11
Großstadtwelten als Medien-Räume: Bohémiens und Flaneure, Dandys und Midinetten… (Ergänzendes Kapitel zu: Michael F. Zimmermann, Die Kunst des 19. Jahrhunderts. Naturalismus – Impressionismus – Symbolismus, München – Beck – 2011) Mit dem rapiden Bevölkerungswachstum der europäischen Großstädte im gesamten 19. Jahrhundert ging die Gewerbefreiheit und die Beseitigung jener Beschränkungen einher, die das Zunftwesen der beruflichen und sozialen Laufbahn der Einzelnen gesetzt hatte. Es war eine durchaus neue Erfahrung, dass man nicht mehr an der Kleidung erkennen konnte, welchen Standes ein Mensch war. Die überall fortschreitende Alphabetisierung und der Ausbau des Schulwesens brachte zudem eine wachsende Zahl von Gebildeten in die Zentren. Kunstschulen, selbst Akademien, bildeten weit mehr Künstler aus, als der Markt ernähren konnte. Seit den 1830er Jahren redete man in der französischen Hauptstadt damals von modischen „Physiologien“, mehr oder weniger ironischen Beschreibungen alter und neuer sozialer Typen, von der Bohème. Diese Bezeichnung ging auf die irrtümliche Annahme zurück, dass Sinti und Roma ihre Heimat in Böhmen hätten – ähnlich wie die englische Bezeichnung „gipsy“ nahelegt, sie stammten aus Ägypten. Der Bohème rechnete man sämtliche Randexistenzen des bürgerlichen Lebens zu, die den Zugang zu einem leidlich wohlhabenden, respektablen beruflichen und sozialen Dasein nicht oder noch nicht geschafft hatten. Da mischten sich verkrachte Künstler und Literaten unter Lumpensammler, Lebenskünstler und Kleinkriminelle, umschwärmt von Midinetten (so nannte man die jungen Arbeiterinnen, die zu Mittag, am „Midi“, die mitgebrachte Mahlzeit auf einer öffentlichen Bank verzehrten), Ateliermodellen und emanzipierten Frauen. Das Viertel um den innenstädtisch gelegenen Pariser Großmarkt, die unter Leitung von Victor Baltard von 1852 bis 1870 erbauten zentralen Hallen, die Anfang der 1970er Jahre schändlich abgerissen worden sind, bot besondere Bedingungen für das Aufleben der Bohème. Nachts wurde hier gearbeitet, und in den umliegenden Lokalen mischten sich Arbeiter unter Nachtschwärmer. Generell bot Paris besondere Bedingungen für das Aufleben der Bohème. Das Restaurationsregime, gefolgt von der Julimonarchie, haben

 · Web viewIn diesem Sinne sind wir wie viele Figuren naturalistischer Romane Flaneure, denen alles relativ wird – durch eine „Entzauberung der Welt“ (Karl Marx), die nicht

  • Upload
    others

  • View
    0

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1:  · Web viewIn diesem Sinne sind wir wie viele Figuren naturalistischer Romane Flaneure, denen alles relativ wird – durch eine „Entzauberung der Welt“ (Karl Marx), die nicht

Großstadtwelten als Medien-Räume: Bohémiens und Flaneure, Dandys und Midinetten…

(Ergänzendes Kapitel zu: Michael F. Zimmermann, Die Kunst des 19. Jahrhunderts. Naturalismus – Impressionismus – Symbolismus, München – Beck – 2011)

