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Das Gleichnis vom Verlorenen Schaf

Lukasevangelium 15, 1-7 Simon Hofstetter Dorfstrasse 8 3534 Signau 079 212 70 11 Arbeit zum Proseminar „Einführung in die Exegese des Neuen Testaments“ durchgeführt von Ass. Andreas Rusterholz WS 2001/2002 1. Semester 31. Mai 2002

Das Gleichnis v om Verlorenen Schaf – Lukas 15,1-7 Proseminararbeit WS 2001/2002

Simon Hofstetter, Signau Seite 2

Inhaltsverzeichnis

I. Übersetzung 3

II. Textkritik 3 1. Der Text 3 2. Bewertung 3

III. Textanalyse 4

1. Kontext 4 2. Sprachlich-syntaktische Analyse 5 3. Sprachgeschichte 6 4. Narrative Analyse 6 5. Semantische Analyse 7

IV. Literarkritik 7

V. Redaktionsgeschichte 9

1. Lukasevangelium 15,1-7 9 2. Matthäusevangelium 18,10-14 11 3. Thomasevangelium Logion 107 12 4. Evangelium veritatis 32,1-33 12

VI. Formgeschichte 13

1. Logienquelle Q 13 2. Vergleich mit den anderen Schriften 13

VII. Überlieferungsgeschichte 14

VIII. Religionsgeschichte 14

1. Das Schaf 14 2. Die Suche nach dem Verlorenen 15 3. Die Zahlensymbolik 1-99-100 15

IX. Sozialgeschichte 15

1. Gesetzliches 15 2. Jesus und die Pharisäer 16 3. Die Apologie Jesu – der „Sitz im Leben“ 16 4. Funktionen 16

X. Historischer Jesus 17

1. Der Rahmen der Verkündigung Jesu 17 2. Die Sichtweise der Pharisäer 18

XI. Interpretation 18

1. Der Skopus 18 2. Kommunikation zwischen Autor und Rezipienten 19 3. Interpretation des Logions im Laufe der Zeit 19 4. Interpretation im gegenwärtigen Kontext 20

Anhang: Literaturverzeichnis 22 Bildquellen 23

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I. Übersetzung 1Es kamen jeweils allerlei Zöllner und Sünder zu ihm, um von ihm zu hören. 2Und die Pharisäer und die Schriftgelehrten murrten laut und sagten:

Dieser nimmt Sünder an und hat mit ihnen Tischgemeinschaft. 3Da sagte er zu ihnen diese Gleichnisrede und sprach:

4Welcher Mensch unter euch, der hundert Schafe hat und eines von ihnen verloren hat, lässt nicht die neunundneunzig zurück in der Wüste und geht dem Verlorenen nach, bis dass er es gefunden hat? 5Und wenn er es gefunden hat, legt er es voller Freude auf seine Schultern 6und wenn er nach Hause gekommen ist, ruft er die Freunde und die Nachbarn zusammen und sagt zu ihnen:

Freut euch mit mir, dass ich mein verlorenes Schaf wieder gefunden habe.

7Ich sage euch: Ebenso wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der umkehrt, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die es nicht nötig haben umzukehren.

II. Textkritik1

Zur Durchführung habe ich zwei Probleme ausgewählt, die das Verhältnis der Tradenten zum Matthäusevangelium (1.) sowie den literarischen Stil des Lukasevangeliums (2.) beleuchten. 1. Der Text 1. Lukas 15,4a Lesart l: oujk ajfivhsi ta; ejnenhvkonta ejnneva ejn th; ejrhvmw/ kai; ajpevlqwn to; apovlwloõ zhtei' Lesart ll: ¢ouj kataleivpei† ta; ejnenhvkonta ejnneva ejn th; ejrhvmw/ kai; Õporeuvetai ejpi; to; ajpovlwloõÇ 2. Lukas 15,4b Lesart l: e{wõ ou| eu{rh/ aujtov Lesart ll: e{wõ £ eu{rh/ aujtov 2. Bewertung Prüfung der äusseren Textsituation 1. Lukas 15,4a Lesart l: Der für die Evangelien wichtige Majuskel D sowie mit geringen Abweichungen einige lateinische Textzeugen, die Vetus Syra (die ältesten syrischen Übersetzungen) aus dem 3./4. Jahrhundert und die syrische Peschitta (die meistverbreiteten syrischen Übersetzungen) sowie alle zur Stelle vorhandenen koptischen Versionen, die es seit dem 3. Jahrhundert gibt, bezeugen diese Lesart. Lesart ll: alle übrigen Handschriften.

1 Angaben gemäss Nestle-Aland27.

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2. Lukas 15,4b Lesart l: Viele wichtige Textzeugen, d.h. der Codex Sinaiticus aus dem 4. Jahrhundert, der Codex Alexandrinus aus dem 5. Jahrhundert sowie die weiteren Majuskeln Ν, ∆ und Ψ, die Minuskelfamilien f1 und 13 und die einzelnen Minuskeln 579, 1424 und 2542 sowie wenige andere Textzeugen bezeugen diese Lesart. Lesart ll: alle übrigen Handschriften Abwägen der inneren Argumente 1. Lukas 15,4a Ein Vergleich mit der matthäischen Parallelstelle Matthäus 18,12 zeigt die Formulierung oujci; ajfhvsei und poreuvqeiõ zhtei'. Die Vermutung liegt nun nahe, dass der westliche Text D die lukanische Version dem Mt angepasst hat – was öfters geschah2 - und dass diese Form dann von den nächstgenannten Textzeugen übernommen wurde. 2. Lukas 15,4b Gemäss Jeremias3 ist e{wõ ou| lukanische Vorzugswendung. Er lässt die anderen Versionen aber oft stehen und korrigiert sie erst in Parallelstellen in seinem Sinn. An unserer Stelle gilt das für das Gleichnis vom verlorenen Groschen in Lukas 15,8. „Es ergibt sich nämlich, dass Lukas eine Reihe ihm nicht sympathischer Wendungen, die er in den Versen 4-7 hatte passieren lassen, im zweiten Gleichnis (Verse 8-10) geändert hat.“4 Gewiss ist es stilistisch unbefriedigend, in zwei nebeneinander liegenden Stellen solche Unterschiede zu haben. So ergibt sich, dass die erwähnten Textzeugen wohl beabsichtigten, diese Unterschiede zu vereinheitlichen. Genau gleich verhält es sich mit dem ajpovlesaõ (Partizip Aorist Aktiv m. Sg. Nom.) in Vers 4. Lukas hat wohl diese unlogische Satznebenordnung in Vers 4 nicht geändert, und erst in Vers 8 mit ajpolevsh/ (Aorist 3. Sg. Konj. Aktiv) in eine Satzunterordnung verwandelt5. Hiermit nicht einverstanden waren der Codex Vaticanus aus dem 4. Jahrhundert sowie der westliche D-Text. Sie glichen die Formulierung dem lukanischen Stil gemäss Vers 8 an.

III. Textanalyse

Die Textanalyse soll als Materialsammlung für die nächsten Schritte lV. Literarkritik und V. Redaktionsgeschichte dienen und mit den abschliessenden Fragen auf die Xl. Interpretation voraus weisen. 1. Kontext Makrokontext Wir befinden uns mit dem Textstück mitten im Lukasevangelium, und zwar im mittleren von drei Teilen, dem Reisebericht über den Weg Jesu von Galiläa nach Jerusalem. Dieser Teil besteht hauptsächlich aus lukanischem Sondergut- und Q- 2 Conzelmann/Lindemann, Arbeitsbuch, S. 330. 3 Jeremias, Tradition, S. 185. 4 Jeremias, Tradition, S. 185. 5 Jeremias, Tradition, S. 185.

