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art&words Wenn das die Grimms wüsst en! 200 Jahre Grimms Märchen Neue Märchen zum Grimm-Jahr 2012

Wenn das die Grimms wüssten! Anthologie

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Am 20. Dezember 1812 erschien der erste Band der „Kinder- und Hausmärchen“ von Jacob und Wilhelm Grimm mit 86 Märchen. Grund genug für uns zum zweihundertsten Jubiläum der Erstausgabe der „Kinder- und Hausmärchen“ deutschsprachige Autoren aufzurufen, es den Grimms gleich zu tun und die alten Märchen neu zu erzählen oder neue Märchen zu erfinden. Schließlich wurden – ganz wie bei den Grimms – 86 Märchen für dieses Buch ausgewählt, von denen der Herausgeber überzeugt ist, dass es die Besten der Besten sind. Lehnen Sie sich also zurück und genießen Sie diese Märchen, auch wenn sie nicht immer mit jenen magischen Worten beginnen: Es war einmal …

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Wenn das die Grimms

wüssten!

200 Jahre Grimms Märchen

Neue Märchen zum Grimm-Jahr 2012

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2012

art&words – verlag für kunst und literaturZerzabelshofstraße 41, D-90480 Nürnberg

Homepage: http://art-and-words.de Twitter: http://twitter.com/#!/art_and_words

Facebook: http://www.facebook.com/artandwords

Umschlaggestaltung: Peter R. Hellinger

ISBN 978-3-943140-21-7 (pdf)

Auch als Printausgabe erhältlich.

LESEPROBE

Helli
Schreibmaschinentext
Die folgende Leseprobe enthält jeweils die erste Seite jedes Textes im Buch!
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Vorwort

Es waren einmal zwei Brüder namens Jacob und Wilhelm. Die beschlos-sen eines schönen Tages, dass es doch eine gar vornehme Aufgabe sei,

durch die Lande zu ziehen und sich allerlei Geschichten erzählen zu lassen. Geschichten von weisen Königen, schönen Prinzessinnen, mutigen Prin-zen, garstigen Hexen, freundlichen Feen und allerlei anderen mehr oder weniger magischen Wesen und Dingen. Und so hatten sie bald eine große Sammlung an solcherlei Geschichten zusammengetragen. „Ei,“, sprach da Jacob, der ältere der beiden, „lass uns doch daraus ein Märchenbuch ma-chen, auf dass die Nachwelt für immer diese wunderbaren Geschichten lesen kann!“ Und sein Bruder Wilhelm pflichtete ihm sogleich bei: „Aber ja, werter Bruder, denn wer außer uns beiden wäre dazu besser geeignet?“

Nun, vielleicht hat es sich so zugetragen, wahrscheinlich aber nicht. Schließlich waren die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm zwei Gelehr-te der Rechtswissenschaften, die nach ihrem Studium die geschichtliche Entwicklung der deutschen Literatur anhand von Sagen, Urkunden und Dichtungen untersuchten und damit maßgeblich die wissenschaftlichen Grundlagen der heutigen Germanistik legten.

Im Dezember 1812 veröffentlichten sie ihren ersten Band der berühm-ten „Kinder- und Hausmärchen“ mit sechsundachtzig ausgewählten Mär-chen, von denen einige heute zu den berühmtesten Märchen der Welt gehören. Dabei entstanden die Märchen nicht aus ihrer eigenen Fantasie, sondern wurden von den Brüdern nach mündlich überlieferten Geschich-ten zusammengetragen und mehr oder minder stark überarbeitet.

Die Faszination, die diese Märchen auf Groß und Klein ausüben, ist selbst nach 200 Jahren ungebrochen: Kaum jemand, dem nicht in seiner Kindheit von den Eltern Hänsel und Gretel, Dornröschen, Schneewittchen oder Der Froschkönig vorgelesen wurde. Auch viele Künstler wurden davon inspiriert, man denke nur an die zahlreichen Verfilmungen des Märchens Hänsel und Gretel oder die berühmte Opernfassung von Engelbert Hum-

LESEPROBE

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perdinck. Und jedes Jahr an Weihnachten erfreuen wir uns aufs Neue an der wunderschönen Aschenbrödel-Version Drei Nüsse für Aschenbrödel des tschechischen Fernsehens. Selbst bis nach Amerika haben es einige der Märchen gebracht, so basieren zum Beispiel Walt Disneys Trickfilmklassi-ker Cinderella und Schneewittchen und die sieben Zwerge auf den Märchen der Gebrüder Grimm. Der Einfluss der Gebrüder Grimm und ihres Mär-chenbuches auf unsere Kultur ist also nach wie vor ungebrochen – gar nicht so schlecht für jemand, der schon 200 Jahre auf dem Buckel hat.

Grund genug für den Verlag art&words zum zweihundertsten Jubiläum der Erstausgabe der „Kinder- und Hausmärchen“ deutschsprachige Auto-ren aufzurufen, es den Grimms gleich zu tun und die alten Märchen neu zu erzählen oder neue Märchen zu erfinden.

176 Autoren aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Frankreich und Italien folgten dem Aufruf und sandten insgesamt 296 Märchen und Geschichten ein. Ein Echo, mit dem der Verlag nicht gerechnet hatte und das es dem Herausgeber doch sehr schwer gemacht hat, zu entscheiden, welche Märchen ins Buch kommen.

Schließlich wurden – ganz wie bei den Grimms – 86 Märchen für die-ses Buch ausgewählt, von denen der Herausgeber überzeugt ist, dass es die Besten der Besten sind. Lehnen Sie sich also zurück und genießen Sie diese Märchen, auch wenn sie nicht immer mit jenen magischen Worten beginnen: Es war einmal …

Peter HellingerVerleger und Herausgeber

März 2012

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Carolin Arden

Das Wasser der Weisheit

Über ein großes Reich herrschte einmal ein gütiger König. Als er fühlte, dass er alt geworden war, übergab er die Krone an Prinz Wilhelm,

seinen Erstgeborenen.„Und was ist mit mir?“, fragte Willibald, sein zweiter Sohn. „Bekomme

ich keine Krone?“Der alte König lächelte und sagte: „Viele Königreiche grenzen an unser

Land und in so manchem davon wartet eine Prinzessin auf einen so schmu-cken Prinzen wie dich. Sei ohne Sorge, mein Name wird dir jede Tür öffnen.“

Da packte Willibald seinen Ranzen, sattelte sein Pferd und machte sich auf die Reise. Von einem Reich zum nächsten ritt er, immer auf der Suche nach einer besonders hübschen Prinzessin. Wohin er auch kam, er wurde freundlich aufgenommen, denn die Könige hätten ihn gerne als Schwiegersohn gesehen. Doch nach einem kurzen Blick auf die Tochter reiste Willibald immer schnell weiter. Die eine war zu hässlich, die andere zu dick und die nächste hatte eine zu große Nase. Kurzum, an jeder hatte er etwas auszusetzen.

Endlich kam der Prinz in ein ganz kleines Königreich. König Friedrich stellte ihm seine Frau und auch sein einziges Kind, Prinzessin Karina, vor. Sofort verliebte sich Willibald in die junge Frau. Sie war hübsch, voller Lebensfreude und lächelte ganz allerliebst. Und so zögerte Willibald auch gar nicht lange und bat König Friedrich um die Hand seiner Tochter.

„Oh!“, sagte der König und geriet ins Schwitzen. „Ich schätze Euch und Euren Vater sehr, Prinz Willibald. Leider ist meine Tochter bereits verge-ben. Sie liebt Peter, meinen Verwalter, und ich habe ihm Karina schon vor einem halben Jahr versprochen. Ihr versteht doch sicher, dass ich von meinem Wort nicht zurücktreten kann.“

„Heißt das, Ihr zieht mir, dem Sohn des mächtigsten Königs weit und breit, einen Habenichts vor? Das kann nicht Euer Ernst sein!“, brauste Willibald auf und wollte sich gar nicht mehr beruhigen.