Mit dem rapiden Bevölkerungswachstum der europäischen Großstädte im gesamten 19. Jahrhundert ging die Gewerbefreiheit und die Beseitigung jener Beschränkungen einher, die das Zunftwesen der beruflichen und sozialen Laufbahn der Einzelnen gesetzt hatte. Es war eine durchaus neue Erfahrung, dass man nicht mehr an der Kleidung erkennen konnte, welchen Standes ein Mensch war. Die überall fortschreitende Alphabetisierung und der Ausbau des Schulwesens brachte zudem eine wachsende Zahl von Gebildeten in die Zentren. Kunstschulen, selbst Akademien, bildeten weit mehr Künstler aus, als der Markt ernähren konnte. Seit den 1830er Jahren redete man in der französischen Hauptstadt damals von modischen „Physiologien“, mehr oder weniger ironischen Beschreibungen alter und neuer sozialer Typen, von der Bohème. Diese Bezeichnung ging auf die irrtümliche Annahme zurück, dass Sinti und Roma ihre Heimat in Böhmen hätten – ähnlich wie die englische Bezeichnung „gipsy“ nahelegt, sie stammten aus Ägypten. Der Bohème rechnete man sämtliche Randexistenzen des bürgerlichen Lebens zu, die den Zugang zu einem leidlich wohlhabenden, respektablen beruflichen und sozialen Dasein nicht oder noch nicht geschafft hatten. Da mischten sich verkrachte Künstler und Literaten unter Lumpensammler, Lebenskünstler und Kleinkriminelle, umschwärmt von Midinetten (so nannte man die jungen Arbeiterinnen, die zu Mittag, am „Midi“, die mitgebrachte Mahlzeit auf einer öffentlichen Bank verzehrten), Ateliermodellen und emanzipierten Frauen. Das Viertel um den innenstädtisch gelegenen Pariser Großmarkt, die unter Leitung von Victor Baltard von 1852 bis 1870 erbauten zentralen Hallen, die Anfang der 1970er Jahre schändlich abgerissen worden sind, bot besondere Bedingungen für das Aufleben der Bohème. Nachts wurde hier gearbeitet, und in den umliegenden Lokalen mischten sich Arbeiter unter Nachtschwärmer. Generell bot Paris besondere Bedingungen für das Aufleben der Bohème. Das Restaurationsregime, gefolgt von der Julimonarchie, haben besonders aktiv auf die Bildung der Bevölkerung der Regionen hingearbeitet, und so migrierten gut ausgebildete Gymnasiasten in die Hauptstadt. Hier konzentrierte sich die Arbeit in den Manufakturen ebenso wie der Industrie; es war zugleich auch Frankreich bedeutendste Universitätsstadt. Diese Mischung kam, zugleich mit dem verglichen mit England weniger krassen Pauperismus, der Entstehung der Bohème entgegen. – Natürlich hat diese keine fest umrissenen Konturen. Für die Einen war es die Region eines ungezwungenen Lebens nach der Freiheit des Herzens, in dem schon das bloße Überleben von Lebenskunst zeugte. Andere spotteten: „Kratze an einem Bohèmien, und ein Bürger kommt zum Vorschein.“ Der Mythos der Bohème durchzog das spätere 19. Jahrhundert. Henri Murgers „kleine Geschichten“ Bohème. Szenen aus dem Pariser Leben, von 1845 bis 1851 veröffentlicht, erzählt das Leben eines Musikers, eines Malers, eines Philosophen und eines Dichters im Quartier Latin mit ebenso viel liebenswürdiger Sentimentalität wie geistvollem Sarkasmus. Noch 1896-7 wurden zwei Opern von Giacomo Puccini und Ruggiero Leoncavallo von Murgers Werk inspiriert.

In die Bohème verirrten sich gelegentlich Dandys und Exzentriker, die nach dem Vorbild George Bryan genannt „Beau“ Brummells Abenteuer-Existenzen durch übertrieben elegante Mode überzeichneten, in der die modischen Standards sozusagen durch Übererfüllung karikiert wurden, aber auch Künstler wie der Dichter Baudelaire, die trotz ihrer allseits bekannten Armut die Aristokratie des Geistes durch eine aus geborgtem Geld bezahlte

Page 2:  · Web viewIn diesem Sinne sind wir wie viele Figuren naturalistischer Romane Flaneure, denen alles relativ wird – durch eine „Entzauberung der Welt“ (Karl Marx), die nicht

Garderobe unterstrichen. Gustave Courbet traf man im Revolutionsjahr 1848 in der Brasserie Andler in der Rue Hautefeuille an, das erste einer Reihe von Lokalen und Cafés der Bohème, die über das ganze 19. Jahrhundert hin eine so bedeutende Rolle für die Entstehung der Avantgarden mit ihren weit seriöseren Zielen spielte (unten Abb. 2). In einer Zeichnung zeigt er sich dort, den Kopf zurückgeneigt – wahlweise als Geste der Erschöpfung oder des Überdrusses und des anmaßenden Herabblickens lesbar – zusammen mit dem Dichter Jean Wallon und dem selbst ernannten Philosophen Marc Trapadoux, der wegen der Farbe seines Wamses, in dessen Taschen er seine Bibliothek Spazieren führte, als „grüner Gigant“ bekannt war. Beide hat auch Murger in verfremdeter Form verewigt. Courbets englische Hosen geben ihn wie der Rest seiner Aufmachung als Dandy zu erkennen – eine Verkleidung, die er nur zeitweise anlegte. Die Bohème breitete sich Ende des 19. Jahrhunderts auf andere Metropolen aus. In den 1890er Jahren wäre Munchs Entwicklung kaum denkbar gewesen ohne das Lokal Zum schwarzen Ferkel Ecke Unter den Linden/Neue Wilhelmstraße in Berlin. Dort kamen neben dem Maler die Schriftsteller August Strindberg und Stanislaw Przybiszewski zusammen. Eifersuchtsszenen um die norwegische Schriftstellerin Dagny Juel, eine berüchtigte femme fatale, die 1893 Przybiszewski, einen brutalen Nietzscheaner, heiratete, fanden bald in Munchs Malerei Eingang.

