verzichtete auf ein Patent, das ihm Mil-lionen gebracht hätte.

Ärztin am SüdpolDr. Jerri Nielsen, eine erfahrene US-Ärz-tin, meldete sich auf eine Anzeige und wurde 1998 die einzige Ärztin der US-Station Amundsen-Scott am Südpol. Sie begeisterte sich für das „unvergleichli-che Abenteuer“, wurde jedoch dann mit-ten im antarktischen Winter schwer krank. Sie diagnostizierte an sich selbst Brustkrebs, begann bereits am Südpol mit der Zytostatika-Behandlung. Später wurde sie in einer aufwendigen Aktion gerettet, konnte sich in den USA weiter behandeln lassen und überlebte noch elf Jahre.

Bereit für tödliche Gefahren Wie die Beispiele zeigen, gibt es sehr vie-le mögliche Abenteuer für den, der die Medizin auf ungewöhnlichere Weise denn als Kassenarzt praktizieren will. Jede Facharztgruppe hat Vertreter, die in die Welt hinauszogen und waghalsiges in der Medizin oder der Wahl ihres Standortes riskierten. Immer besteht der Wille, sich etwas zuzumuten, o� der Wunsch nach Hilfeleistung dort, wo an-dere nicht hingehen – sei es in den Hi-malaya, nach Afrika oder in Kriegs- und Katastrophengebiete.

Neben dem Mut, sich ungewöhn-lichen klimatischen Verhältnissen aus-zusetzen, sich einer evtl. gefährlichen Situation zu stellen, steht auch so gut wie immer das Wissen, dass man ganz alleine einer meist sehr großen Zahl von Patienten gegenübersteht. Kein an-derer Arzt, kein Krankenhaus, keine Hilfe stellung von außen – da braucht man Selbstvertrauen, Experimentier-freude, eine Bärennatur und vielleicht auch die Fähigkeit, Gefahren zu ver-drängen.

Nicht wenige Abenteuerärzte sind umgekommen, wie z.B.

− Dr. Edward Wilson, der bei der Süd-polexpedition des Engländers Scott 1912 mit diesem erfror, − Dr. William Francis O’Loughlin, Schi�sarzt der Titanic, der 1912 mit dem Schi� unterging, − Dr. Erich Dölken, der auf der Hin-reise nach Lambarene, wo er Dr. Schweitzer ablösen sollte, verstarb, − Dr. Richard Wunsch, der in China an einer Typhusinfektion starb, − Hausarzt Harald Fischer, der mit einer Hilfsorganisation ins West-jordanland ging und im Jahre 2000 während der ärztlichen Versorgung eines Verletzten durch israelische Ge-schosse getötet wurde.

Expeditionsärzte: Abenteurer unter AbenteurernEgal ob an den Nordpol, Südpol, in den Amazonasdschungel oder zum Hima-laya – auch heute noch gibt es Expediti-onen, die begleitende Ärzte zur Versor-gung der Mannscha� brauchen. Extre-me Kälte, Hitze, Schlangen, Tropen-krankheiten etc. stellen medizinische Risiken dar, die o� unter schwierigsten Verhältnissen diagnostiziert und behan-delt werden müssen. Daneben besteht natürlich auch immer das Risiko, dass es den Expeditionsarzt selbst tre�en kann. Die Last der Verantwortung, die auf den Schultern des Arztes liegt, kann sehr schwer wiegen.

Dies musste auch der britische Arzt und Bergsteiger Dr. Howard Somervel erfahren, der Expeditionsarzt der briti-schen Everest Expeditionen. Bei seiner ersten Tour am Mount Everest geriet ein Teil der Bergsteiger in eine Lawine. So-mervel selbst kam mit knapper Not aus der Lawine, doch sieben Expeditionsteil-nehmer starben. 1924, beim zweiten Versuch, starben der Expeditionsleiter Mallory und ein weiterer Teilnehmer, auch hier konnte der Arzt letztlich nichts machen.

Es sind nicht nur die somatischen, sondern auch die psychischen Probleme, die dem Expeditionsarzt das Leben schwer machen können: depres sive Ein-brüche, suizidale Krisen, Krach unter den Expeditionsteilnehmern, partner-scha�liche und sexuelle Verwicklungen,

Abenteuer-Lust und Helfer-Sinn: Als Ärztin ohne Grenzen in Afrika.

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Ärzte auf Mission und bei Hilfsorganisationen

Suchtexzesse und deren Folgen sind bei Abenteurern mindestens so häu�g wie in der Allgemeinbevölkerung.

Eine Art von Expedition ist auch der Flug in den Weltraum. Schon recht früh haben Ärzte an Weltraummissionen teilgenommen, bis heute sind es ca. zwei Dutzend Kollegen, u. a. die französi-sche Ärztin Claudie Haigneré, die sogar zwei Weltraum�üge absolvierte.