Da bekam es König Friedrich mit der Angst zu tun. Es war gefährlich, sich den Prinzen und seinen Vater zum Feind zu machen. Er hatte nur

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Julia Bardag

Ein Tag wie im Märchen

Es war ein Tag wie jeder andere. Die Vögel zwitscherten vergnügt in den neuen Morgen und die Sonne strahlte freundlich vom Himmel herab.

Das kleine Mädchen erwachte und rieb sich verwundert den Schlaf aus den Augen. Etwas war anders als sonst. Es sah sich im Zimmer um. Ein Bett, ein Schrank, ein Regal mit Büchern und Spielsachen, ein Tisch …

Während es ihren Blick durchs Zimmer schweifen ließ, ging die Tür auf. Die Mutter kam hereingestürmt. „Guten Morgen, mein Schatz“, rief sie fröhlich und schob mit Schwung die bunt gemusterten Vorhänge zur Seite. Dann kam sie zum Bett hinüber, drückte dem Mädchen einen di-cken Schmatz auf die Wange und scheuchte es aus dem Bett. Sie schob das Kind vor sich her bis zum Badezimmer. „Du musst dich beeilen, wir haben verschlafen“, erklärte sie und wirbelte davon. Das Mädchen öffnete die Tür und trat in das weiß gekachelte Bad.

Das seltsame Gefühl, mit dem es heute aufgewacht war, verstärkte sich. Das Geräusch von plätscherndem Wasser erregte ihre Aufmerksamkeit. Es wandte den Blick nach rechts, wo die Badewanne stand. Fast hätte sie laut aufgeschrien, denn in der Wanne lag - eine Meerjungfrau. Ihr schuppiger, sil-berglänzender Fischschwanz hing über den Wannenrand. Die Meerjungfrau war gerade dabei, ihr grünes Haar zu kämmen, und hielt erschrocken inne.

Beherzt trat das Mädchen einen Schritt auf sie zu. „Wie bist du hierher gekommen?“, wollte es fragen, doch ehe es ihren Satz beenden konnte, ließ sich die Nixe ins Wasser gleiten. Luftblasen stiegen aus ihrer Nase an die Wasseroberfläche, dann bildete ihr grünes Haar einen Teppich wie aus Seerosenblättern. Der Fischschwanz schlug hin und her, sodass das Mäd-chen ganz nass gespritzt wurde. Das Wasser brodelte, als würde es kochen, und im nächsten Moment war die Meerjungfrau verschwunden.

Nein, das war doch kein Tag wie jeder andere. Bevor das Mädchen auch nur einen klaren Gedanken fassen konnte, hörte es die Mutter rufen: „Schatz, du kannst jetzt nicht baden. Zieh dich an und komm zum Frühstück.“ Schnell zog das Mädchen die Kleider an, die auf einem Hocker bereitlagen.

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Sabine Barnickel

Die Wahrheit über Witta Winter

Georg saß allein am Küchentisch und betrachtete das Corpus Delicti, einen ehemals perfekten Apfel. Sie hatte ein Faible für perfektes Obst

gehabt: Immer hatte sie nur sonnengelbe Bananen ohne einen einzigen braunen Fleck gekauft, Ananas, die auch nach Ananas rochen, die rötesten Kirschen und die Äpfel ohne eine einzige Druckstelle, nie war auch nur eine einziger mit Runzeln dabei. Dieser war es nicht mehr, perfekt. Der Abdruck ihres ebenmäßigen Gebisses – ja, aber das Fleisch der Bisswunde war schon hässlich braun verfärbt.

Georg seufzte. Wer hatte eigentlich diese verflixte Idee gehabt? „Haushäl-terin gesucht – Familienbetrieb, sechs Junggesellen, eine Jungfer, gut gehendes Erzbergwerk mit Besucherstollen, sucht fleißiges Fräulein, das den Haushalt auf Vordermann bringt und das leibliche Wohl sicherstellt.“ Hätte Josefine nicht einfach über ihren Schatten springen können? Schließlich war sie die Frau im Haus. Aber nein, sie hatte gesagt: „Warum soll ich mich mit Weiber-arbeit abgeben, wenn ich Männerarbeit besser kann als mancher von euch?“ Dabei hatte sie den jüngsten Bruder, Nick, vielsagend angesehen …

Da saßen sie also zu siebt – sechs Kerle im Alter von zwanzig bis fünf-unddreißig und eine junge Frau, die sich lieber einen Damenbart stehen ließ, als sich die Beine zu rasieren und von Männern im Allgemeinen nicht viel hielt – am großen Esstisch und interviewten die potenziellen Kandida-tinnen. Dann kam der Moment, in dem sie hereinschneite: Witta Winter, fünfundzwanzig Jahre alt, Haut wie poliertes Elfenbein, Haare schwarz wie ein unbeleuchteter Erzstollen und Augen wie tiefe Gletscherseen.

Die Brüder starrten sie sekundenlang mit offenen Mündern an, die Schwester nicht weniger. Bis sich Georg, der Älteste, schließlich am Riemen riss und sich räusperte. Wie sich im Verlauf des Gespräches herausstellte, wa-ren nicht nur Fräulein Winters Äußerlichkeiten tadellos, sondern auch ihre

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Irene Beddies

Die singende Prinzessin

Im Reich am Krokodilfluss lebte Prinzessin Lilabo, die einzige Tochter des Königs. Sie besaß eine außergewöhnliche Gabe: Sie sang so verfüh-

rerisch, dass jeder, der sie singen hörte, stehen bleiben musste, um ihr zu lauschen. Wenn sie am Flussufer spazieren ging, kamen sogar die Kro-kodile ans Ufer, um sich von ihrem Gesang betören zu lassen. Sie legten sich dann auf den Sand und schlossen ihre tückischen Augen. Und die Vögel, die auf ihren Rücken Futter suchten, blieben auf einem Bein stehen, spreizten die Flügel und rissen ihre Schnäbel auf.

Eines Tages kam eine Gesandtschaft aus dem Nachbarreich an den Kö-nigshof. Ein junger Prinz führte sie an, denn es ging um Krieg und Frieden.

Der Prinz stieg gegen Mittag im Hof vom Pferd und hörte aus dem obersten Stockwerk des Palastes das lieblichste Singen. Sogleich schlug sein Herz schneller. Er erkundigte sich bei dem Minister, der gerade neben ihm stand, wer dort oben so himmlischen Gesang erklingen ließ. Als er erfuhr, dass es die Königstochter sei, vergaß er seine Mission und dachte nur noch an die singende Prinzessin. In der Stunde der Audienz hielt er beim König um ihre Hand an. Der alte König versicherte ihm, dass seine Tochter noch zu jung sei, um zu heiraten. Außerdem hätte sie ein Wörtchen mitzureden, denn es ginge ja um ihr Glück.

Am Abend saßen der fremde Prinz und Prinzessin Lilabo beim Fest-mahl nebeneinander. Der Prinz sah, dass sie sehr schön war. Er neigte sich zu ihr und gestand ihr seine Liebe, fragte sie, ob sie später seine Frau werden wollte.

Lilabo besann sich einen Augenblick, musterte den Prinzen und gab eine seltsame Antwort: „Wenn du so singen kannst wie ich, dann will ich dir meine Hand reichen. Ich will nur jemanden zum Mann, mit dem ich ein Leben lang im Duett singen kann.“ Der Prinz erbleichte, denn er konnte nicht singen. Er beschloss, es in seiner Heimat zu lernen.

„Bitte warte auf mich, Lilabo. Bis du so alt bist, dass du dich vermählen kannst, habe ich es sicherlich gelernt“, bat er sie zum Abschied.