Courbet übertrug die Stimmung der Bohème in die Welt von Ornans. Dort begann er im Winter 1848-49 ein Gemälde, das er in Paris vollendete. Darin idealisierte er die France profonde, wo das Volk nahe der Wurzeln eines scheinbar ewigen Bauerntums lebte, als Heimat eines naturhaften Kunstgenusses im trauten Freundeskreis (unten Abb. 3). Im Katalog des juryfreien Salons von 1849 notierte er unprätentiös: „Es war im November, wir waren bei unserem Freund Cuénot. Marlet kam von der Jagd nach Hause, und wir hatten Promayet verpflichtet, meinem Vater auf der Violine vorzuspielen.“ Natürlich kannte das Publikum die Freunde Courbets ebenso wenig wie seinen Vater, der links sein leeres Weinglas hält. Seine Entrücktheit verbietet die Frage, ob er konzentriert zuhört oder einnickt. Auch das schläfrige Lauschen Cuénots, der schlummernde Hund unter dem Stuhl des Jägers, der sich sein Pfeifchen anzündet und die stille Konzentration des Musikers tun der Würde der Musik keinen Abbruch. Die Perspektive ist nicht bildparallel, der Raum ausweislich der Fluchtung der Dielen keine „Bühne“. Die vier Männer werden visuell durch einen Lichtstrahl, der auf dem Tischtuch kulminiert, und musikalisch durch das Spiel geeint. Synästhetische Wahrnehmungen drängen sich auf: man meint, das Knistern des Holzscheits ebenso zu hören wie die einfache Melodie. Wie später van Goghs Kartoffelesser übersetzt Courbet heilige Szenen von Gemeinschaft und Mahl – wie das der Emmausjünger – in die Gegenwart, hier in einer Huldigung an die Zeit, die in der Betrachtung stillzustehen scheint.

Nicht größer könnte der Kontrast mit dem lärmenden Vergnügungsbetrieb am Montmartre ausfallen, den Toulouse-Lautrec gegen Ende des Jahrhunderts verherrlichte (im gedruckten Band Abb. 51). Baudelaire hatte das Image unschuldigen Genusses, das Murger befestigt hatte, durch poetische Albträume von satanischer Natürlichkeit überschrieben. Der Vergnügungsbetrieb kommerzialisierte diese prickelnde Doppelgesichtigkeit des Lasters. Der kleinwüchsige Toulouse-Lautrec identifizierte sich in der Tradition der Physiognomien mit den Exzentrikern, die diesen Betrieb trugen und bevölkerten. Andere suchten gerade in diesem Milieu immer wieder nach Ursprünglichkeit. Van Gogh, Gauguin und Emile Bernard tauschten im Herbst 1888 Selbstporträts aus, die als Freundschaftsbilder das besonders von Van Gogh erträumte Atelier des Südens vorweg nehmen sollten. Gauguin schrieb auf die Leinwand den Titel des Buchs von Victor Hugo, Les misérables (1862). Offenbar fühlte er sich selbst wie ein zweiter Jean Valjean, die Hauptfigur des Romans, der sich als Märtyrer der Gesellschaft vom Zuchthäusler zum Wohltäter der Menschheit wandelte. Van Gogh stilisierte sich in seinem Konterfei zum buddhistischen Priester. Man weiß, was aus dem Traum, eine

