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Die unbequemen Fragen umarmen Ein Glaube mit Raum zum Wachstum hat viele Vorteile. Einer der größten ist, dass man, zumindest sich selbst gegenüber, auch beängstigende und unbequeme Fragen zur Sprache bringen kann. Sie wissen schon, die Art von Fragen, für deren Vergessen wir so viel Zeit aufgewendet haben. Die Fragen, bei denen wir uns schweigend einigen, sie nicht zu stellen. Und die Fragen, vor denen wir gewarnt wurden, weil unser Glaube von ihnen untergraben werden könnte. Ich bin sicher, es gibt eine oder zwei dieser Fragen, die auch in Ihrem Herzen irgendwo anzufinden sind. Meine geistliche Reise führte mich an einen Punkt, an dem das Stellen dieser Fragen keine Option mehr war, sondern eine Frage des Überlebens. Natürlich hatte ich Angst davor, "mein Heil zu verlieren", indem ich bestimmte Grundlagen in Frage stellte. Aber jenseits dieser Angst lag auch eine aufgeregte Hoffnung, einen viel größeren Gott zu finden, als ich ihn für möglich gehalten hätte. In diesem Blog Post möchte ich Ihnen von einer der großen Fragen erzählen, an die ich mich schließlich herangewagt habe: Das Problem der Gewalttätigkeit Gottes im Alten Testament.

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Die unbequemen Fragen umarmen

Ein Glaube mit Raum zum Wachstum hat viele Vorteile. Einer der größten ist, dass man, zumindest sich selbst gegenüber, auch beängstigende und unbequeme Fragen zur Sprache bringen kann. Sie wissen schon, die Art von Fragen, für deren Vergessen wir so viel Zeit aufgewendet haben. Die Fragen, bei denen wir uns schweigend einigen, sie nicht zu stellen. Und die Fragen, vor denen wir gewarnt wurden, weil unser Glaube von ihnen untergraben werden könnte. Ich bin sicher, es gibt eine oder zwei dieser Fragen, die auch in Ihrem Herzen irgendwo anzufinden sind.

Meine geistliche Reise führte mich an einen Punkt, an dem das Stellen dieser Fragen keine Option mehr war, sondern eine Frage des Überlebens. Natürlich hatte ich Angst davor, "mein Heil zu verlieren", indem ich bestimmte Grundlagen in Frage stellte. Aber jenseits dieser Angst lag auch eine aufgeregte Hoffnung, einen viel größeren Gott zu finden, als ich ihn für möglich gehalten hätte. In diesem Blog Post möchte ich Ihnen von einer der großen Fragen erzählen, an die ich mich schließlich herangewagt habe: Das Problem der Gewalttätigkeit Gottes im Alten Testament. Natürlich kann ich hier niemals einem so komplexen Thema gerecht werden. Ich möchte Sie mit diesem Text vielmehr einladen und vielleicht herausfordern, sich diesem Thema selber zu widmen.

Wie die meisten Menschen fühlte ich mich schon immer unwohl angesichts vieler alttestamentlicher Geschichten, auch unter christlichen Freunden. Wenn Nichtchristen mich dazu drängten, diese Geschichten zu erklären, ging das Unwohlsein gar in Scham über. Ich wünschte mir wirklich, die Geschichten würden nicht existieren - aber da sie in der Bibel erzählt werden, was soll ich da tun?

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Brian Zahnd beschreibt dieses Dilemma in seinem Buch „Sinners in the Hands of a Loving God“ (Sünder in den Händen eines liebenden Gottes). Er verweist auf die Geschichten, in denen Gott Abraham befahl, seinen Sohn zu töten (auch wenn er es am Ende nicht tun musste), und Josua, König Saul und den Israeliten befahl, im Rahmen der ethnischen Säuberung Kanaans Zivilisten, von Frauen bis hin zu Kleinkindern, zu töten.

Heikel genug für ein Blogthema?

Aber es wird noch besser. Einer der Eckpfeiler der christlichen Theologie ist, dass Gott unveränderbar ist. Weder Sein Wesen noch Charakter verändern sich mit der Zeit. Wenn nun aber Gott sich nicht ändert, und Er in der Vergangenheit die Tötung von Kindern als Teil seines Völker-Eroberungsprogramms sanktioniert hat, ist es möglich, dass Er jemals von Ihnen verlangen würde, Kinder zu töten?