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Material und wird deshalb, weil er hier nicht dem markinischen Erzählfaden folgt, auch „die grosse Einschaltung“ genannt. Mikrokontext und Textumfang Man ist sich nicht einig, ob das Kapitel 15 für sich oder in einem weiteren Zusammenhang steht6. Meiner Meinung nach steht das Kapitel 15 für sich alleine als abgeschlossene Einheit mit drei ähnlichen Gleichnissen über das Verlorene. Die Verse 1 bis 3 bilden die Exposition7, den Anlass zur Diskussion, in den Versen 4-7, 8-10 und 11-32 folgt die dreifache Gleichnisrede. 2. Sprachlich-syntaktische Analyse Im vorliegenden Text finden sich einige Wörter, die aufgrund ihrer statistischen Häufigkeit lukanisches Vorzugsvokabular genannt werden. Es sind dies: ajpovllumi (steht 27mal im Lukasevangelium), aJmartwloiv (17mal), poreuvomai (51mal), euJrivskw (45mal), caivrw/carav (12mal), prosdevcomai (5mal) sowie metanoevw/metanoiva (14mal). Hingegen sind auch Wörter anzutreffen, die Lukas in seinem Evangelium nur selten verwendet, so genanntes Meidevokabular: provbaton (2mal), grammateuvõ (14mal) Auffallend ist, dass Lukas lange Sätze gebildet hat (Vers 4, Verse 5-6) und somit entsprechend viele verbindende Konjunktionen verwendet. Mit den oft verwendeten Partizipien (e[cwn, euJrwvn, ejlqwvn, u.a.) treffen wir viele Nebensätze an. Im Text fallen ausserdem die vielen Subjekt/Objekt -Wiederaufnahmen auf: aJmartwlovõ finden wir zu Beginn in der Exposition sowie im Pharisäerkommentar und schliesslich am Schluss des Gleichnisses in der Anwendung. provbaton steht zu Beginn des Gleichnisses sowie in der Anwendung. Das Motiv der ejjnenhvkonta ejnneva - e{n (99-1) ist ebenfalls am Anfang sowie in der Anwendung zu finden. Den Gegensatz ajpovllumi - euJrivskw treffen wir in unserem Text sogar dreimal an. Ebenfalls wiederholt wird carav/caivrw vor allem gegen Schluss in der Anwendung. Für die Exposition, die Rahmengeschichte (Verse 1-3), verwendet Lukas Imperfekt und Aorist, das Gleichnis selbst lässt er Jesus im Präsens erzählen. Die Anwendung weist mit dem Futur e[stai auf die eschatologische Dimension des Gleichnisses hin8. Folgende Stilfiguren sind im Text zu finden: Mit oi{ telw'nai kai; oi{ aJmartwloiv und oi{ farisai'oi kai; oi{ grammatei'õ stehen in den beiden einleitenden Versen Verdoppelungen. Die Verse 1, 2 und 7 werden wie schon angesprochen durch aJmartwlovõ gerahmt. tivõ a[nqrwpoõ - ouj kataleivpei ist zweifelsfrei eine rhetorische Frage, die den Zuhörern ein Zugeständnis suggeriert. In tivõ a[nqrwpoõ ejx uJmw'n e[cwn fehlen die gliedernden Partikel; anstelle einer logischen Hypotaxe steht eine Parataxe.

6 Während Jülicher, Gleichnisreden, S. 314, das Kapitel 15 ganz aus dem Zusammenhang gehoben sieht, verweist Bovon, Evangelium nach Lukas, S. 16, auf die parallele Struktur mit dem symmetrischen Doppelbeispiel in Kapitel 13. Rienecker, Evangelium nach Lukas, S. 361, verbindet sogar die Kapitel 15 und 16 unter dem Thema „die alles menschliche Denken übersteigende Barmherzigkeit Gottes“. 7parabolhv ist nicht als ein einzelnes Gleichnis zu verstehen, sondern als „Gleichnisrede“ (Wiefel, Evangelium nach Lukas, S. 281). 8 Siehe V. Redaktionsgeschichte.

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Ortsangaben sind nur spärlich angegeben, sie sind oft indirekt dem Text zu entnehmen. So wird Jesus das Mahl mit den Sündern wohl irgendwo an einem öffentlich zugänglichen Ort, wo ihn die Pharisäer sahen, eingenommen haben. Das Gleichnis selbst handelt in der Wüste. Der Hirt geht mit dem wieder gefundenen Schaf zu seinem Haus zurück, das Gebiet ist nicht angegeben. Zeitangaben finden sich überhaupt keine. Als Personen treten Zöllner und Sünder und sogleich Pharisäer und Schriftgelehrte, also Vertreter von zwei völlig verschiedenen sozialen Schichten9, auf. Im Gleichnis ist von einem Hirten, der nicht direkt erwähnt wird, weiter von seinen Nachbarn und Freunden die Rede. 3. Sprachgeschichte Semitismen In den ersten drei Versen ist die typisch hebräische Voranstellung des Verbums &Hsan de;, kai; diegovgguzon, ei\pen dev festzustellen. Ebenso typisch ist der Parallelismus membrorum kai; euJrwvn - kai; ejlqwvn. Mit divkaioiõ oi{tineõ beginnt ein Relativsatz, in welchem das Beziehungswort wieder aufgenommen wird. Dies gilt ebenfalls als ein semitisches Sprachmerkmal. Nach dem Befund der Redaktionsgeschichte liegt der Grund für die Häufigkeit der Semitismen wohl nicht darin, dass der Text in dieser Art überliefert worden ist, sondern darin dass Lukas ihn mit seiner Vorliebe für die alttestamentliche Sprache entsprechend geändert hat. Aramaismen Matthäus gibt in seiner Parallelstelle das lukanische ejn th/' ejrhvmw/ mit ejpi ta; o[rh wieder. Dahinter steckt wahrscheinlich das aramäische betura ?????, das entweder als „Wüste“ oder „Berg“ übersetzt werden konnte10. 4. Narrative Analyse Struktureller Handlungsablauf Verse 1.2 Exposition Vers 3 Redeeinführung Verse 4-7 Rede Verse 4-6 Gleichnis Spannungsbogen Suchen – Finden – Rückkehr – Freude/Fest Vers 7 Anwendung Gliederung und Argumentation Zuerst wird in der Exposition der Anlass des Problems erwähnt. Jesus antwortet darauf, indem er sein Verhalten zuerst mit einem Gleichnis begründet und dieses anschliessend in die Anwendung überträgt. Das Gleichnis handelt vom Ausgangsproblem, dass ein Hirte ein Schaf von seiner mittelgrossen Herde verloren hat und dieses suchen geht. Jesus fordert die Zustimmung zu seiner Haltung mit einer rhetorischen Frage heraus. Das wieder gefundene Schaf trägt der Hirte nach Hause und feiert den freudigen Anlass mit seinen Freunden und Nachbarn. 9 siehe lX. Sozialgeschichte. 10 Jeremias, Gleichnisse, S. 117.

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5. Semantische Analyse Semantisches Inventar Im Folgenden versuche ich, einige Begriffe des Textes semantisch zu klären: ajpovllumi Verlieren, med. verloren gehen. In Lukas15 ist dieses Wort aus der Perspektive Gottes verwendet: das „Schaf“, das ihm verloren gegangen ist. Nicht nur der Mensch hat ein Interesse an seinem Leben, sondern auch Gott, „das aktive Moment von Seiten Gottes“11 wird hervorgehoben. aJmartwlovõ aJmartwlovõ, Sünder, wird derjenige genannt, der einen konkreten Fehler begangen hat, insbesondere wer sich nicht an die pharisäische Gesetzesordnung hält, und somit Schuld auf sich geladen hat. divkaioõ Als divkaioi, Gerechte, werden jene Menschen bezeichnet, die sich durch ihre Gesetzestreue im alttestamentlich-jüdischen Sinn auszeichnen. Auf Grund dieser Definition müsste auch Jesus mit vielen anderen ein Sünder sein – trotzdem: wenn er von Gerechten spricht, meint er das nicht ironisch12. Zu metanoiva/metanoevw siehe V. Redaktionsgeschichte. Der Text lässt einige Fragen offen: Was wäre passiert, wenn der Hirte das Schaf nicht gefunden hätte? Der Hirte geht offenbar mit dem gefundenen Schaf direkt nach Hause. Was passiert aber in der Zwischenzeit mit den zurückgelassenen Schafen? Weshalb ist der Hirte nicht explizit erwähnt? Welche Personen sind Sünder und welche Gerechte? Diesen Fragen versuche ich in den folgenden Kapiteln nachzugehen. IV. Literarkritik

Da wir im Matthäusevangelium 18,10-14 ein ähnliches Gleichnis finden, ist es unbestritten, dass beide Evangelisten auf eine Überlieferung aus der Logienquelle Q zurückgegriffen hatten. Die Einleitungen zu den beiden Gleichnissen (Lukas 15,1-3/Matthäus 18,10) stehen in sehr verschiedenen Kontexten. In diesem Gleichnis ist man sich weitgehend einig, dass die Verse 1-3 lukanisch-redaktionell sind13. Diese Situationsangabe ist wohl aus Lukas 5,27-30 (Das Mahl bei Levi) und diese wiederum aus Markus 2,16 übernommen. Insofern ist sie indirekt traditionell. Die Gleichnisse wurden also wahrscheinlich ohne Situationsangabe überliefert.