Page 3:  · Web viewIn diesem Sinne sind wir wie viele Figuren naturalistischer Romane Flaneure, denen alles relativ wird – durch eine „Entzauberung der Welt“ (Karl Marx), die nicht

derartig monastisch inspirierte Kapelle der Kunst zu gründen, wurde, als Gauguin tatsächlich für mehrere Wochen mit Van Gogh in Arles zusammenlebte. Tief beunruhigt über die Abreise des ebenso verehrten wie beneideten Freundes verstümmelte Van Gogh sich am Ohr. Von der Episode gingen weitere Mythen aus. Gauguin zögerte nicht, sich vor dem Kruzifix eines bretonischen Kalvarienbergs zu portraitieren (1891) oder gar selbst in einem Gemälde als Christus im Garten Gethsemane zu posieren (1889). Der Opfermythos war der konsequente Endpunkt einer Kunstdoktrin, gemäß derer der Künstler sich mit allem Risiko von dem Bekannten abzuwenden und sich und sein Werk immer wieder neu zu erfinden hatte. Erst dieser Wagemut bot die Chance für die "Entdeckung" – dann nämlich, wenn die Gesellschaft, womöglich aber auch erst die Nachgeborenen, sich in der Vision des Künstlers dereinst wiedererkennen würden. Die Entrücktheit des Verkannten wurde zugleich auch pathologisiert. Van Gogh interpretierte man gemäß der Psychologie Charcots als geisteskranken Hysteriker, dessen Hirn nicht mehr imstande war, die krankhaften Entladungen der einzelnen Nervenzentren durch eine einende Kraft zu harmonisieren, bevor Karl Jaspers an seinem Beispiel und an dem Strindbergs 1922 die Symptomatologie der Schizophrenie als Erklärungsmodell für die Zerfallenheit des Künstlers mit der Gesellschaft heranzog. Bereits 1872 hatte der Turiner Psychiater Cesare Lombroso in seinem Werk Genie und Wahnsinn das Künstlertum, Geisteskrankheit und eine ihm zufolge angeborene Anlage zum Verbrecher gleichermaßen als nicht zu unterdrückende Monomanien erklärt.

Voraussetzung für den in den 1880er Jahren am Montmartre fest installierten Betrieb der Bohème war die Umgestaltung von Paris seit dem Second Empire, die man nach dem Architekten und Stadtplaner Georges Eugène Haussmann, von 1853 bis 1870 Präfekt von Paris, als Haussmannisierung diskutiert. Unter seiner Leitung wurden die Boulevards erweitert, teilweise neue, wie der Boulevard de l’Opéra, erbaut, und ein System öffentlicher Parks angelegt. Als neuer Blickfang der Hauptstadt wurde das prunkvolle Musiktheater von 1860 bis 1875 von Charles Garnier im Auftrag Napoleons III. erbaut. Über den festlich historistischen Stil sagt eine Anekdote mehr als ausufernde Beschreibungen: als der Kaiser sich vor dem Modell, das der Architekt für den Wettbewerb eingereicht hatte, bei diesem erkundigt habe, „was denn das überhaupt für ein Stil“ sei, habe der Befragte geantwortet, es sei „Style Napoléon III, Sire“. Die Boulevards, die freilich auch geeignet waren, Barrikadenkämpfe wie 1848 unmöglich zu machen, trugen nicht nur zur Hygiene, sondern auch zur Mobilität in Paris bei. Der wachsende öffentliche Verkehr von Kutschen und Pferdeomnibussen ermöglichte schon vor Eröffnung der ersten Métro-Linie aus Anlass der Weltausstellung im Jahre 1900 die soziale und funktionale Ausdifferenzierung der Hauptstadt. Das Miteinander von Wohnen und Gewerbe wurde besonders in den reichen Wohnvierteln im Westen unterbunden. Die luxuriösen Geschäfte waren zuerst in den überdachten Einkaufspassagen angesiedelt, die oft mehrere Hinterhöfe durchzogen und sich bald vom Zentrum aus derart aneinanderreihten, dass man trockenen Fußes den halben Weg zum Montmartre gehen kann. Größtenteils waren sie schon vor der Revolution von 1848 angelegt worden. Während danach die Produktion im organisierten Verlagswesen, bald auch in Fabriken immer weiter industrialisiert wurde, zogen die Läden an die Boulevards um die neu erbaute Oper um. Die Kaufhäuser, die nach dem Vorbild des 1852 gegründeten Hauses Au bon marché überall an Knotenpunkten aus dem Boden schossen, krönten eine Entwicklung, die zugleich die Warenproduktion und den Konsum betraf. Der anrüchige Vergnügungsbetrieb hatte sein Zentrum unweit von dem Viertel um die Oper und die „grands boulevards“, aber klar getrennt, an der „butte“, am Hügel Montmartre. Den Zeitgenossen schien alles gleichermaßen verrucht. Alles schien käuflich, auch die Liebe, und zwar auch die eheliche. Zola beschrieb in seinem 1884 veröffentlichten Roman Das Paradies der Damen zugleich den Niedergang des Einzelhandels eines ganzen Viertels und die korrumpierende Wirkung des Warenangebots auf die Kundschaft.