Wären wir jetzt im selben Raum, würden wir die interessantesten - und aufschlussreichsten - Reaktionen auf diese Frage erhalten. Hoffentlich würden die meisten von uns sagen: "Niemals!", auch wenn wir damit vor einem theologischen Problem ständen. Leider habe ich jedoch persönlich auch andere Reaktionen erlebt. Bei einer ähnlichen Frage waren mehrere Leute in meinem Umfeld nicht sicher, ob sie sich einem solchen Befehl widersetzen würden, wenn sie glaubten, er käme von Gott. Dies ist ein Beispiel, weshalb religiöser Eifer tödlich sein kann; Menschen sind bereit, im Namen Gottes Dinge zu tun, die sie in einem zwischenmenschlichen Zusammenhang als zu tiefst verwerflich verurteilen und niemals ausführen würden.

Wenn nun aber die meisten von uns sich vehement dagegen wehren würden, etwas zu tun, was Gott seinem eigenen Volk angeblich mehrmals befohlen hat, dann haben wir laut Zahnd drei Möglichkeiten:

1.Wir stellen die Moral Gottes in Frage. Vielleicht ist Gott nicht ausschließlich gut.2.Wir stellen die Unveränderlichkeit Gottes in Frage. Vielleicht ändert sich Gott mit der Zeit.3.Wir stellen in Frage, wie wir die Bibel sehen. Könnte es sein, dass wir lernen müssen, sie auf eine neue Art und Weise zu lesen?

Die erste Möglichkeit kreiert ein weit größeres Problem. Wenn Gott nicht immer gut ist, sollte man Ihn nämlich nicht vorbehaltlos anbeten, sondern den bösen Tendenzen Seines Wesens widerstehen. Die zweite Option geht in eine ähnliche Richtung. Wenn Gott sich ändert, woher weiß ich dann, dass Er sich nicht plötzlich in einen größenwahnsinnigen Diktator verwandelt, der Völkermord fordert? Meine Verehrung Ihm gegenüber wäre bestenfalls voller Misstrauen und Vorsicht. Die dritte Option eröffnet jedoch neue Möglichkeiten (und auch Herausforderungen!). In Zahnds Worten:

"Wenn wir keinen monströsen Gott wollen, der gelegentlich Völkermord befiehlt, und wenn wir keinen wandelbaren Gott wollen, der sich langsam von einer gewalttätigen Vergangenheit abwendet, wie können wir das Alte Testament dann verstehen? (...) Das

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Alte Testament besteht aus inspirierten Geschichten darüber, wie Israel seinen Gott kennen lernt. Dies geschieht in einem Prozess. Gott verändert sich nicht, Israels Verständnis von Gott jedoch schon. (...) Selbst ein Gelegenheitsleser der Bibel bemerkt, dass sich zwischen der angeblichen göttlichen Billigung des Völkermords bei der Eroberung Kanaans und dem Aufruf Jesu zur Feindesliebe in seiner Bergpredigt eindeutig etwas geändert hat! Was sich jedoch geändert hat, ist nicht Gott, sondern das Maß, in dem die Menschheit ein Verständnis der wirklichen Natur Gottes erlangt hat. Die Bibel ist nicht die vollkommene Offenbarung Gottes; Jesus ist dies. Jesus ist die einzige vollkommene Theologie".

Sie könnten zustimmen und fragen, wo denn da das Problem liegt. Nun, viele Christen befürchten, dass wir, wenn wir einem sich entwickelnden Gottesverständnis Israels zustimmen, die Relevanz und Fehlerlosigkeit des Alten Testaments in Frage stellen müssen. Viele sind dazu nicht bereit. Und doch ist es offensichtlich, dass solche Helden des Alten Testaments wie Josua und David, obwohl sie bereits gewisse Offenbarungen der Gnade Gottes hatten, auch von einer Kultur der Gewalt und machthungriger, vergeltender Götter durchdrungen waren. Es waren Männer ihrer Zeit, mitten in der Geschichte eines Volkes, das versuchte, Gott besser kennen zu lernen. Sie interpretierten Visionen, Träume und Worte Gottes nach ihrem besten Verständnis von Ihm, doch sie hatten keine vollkommene Offenbarung Seines Wesens.

Doch dann kam Jesus. Und seine Lehren waren so überraschend anders, so frei von Rache, Völkermord und Blutvergießen, dass er sowohl jüdische Führer als auch seine eigenen Jünger ständig vor den Kopf stieß. Er sagte zu ihnen: "Ihr habt gehört, dass geschrieben steht .... Aber ich sage euch..." und er stellte sowohl ihre Welt als auch ihre Religion auf den Kopf.