11 Art. Oepke, in: ThWNT l, S. 394. 12 siehe Lukas 5,32: Ich bin gekommen, die Sünder zur Umkehr zu rufen, nicht die Gerechten. 13 Jeremias, Tradition, S. 186; Bultmann, Geschichte, S. 360; Arai, Gleichnis, S. 114; Wiefel, Evangelium nach Lukas, S.280.

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Wie Jeremias zeigt14, ist auch Vers 3 vollständig auf Lukas zurückzuführen: ei[pen dev ist Lk-Vorzugsformulierung, das ei[pen pro;õ aujtouvõ ist wie die Situationsangabe aus dem Mahl bei Levi in Lukas 5, 31 entlehnt15. Vers 4 besitzt eine Parallele in Matthäus 18,12. Beide beginnen mit einer Frage, Lukas mit einer rhetorischen, Matthäus mit einer hypothetischen. Die lukanische tivõ−Einleitung scheint die Tradition bewahrt zu haben16. Die anschliessende mit e[cwn eingeleitete Satznebenordnung gilt als traditionelle Gleichniseinleitung. Lukas meidet sonst solche unlogischen Nebenordnungen17. Dieser Satz hat aber im Folgenden wahrscheinlich zwei stilistische Glättungen erfahren. Es sind dies: ouj kataleivpei18 anstelle von ajfhvsei sowie poreuvetai ejpiv (lukanisches Vorzugsvokabular) anstelle von poreuqei;õ zhtei'19. Die matthäische Formulierung ist also in diesem Teil im Wesentlichen ursprünglicher. Matthäus und Lukas sind sich nicht einig, ob die Herde in der Wüste oder im Bergland zurückgelassen wird. Der Unterschied zwischen diesen Versionen ist möglicherweise gar nicht so gross, wie wir uns das als Europäer vorzustellen pflegen. Es kann das „Weideland im judäischen Gebirge“ gemeint sein 20. Zudem können die Unterschiede daher stammen, dass das aramäische betura ????? (Wüste oder Berg) in einer mündlichen Überlieferungsstufe verschieden übersetzt wurde 21. Arai vermutet, dass Matthäus hier bewusst die Formulierung „Berg“ gewählt hat, da dies bei ihm symbolisch für „unter den Schutz der Kirche stellen“ 22 heisst. Ein weiterer Unterschied liegt in der Bezeichnung des Schafes: ist es nun verirrt (Matthäus) oder verloren (Lukas)? Wie Weder23 argumentiere ich damit, dass „verirren“ matthäisches Vorzugsvokabular, und somit das „verlorene“ Schaf ursprünglich ist. Diese Behauptung wird unterstützt durch die matthäische Formulierung in V. 14, wo er unkonsequenterweise wieder „verlieren“ benützt. Die letzte Differenz in diesem Vers liegt im Nebensatz e{wõ eu{rh/ aujtov bei Lukas. Hier kann ich auf den Befund der Textkritik zurückgreifen24, dass Lukas eine solche Formulierung sonst meidet. Sie ist also traditionell. Auffallend ist, dass die Verse 5 und 6 bei Matthäus keine Entsprechung haben. Fast übereinstimmend werden sie denn auch als lukanische Redaktion angesehen.25 Der ursprüngliche Schluss des Gleichnisses scheint in Matthäus 18,13 zu stehen. Es ist möglich, dass Lukas einige Motive aus Matthäus 18,13 („sich freuen“ wird ausgeführt mit dem Fest beim Hirten) für seine Erweiterung benutzte oder eventuell sogar vom Gleichnis von der verlorenen Drachme Lukas aus 15,9 hier einfügte26.

14 Jeremias, Tradition, S. 187. 15 wie Jülicher, Gleichnisse, S. 315 übereinstimmt. 16 Wiefel, Evangelium nach Lukas, S. 283 bezeichnet die tivõ-Einleitung als charakteristisch für Gleichnisse; Arai, Gleichnis, S.124 und Bovon, Evangelium nach Lukas, S. 24 halten das dokei' + Konditionalsatz für matthäisch. 17 Jeremias, Tradition., S. 182. 18 Bovon, Evangelium nach Lukas, S. 24. 19 Jülicher, Gleichnisse, S. 318. Vom ζητει' hat er den „Eindruck der Echtheit“. 20 Jeremias, Gleichnisse, S. 132. 21 Wiefel, Evangelium nach Lukas, S. 283. 22 Arai, Gleichnis, S. 125. 23 Weder, Gleichnisse, S. 171. 24 siehe wieder Jeremias, Tradition, S. 182. 25 So Bultmann, Geschichte, S. 184; Arai, Gleichnis, S. 123; Wiefel, Evangelium nach Lukas, S. 283; gegen Jeremias, Tradition, S. 183f. 26 Linnemann, Gleichnisse, S. 73.

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Dasselbe gilt für die lukanische Anwendung in Vers 7, wo auch noch das ursprüngliche Gleichnisende nachklingt. Es fällt auf, dass das „passive Schaf eigentümlich aktiv“27 wird – in den Versen 4-6 steht der Suchende im Zentrum, in Vers 7 hingegen die Haltung des umkehrenden Sünders28. Der Nebensatz dikaivoiõ oi{tineõ ouj creivan e[cousin metanoivaõ besteht aus denselben Vokabeln wie die schon erwähnte Bezugsstelle Lukas 5,3129. Es scheint, als habe Lukas hier seine eigene Interpretation in Jesu Mund gelegt. Das ou{twõ findet sich zwar bei Lukas und bei Matthäus, doch gilt dies als traditionelle Anwendungseinleitung, die problemlos von beiden eingeführt worden sein kann. Das levgw uJmi'n findet sich ebenfalls bei beiden, ist aber wohl traditionell, da Lukas dies selten verwendet30. Dass die lukanische Anwendung redaktionell ist, heisst nicht zwingend, dass die matthäische Anwendung Matthäus 18,14 traditionell ist. Im Gegenteil, der wesentliche Zug, die Freude über das Wiederfinden des Verlorenen, ist hier nämlich verloren gegangen31 und in den Rahmen der Kirchenregeln eingeordnet worden32. Somit versuche ich die Logienquelle Q, auf die Matthäus und Lukas zurückgegriffen hatten, wie folgt zu rekonstruieren: Τι võ α[νθρωποõ ε jξ υ Jµω 'ν ε[χων ε {κατον προvβατα και; αjπο vλεσαõ ε jξ αυ jτω 'ν ε }}ν ου jχι ; αjφη vσει τα ; ε jνενη vκοντα ε jννε vα εjν τη /'' ε jρη vµω / και; πορευ vθειõ ζητει' το ; αjπο vλωλοõ ε {ωõ ευ{{ρη / αυ jτο v; και; ευJρω ;ν λεvγω υJµι'ν ο{τι χαιvρει ε jπ! αυ jτω /'' η ]] ε jπι ; τοι'õ ε jνενη vκοντα ε jννε vα µη ; αjπολωλοι 'õ.

V. Redaktionsgeschichte

1. Lukas 15,1-7 Komposition33 Lukas hat im Aufbau seines Evangeliums im Wesentlichen den markinischen Erzählfaden übernommen, Material aus seinem Sondergut und der Logienquelle Q wurde vorwiegend in Blöcken eingeschoben. Ab 4,14 ist eine Dreiteilung bemerkbar: l. erleben wir Jesus in Galiläa, ll. folgt der Reisebericht, die „grosse Einschaltung“ mit nur wenig Material aus Markus, und lll. schliesslich erfahren wir Jesu Leiden, Passion, Ostern und Himmelfahrt. Das Lukasevangelium ist in einem literarisch anspruchsvollen Stil geschrieben, der den Vergleich mit anderen Schriften seiner Zeit nicht zu scheuen braucht. Man bemerkt zahlreiche stilistische Verbesserungen gegenüber der markinischen Vorlage sowie eine starke Anlehnung an das alttestamentliche Vokabular aus der Septuaginta. Der Abschnitt über das Verlorene steht mit dem Kapitel 15 zentral im Reisebericht und wird durch drei ähnliche Gleichnisse dokumentiert, was seine Wichtigkeit unterstreicht.