Sehr o� beinhaltet die Tätigkeit als Expeditionsarzt eine lange Zeit der Trennung von der eigenen Familie, etwa wenn es in die 14 000 km entfernte Ant-arktis geht, wo ein Arzt und das Team bis zu einem Jahr und länger verweilen müssen.

Zweite Karriere als Abenteurer Zahlreiche Kollegen haben umfangrei-che Weltreisen und Erforschungen fer-ner Kontinente gemacht, manche aus ethnologischen, manche aus botanisch/zoologischen und andere aus literarisch-kulturellen Interessen heraus. Einige Ärzte wurde in der zweiten Karriere be-rühmter als in der ärztlichen Lau�ahn wie z. B. Philipp Franz von Siebold, der für mehrere Jahre als Arzt in Japan tätig war und bis heute als Beschreiber der Flora und Fauna Japans breite Anerken-nung �ndet.

Als Afrikaforscher von Format mach-te sich Gustav Nachtigal ein Namen. Ur-sprünglich zur Ausheilung seiner Tuber-

kulose nach Tunis übersiedelt, wurde er später Leibarzt am Hofe des lokalen Fürsten, durchquerte die Sahara, wurde vom Stamme der Tedas gefangen ge-nommen und mit dem Tode bedroht. Später reiste er in den Tschad und viele andere afrikanische Gebiete. Er wurde zum Vorläufer der ethnogra�schen Feldforschung. Am Ende seines Lebens ernannte man ihm zum Generalkonsul in Tunis sowie zum Reichskommissar für Deutsch-Westafrika.

Berühmte Schriftsteller-ÄrzteViele Schri�steller-Ärzte haben an im-mer wieder neuen Orten gelebt und ge-wirkt: So etwa der schwedische Arzt Axel Munthe, der nach Jahren in Neapel, London, Stockholm und Rom schließ-lich in Capri sein Domicil fand, und der mit dem Werk „Das Buch von San Mi-chele“ Ruhm erwarb.

Ein weiteres Beispiel ist Archibald Cronin, der nach seiner Zeit als Bergar-beiter und Grubenarzt in Wales an�ng, Romane zu schreiben wie z. B. „Die Zita-delle“, mit denen er Welterfolge erzielte. Auch Cronin war ein Weltenbummler, der in Wales, London, den USA, Frank-reich, Italien und der Schweiz lebte.

Somerset Maugham war zunächst in Italien, der Schweiz und den USA ärzt-lich tätig. Im ersten Weltkrieg arbeitete er als Spion für den MI6 in Russland, un-ternahm später lange Reisen in die Süd-

see und nach Fernost und lebte schließ-lich als international erfolgreicher Autor in St.-Jean-Cap-Ferrat.

Literatur unter mmw.de und unter www.aerztegesundheit.de

Anschrift des Verfassers:Dr. med. Bernhard Mäulen Leiter Institut für Ärztegesundheit, Vöhrenbacherstrasse 4, D-78050 Villingen, mail: [email protected]

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Albert Schweitzer und seine Schüler

So wie Dr. Albert Schweitzer als Missions-arzt 1913 nach Lambarene zog, sind vor und nach ihm viele oft junge Ärzte voller Idealismus in die Kolonialgebiete gezo-gen. Sie haben Großartiges geleistet, oft genug aber auch eingesehen, dass es mit dem Helfen eine schwierige Angelegen-heit ist, ganz besonders, wenn es um fremde Menschen, andersartige Kulturen, Wertsysteme, Vorstellungen von Gesund-heit und Krankheit geht. In der heutigen Zeit sind es die WHO, Ärz-te ohne Grenzen, Internationales Rotes Kreuz sowie kirchliche Organisationen,

die oft über Jahre und in großem Umfang medizinische Hilfestellung leisten. Immer wieder wird dabei auch die Gesundheit und Sicherheit von Ärzten und P�ege-kräften bedroht. Wo Missionsärzte früher bittere Entsagung auf sich genommen haben, viele in der Ferne gestorben sind an Malaria, Schlangenbissen, Verdursten etc., sind die heutigen Helfer in Gefahr, verschleppt, ausgeraubt, vergewaltig und umgebracht zu werden. Trotzdem gibt es viele freiwillige Ärzte, gerade auch aus Deutschland, die unentgeltlich zu sol-chen Einsätzen aufbrechen.