Page 4:  · Web viewIn diesem Sinne sind wir wie viele Figuren naturalistischer Romane Flaneure, denen alles relativ wird – durch eine „Entzauberung der Welt“ (Karl Marx), die nicht

Schon als die Hausmannisierung ansetzte, neue Straßenzüge durch altehrwürdige Stadtviertel zu schlagen, besonders aber, als ein neuer, kapitalistisch überformter Lebensrhythmus von der Stadt Besitz ergriff, begann man, die alten Lebensverhältnisse zu idealisieren. Charles Meryon hielt seit 1850 in seinen Radierungen von Paris das vormoderne Profil der Stadt in einem pittoresken, in den entrückenden Lichtwirkungen an Piranesi erinnernden Stil fest. Bald bewunderte man in diesen Werken eine verlorengegangene Welt. Der Schlamm auf den Straßen war ein steter Herd von Epidemien, bevor die modernisierte Pariser Kanalisation für hygienischere Verhältnisse sorgte. Dennoch widerholt noch die heutige Kunstgeschichte idyllische Vorstellungen von der „Quartiers-Wirtschaft“, in der die Adeligen im Piano Nobile der Paläste hausten, darüber die Bürger, während im Hof einfache Arbeiter ihrem Handwerk nachgingen und in den Straßen ambulante Händler ihre Waren ausriefen. Auch in das Wien vor der Anlage der Ringstraße projiziert man derartig nostalgische Vorstellungen über eine korporative Gesellschaft, in der Liberalismus und Kapitalismus die Stadtbewohner noch nicht voneinander entfremdet hatten.

Der eigentliche Bewohner der neuen Großstädte war der Flaneur, der zugleich geistesabwesende und –gegenwärtige Spaziergänger durch die Passagen und die Boulevards, die Café-Concerts und Kabaretts, die Oper und die Gegenden der Anderen. Als unstet vagabundierender Nomade, für den seine Stadt ein Kosmos ist, bleibt er stets zugleich involviert und distanziert. Georg Simmel hat erstmals 1889 in einem Aufsatz Zur Psychologie des Geldes, dann wieder 1903 in einem Essai Die Großstädte und das Geistesleben den blasierten Blick des modernen Konsumenten geschildert, den nervöse Reizüberflutung daran gewöhnt, alles daraufhin zu taxieren, welche Vergnügungen er sich durch Geld erkaufen kann. In diesem Sinne sind wir wie viele Figuren naturalistischer Romane Flaneure, denen alles relativ wird – durch eine „Entzauberung der Welt“ (Karl Marx), die nicht allein den Naturwissenschaften anzulasten ist, sondern vor allem dem Geld, das alles konvertibel macht. Die Verdinglichung der Welt, auch der Liebe, ergreift von den Großstadtmenschen Besitz. Sie verleitet sie dazu, mit jedem Erlebnis, jeder Begegnung andere Möglichkeiten mit in Erwägung zu ziehen. Immer schwerer wird es, das eine Leben, das man nur leben kann, als Raum der persönlichen Entfaltung, vielleicht manchmal als Kunstwerk zu akzeptieren. Doch muss man dem blasierten Blick nicht erliegen. Baudelaire hat 1863 den Illustrator Constantin Guys, von dem er jedoch nur die Namenskürzel preisgab, im Figaro als Maler des modernen Lebens schlechthin präsentiert. Tagsüber gibt er sich dem Leben hin, wird Teil der Menge, und hält diese spät am Abend rasch in Aquarellen fest. Nur durch die flüchtige Malweise und die noch nahe Erinnerung gelingt es ihm, nicht die Einzelnen, sondern die Menge an ihrem jeweiligen Ort zu porträtieren. Er bannt dadurch die Modernität in seine Bilder: das ist für den Dichter das Ewige am Vorübergehenden, der Sinn, den jede Gegenwart, einstmals preisgeben wird, wenn die Nachgeborenen sie als Epoche verstehen werden. Das Vorbild dieses Malers ist für Baudelaire die Hauptfigur von Edgar Allen Poes Erzählung Der Mann der Menge (1840), der alles wie ein Genesender nach langer Krankheit betrachtet: wie zum ersten Mal, in entrückter Erinnerung entfremdet. In der Tradition der verfluchten Wanderer der Literatur ist er dazu verdammt, sich dem Ambiente, dem jeweiligen Milieu der Passanten in seinem Habitus anzuverwandeln. Walter Benjamin sollte Erlebnisse eines verfremdenden Erwachens aus einer Welt des Rausches und des Traums durch den vielschichtigen Ausdruck der Aura kennzeichnen. Bei ihm haben sich die Verhältnisse jedoch umgekehrt: nicht die Welt, die der Erwachende sieht, ist auratisch, sondern das im Rausch Wahrgenommene, wenn sich der Erwachte daran erinnert. Manet vollzieht vor der Bardame in den Folies-Bergère eine vielleicht noch schillerndere Wendung (Abb. 6): der Kunde blickt auf sein Modell sicher nicht wie ein Rekonvaleszent oder ein Erwachender, aber sie schaut gewiss auf ihn als auf jemanden, von dem sie blasierte Blicke erwartet. Für Manet ist die Bardame eine Allegorie