27 Bovon, Evangelium nach Lukas, S. 28. 28 Arai, Gleichnis, S. 112. 29 Jeremias, Tradition, S. 184. Er hält aber allein den Versteil 7b für lukanisch-redaktionell. 30 Schweizer, Neues Testament, S. 73. 31 Bultmann, Geschichte, S.185. 32 Arai, Gleichnis, S. 119. 33 Die Darstellung folgt den Grundzügen von Conzelmann/Lindemann, Arbeitsbuch, S. 336-342.

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Theologische Konzeption34 Das zentrale Thema des Lukasevangeliums ist die Darlegung seiner Auffassung des göttlichen Heilsplans. Es soll nicht „nur“ ein eujaggevlion, eine frohe, erbauende Botschaft sein, sondern das Konzept der gesamten Heilsgeschichte, den Ablauf der Weltgeschichte unter Gottes Regie aufzeigen. Diese ist in drei Teile gegliedert: l. Die Zeit Israels ll. Die Zeit Jesu als Mitte der Zeit lll. Die nachfolgende Zeit der Kirche Käsemann trifft dies mit den Worten „Wird diese Entwicklung [der Heilsgeschichte] in dem vom AT festgehaltenen Handeln Gottes angebahnt und erreicht sie in der Jesusgeschichte ihren Höhepunkt, so ist die Geschichte der Kirche ihre Entfaltung und der jüngste Tag ihr Abschluss“35. Die Zeit Israels wird symbolisiert durch den genannten ersten Teil und mit Johannes dem Täufer klar abgeschlossen. Jesus und Johannes begegnen sich nie, es herrscht eine klare Trennung zwischen der Zeit Israels und der Zeit Jesu, die heilsgeschichtliche Zäsur36. Sämtliche Prophezeiungen des A lten Testaments haben sich zu erfüllen (Wichtigkeit des Wortes πληρο vvω bei Lukas), das bezeugt auch der häufige Rückgriff auf alttestamentliche Schriften. Mit der Zeit Jesu ist die Heilszeit angebrochen. Der Reisebericht, der diesen Abschnitt bezeichnet, beschreibt den zielgerichteten Gang Jesu nach Jerusalem, wo er hingerichtet und erhöht werden wird, seinen Leidensweg ans Kreuz. Das Leiden, die Kreuzigung sowie die Erhöhung sind nur noch einzelne Punkte (freilich Höhepunkte) im notwendigen Geschichtsablauf. Mit den Worten Käsemanns: „ Sein [Lukas’] Jesus ist der Stifter der christlichen Religion, das Kreuz ein Missverständnis der Juden, welche die alttestamentliche Weissagung nicht begriffen haben, die Auferstehung die dadurch notwendige Korrektur des menschlichen Versagens durch den Weltenlenker“37. Das alte Israel, die Juden, haben Jesus abgelehnt, ja sogar gekreuzigt. Deshalb geht nun die Heilsbotschaft als Weltmission zu den Heiden. Nach Jesu Kreuzigung und Erhöhung bricht also die dritte Zeit, die Zeit der Kirche, an. Bei der Abfassung des Lukasevangeliums liegt der Tod Jesu schon einige zehn Jahre zurück, der Evangelist erwartet nun nicht mehr eine bald bevorstehende Wiederkunft Christi, vielmehr glaubt er an eine individuelle Eschatologie. Wieder mit den Worten Käsemanns: „Man schreibt nicht die Geschichte der Kirche, wenn man täglich das Weltende erwartet.“38 µετανοι vα - Die Bekehrung bei Lukas In unserer Perikope scheint es nicht ganz klar zu sein, wie der Vorgang der Bekehrung abläuft. In der Einleitung Verse 1-2 sowie der Anwendung Vers 7 spricht Lukas von aktiven Sünderrollen. Die Sünder kommen zu Jesus, hören ihn und sie sind daran umzukehren (das Partizip Präsens µετανοου 'ντι zeigt einen aktuellen, andauernden Vorgang). Hingegen im Gleichnis Verse 4-6 ist das die Sünder symbolisierende Schaf ganz passiv. Der Hirt sucht es und trägt es sogar noch auf seinen Schultern nach Hause.

34 Entnommen aus: Conzelmann, Mitte der Zeit, sowie Lohse, Lukas. 35 Käsemann, Problem, S. 198. 36 Lohse, Lukas, S. 266. 37 Problem, S. 199. 38 Problem, S. 198.

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Müssen die Sünder39 nun einen eigenen Anteil leisten oder wird ihnen die Umkehr „geschenkt“? Selbst Exegetinnen und Exegeten sind sich darin gar nicht einig40. In der Tat finden wir bei Lukas im Evangelium sowie in der Apostelgeschichte ambivalente Aussagen: Lukas 5,32 („oujk ejlhvluqa kalevsai dikaivouõ ajlla; ajmartwlou;õ eijõ metavnoian“) sowie Apostelgeschichte 20,21 („diamarturovmenoõ !Ioudaivoiõ te kai; $Ellhsin th;n eijõ qeo;n metavnoian kai; pivstin eijõ to;n kuvrion hJmw'n !Ihsou'n“) fordern Taten, anders aber Apostelgeschichte 5,31 („... dou'nai metavnoian tw'// jIsrah;l kai; a]fesin aJmartiw'n“) und Apostelgeschichte 11,18 („a]ra kai; toi'õ e]qnesin oJ qeo;õ th;n metavnoian eijõ zwh;n e[dwken“). Des öftern findet sich auch die Taufe des Johannes wie in Lukas 3,3 („… khruvsswn bavptisma metanoivaõ eijõ a]fesin aJmartiw'n“) in diesem Zusammenhang. Folgendes ist nun festzustellen: Die Umkehr steht ständig in Verbindung mit der Vergebung der Sünden. Der Aufruf an die Sünder, ein Aufruf zur Aktivität ist nicht überhörbar. Daraus ergibt sich, dass der erste Schritt hin zu Gott immer beim Sünder selbst liegt. Er muss schliesslich zur Taufe gehen, er muss wollen. Dann aber schenkt ihm Gott – bei Johannes mit der Taufe - seine Gnade, die Vergebung der Sünden und die ζωηv, das ewige Leben41. Mit diesem Abschnitt zeigt Lukas, dass Jesu Heilswille universal ist. Niemandem ist der Zutritt zum Heil, zum Reich Gottes verwehrt, auch den Sündern nicht. Obwohl es verboten ist, sich den Sündern auch nur zu nähern42, gibt Jesus auch diese nicht auf. Damit kommt er wieder in den Konflikt mit den Pharisäern, was ihn notwendigerweise ans Kreuz führen wird. Lukas demonstriert, dass mit dem Heilskonzept Gottes die Abgrenzung gegenüber den Sündern nicht mehr gilt und Jesus nun diese alten Schranken durchbricht. Um die Wichtigkeit zu belegen, wird derselbe Sachverhalt gleich dreimal erwähnt. Lukas interpretiert das Schaf als einen Sünder, den der Hirt Jesus sucht. 2. Matthäus 18,10-1443 Ebenfalls für das Matthäusevangelium bildet der Erzählfaden des Markus die Grundlage. Redestoff ist vorwiegend in den fünf grossen Reden zusammengefasst. Das Verständnis der Heilsgeschichte lautet bei Matthäus so, dass die Sendung Jesu auf Israel bezogen war, deshalb hat er sich in seinem Wirken ganz an die Juden gewandt. Da sie ihn aber ablehnten, wandte er sich den Heiden zu und schenkte ihnen das Heil. Wie bei Lukas ist die Erwartung der baldigen Wiederkunft Jesu zurückgetreten, die Gemeinden erhalten als Kirchen dauerhaften Charakter. Die Forderungen der Bergpredigt gelten nun als dauernde ethische Weisungen für die Christen, denn bei seiner Wiederkunft wird Jesus über jeden einzelnen richten gemäss seinem Verhalten gegenüber dem „geringsten Bruder“.

39 Zu ihrer Beschreibung siehe unter lll. Semantische Analyse α jµαρτωλοvõ. 40 Als Gegensatz vgl. Art. Behm, in: ThWNT, lV, S. 994: „µετανοια ist Gottes Geschenk“; dagegen: Art. Merklein, in: EWNT, ll, S. 1028: „Die Umkehr ist Bedingung für die Vergebung.“ Notwendig ist „der die Bekehrung einleitende Gesinnungswandel, dem allerdings entsprechende Taten folgen müssen“. 41 Conzelmann, Mitte der Zeit, S. 214. 42 Siehe Xl. Sozialgeschichte. 43 Die Darstellung folgt den Grundzügen von Conzelmann/Lindemann, Arbeitsbuch, S. 324-335.