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Christa Bellanova

Die Mitte des Lebens

Die Mitte des Lebens ist ein Begriff, den man eigentlich nicht genau be-schreiben oder definieren kann. Man weiß nicht, wer ihn wann oder

wo erdacht hat. Wahrscheinlich war es der Mensch, weil dieser bestrebt ist, alles zu benennen und zu bezeichnen und genau aufzulisten, um so die Dinge beherrschbar zu machen. Die Menschen sprechen vor allem von dieser Mitte des Lebens, wenn sie in den Vierziger- bis Fünfzigerjahren sind und auf ihr bisheriges Leben zurückblicken. Weiß man denn, wann die Mitte des Lebens erreicht ist, weiß man denn, wie lange man leben wird? So gesehen könnte man doch nur in seiner letzten Stunde genau sagen, wann denn die Mitte des Lebens war.

Im Reich der Elfen und Feen ist das etwas ganz anderes. Feen wissen genau wie lange sie leben werden und können so ziemlich genau ihre per-sönliche Mitte des Lebens benennen.

Die kleine Blumenfee, von der ich hier berichten will, war aber eine Ausnahme. Natürlich hatte auch dieses Feenleben, wie alle anderen auch, in einer Blume begonnen. Wie ein Samenkorn öffnete sich die Fee, wurde größer und schöner und lebte in ihrer Blume auf einer großen Blumen-wiese im Feenland, wo die Sonne immer schien, wo Schmetterlinge flogen und im Gras Schnecken, Käfer und Grashüpfer sich Guten Tag sagten, und wo viele kleine Blumenfeen genau wussten, dass sie 242 Tage leben werden, bevor sie in die große Helligkeit, die wir Menschen den Himmel nennen, zurückkehren werden.

So auch diese kleine Fee, die ihre Tage genoss, von Blume zu Blume schwebte, ihre anderen Feenschwestern und -brüder in anderen Blumen besuchte, bevor sie des Nachts wieder in ihre eigene Blume zurückkehrte, sich ein Blütenblatt über den Kopf legte, bevor sie einschlief und ihre Feenträume träumte, die von noch größeren und bunteren Blumenwie-sen und noch eindrucksvolleren Schmetterlingen und Grashüpfern und Käfern handelten. Ihr einziges Bestreben war, glücklich zu sein und sich ihres Lebens zu erfreuen.

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Stephan Binder

Anders als die anderen

Es lebte einmal ein König, der hatte zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Beide erzog er auf dieselbe Art ohne einen Unterschied zu

machen zwischen dem erstgeborenen Jungen und dem jüngeren Mädchen, schließlich war der König ein moderner Mann und wollte, dass seine Kin-der so normal wie möglich aufwachsen.

Sein Sohn aber war von solch natürlicher Anmut und Schönheit, dass alle Bürger ihn ins Herz geschlossen hatten. Wann immer er das Schloss verließ, drehten sich die Menschen nach ihm um und beobachteten, wie er sich gab, welche Kleidung er trug und mit wem er redete.

Wenn ihnen gefiel, was der Prinz tat, dann klatschten die Bürger Beifall oder fotografierten ihn und redeten lange noch darüber, was der Prinz gesagt hatte. Viele wünschten sich aber, dass dies für immer so bleiben sollte, dass der Prinz immer bei ihnen bleiben sollte und dass er sie stets glücklich machen sollte.

Auch wenn jeder wusste, dass dies nicht möglich war, so sagten alle, dass sie dereinst den Prinzen vermissen würden, den verspielten Jungen, der sich vor nichts fürchtete, und der sie mit seinen Späßen erfreute.

Nahe dem Schloss des Königs aber lag ein großer dunkler Wald, und sehr oft ging der junge Prinz dorthin zum Spielen. Dann setzte er sich an den Rand eines kühlen Brunnens und beobachtete, was in der Umge-bung alles geschah. Da er ein echter Prinz war, fürchteten sich die anderen Jungen ein wenig mit ihm zu spielen. Sie wollten nichts Falsches tun und auch nichts Falsches sagen und deshalb musste der junge Prinz auch heute wieder ganz alleine mit dem goldenen Ball spielen.

Der Prinz aber hatte sich ein Tor gebaut und schoss nun einmal links unten auf das Tor und dann wieder rechts oben. Das ging meistens gut, aber auf die Dauer machte es alleine keinen Spaß und so wurde ihm das Alleinsein mit der Zeit recht fad. Da kam ihm die Idee seinen Ball in den Brunnen zu werfen und gleichzeitig die Sekunden zu zählen, die es brauchte, bis der Ball ganz unten angekommen war.

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Susanne Blümlein

Von der klugen Prinzessin, die nicht heiraten wollte

Ein König hatte eine Tochter, die war überaus schön und er gedachte, sie gut mit einem der Könige der Nachbarländer zu verheiraten. Des-

halb ließ er ein großes Fest veranstalten und lud dazu aus der Nähe und Ferne die heiratslustigen Männer ein. Sie wurden alle in eine Reihe nach Rang und Stand geordnet; erst kamen die Könige, dann die Herzöge, Gra-fen und Freiherrn, zuletzt die Edelleute.

Die Königstochter aber war nicht nur schön, sondern auch klug. Sie wusste, dass sie sich für den Rest ihres Lebens langweilen würde, wenn sie sich an einen König, Herzog, Graf, Freiherr oder Edelmann verheiraten ließe. Sie hatte schon jetzt den ganzen Tag nichts anderes zu tun, als zu sticken und zu nähen und war dieses Lebens überdrüssig. Doch als ma-nierlich erzogene Prinzessin wusste sie, dass ihr ein solches Ansinnen nicht erlaubt war. Um der gefürchteten Heirat trotzdem zu entgehen, hatte sie sich vorgenommen, so unausstehlich zu sein, dass jeder Freier freiwillig davonlaufen würde.

Und so hatte sie an jedem Mann, an dem sie vorbeigeführt wurde, etwas auszusetzen: Der eine war ihr zu dick: „Das Weinfass!“, sprach sie. Der andere zu lang: „Lang und schwank hat keinen Gang!“ Der Dritte zu kurz: „Kurz und dick hat kein Geschick!“ Der Vierte zu blass: „Der bleiche Tod!“ Der Fünfte zu rot: „Hahnenkamm!“ Der Sechste war nicht gerade genug: „Grünes Holz, hinterm Ofen getrocknet!“ Besonders aber machte sie sich über einen jungen König lustig, der ganz oben stand und dem das Kinn ein wenig krumm ge-wachsen war. Denn sie hatte ihn ankommen sehen und war empört darüber, wie er sein erschöpftes Pferd einfach im Hof stehen ließ und ins Schloss trat, obwohl das Tier schwer atmete und die Flanken schweißnass waren. Sie hatte nach Minuten des Wartens ihre eigene Magd zu einem der Knechte geschickt, mit der Order, sich um das Tier zu kümmern.

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Susanne Böckle

Sternschnupfen

Die Wucht des Schlages überraschte Tilda. Der Holztisch, an dem sie saß, zitterte unter Hagens Faust. Seine Schale fiel auf den Boden, die

Suppe versickerte im frischen Stroh. Tilda sprang auf und blieb in siche-rem Abstand zu ihrem Mann stehen. Hagen stand breitbeinig mitten in der Hütte. Dabei warf er seiner Frau einen Blick zu, der sie für jedes noch so kleine Unglück, das ihn traf, verantwortlich machte.

„Wo kommt das her?“, schrie er und hielt etwas hoch. Es glich einer Mün-ze mit einer Vertiefung in der Mitte, eine sternförmige Prägung war darin zu erkennen. Gelb schimmernd warf das Goldstück das wenige Licht zurück, das ins Innere der Hütte drang. Es sah aus wie ein goldenes Schüsselchen.