Page 5:  · Web viewIn diesem Sinne sind wir wie viele Figuren naturalistischer Romane Flaneure, denen alles relativ wird – durch eine „Entzauberung der Welt“ (Karl Marx), die nicht

des modernen Lebens, dessen Sinn die Gegenwart in sich trägt, obwohl erst die Zukunft ihn als Sinn des Vergangenen preisgeben wird. In die Augen der Bardame, die seinen Blick nicht erwidern, blickt Manet schon unter dem Eindruck des erwarteten Todes, einer baldigen Entrückung.

von Michael F. Zimmermann ©

Page 6:  · Web viewIn diesem Sinne sind wir wie viele Figuren naturalistischer Romane Flaneure, denen alles relativ wird – durch eine „Entzauberung der Welt“ (Karl Marx), die nicht

Literaturangaben

Helmut Kreuzer, Die Bohème. Analyse und Dokumentation der intellektuellen Subkultur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart (Metzler) 1971

Jerrold Seigel, Bohemian Paris. Culture, politics, and the boundaries of bourgeois life, 1830-1930, Baltimore MD (The Johns Hopkins University Press) 1986

Nathalie Heinich, L'élite artiste. Excellence et singularité en régime démocratique, Paris (Gallimard) 2005

Karlheinz Stierle, Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewusstsein der Stadt, München (Hanser) 1993

Page 7:  · Web viewIn diesem Sinne sind wir wie viele Figuren naturalistischer Romane Flaneure, denen alles relativ wird – durch eine „Entzauberung der Welt“ (Karl Marx), die nicht

Abbildungen

1. Stadtplan von Paris, in: P. Joanne, Paris-Diamant. Collegion des Guides – Joanne, Paris (Hachette) 1906, Beigabe

Page 8:  · Web viewIn diesem Sinne sind wir wie viele Figuren naturalistischer Romane Flaneure, denen alles relativ wird – durch eine „Entzauberung der Welt“ (Karl Marx), die nicht

2. Gustave Courbet, Der Andler-Keller, verlorene Kohlezeichnung, 1848, bekannt durch ein Foto von Charles Maville, Paris, Slg. André Jammes; nach: Gustave Courbet, Ausst.kat. Paris, Galeries Nationales du Grand Palais, 13. Okt. – 28. Jan. 2008; New York, The Metropolitan Museum of Art, 27. Feb. – 18. Mai 2008; Montpellier, Musée Fabre, 14. Juni – 28. Sept. 2008; Paris (Réunion des Musée Nationaux) 2008, S. 152

3. Gustave Courbet, Nach einem Abendessen in Ornans, 1848-49, Öl auf Leinwand, 195 x 257 cm, Lille, Palais des Beaux-Arts; nach: Gustave Courbet, Ausst.kat. Paris, Galeries Nationales du Grand Palais, 13. Okt. – 28. Jan. 2008; New York, The Metropolitan Museum of Art, 27. Feb. – 18. Mai 2008; Montpellier, Musée Fabre, 14. Juni – 28. Sept. 2008; Paris (Réunion des Musée Nationaux) 2008, S. 157