Das Gleichnis v om Verlorenen Schaf – Lukas 15,1-7 Proseminararbeit WS 2001/2002

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Das Kapitel 18 gibt Anweisungen zu diesem geforderten Verhalten. Es erhält also den Charakter einer gemeindeinternen Mahnung. Mit den Worten Schneiders44 ist es „die Aufforderung an die Jünger Jesu, als Hirten Sorge zu tragen, dass kein Gemeindeglied (…) verloren bleibt.“ Matthäus interpretiert das Schaf als eines der schwachen Gemeindeglieder. 3. Thomasevangelium, Logion 10745 Textfassung Das Reich gleicht einem Hirten, der hundert Schafe hat. Eines von ihnen, das das grösste war, verirrte sich. Er verliess (die) neunundneunzig (und) suchte nach dem einen, bis er es fand. Nachdem er sich abgemüht hatte, sagte er zu dem Schaf: Ich liebe dich mehr als (die) neunundneunzig.“ 46 Schon in der Einleitung wird das Gleichnis als ein Gleichnis von der basileiva, als ein Reichsgleichnis dargestellt. Der Hirt wird nun explizit erwähnt, er sucht sein wertvollstes Schaf, das er am Schluss direkt anspricht. Eine Anwendung fehlt. Akzent der Aussage Die Aussage ist gegenüber den synoptischen Evangelien völlig verändert, da sie das Schwergewicht auf den wertenden Vergleich zwischen dem einen Schaf und den übrigen neunundneunzig legt. Das Thomasevangelium ist aus der Gnosis zu deuten47. Hier bedeutet dies, dass der Erlöser (Hirt) den verlorenen Besitz Gottes, den verirrten Gnostiker (grösstes Schaf) sucht und wieder in das Reich zurückführt. 4. Evangelium veritatis48 32,1-33 Textfassung Er ist der Hirt, der die neunundneunzig Schafe, die sich nicht verirrt haben, verliess, kam, (und) das, das sich verirrt hatte, suchte. Er freute sich, als er es gefunden hatte. Denn das Neunundneunzig ist eine Zahl, die in der linken Hand ist, die sie (= die Zahl) umfasst. In dem Augenblick aber, da das Eins gefunden wird, geht die Zahl auf die Rechte über. So (ist es auch mit) dem, dem das Eine fehlt, das ist die ganze Rechte, die das, was mangelhaft (=99) war, (wenn eines davon kommt und es daher 100, also nicht mehr mangelhaft ist, an sich) zieht, es von der linken Seite nimmt (und) auf die rechte überträgt. Und so wird die Zahl Hundert. Das Zeichen dessen, was in ihrer Stimme ist (d.h. die Bedeutung dieser Worte), ist der Vater. Dieser arbeitet selbst am Sabbat für das Schaf, das er gefunden hatte, dass es in die Grube gefallen war. Er rettete diesem Schaf das Leben (wörtlich: er belebte das Schaf) dadurch, dass er es aus der Grube heraufbrachte, damit ihr, die Kinder des Verstehens versteht, was der Sabbat ist, an dem das Erlösungswerk nicht ruhen soll; damit ihr sagt von dem Tag oben, der keine Nacht ist, und von dem Licht, das nicht untergeht, weil es vollkommen ist, sagt also dem Herzen (d.h. in voller Überzeugung), dass ihr dieser vollkommene Tag seid, und dass in euch das Licht wohnt, das nicht erlischt.“49 Die beiden ersten Sätze entsprechen noch den synoptischen Evangelien, danach folgt aber eine sehr lange und ausführliche redaktionelle Anwendung, welche die

44 Schneider, Evangelium nach Lukas, S. 150. 45 Die Darstellung folgt in den Grundzügen den Darstellungen von Schnider, Gleichnis, S. 150f sowie Schrage, Verhältnis, S. 193-196. 46 Übersetzung nach A. Guillaumont u.a., Evangelium nach Thomas. 47 Schnider, Gleichnis, S. 151. 48 Die Aussage folgt in Grundzügen der Darstellung von Schnider, Gleichnis, S. 152f. 49 Übersetzung nach W. C. Till, Evangelium der Wahrheit, S. 178.

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Zahlensymbolik 1-99-100 behandelt50. Jesus wird in der Einleitung direkt mit dem Hirten identifiziert. Akzent der Aussage Die Hauptaussage liegt in der heute kaum mehr verständlichen Zahlensymbolik: Es ist eine Aussage über den verirrten Menschen selbst, der das entscheidende Eins, nämlich Gott selbst, noch nicht gefunden hat und somit noch gänzlich unvollkommen ist. Erst wenn dies gefunden wird und von der linken in die rechte Hand51 hinübergeht, wird der Mensch aus der Grube gerettet und ans Licht geführt. VI. Formgeschichte52 1. Logienquelle Q Das gemäss lV. Literarkritik erarbeitete Traditionsstück ist als ausgeführtes Gleichnis einzuordnen. Dafür sprechen folgende Indizien: Das Gleichnis beginnt wie üblich mit einer rhetorischen Frage. Diese suggeriert den Zuhörenden eine Antwort und sie werden zu einem Urteil herausgefordert. Die Frage geht bald in eine Erzählung über. Ohne Umschweife zielt die Erzählung auf die Pointe zu. Das tertium comparationis ist oft mit levgw uJmi'n hervorgehoben. Anwendungen am Schluss (oft eingeleitet durch ou{twõ) sind nicht selten sekundär. Das Präsens als verwendetes Tempus entspricht ebenfalls dem typischen Muster. Die Technik dieser Gleichniserzählung folgt dem klassischen Gesetz der Knappheit: Personencharaktere finden sich keine, es enthält keine Affekte und Motivierungen, nur Wesentliches wird beschrieben, auf das Unnötige wird verzichtet. Die direkte Rede ist wieder üblich. Der Stoff des Gleichnisses ist ebenfalls traditionell „bodenständig“53, die Erzählung um einen Hirten und sein Schaf im ländlichen Gebiet beschreibt ein alltägliches Vorkommnis. 2. Vergleich mit den anderen Stellen Matthäus hat sein Gleichnis noch recht knapp gehalten, jedoch mit einer Einleitung sowie einer Anwendung am Schluss erweitert. Lukas hat es mit den Versen 5 und 6 ausgeschmückt, die Typik des Gleichnisses ist nicht mehr vollständig erhalten54. Die Einleitung sowie der Schluss ist analog zu Matthäus lukanische Erweiterung55. Das Logion 107 des Thomasevangeliums weist einige stilistische Merkmale auf, die nicht mehr zum traditionellen Gleichnis passen: Es ist zwar noch kurz gehalten, doch die einleitende Frage ist einer Aussage gewichen, Erzähltempus ist neu das Imperfekt und die Pointe ist nicht mehr klar. Die wichtigste Motivänderung betrifft das Schaf: es

50 Siehe Vlll. Religionsgeschichte. 51 Die rechte Hand galt – übrigens noch bis vor kurzem – als die vollkommene, im Gegensatz zur linken. 52 Die Klassifizierung folgt dem Muster von R. Bultmann. 53 Bultmann, Geschichte, S. 218. 54 Vergleiche das beschriebene Gesetz der Knappheit. 55 Zu Matthäus und Lukas siehe V. Redaktionsgeschichte.

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ist nun nicht mehr das schwache Schaf, sondern das grösste, welches am meisten geliebt wird. Durch diesen wertenden Vergleich wird die Aussage freilich vollständig verändert. Die Parallelstelle im Evangelium veritatis wird ebenfalls durch eine Aussage eingeleitet, der folgende Satz bewahrt im Wesentlichen die traditionelle Form und Aussage. Doch es folgt eine sehr lange Anwendung als Meinung des Autors über die Zahlensymbolik 1-99-100. Durch diese Erweiterung kann der Abschnitt nicht mehr als Gleichnis angesehen werden.