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Fazit

Ärzte haben oft neben der Medizin abenteuerliche Hobbys, Fernweh, den Wunsch nach Arbeit unter herausfor-dernden Umständen in fremden Län-dern und an ungewöhnlichen Orten. Natürlich könnten sie auch zu Hause bleiben, wo sie ebenfalls gebraucht würden. Aber vielleicht geht es ihnen so, wie dem norwegischen Entdecker Sven Hedin, der zur Frage Stellung nahm, warum er nicht in der Heimat blieb und eine ordentliche Karriere anstrebte: „Ich war zu früh auf die wil-den Wege Asiens hinausgekommen, ich hatte zu viel von der Pracht und Herrlichkeit des Orients, von der Stille der Wüsten und der Einsamkeit der langen Wege verspürt.“

Haben auch Sie als Arzt Abenteuer erlebt? Dann schreiben Sie uns unter [email protected]

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Literatur1. Lufthansa Magazin: Abenteuerlust: Men-

schen, Länder, Sensationen. Heft 5 / 2013 2. Parin, Paul: Es ist Krieg und wir gehen hin.

rororo 19913. Auffermann, Uli: Atlantiküberquerung im

Faltboot- Abenteuer im Grenzbereich menschlicher Leistungsfähigkeit. Kayak Ma-gazin 04/2010, 52-53

4. Lindemann, Hans: Allein über den Ozean-Ein Arzt im Einbaum und Faltboot. Klasing Ver-lag 2000

5. Pieper, Anne: Prothese und sportliche Höchstleistungen? Endolife 12, Winter 2012,4-5

6. Witte, Jens: Tough Guy Knut Höhler. Spiegel online 13. Februar 2012

7. Piccard, Bertrand. Mit dem Wind um die Welt- die erste Erdumkreisung im Ballon. Pi-per, 2001

8. Trede, Michael: Der Rückkehrer- Skizzen-buch eines Chirurgen. Ecomed 2001.

9. Girtler, R.: Landärzte – als Krankenbesuche noch Abenteuer waren. Böhlau Verlag 1997

10. Bulgakow, Michail: Arztgeschichten. Lucht-erhand, 1972

11. SWR Ehrensache: So engagiert sich Monika Orth; SWR.de, 2013

12. Robertson, R.: Männer und Wale – 8 Monate als Arzt unter Walfängern. Ullstein 1955

13. Dr. Kenyon St. Vincent Welch: (www.syney.edu.au/medicine/museum/mwmuseum/in-dex.php/Welch,_Kenyon_St_Vincent)

14. Moody, Joseph: Arzt im Nordeis,. Eberhard Brockhaus 1959

15. Kropatschek , W.: Nächte und Tage auf Hel-goland – Aufzeichnungen des Inselarztes. 1989

16. Kämpfen, Werner: Docteur Goudron – Erfin-der der Straßenteerung, Forscher, Arzt, Dip-lomat und Weltenbummler zugleich. Artemis Verlag, 1944

17. Nielsen, Jerry: Ich werde Leben. Marion von Schröder Verlag 2000

18. Schweizer, A: Zwischen Wasser und Urwald. Erlebnisse und Beobachtungen eines Arztes im Urwalde Äquatorialafrikas. Paul Haupt. Bern 1921

19. Spiecker, H.: Ehrenbuch der Ärzte. Fahner Druck 2003

20. Cronin A.J.: Abenteuer in zwei Welten Mein Leben als Arzt und Schriftsteller. Bertels-mann

21. Kernéis, J.: Geschichte der Schiffahrtsmedi-zin. In: Toellner (Hrsg.): Illustrierte Geschich-te der Medizin. Band 6. 1978

22. Höygaard, A.: Im Treibeisgürtel – Als Arzt un-ter Grönländischen Eskimos. Westermann 1949

23. Somervel, Howard : After Everest- the expe-riences of a Mountaineer and medical Missi-onary

24. http://de.wikipedia.org/wiki/Claudie_Haig-neré

25. Atkaxpress: die 31. Überwinterung beginnt – Das Üwi Team stellt sich vor. April 2011 http://www.awi.de/no_cache/de/infrastruk-tur/stationen/neumayer_station/atkax-press_online/atkaxpress_archiv_2000_2011/?cid=20948&did=21794&sechash=2c31987

26. Heiser, Victor: Eines Arztes Weltfahrt – Erleb-nisse und Abenteuer in 45 Ländern. DVA, 1951

27. http://de.wikipedia.org/wiki/Philipp_Franz_von_Siebold

28. Nachtigal, G.: In den Schrecknissen der Wüs-te. In Rolf Temming (Hrsg.) Entdecker, For-scher, Weltenbummler. Buch und Zeit Verlag, Köln, 1968

29. Macintyre, I.: Surgeon’s Lives- Royal College of Surgeons of Edinburgh. 2005

30. Munthe, A.: Der Arzt von San Michele.31. http://de.wikipedia.org/wiki/Somerset_

Maugham32. http://de.wikipedia.org/wiki/Sven_Hedin