Wenn wir Jesus zuhören, können wir nicht mehr einfach sagen: "Die Bibel sagt‘s, und damit hat sich’s"; wir müssen anfangen, auf das Herz Gottes zu schauen und zu unserer eigenen, verantwortungsvollen Schlussfolgerung kommen. Wir müssen uns fragen: "Stimmt diese Handlung oder Haltung mit dem Gebot Jesu überein, meinen Nächsten zu lieben, denen zu vergeben, die mich hassen, und die andere Backe hinzuhalten? Lässt sie sich mit seiner Mahnung vereinbaren, dass die Sanftmütigen, die Barmherzigen und die Friedensstifter ihn vertreten, und nicht die Mächtigen und Starken?“

Nun heißt dies natürlich noch lange nicht, dass die Menschen mit ihren Handlungen seit Jesus Geburt Gott getreu nachgefolgt sind. Nur weil man etwas weiß, heißt das noch lange nicht, dass man es auch tut. Und natürlich ist auch seit Jesus das Verständnis von Gottes Wesen immer weiter gewachsen und wird es auch in Zukunft tun. Auch hier ist es nicht Jesus, der sich verändert, sondern die Fähigkeit seiner Nachfolger, seine Botschaft anzunehmen und sein Herz zu verstehen.

Die Tatsache ist, uns Nachfolgern Jesu fällt es sehr schwer, im Licht der Bergpredigt zu leben. Überall in ihrer 2000jährigen Geschichte haben Christen die Heilige Schrift als göttliche Lizenz für Gewalt, Hass und Machttrips missbraucht. Selbstverständlich

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kommen einem zuerst die Kreuzzüge und die Inquisition in den Sinn, aber in jüngerer Zeit wurde die Bibel ebenso von Kolonialisten, Missionsgruppen, Rassisten oder Befürwortern der Todesstrafe zu Hilfe gezogen. Um Zahnd noch einmal zu zitieren:

"Wenn Sie die Tür offenlassen, um den kanaanitischen Völkermord zu rechtfertigen, wundern Sie sich nicht, wenn moderne Kreuzritter versuchen, sich durch dieselbe Tür zu drängen und dann die Bibel zu ihrer Verteidigung zitieren. (...) Wir sollten anerkennen, dass Israel in der späten Bronzezeit bestimmte Annahmen über die Natur Gottes gemacht hat, Annahmen, die jetzt im Lichte Christi aufgegeben werden müssen".

Mit anderen Worten: Wann immer wir die Bibel benutzen, um einen anderen Menschen auszuschließen, zu diskriminieren, ihm Gottes Barmherzigkeit vorzuenthalten oder ihn anderweitig zu verletzen, gehen wir direkt gegen das vor, was Jesus lehrte.

Was sollten wir also mit den vielen gewalttätigen, vergeltenden, sexistischen und erbarmungslosen Passagen im Alten Testament tun? Zu lange habe ich gar nichts mit ihnen gemacht - aus Angst, dass mit dem in Frage stellen der Irrtumslosigkeit der Bibel die ganze Sache zusammenbrechen würde. Aber dann wagte ich langsam, mein Herz in die Gleichung mit einzubeziehen. Wenn ich das Gefühl bekäme, Gott befehle mir, mein eigenes Kind zu opfern, Muslime oder Schwule zu hassen oder zu glauben, dass alle, die nicht das richtige Gebet gebetet haben, in alle Ewigkeit gefoltert werden (ein anderes Thema) - würde ich es tun, weil es in der Bibel steht? (Das meiste davon steht natürlich nicht mal in der Bibel, sondern ist ein Produkt falscher Schlussfolgerungen innerhalb einer Kultur). Oder würde ich versuchen zu beten: "Gott, irgendwo da drin müssen wir dich missverstanden haben. Mein Herz glaubt an einen Gott, der barmherziger und schöner ist als das, was hier herüberkommt. Dies zeigt mir, dass Du noch unendlich viel schöner bist - denn Du hast mein Herz erschaffen. Hilf mir, zu erkennen, wo das Missverständnis liegt."

Vielleicht bekomme ich keine nette, theologisch verpackte Antwort. Vielleicht bekomme ich überhaupt keine Antwort. Aber es ist besser, zu sagen: "Ich weiß nicht, warum diese Passagen in der Bibel stehen. Aber ich werde sie nicht befolgen, weil sie nämlich nicht Jesus repräsentieren", als zu sagen: "Mein Herz wehrt sich dagegen - aber es steht in der Bibel, also werde ich es trotzdem tun.“

Zwischen diesen zwei Haltungen zu entscheiden, kann allen Unterschied in der Welt machen. Die Frucht des Heiligen Geistes ist Liebe, Friede und Freude. Zusammen mit Seiner Hilfe wird unser Gewissen und unser Wunsch, das wahre Herz Gottes zu finden, uns auf den richtigen Weg leiten. Den Weg, den Jesus uns gelehrt hat.

Wenn wir es wagen, die unbequemen Fragen zu umarmen.

Auszüge aus: Sinners in the Hands of a Loving God von Brian Zahnd, Waterbrook publishing, 2017