VII. Überlieferungsgeschichte Wie wir im vorherigen Abschnitt gesehen haben, folgt das Traditionsstück dem herkömmlichen Gleichnisaufbau. Die einleitende Frage ist verbunden mit der Exposition des Sachverhalts, anschliessend folgt die Pointe. Der zu untersuchende Text ist also schon sehr knapp, es ist unwahrscheinlich, dass er viele Entwicklungsstufen durchlaufen hat. Wie Arai56 kann man die Frage stellen, ob nicht der Fragesatz für sich allein tradiert worden sei. Die intendierte Aussage würde dann noch stärker im inständigen Suchen des Hirten liegen und somit als heftige Kritik gegenüber all denjenigen gelten, die das Verhalten Jesu, der auf die „verlorenen Sünder“ zugegangen ist, tadeln. Ein solches Logion wäre dann allerdings nicht mehr als Gleichnis, sondern ganz einfach als rhetorische Frage anzusehen. Allerdings ist es auch gut vorstellbar, dass das Logion mit der Pointe überliefert wurde. Das Motiv, dass umkehrende Sünder aufgrund ihrer Bussfertigkeit höher eingestuft werden als Gerechte, dass also über erstere mehr Freude herrscht, findet sich schon in jüdischen Parallelen57.

VIII. Religionsgeschichte Die Motive von Lukas 15,1-7 finden wir in ähnlicher Art in jüdisch-alttestamentlichen Texten wieder: 1. Das Schaf Als Beispiele der vielen Stellen im Alten Testament dienen Jesaja 40,11 („Wie ein Hirt führt er seine Herde zur Weide, er sammelt sie mit starker Hand“), Jeremia 31,10 („Der Herr hat Israel zerstört – er wird es auch sammeln wie ein Hirt seine Herde“) und Psalm 2358 („Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts fehlen“). Die beiden erstgenannten Stellen sprechen als prophetische Verheissungen von Gott als dem Hirten seiner Herde, des Volkes Israel. Er wird sein Volk in Zukunft an einem Ort wieder zusammenführen. Hierin erklingt die Hoffnung der Juden an, wieder in ihr Land zurückkehren zu können. 56 Arai, Gleichnis, S. 131. 57 Siehe Strack-Billerbeck l, S. 785. Siehe auch lX. Sozialgeschichte. Weder, Gleichnisse, S. 173 hält das so vorhandene Logion für ursprünglich. 58 In Psalm 23 wird seltenerweise und im Gegensatz zu den beiden anderen angegebenen Stellen aus der Perspektive des Schafes gesprochen.

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2. Die Suche nach dem Verlorenen Dazu existiert eine jüdische Parallele von Rabbi Judan59, die von einem Viehhändler spricht, dem eines seiner zwölf Tiere in ein nichtjüdisches Gebiet entläuft. Aus Angst davor, dass der vom Tier transportierte Wein im fremden Gebiet zu heidnischem Libitationswein verarbeitet wird, sucht der Händler sein Tier auf. Die übrigen elf sind explizit nicht in Gefahr, da sie sich in sicherem jüdischem Umfeld befinden. Hier geht also irgendein Tier verloren. Doch geht es eigentlich gar nicht um das verlorene Tier, sondern um die Ladung und das auch nur aus Angst vor einer möglichen Missachtung der Reinheits- und Speisevorschriften60. Bei Jesus nimmt das Tier eine zentrale Rolle ein, und zwar ist es beispielhaft ein schwaches Schaf, das eines Hirten bedarf. Die Gefahr, die für das Tier besteht, wird gar nicht genannt. Das Gewicht liegt hier auf dem Suchen und dem freudigen Ereignis des Wiederfindens. 3. Die Zahlensymbolik 1-99-100 Dieses Zahlenverhältnis finden wir ebenfalls in jüdischen Texten, jedoch in völlig anderen Zusammenhängen61. Die Aussagen sind jeweils hyperbolisch zu verstehen. Für unsere Stelle wurden also die drei erwähnten Motive vom Schaf, dem Verlorenen und dem Zahlenverhältnis völlig neu kombiniert und in ein einziges Gleichnis verpackt. Die Grundzüge des Gleichnisses stammen folglich sicher nicht von Jesus, wohl aber die Neukombination. Die Kapitel lX. und X. sollen zeigen, aus welchem Anlass Jesus dieses Gleichnis erzählt hat.

IX. Sozialgeschichte

1. Gesetzliches Unter den Juden galt ein aJmartwlovõ, ein Sünder, als einer, der kein korrektes Verhältnis zur Tora und somit zu Gott hat62. Keinesfalls durfte man mit einem solchen Kontakt pflegen, wie das folgende Beispiel zeigt: „Der Mensch geselle sich nicht zu einem Gottlosen, selbst nicht, um ihn der Tora zu nähern“63. Ihm wurde die Gemeinschaft versagt. Ein viel besseres Ansehen genossen die Bussfertigen gemäss Rabbi Abbahu64: „An dem Platze, an dem die Bussfertigen einst stehen werden, werden selbst die vollkommenen Sünder nicht stehen können“.

59 Um 350 v. Chr, in: Strack-Billerbeck l, S. 785. 60 Nämlich wenn der Wein zu heidnischem Libitationswein verarbeitet werden sollte. 61 Strack-Billerbeck l, S. 785 nennt Beispiele wie „Auf einen Gesetzeskundigen hören ist besser als auf 99 Unkundige“ oder „99 sterben infolge von Erkältung, einer stirbt durch Gottes Hand“. 62 Art. Rengstorf, in: ThWNT l, S. 324f. Siehe auch lll. Textanalyse. 63 Strack-Billerbeck ll, S. 208. 64 Um 300 v. Chr, in: Strack-Billerbeck l, S. 785.

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2. Jesus und die Pharisäer65 Die Pharisäer galten als die einflussreichste jüdische Interessengruppe unter der römischen Besatzung. Wahrscheinlich gehörten sie vorwiegend der Oberschicht an. Die Pharisäer glaubten, im Gegensatz zu den Sadduzäern, an die Auferstehung. Sie forderten die strikte Einhaltung der Reinheits- und Speisegebote66. Bei ihren strengen Gesetzesvorschriften beriefen sie sich auf spezielle, wohl mündliche Überlieferungen. Diese Radikalität mag heute als extrem erscheinen, diente aber wohl zur Wahrung der jüdischen Identität und zur Abgrenzung vor hellenistischen Einflüssen. Jesus stand mit den Pharisäern in einem ambivalenten Verhältnis. Eine Nähe der Überzeugungen stand einem grundsätzlichen Konflikt gegenüber. Einerseits vertrat Jesus dieselben religiösen Grundüberzeugungen - Lukas verstand ja das Christentum als Fortsetzung des pharisäischen Glaubens - , andererseits kollidierte er mit ihnen in der praktischen Ausübung derselben: Jesus verstiess bewusst gegen die Sabbats- und Reinheitsgebote und die „Überlieferung der Alten“ erkannte Jesus nicht als Richtschnur an. Ambivalent war ebenfalls das persönliche Verhältnis Jesu zu den Pharisäern. Es schwankte zwischen einem freundschaftlichen Umgang mit ihnen und einer Polemik gegen sie67. 3. Die Apologie Jesu – der „Sitz im Leben“ Jesus zeigt ganz klar, dass er einen neuen Massstab setzt und sich nicht mehr nur den Bussfertigen zuwendet, sondern den „Bannkreis der Ächtung“68 durchbricht und auch die Sünder, die von den Juden aus der Gemeinschaft Ausgeschlossenen, annimmt. Jesus überschritt aber damit die Schwelle des Erlaubten: er geht nicht nur zu den Sündern, sondern nimmt sie sogar zu sich69. Während die Pharisäer das Kommen der Sünder zu Jesus absolut nicht als Busse verstehen können, anerkennt Jesus dies als notwendigen ersten Schritt, sie wollen zu ihm kommen, sie hören ihm zu und sie glauben. Jesus verteidigt sich also gegen die Angriffe der Pharisäer mit dem Gleichnis vom verlorenen Schaf. Die Sünder gelten als die verlorenen Schafe, die der Hirt Jesus in die Herde Gottes zurückholen will. Bei Lukas finden wir das Gleichnis in einem ähnlichen Kontext. Er hat mit den Versen 1 und 2 also wohl die ursprüngliche Rahmensituation richtig getroffen70. 4. Funktionen Das Wandercharismatikertum war ein weit verbreitetes Phänomen im Urchristentum71. Bei der Bearbeitung des Feindesliebegebots (Matthäus 5,43-38/Lukas 65 Nach Merklein, Botschaft, S. 93-95 und Roloff, Jesus, S. 41-43. 66 Siehe die Erzählung von Rabbi Judan vom verlorenen Tier unter Vlll. Religionsgeschichte. 67 Der freundschaftliche Umgang ist etwa im gemeinsamen Mahl Jesu mit den Pharisäern bemerkbar, die Polemik beispielsweise im Aufruf „Hütet euch vor dem Sauerteig der Pharisäer!“ (Lk 12,1). 68 Linnemann, Gleichnisse, S. 76. 69 προσδεvχεται, Arai, Gleichnis, S. 135. 70 übereinstimmend mit Linnemann, Gleichnisse, S. 76; Jülicher, Gleichnisse, S. 332; Merklein, Gottesherrschaft, S. 190; Jeremias, Gleichnisse, S. 37. 71 Theissen, Studien, S. 188.