„Sag schon, hast du noch mehr davon? Was verheimlichst du mir?“Hagen drehte die Münze zwischen seinen dreckigen Fingern, seine

blassen Augen saugten sich an Tilda fest.„Aber nein, das …“, stotterte sie, „das habe ich heute Morgen beim

Kräutersammeln im Wald gefunden.“ Sie ärgerte sich über ihre Unge-schicklichkeit, die Münze musste ihr aus der Schürzentasche gefallen sein.

„Sofort zeigst du mir die Stelle“, herrschte er sie an, „wo ein Goldstück liegt, findet sich bestimmt noch mehr und ich kann es weiß Gott gut gebrauchen. Dann bräuchte ich mich nicht mehr für einen Hungerlohn abzuschuften.“

Hagens Atem pfiff stoßweise durch die Zahnlücke, die er bei einer Rau-ferei im Wirtshaus davongetragen hatte. Dorthin trug er das wenige Geld, das er als Tagelöhner verdiente. Immer öfter kam er betrunken nach Hause.

„Jedes Jahr werde ich nur älter, aber nicht reicher“, rief er, seine Stimme zitterte vor Zorn. „Mit dem Gold könnte ich meine eigene Bierschenke er-öffnen und dem Wirt Konkurrenz machen, diesem alten Halsabschneider.“

Ehe Tilda etwas erwidern konnte, packte Hagen sie am Handgelenk und stieß sie vor die Tür der armseligen Hütte. Er zerrte sie den matschi-gen Weg an der Stadtmauer entlang, über Müllhaufen und durch schlam-mige Pfützen. Tilda protestierte mehrmals, aber er achtete nicht auf sie.

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Chenila Booker

Interview mit Rapunzel

Was ich damals an ihm fand? Hm, ich weiß nicht. Er war damals Prinz. Prinz. Das muss man sich erst einmal auf der Zunge zergehen lassen.

Prinz. Der war schon wer. Hatte etliche Ländereien, der Vater. Sollte alles sein Sohn bekommen, damals. Außerdem sah er ja wirklich gut aus.

Was passierte? Er hat sich in eine Bürgerliche verliebt. In mich. War dem Vater gar nicht Recht. Sollte schon ’ne Prinzessin sein, meinte er da-mals, als er mich vorstellte.

Warum? Na, das war damals vor über 100 Jahren in der Märchenwelt so. Prinzen gehörten zu Prinzessinnen. Da hatten die Bürgerlichen kaum eine Chance, außer es war ein Frosch. Da war es dann egal. Außerdem war er ja Jahre vom Elternschloss weg und hat mich gesucht … Und gefunden. Rührend nicht? Das hätte der König mir vielleicht sogar noch verziehen, aber dann danach zu hören, dass er jahrelang blind ’rumgelaufen ist, sein Sohn, wegen mir, das war dann zu viel.

Hat sich sofort einen Anwalt kommen lassen und sein Testament um-schreiben lassen. Hieb- und stichfest hat er es gemacht. Konnte man nichts dagegen machen.

Ist dann ein paar Jahre nach unserer Rückkunft gestorben und wen meinen Sie, hat er begünstigt? Da kommen Sie nie drauf!

Unsere Zauberin! Die Zauberin, die mich jahrelang in diesen dummen, dummen Turm eingesperrt hat. Die Zauberin, die mich von meinen Eltern trennte, wegen diesem dämlichen Salat. Die Zauberin, die mich schwanger einfach in die Wüste gesetzt hat. Genau die hat alles bekommen!

Was sie aus dem Königreich gemacht hat? Ha, das Schloss hat sie ab-reißen und darauf eine Lkw-Raststätte errichten lassen. Entschuldigung, jetzt ist sie eine Lkw-Raststätte, früher war es eine Raststätte für Kutschen. Heute sind da ein großer McDonalds, ein Burger-King und ein Schwimm-bad drauf und die Ländereien werden jetzt von Biobauern mit ihren Bio-Schafen und ihren Bio-Kühen bewirtschaftet. Uns ist gar nix geblieben, als der König gestorben ist.

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Angelika Brox

Drei goldene Haare

Es brachte einmal eine schöne Frau ein gesundes Mädchen zur Welt, während zur selben Zeit der Vater des Kindes starb, in einem fernen

Land, wohin er niemals gewollt hatte, in einem Krieg, von dem niemand mehr wusste, weshalb er geführt wurde. Als die junge Mutter vom Tod des geliebten Mannes erfuhr, weinte sie bittere Tränen.

Plötzlich erfüllte silberhelles Licht den Raum und neben der Wiege er-schien eine Fee im langen, weißen Spitzenkleid. Sie sprach: „Dem armen, vaterlosen Menschlein wünsche ich, dass es ein Glückskind sei. Deshalb sollst du es Fortuna nennen.“

Die kleine Fortuna entwickelte sich prächtig, studierte sogar an der Universität und wurde schließlich Journalistin.

Einmal trug es sich zu, dass Fortuna den Auftrag erhielt, über eine Demonstration vor einem großen Bankhaus zu berichten. Dort hatten sich bereits viele Menschen versammelt, und immer noch mehr strömten herbei. Eine Frau stellte sich auf eine umgedrehte Bierkiste, ergriff ein Megafon und richtete heftige Vorwürfe an den Leiter der Bank, der durch riskante Finanzgeschäfte das Unternehmen in den Abgrund getrieben hat-te. Die Leute schauten hinauf zu den Fenstern der Führungsetage, doch niemand zeigte sich.

Fortuna schlich sich in das Gebäude und erreichte unbemerkt das Büro des Bankmanagers. Behutsam drückte sie die Klinke herunter, öffnete die Tür einen Spalt weit und lugte in den Raum hinein.

Als Erstes erblickte sie die mächtige Gestalt eines grauhaarigen Mannes in einem gut sitzenden Anzug aus edlem Stoff. Ihm gegenüber stand ein junger Mann in Jeans und einem Baumwollshirt mit der Aufschrift „Die Krise ist im Anzug, die Lösung kommt im T-Shirt“.

„Du hast die Anleger um ihr Geld geprellt, Vater“, rief der junge Mann erbost, „und jetzt meldest du Konkurs an, verlangst Unterstützung von der Regierung, also von den Steuerzahlern, und sitzt gleichzeitig auf einem Sack voller Prämien für die Führungskräfte!“

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Annika Dick

Kurisu

Ach Max, jetzt hör’ doch bitte auf, zu schmollen. Dr. Balthasar hat dir doch erklärt, wieso deine Mandeln raus müssen.“

„Ich schmolle ja gar nicht“, widersprach der Junge seiner Mutter und kreuzte die Arme vor der Brust. „Ich will nur nicht hier im Krankenhaus bleiben. Hier sterbe ich nämlich vor Langeweile. Und dann bin ich tot, und dann interessiert es keinen mehr, ob ich meine Mandeln noch habe oder nicht. So, jetzt weißt du’s.“

Ein Klopfen an der Tür hielt seine Mutter von einer Antwort ab. Statt-dessen warf sie ihm nur einen vielsagenden Blick zu, als sie seine ältere Schwester Julia hereinbat.

„Hey, Kurzer. Ich hab dir was mitgebracht.“Max sah sich das Stofftier in Julias Hand mit weit aufgerissenen Augen

an. Ein grüner Drache mit rotem Bauch und blauen Flügeln.„Ich bin doch kein Baby! Mit zehn spielt man nicht mehr mit Stofftie-

ren. Den kannst du behalten.“„Max!“, schalt seine Mutter ihn, doch er blieb stur und wandte den

beiden den Rücken zu. Julia zuckte nur mit den Schultern und fuhr dem Stofftier über den Kopf.

„Na gut, wenn du Kurisu nicht willst. Ich dachte einfach, du könntest einen Traumdrachen brauchen. Ich werde doch langsam zu alt für ihn.“

Langsam sah Max über seine Schulter zu seiner Schwester.„Wer ist denn bitteschön Kurisu? Und was soll ein Traumdrache sein?