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6,27-36) im Proseminar WS 2001/2002 haben wir gesehen, dass im Urchristentum der „Sitz im Leben“ bei diesen Wanderpredigern lag, die – möglicherweise auch von Pharisäern – verfolgt wurden und von Ort zu Ort ziehen mussten. Trotz allem sprachen sie aber von Feindesliebe. In den gleichen Kontext passt auch das Gleichnis vom verlorenen Schaf. Lukas 15,4 konnte von den Wandercharismatikern verwendet werden, um sich mit dem wandernden Hirten, der die verlorenen Schafe sucht, zu identifizieren und somit das Verhalten der Gegner, möglicherweise auch Pharisäer, die sie daran hindern wollten, zu tadeln72. In den 60er Jahren begannen die ersten Christenverfolgungen73. Lukas erlebte diese zweifellos mit. Wegen der Verfolgung verliessen viele die christlichen Gemeinden. In und nach der Verfolgungszeit stellte sich die Frage, ob abgefallene, aber reumütige Gemeindemitglieder wieder aufgenommen werden sollten, das Problem der „Zweiten Busse“74. Lukas gibt mit diesem Gleichnis und mit dem ganzen Kapitel 15, die klare Antwort „Ja“. Die Alte Kirche berief sich bei der Beantwortung dieser Frage auf diese Stelle im Lukasevangelium.

X. Historischer Jesus

1. Der Rahmen der Verkündigung Jesu Jesus kann zweifellos als der Verkünder des Gottesreiches angesehen werden, der die Umkehr predigte und vom angebrochenen Reich sprach. Zur Umkehr rief er alle auf, er verwehrte niemandem den Zugang zum Reich Gottes, auch Israel nicht! Um diese Botschaft zu verdeutlichen, nahm sich Jesus beispielhaft der Geringsten der Gesellschaft, der Sünder, an. Sogar diese konnten ins Reich Gottes gelangen, wie viel mehr dann alle anderen75. Mit dem Gleichnis vom Verlorenen Schaf wird dies eindrücklich dargestellt: Niemand soll verloren gehen, auch der Verachtenswerteste nicht. Diese Haltung Jesu ist mit grosser Wahrscheinlichkeit historisch: Arai findet im Verb prosdevvcetai (Lukas 15,2), obwohl es im redaktionellen Rahmen steht, traditionelle Spuren76. Dass Jesus sogar zu den Sündern ging und nicht umgekehrt, ist unlukanisch und passt auch nicht zur Bezugsstelle Lukas 5,29. Ebenso zeigt Merklein 77 Beispiele, die dieselbe Praxis Jesu bezeugen. Es seien genannt: Lukas 19,1-10 die Geschichte vom Oberzöllner Zachäus, wo Jesu bedingungslose Zuwendung zu Sündern zum Ausdruck kommt, Lukas 7,33/Matthäus 11,18f, wo Jesus als Freund der Zöllner und Sünder genannt wird, sowie die schon erwähnte Bezugsstelle Markus 2,1678. Von Jesus erhalten wir diesbezüglich ein klares Bild, das Kriterium der Konsistenz ist erfüllt.

72 Siehe Arai, Gleichnis, S. 131. 73 Möller, Geschichte, S. 38. 74 Schmithals, Evangelium nach Lukas, S. 165. 75 Es ging also nicht primär nur darum, dass Jesus als Sozialarbeiter einer benachteiligten Randgruppe beistand. Siehe Merklein, Botschaft, S. 92. 76 Arai, Gleichnis, S. 135. 77 Merklein, Gottesherrschaft, S. 197ff. 78 Siehe lV. Literarkritik.

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2. Die Sichtweise der Pharisäer Die Pharisäer erwarteten ebenfalls die baldige Heilsverwirklichung, auch waren sie sich der Notwendigkeit der ernsthaften Umkehr bewusst79. Jedoch bauten sie immer noch darauf, dass sich Israel auf die alttestamentliche Erwählung berufen kann. Keineswegs können und wollen sie die Botschaft Jesu akzeptieren, der den Anspruch erhebt, die Gottesherrschaft in seiner Person zu verantworten80. Für die Pharisäer ist Jesus nicht der verheissene Messias, sondern immer noch der Zimmermann aus Nazareth81. So stossen sich die Pharisäer bei ihm im Allgemeinen an seinem aus ihrer Sicht völlig übertriebenen und falschen Anspruch und im vorliegenden speziellen Fall daran, dass er - freilich nicht als Messias, sondern als normaler Jude - die Schwelle des Erlaubten überschreitet und sich zu den Sündern gesellt. Jesu Botschaft wie auch sein Verhalten waren geradezu unerhört, noch nie tat jemand Ähnliches, das Kriterium der Diskontinuität ist gegeben.

XI. Interpretation 1. Der Skopus In der Überschrift ist bekanntlich jeweils der vom Herausgeber suggerierte Skopus enthalten. In den verschiedenen Bibelausgaben und Kommentaren finden sich zahlreiche differierende Perikopenüberschriften zu Lukas 15,1-7. Diese können neutral „Das Gleichnis vom verlorenen Schaf“82 lauten, oder aber reichen (mit den beiden Parallelgleichnissen in Kapitel 15) von „Drei Gleichnisse über das Erbarmen“83 bis „Drei Gleichnisse von der Rückkehr“84. Im folgenden Abschnitt versuche ich, die von mir für richtig gehaltene „Überschrift“, den Skopus darzustellen. Zuerst noch einmal eine kurze Rekapitulation tragender Begriffe: ajpovllumi-poreuvetai-euJrivskw Das Grundthema der Perikope ist das Motiv Verlorengehen-Suchen-Finden. Es fällt auf, dass der Teil des Findens und der Freude des Findens in den Versen 5-7 besonders ausführlich beschrieben wird. provbaton Das Objekt dieses Vorgangs ist ein einzelnes, schwaches Schaf. Das Subjekt, der Hirt, wird gar nicht erwähnt. In der jüdischen Tradition war dieses Schaf-Hirten-Motiv jedoch gut bekannt; es ist klar, dass man sich als den Suchenden und Findenden Jesus vorzustellen hat. Lukas lässt den Hirten Jesus in der Anwendung sein Verhalten gegenüber den Sündern damit legitimieren, dass Gott ebenso handeln würde, er übernimmt somit eine Funktion, die Gott zusteht (Christologische Deutung). Gott selbst wird nicht direkt genannt, sondern nur umschrieben mit ejn oujranw/''; dies wohl, um von Gott Affekte fernzuhalten85.

79 “Wer spricht: ‘ich will immer weiter sündigen und immer wieder Busse tun’, dem gibt man (Gott) keine Gelegenheit, Busse zu tun!”, in: Strack-Billerbeck l, S. 636 (Joma 8,8f). 80 Roloff, Jesus, S. 75. 81 Linnemann, Gleichnisse, S. 76. 82 z.B. Nestle/Aland, S. 210. 83 Bovon, Evangelium nach Lukas, S. 13. 84 Schmithals, Evangelium nach Lukas, S. 162. 85 Wiefel, Evangelium nach Lukas, S. 283.

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e{n - ejnenhvkonta ejnneva Im Gegensatz zum Thomasevangelium, wo das verirrte Schaf als das grösste bezeichnet wird, geht es Lukas gewiss nicht um einen wertenden, qualitativen Vergleich, sondern um die Darstellung der vollkommenen Unwichtigkeit des einzelnen Schafes86. Für Lukas sind die übrigen neunundneunzig Schafe nebensächlich, es interessiert überhaupt nicht, ob die Schafe an einem geschützten Ort weiden oder ob sie einem Hirtenknechten übergeben wurden. Die grössere Freude (carav) über das Verlorene bzw. Wiedergefundene besteht natürlich nur im Moment des Wiederfindens und nicht dauernd87. Metanoiva (wurde bereits im Teil V. Redaktionsgeschichte ausführlich behandelt.) divkaioi - ajmartwloiv Wer die in der Anwendung genannten Gerechten sind, wird nicht weiter erwähnt. Es ist aber davon auszugehen, dass damit als Gegensatz zu den von Jesus besuchten Sündern die Pharisäer, die Gesetzestreuen, gemeint sind. Mit Wiefel88 bin ich der Meinung, dass dies keineswegs eine ironische Bezeichnung ist. Jesus kannte Gerechte und bestritt ihre Gerechtigkeit nicht. Wir haben gesehen, dass die neunundneunzig übrigen Schafe, die Gerechten und die Frage, was passiert wäre, wenn der Hirt das Schaf nicht gefunden hätte sowie auch die Frage, ob der Hirt noch zu den Schafen zurückkehrt oder direkt nach Hause geht und zu feiern beginnt, nicht interessieren. Was für Lukas wahrscheinlich das einzig wichtige ist – damit komme ich zu meiner Hauptaussage -, ist die Freude über das Wiederfinden, mit den Worten Schneiders: „Die Freude im Himmel über jeden einzelnen, der die Heilsbotschaft annimmt“ 89. Als Skopus würde ich also schreiben: Das Gleichnis vom verlorenen Schaf – Gottes Freude über das Wiederfinden eines Verlorenen. 2. Kommunikation zwischen Autor und Rezipienten Matthäus spricht unverkennbar mit einer Paränese zu den Gemeindeleitern. Sie sollen dem Hirten im Gleichnis gleichtun und zu den schwächeren Gemeindegliedern Sorge tragen. Die Rede Jesu in Lukas 15, 1-7 ist hingegen an die Pharisäer gerichtet. Dass es aber zugleich die Absicht des Lukas war, die Leserschaft als verlorene Schafe zu bezeichnen und sie zur Umkehr aufzufordern, wie Bovon meint90, scheint mir fragwürdig. Vielmehr ist diese Perikope schlicht ein Teil der Darstellung seines Heilskonzeptes. 3. Interpretation des Logions im Laufe der Zeit Wie im Abschnitt der Überlieferungsgeschichte gezeigt, hat unser Logion bis zu Lukas kaum manche Traditionsstufe durchlebt. In der Folge sollen nochmals die (teilweise hypothetisch rekonstruierten) Stufen aufgelistet werden: 86 Weder, Gleichnisse, S. 174. 87 Linnemann, Gleichnisse, S. 71. 88 Evangelium nach Lukas, S. 283. 89 Schneider, Evangelium nach Lukas, S. 324. 90 Evangelium nach Lukas, S. 30.

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Hypothetische Rekonstruktionen Urchristliche Wanderprediger Möglicherweise tradierten auch die Wandercharismatiker dieses Logion. Das Gleichnis vom verlorenen Schaf verwendeten sie ebenfalls zur Apologie gegen ihre Angreifer, die sie an der Mission hindern wollten. Logienquelle Q Da ich davon ausgehe, dass das Logion bis zu der in lV. rekonstruierten Logienquelle kaum Veränderungen erfahren hat, ergibt sich, dass Q den ursprünglichen Skopus recht genau bewahrt hat. Schriften Lukasevangelium Lukas hat den ursprünglichen Skopus wie besprochen von der Verteidigung des Suchens auf die Freude über das Wiederfinden des Verlorenen verlagert. Matthäusevangelium Matthäus hat den Skopus insofern besser bewahrt, als dass bei ihm das Suchen noch im Vordergrund steht. Allerdings steht die Suche in einem ganz anderen Zusammenhang, nämlich im Rahmen der innergemeindlichen Mahnrede. Thomasevangelium Die ursprüngliche Aussage völlig verändert hat das Thomasevangelium. Die ursprüngliche Apologie ist zu einem Reichsgleichnis („Das Reich ist gleich einem…“) geworden. Das verlorene Schaf wird nun qualitativ an den übrigen neunundneunzig gemessen, es ist das Grösste von allen. Evangelium veritatis Das Evangelium veritatis legt mit seiner sehr ausführlichen Anwendung unverkennbar den Hauptakzent auf die Zahlensymbolik 1-99-100. Solange dem Menschen das entscheidende Eins, das Finden Gottes, mangelt, ist er selbst noch völlig unvollkommen. Somit kann das Verhältnis auch als wertend angesehen werden. Wegen der Ausführlichkeit gilt dieses Logion nicht mehr als Gleichnis. Auslegungen Alte Kirche Zum ersten Mal wird zur Zeit der Alten Kirche auf diese Schrift zurückgegriffen. Zur Beantwortung der Frage nach der „Zweiten Busse“, dem damaligen Sitz im Leben, wurde das ganze Kapitel 15 des Lukasevangeliums konsultiert. Diese drei Gleichnisse gaben den Ausschlag zur Wiederaufnahme der abgefallenen Gemeindeglieder. 4. Interpretation im gegenwärtigen Kontext Vorüberlegungen „Der Pfarrer und seine Schäflein“ – dieses idyllische Bild wird heute gelegentlich für einen Pfarrer und seine Gemeinde verwendet, meistens mit einem ironischen Unterton. Interessanterweise trifft dieses Bild die Situation in Matthäus 18,10-14 mit dem Gemeindeleiter und den Gemeindemitgliedern recht genau. Doch die im Gleichnis beschriebene Lebenswelt ist uns heute mehrfach unbekannt: - in unserer westlichen Welt treffen wir kaum mehr auf Hirten und deren Schafherden. - Ebenso kennen wir keine Klassifizierungen wie Pharisäer oder Sünder mehr.

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- Der tiefe Glaube, in dem sowohl die Anhänger Jesu wie auch die Pharisäer stehen, ist vielen fremd. Anwendung heute Entgegen dieser Verweltlichung erhalten wir mit dem Gleichnis vom Verlorenen Schaf Jesu unbedingte Zusicherung unserer Annahme bei Gott. Die Anfechtungen kommen nicht mehr von den Pharisäern, sondern von überall aus der säkularisierten Welt. Das Gleichnis zeigt uns aber auch noch Weiteres: Jesus macht keine Unterschiede zwischen reich und arm, er nimmt alle auf. Gewiss ist es seine Absicht, dass nicht nur in seinem Reich, sondern auch auf der Erde keine sozialen Differenzen herrschen. Die Kirche und ihre Mitglieder erhalten den Auftrag, sich für die sozial Benachteiligten und Ausgegrenzten einzusetzen. Der Hirt im Gleichnis hat die Aufgabe, für hundert Schafe zu sorgen, ihm ist eine grosse Aufgabe übertragen. Er nimmt diese Verantwortung wahr und bemüht sich um jedes einzelne ihm anvertraute Schaf. Wenn es auch heute kaum mehr Hirten gibt, so doch unzählige solche Verantwortungsträger, vor allem in der Wirtschaft und in der Politik. Das Gleichnis ist ein Appell an diese, mit ihrer Verantwortung behutsam umzugehen und ihre Pflichten wahrzunehmen. Ausgrenzung, Vernachlässigung und Mobbying darf es nicht geben. Jesus würde diese Appelle heute wohl nicht mehr in der Form eines Gleichnisses an die Öffentlichkeit richten, sondern sie möglicherweise an einer Demonstration kundtun, auf Wandplakaten proklamieren oder – wer weiss – vielleicht sogar als Massenmail versenden.

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Das Gleichnis v om Verlorenen Schaf – Lukas 15,1-7 Proseminararbeit WS 2001/2002

Simon Hofstetter, Signau Seite 23

Wolfgang Schrage, Das Verhältnis des Thomas-Evangeliums zur synoptischen Tradition und zu den koptischen Evangelienübersetzungen: zugleich ein Beitrag zur gnostischen Synoptikerdeutung, [BZNW 29], Berlin 1964. Eduard Schweizer, Das Evangelium nach Lukas, [NTD 3], Göttingen / Zürich 1986. Eduard Schweizer, Neues Testament und Christologie im Werden, Göttingen 1982. Gerd Theissen, Studien zur Soziologie des Urchristentums (WUNT 19), Tübingen 2 1989. Hans Weder, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern. Traditionsgeschichtliche Analysen und Interpretationen, Göttingen 1978. Wolfgang Wiefel, Das Evangelium nach Lukas, ThHK 3, Berlin 1987. Bildquellen Seite 1: Luigi Marcuzzi, Aquileia, Cortina d’Ampezzo, S. 25. Seite 21: Gianfranco Bustacchini, Ravenna, Emiliana, 1984, S. 17.

Gott, ich liebe Dich!