Nicht, dass ich das Stofftier doch will, oder so. Ich frage nur aus Neugier.“„Klar tust du das.“Max kniff die Augen zusammen, als Julia sich ein Grinsen kaum ver-

kneifen konnte. Sie setzte sich auf die Kante seines Bettes und wartete darauf, dass Max sich völlig zu ihr umdrehte. Dann setzte sie das bunte Ungetüm auf seinen Schoß.

„Das ist Kurisu und er ist ein Traumdrache. Traumdrachen nehmen einen mit zu den fantastischsten Orten: zu den Piraten in der Karibik, zu

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Natalie Elblein

Die Wunschkugel

Es lebte mal eine kleine Prinzessin namens Marie mit ihren Eltern in einem wunderschönen Schloss. Sie wurde bedient, trug die aller-

schönsten Kleider und all ihre Wünsche wurden erfüllt. Trotzdem war sie nicht glücklich, denn sie langweilte sich sehr. So verbrachte sie viel Zeit damit, am Tage zu träumen.

Sie träumte oft von fernen Ländern und wilden Tieren, die sie in ihrer Fantasie zähmen und denen sie das Sprechen beibringen wollte. Oder sie stellte sich vor, dass sie eine berühmte Naturforscherin ist, die eine große Entdeckung macht, die noch keiner vor ihr gemacht hatte. Am liebsten jedoch lag sie auf der Wiese in ihrem Schlossgarten und beobachtete die vorbeiziehenden Wolken, während sie sich vorstellte, wem diese ähnelten, einem Menschen, einem Tier oder einem Gegenstand.

Eines Tages, als sie wieder einmal gelangweilt von ihrem Schlossleben in den Garten geflüchtet war und die Wolken am Himmel betrachtete, geschah etwas Sonderbares. Zwischen zwei Wolken blitzte etwas auf, wie ein kleiner funkelnder Stern. Marie war fasziniert vom wunderschönen Anblick und konnte nicht anders als weiter gebannt hinzusehen.

Der Stern wurde größer, entwickelte sich zu einem leuchtenden Kreis und stürzte in rasendem Tempo in die Tiefe, wie eine Sternschnuppe einen gleißenden Schweif hinter sich herziehend. Plötzlich verließ die eigenartige Erscheinung die Himmelsbahn und fiel herab auf geradem Weg Richtung Schlossgarten. Marie konnte genau erkennen, dass etwas Kugelartiges ein paar Meter entfernt von ihr hinter den Holunderbusch gefallen war. Neugierig wie sie war, überwand sie ihre Scheu und schlich langsam zu dem Holunderbusch.

Vorsichtig spähte sie dahinter und erblickte eine fußballgroße glitzernde Glaskugel. Etwas Schöneres hatte Marie noch nie gesehen und wollte diese au-ßergewöhnliche Kugel unbedingt haben. Sie berührte sie mit einem Finger und als nichts Gefährliches geschah, nahm sie die Kugel in ihre Hände. Marie be-wunderte die Vielfalt der Regenbogenfarben, die sich im strahlenden Inneren spiegelten. Voller Ehrfurcht betrachtete sie dieses kostbare Himmelsgeschenk.

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Bettina Ferbus

Die drei roten Haare des Teufels

Es war einmal, zu einer Zeit, als die Tore zum Himmel und zur Hölle auch den lebenden Menschen offen standen, eine schöne Müllerin.

Sie lebte glücklich und zufrieden mit ihrem Mann in einer Wassermühle. Tag für Tag begleitete sie das Rauschen des Baches wie eine Melodie. Die Menschen des Dorfes brachten ihr Getreide, und während es gemahlen wurde, unterhielten sie sich mit der schönen Müllerin.

Die Frauen beneideten sie um ihre Schönheit und die Männer benei-deten den Müller um seine schöne Frau, denn er selbst war bereits in die Jahre gekommen. Sein Haupthaar ergraute allmählich und lichtete sich zusehends. Seine Schwäche für Bier und gutes Essen hatte ihm zu einem ansehnlichen Bäuchlein verholfen. Doch er liebte seine Frau tief und innig und verwöhnte sie nach Kräften.

Aber eines Tages wurde er krank. Die herbeigerufenen Ärzte konnten ihm nicht helfen und auch die Kräuterfrau wusste keinen Rat. Voller Ver-zweiflung suchte die Müllerin schließlich die alte Hexe auf, die tief ver-steckt im dunklen Wald wohnte. Unter Tränen schilderte ihr die Müllerin die Krankheit ihres Mannes.

„Ei, da wüsste ich dir schon einen Rat“, sagte die Hexe. „Du brauchst drei rote Haare vom Haupt des Teufels, dann kann ich dir eine Medizin daraus brauen.“

Alles, wirklich alles wollte die schöne Müllerin für ihren Mann tun. Also stieg sie hinab in die Hölle. Tatsächlich fand sie einen jungen Teufel tief schlafend in seinem Bett vor. Vorsichtig zupfte sie ein Haar aus seinem feuerroten Schopf. Der Teufel zuckte im Schlaf und schlug nach ihr, wie nach einer lästigen Fliege, schlief aber weiter. Mutig geworden riss die Müllerin ein weiteres Haar aus und dann noch eines. Der Teufel regte sich wohl und murmelte im Schlaf, doch er wachte nicht auf.

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Bettina Forbrich

Die Ermordung des Froschkönigs

Natürlich hatte der alte König längst seine Macht eingebüßt, ihm oblagen nur noch repräsentative Aufgaben wie der Empfang von

Staatsoberhäuptern oder der Besuch von Kulturveranstaltungen. Auch das soziale Engagement für Waisenhäuser, oder die Teilnahme an Benefizver-anstaltungen war für die Presse immer ein gern gesehener Aufhänger, um ihn als Vorbild für die Welt darzustellen.

Heute stand der Besuch einer besonderen Anstalt auf seinem Plan. Seit Wochen beunruhigte die Bevölkerung eine Entwicklung, die sie nicht ein-schätzen konnte. Es hatte mit dem Wirtschaftsminister begonnen. Auf ei-ner Parlamentssitzung über die sich ausbreitende Armut im Lande war er aufgesprungen, hatte laut gelacht und geschrien:

„Aber meine Herren und Damen, was reden wir über Armut? Wir ha-ben doch Fantasie!“

Die Oppositionspartei hatte ihn ausgebuht. Als ob Fantasie die wirt-schaftlichen Probleme des Landes lösen könnte! Nein, Fantasie hatte noch niemand satt gemacht. Sie hatten Maßnahmen gegen Massenarbeitslosig-keit gefordert und die Senkung der Einkommenssteuer, um das Bruttoso-zialprodukt zu steigern.

Die Regierungspartei hatte kurz beratschlagt. Auch ihnen war die Aus-sage des Wirtschaftsministers nicht überzeugend erschienen. Der jedoch hatte auf seinem Ausspruch bestanden und allen Parteigenossen empfoh-len, sich ein Märchenbuch anzuschaffen. So kam es, dass man ihn in eine Anstalt brachte, in der er sich erholen sollte.

Doch auch an den folgenden Tagen nahmen die Stimmen zu, die sich bei der Lösung von Problemen auf die Fantasie beriefen. Märchenbücher fanden reißenden Absatz, überall saßen Menschen herum, die, anstatt sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, Märchen und Fantasiegeschichten lasen.

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Doris Fürk-Hochradl

Der kluge Hund des Bauern

Es war einmal vor langer Zeit ein Bauer, der hatte ein kleines Häuschen, eine Kuh, eine Ziege und einen klugen Hund. Er hatte sein Auskom-

men, lebte nicht im Überfluss – aber er lebte glücklich und zufrieden auf seinem kleinen Stückchen Land mit seinen Tieren. Jahraus, jahrein bestellte er seine Felder, erntete sein Korn und versorgte sein Vieh. Manchmal fühlte er sich etwas einsam, da niemals ein Mensch zu seinem Haus kam. Dann sprach er mit seinen Tieren, und er hatte das Gefühl, dass sie ihn verstanden.

Eines Tages – die Sonne war gerade aufgegangen – sah er ein Mädchen des Weges kommen. Es trug schmutzige Kleider und die goldenen Haare hingen zerzaust und dreckig vom Kopf herunter. Mühsam quälte es sich den Hügel hinauf und ging langsam auf das Haus des Bauern zu.

Der Bauer konnte kaum glauben, dass ein Mädchen zu seinem Hof ge-funden hatte. Sofort öffnete er die Tür zu seinem Haus, bat es herein und ließ es an seinem Tisch Platz nehmen. Er fragte es nach seinem Namen, aber das Mädchen blickte ihn nur mit großen Augen an, und sagte kein Wort. Der Bauer versuchte es mit anderen Worten, mit Gesten und auch mit Schreiben. Aber das Mädchen erwiderte keines seiner Bemühungen. Da es aber so liebreizend anzusehen war, beschloss der Bauer es auf seinem kleinen Hof zu behalten.

Er ließ dem Mädchen ein Bad ein, gab ihm saubere Kleider und einen Kamm für die Haare. Als sich das Mädchen gewaschen, gekämmt und umgezogen hatte, rief der Bauer seine Tiere ins Haus, und verkündete, dass ab dem heutigen Tag, das Mädchen bei ihnen wohnen würde. Er gab dem Mädchen ausreichend zu essen, erzählte ihm von seinem Leben und ließ es am Hof mitarbeiten.

Das Mädchen arbeitete gerne. Es half dem Bauern beim Bestellen der Felder, beim Ernten und beim Versorgen der Tiere. Oft aber saß es einfach nur im Gras, ließ sich von der Sonne wärmen und streichelte Kuh, Ziege und Hund. Der Bauer gewann das Mädchen alsbald sehr lieb und pflückte ihm immer wieder Blumen, die er ihm schenkte. So lebten sie viele Tage

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Ursula Gressmann

Das Schloss mit den sieben Türmen

Mitten im dunklen Wald erhebt sich das mächtige Schloss mit den sie-ben Türmen. Der Wald ist so dunkel, weil die Tannenbäume dicht

nebeneinander stehen. Fast kein Lichtstrahl gelangt auf den Waldboden. Pilze können hier sehr gut wachsen. Die roten Fliegenpilze mit den wei-ßen Punkten auf den Käppchen sehen schön aus. Sie leuchten sogar ein bisschen. Kleine Tiere huschen herum und sind schnell wieder verschwun-den. Man sieht nicht, um welches Tier es sich handelt. Braune, schwarze oder graue Fellstückchen blitzen auf. Man bemerkt nur die Augen, die schwarz glänzen und des Nachts hellgelb leuchten.

Zum Schloss hin führt kein Weg und ihr werdet gleich hören, warum das nicht notwendig ist. Das Schloss ist sehr, sehr alt. Mindestens einen Meter dick sind seine Mauern aus grauem Sandstein. Sieben große Türme hat das Schloss und daher hat es seinen Namen.

In jedem Turm des Schlosses wohnt eine Prinzessin. Da ist zuerst Ada-lie. Sie zieht rote Kleider an. Adeline, die zweite Prinzessin mag die Farbe Orange. Adina hat Gelb gerne und Adriana liebt Grün.

Alida bevorzugt Hellblau und neben ihr wohnt Alisa, die alles in Tief-blau, Indigo genannt, liebt. Dann ist da noch die schöne Aglaia, die Vio-lett am liebsten hat. Schön sind eigentlich alle sieben Prinzessinnen.

Bewacht werden die sieben schönen Prinzessinnen von sieben Drachen. Die Drachen haben keine graugrüne Haut wie alle anderen Drachen, die man kennt, sondern ihre Haut ist rot, orange, gelb, grün, hellblau, indigo und violett gefärbt.

Jeden Sonntag machen alle zusammen einen Ausflug. Die Prinzessinnen sitzen auf dem Rücken ihres Drachen in einem goldenen Sattel und len-ken den Drachen mit silbernem Zaumzeug, welches mit Edelsteinen ver-ziert ist. Sie sehen aus, wie ein Regenbogen, wenn sie über und unter den

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Johanna Gruner

Beim Friseur

Einen Knoten in einen Tigerpython zu schlingen ist auch nicht schwerer als Zöpfe flechten, dachte Renate angenehm überrascht. Der Python

war allerdings noch nicht sehr dick und lang, aber doch deutlich kräftiger als die jungen Aale und Blindschleichen, die sich um Stirn und Schläfen der Kundin ringelten. Die Schlange hatte sich gerade gehäutet, deshalb war Madame Medusa gekommen, um sich die Frisur richten zu lassen. Re-nate musste den Python vorsichtig strecken und die Reste der alten Haut abstreifen. Dann musste er mit Olivenöl eingerieben werden – sehr, sehr vorsichtig, denn direkt nach dem Häuten war er immer extrem berüh-rungsempfindlich und gereizt. Danach sollte er wieder zu einem Knoten am Hinterkopf von Madame gelegt werden.

Als Renate beim ersten Versuch den Knoten etwas zu eng geschlungen hatte, hatte der Python das Maul aufgerissen und sie angefaucht. Zum Glück hatte Renate noch ein paar von den weißen Mäusen, die extra für Medusas Friseurtermine angeschafft worden waren. So konnte sie die ner-vöse Schlange ruhigstellen. Danach ging alles problemlos. Sie baute die Beule im Leib der jungen Würgeschlange in den eleganten Knoten mit ein, den sie mit einem breiten Seidenband sicherte, steckte ein paar der Aale hinter den Ohren der Kundin fest und kitzelte die übrigen glatten, dünnen Schlänglein, bis sie sich elegant kringelten.

„Passt das so?“ Sie hielt den Handspiegel hoch, dass Madame ihren Hin-terkopf mit der ruhig verschlungenen Tigerpython betrachten konnte. Ein gnädiges Kopfnicken belohnte ihre Mühe, sie rückte den Stuhl etwas zu-rück und half der Dame beim Aufstehen.

Schnell fegte sie ihr mit der weichen Bürste noch ein paar Hautschup-pen und Mäusehaare von den Schultern, verbeugte sich ehrfurchtsvoll, und erst als Madame Medusa bezahlt hatte und aus der Tür rauschte, wagte Renate laut und erleichtert auszuatmen.

„Das hast du gut gemacht, Renate“, lobte sie Monsieur Figaro, „deine nächste Kundschaft wartet schon.“

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Johanna Gruner

Dumme Gans

Es war einmal eine alte Frau, die hatte so viele Gänse, wie Löcher in einem Sieb sind und fast täglich kamen neue Gänse dazu. Schöne,

große, weiße Gänse, die auf der Wiese hinter dem Haus der Alten Butter-blumen und Gänseblümchen fraßen, in einem klaren Teich badeten und nach Herzenslust schnatterten, dass es eine Freude war.

Ihr müsst wissen, dass die Alte ein gute Fee war und jedes Mal, wenn irgendwo in der großen weiten Welt ein junges Mädchen beschimpft und ‚dumme Gans‘ genannt wurde, dann verwandelte sich das Mädchen in eine Gans und führte von da an hinter dem Haus der alten Frau das schönste Gänseleben.

Doch bald war die Weide zu klein und der Teich wurde ganz schlammig und trüb, weil zu viele Gänse darin badeten. Schweren Herzens musste die gute Fee die nächste Gans, die bei ihr ankam wieder wegschicken. Sie strei-chelte der Gans über den goldglänzenden Schnabel, kraulte die weichen Daunen und flüsterte ihr zu: „Es soll dir gut ergehen, Töchterchen!“

Sie gab die Gans einer Frau mit, die gerade des Wegs kam und legte ihr ans Herz, die Gans so gut zu behandeln wie ihr eigenes Kind, dann würde die Gans ihr auch jeden Sonntag ein goldenes Ei legen.

Gerne nahm die Frau die schöne weiße Gans mit und als sie nach sechs Tagen zu Hause ankam, war gerade Sonntag. Sofort baute die Gans ein Nest aus Stroh in einer Scheunenecke und legte ein Ei aus purem Gold. Die Frau trug ihrer Tochter auf, die Gans jeden Tag auf die Wiese am Bach zu führen und gut auf sie aufzupassen.

Die Tochter war eine Träumerin, die lieber den Wolken nachguckte, als Gänse zu hüten. Da sagte die Gans zu ihr: „Träum du nur, ich kann auf mich selber aufpassen.“ Das Mädchen träumte und die Gans passte auf sich und das Mädchen auf. Jeden Sonntag legte die Gans ein goldenes Ei, das die Familie als Mitgift für die Tochter in einer Kiste verwahrte.

Bald wussten alle jungen Burschen in der Gegend, dass das Mädchen eine reiche Braut sein würde. Sie war zwar nicht gerade wunderschön,

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Thomas Häbe

Knusper, knusper, Knäuschen 2.0

Sobald wir zurück in der Firma sind, schmeiße ich diese dumme Nuss raus!“ Hans Kowalski rammte den Schaltknüppel in den ersten Gang

und fuhr mit quietschenden Reifen vom Parkplatz des Motels. Sie hatten in den vergangenen Stunden über zwanzig Hotels abtelefoniert und an bestimmt genau so vielen angehalten.

Doch immer dieselbe Absage: „Wenn Messe ist, müssen Sie mindestens zwei Monate im Voraus buchen.“ Auf ihrer Suche hatten sie sich schon weit von der Stadt entfernt und irrten über abgelegene Landstraßen durch die Nacht.

Fräulein Kiesel, Kowalskis Assistentin, saß in ihrem knappen Kostüm auf dem Beifahrersitz. Der Rock war über ihre Knie gerutscht. Auch sie war wütend auf die Auszubildende, die sich bei der Zimmerreservierung für die Messe um eine ganze Woche vertan hatte. Sie starrte durchs Fens-ter und sah seit einiger Zeit nichts anderes als schemenhafte Bäume im Scheinwerferlicht. Wir sind hier am Arsch der Welt, dachte sie.

„Das nächste Mal buchst du die Zimmer“, grummelte Kowalski. Er nahm seine rechte Hand vom Steuer und griff wie beiläufig nach ihrem Knie. Fräulein Kiesel wollte gerade seine Hand beiseiteschieben, als sie im Augenwinkel etwas vorbeizischen sah.

„Anhalten!“, rief sie und ihr Chef trat auf die Bremse. „Da war der Weg-weiser zu ’nem Hotel!“ Kowalski schien nicht überzeugt, schaltete dennoch in den Rückwärtsgang. Da war wirklich ein Schild: Hotel-Pension Waldes-ruh, Zimmer frei! Ein Pfeil wies einen verwachsenen Waldweg hinab.

„Was denkst du?“, fragte er.„Na, das Schild sieht doch recht neu aus.“Er grunzte zustimmend und fuhr von der Hauptstraße ab. Die Büsche

und Sträucher reichten so dicht an den Weg heran, dass immer wieder Blätter und Zweige gegen die Fenster klatschten.

„Als ob Finger nach dem Auto greifen“, Fräulein Kiesel gruselte es.Kowalski musste schmunzeln. Er liebte ihre kindlich-naive Art. Da

könnte sich seine Schreckschraube zu Hause mal was abgucken!

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Eva Heinhold

Die Froschkönigin

Es war einmal eine Königin, die das Leben am Hofe mitsamt ihrem angetrauten König und dessen Königreich satt hatte. Der König war

unbeherrscht und launisch, völlig leidenschaftslos, interessierte sich nicht für sein Land und dessen Menschen und schon gar nicht für seine Frau. Seit Jahren schon verbrachte er seine Tage hauptsächlich mit Schlafen, Essen und Trinken, andere Beschäftigungen ermüdeten und langweilten ihn schnell. So war er mit der Zeit fett und unansehnlich geworden; die Königin ekelte sich furchtbar vor ihm und wollte das Bett nicht mehr mit ihm teilen. Dem König aber war zwar seine Frau völlig egal, doch er wollte einen Thronfolger zeugen und verlangte von der Königin die Erfüllung ihrer ehelichen Pflicht.

Der fiel daraufhin nichts Besseres ein, als zur Mitternachtsstunde bei Vollmond in den Wald zu rennen und die Feen des Waldes um Hilfe anzu-flehen. In dem Wald gab es aber schon lange keine Feen mehr, bis auf eine, die wegen Unfähigkeit aus der Feengemeinschaft ausgeschlossen worden war. Und die hörte nun die Königin rufen und wehklagen.

„Ach, ihr Feen des Waldes, könnt ihr mich denn nicht von meinem widerlichen Ehemann befreien, lasst ihn an seinem Essen ersticken oder sonst etwas, es darf nur nicht so aussehen, als hätte ich etwas damit zu tun.“

Die Fee trat hervor.„Schönen Abend, Frau Königin, das ist aber ein garstiger Wunsch.“„Er ist ja auch ein garstiger Mann“, schimpfte die Königin.Dann sah sie sich das Wesen das vor ihr stand genauer an.

„Wer bist du denn?“, fragte sie etwas unhöflich.„Ich bin Ulrike, die einzige Fee, die es hier noch gibt“, entgegnete die

Fee, nun auch etwas verschnupft.„Ulrike? Ich dachte Feen hätten klangvollere Namen und sähen auch

hübscher aus.“Missbilligend betrachtete die Königin das stumpfe braune Haar der Fee,

das ihr wirr vom Kopf abstand und senkte den Blick dann auf Ulrikes

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Jeanette Holdinghausen

Der Maultaschendepp

Weit ab vom Dorf, hoch oben am Berg, bewohnte eine traditions-reiche Familie einen alten Bauernhof. Vor vielen Jahren hatten

die Dorfbewohner diesem Fleckchen Erde den außergewöhnlichen Na-men „Mondlandhügel“ gegeben, denn dort leuchtete der prächtige Mond auf ganz besondere Art und Weise. Je nach Blickwinkel, Zeitpunkt und Wetter, wirkte die Landschaft majestätisch. Und irgendwie hatte es etwas Gespenstisches. Zumindest nach Meinung der Dorfbewohner, denen der Hügel und der Bauernhof dort oben unheimlich schien.

Der Aufstieg war mühsam, der durch ein kleines Wäldchen und über etliche Hügel führte. Dem Maultaschendepp, dem Jüngsten in der Fami-lie, war dieser Weg sehr vertraut. Von klein auf ging er jeden Tag ins Tal hinunter und stieg wieder hinauf. Er kannte nichts anderes, liebte diesen Ausblick, die Ruhe, ob am frühen Morgen oder spät am Abend. Ganz egal wann, jede Tageszeit hatte für ihn einen speziellen Reiz. Insbesondere liebte er die mysteriöse Atmosphäre. In den nahe gelegenen Höhlen such-te er immer dann die Ruhe, wenn er von den Dorfbewohnern und dem Geschwätz die Nase voll hatte.

Im Grunde waren sie, die Bauernfamilie, dort oben glücklich und das seit Generationen. Sie verstanden die Dorfbewohner überhaupt nicht. War es wirklich so sonderbar auf dem Mondlandhügel zu wohnen?

Unten im Tal hatte es den Anschein, als würden alle, die ihm begegne-ten, kauzig reagieren. Inzwischen war er doch nicht mehr der kleine Bub, hatte Interesse am Leben und an den Mädels. Nur, wie sollte er jemals ein weibliches Herz erobern können, wenn er der Maultaschendepp war? Er konnte doch nichts dafür, wurde auf dem Bauernhof, dem Mondlandhü-gel geboren und wuchs inmitten einer Produktion von den besten Maulta-schen, die es weit und breit gab, auf.

So musste er schon als kleiner Bub viele Dorfbewohner mit den Be-stellungen von Maultaschen versorgen und auf heimische Märkten mitge-hen. Er war es gewohnt, es war sein Leben. Mittlerweile empfand er seine

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Judith Holle

Der Geschichtenerzähler

Wie jeden Abend im Winter war der Pub überfüllt. Das ganze Dorf kam, um die Neuigkeiten des Tages zu erzählen: die neue Katze der

Nachbarn, die Kinder, die einen Schnupfen hatten oder der Streit mit der Ehefrau. Es war warm; ein Kamin und der Atem der vielen Dörfler ließen die Luft immer stickiger werden. Gelächter, streitende Stimmen und das Geschrei der Kinder, die draußen im leuchtend weißen Schnee spielten, drangen durch den engen Raum und füllten ihn mit Leben. Eisblumen verschleierten die Sicht aus dem Fenster und das Geräusch wilder Klavier-musik ließ die Gläser an der Bar klirren. Die ersten angetrunkenen Gäste begannen zu tanzen und es würde nicht lange dauern, bis sie das Tanzen auf die klapprigen Tische verlagerten.

Allein im Gedränge saß, an einem kleinen Tisch mit zusammengewür-felten Stühlen, eine alte Frau mit weißem Haar. Stumm sah sie sich um, beobachtete die Gäste. Sie passte nicht hierher, an diesen vor Ausgelassen-heit vibrierenden Ort, doch bemerkte sie kaum noch jemand an ihrem Stammplatz. Manche behaupteten gehört zu haben, früher sei sie einmal ein junges, hübsches Mädchen gewesen, doch eine Krankheit hätte ihren Verlobten und beinahe auch sie hinweggerafft.

Ein lautes Poltern an der Tür ließ die Szene gefrieren. Kaum jemand konnte sich erinnern, dass je geklopft worden war, die Leute öffneten ein-fach die Tür und kamen dann mit großem Hallo herein – und Geschich-tenerzähler fanden nur noch selten den Weg in den abgelegenen Ort, um an die morsche Tür des alten Pubs zu klopfen. Die letzten wenigen Töne verklangen in der Stille, dann verstummte auch das Klavier.

Es klopfte erneut, einmal, zweimal, dreimal, dann öffnete sich die Tür. Im Rahmen stand ein Mann. Er war groß und trug einen schwarzen Umhang mit Kapuze, die sein Gesicht verbarg und seine Augen in tiefe Schatten legte. Nur sein schmallippiger und beinahe farbloser Mund war zu erkennen. Mit langsamen und geschmeidigen Schritten trat der Mann ein. Hinter ihm her schlichen die Kinder und zwängten sich in den ver-

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Bernhard Horwatitsch

Rote Sage

Fritjof prüfte die Erde, grub ein kleines Loch und stellte fest, dass die Erde hier gut war. Er legte seinen Rucksack ab, baute sein Zelt auf. Er

war lange gegangen, hier würde er nun bleiben. Schon am nächsten Mor-gen begann Fritjof mit der Arbeit, vergrößerte das Loch, schlug Holz und brachte es zu seinem ausgewählten Ort. Recht bald stand sein Häuschen, nicht groß, aber sein Eigenes, mit seinen eigenen Händen erbaut.

Wenn Fritjof nun am frühen Morgen vor sein Haus trat, um zur Feld-arbeit zu schreiten, konnte er die Sonne sehen, ein merkwürdiger roter Ball, der tief im Horizont auf der Erde lag. Im Laufe des Tages änderte sich das. Der Ball stieg auf und rollte auf die andere Seite. Er wurde bei zunehmendem Tageslicht gelb und blendete einen, wenn man ihn ansah.

Sobald der Ball ganz gelb, leuchtend und hoch war, zog sich der schwit-zende Fritjof in sein schattiges Häuschen zurück. Er kam erst wieder her-aus, wenn der Ball hinter seinem Haus zum Liegen kam. Da lag er dann, rot wie am Morgen, bis die Dunkelheit ihn unsichtbar machte. Fritjof legte sich schlafen, im Bewusstsein, eine gute Erde erwischt zu haben mit einem eigenen roten Ball.

Eines Morgens trat Fritjof wieder vor sein Haus, streckte sich, begrüßte seinen roten Ball und wollte zum Feld gehen. Da sah er plötzlich etwa hundert Meter entfernt einen anderen Mann, der vor einem Zelt stand, so wie er selbst einst, als er hier angekommen war.

Skeptisch sah Fritjof zu dem Mann herüber. Was wollte der hier? Woll-te er ihm am Ende den Ball wegnehmen, um seine eigene gute Erde zu haben? Doch Fritjof lachte in sich hinein, denn der Mann schien nicht zu wissen, dass noch ehe er dem Ball näher kommen konnte, der Ball abhob und in die Höhe stieg und auch noch westwärts rollte. Du kannst mir die-sen Ball nicht nehmen, sagte Fritjof beruhigt in sich hinein, winkte dabei dem Mann vor seinem Zelt kurz zu.

Der fremde Mann blieb. Fritjof sah zu, wie auch dieser Mann ein Haus baute. Es schien Fritjof sogar größer als sein Eigenes zu sein. Vielleicht

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Béla Jancso

Vom Grashalm, der lieber eine Blume sein wollte

Es war einmal eine schöne grüne Wiese, direkt am Straßenrand bei einer Kreuzung. Weiter hinten, unter einem Hügel, lag eine Wiese neben

vielen Gärten mit Obstbäumen. Ganz am Rand dieser Wiese lebte, mit Millionen seinen Geschwistern, ein kleiner Grashalm.

Er konnte weit über den Wiesenrand schauen, viel aus der Welt sehen und trotzdem war er sehr unglücklich mit seinem Schicksal. Er schaute oft hinter sich, mitten an die Wiese, wo viele schöne und bunte Wiesenblu-men blühten. Es war eine Wonne die anzuschauen. In seinem Gedanken war der kleine Grashalm schon oft eine von diesen Blumen, stolz auf seine Farben, Formen und Düfte. Darüber erzählte er auch seinem Freund dem Grashüpfer. Der konnte aber nur den Kopf schütteln.

„Du, als duftende Blume? Kann ich mir nicht vorstellen. Wie sagen es die Menschen? Schuster, bleib bei deinem Leisten! Am besten bleibst du auch, dort wo du bist und was du bist. Daran kannst du gar nichts ändern. Wunder geschehen nur im Märchenland und nicht am Straßenrand! Wach auf, lieber Freund, jeder trägt doch sein eigenes Schicksal. Stell dir vor: du als Klatschmohn! Ha, ha, ha!“ Und hüpfte davon. Dadurch war der kleine Grashalm noch trauriger. Da flog gerade eine Grasmücke vorbei.

„Hei! Lieber Vogel, erzähle mir bitte, wie ist das Leben da hinten, mit-ten in der Wiese? Ist es wahr, dass die Glockenblumen, von näher be-trachtet auch so schön blau sind, dass der Klatschmohn so intensiv rot und das Gänseblümchen und die Margeriten so gelb und weiß sind und leuchten? Und der Fuchsschwanz? Ist er wirklich so krumm? Gibt es dort wirklich viele Bienen und Schmetterlinge? Erzähle mir, liebe Grasmücke, dem Name nach wärst du mein Verwandter, also, unter uns, sage es mir!“

Die Grasmücke bestätigte alles. Der kleine Grashalm wurde noch trau-riger und nachdenklicher. Sein Wunsch, nicht mehr der unscheinbare grau-

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Yvonne Kaeding

Kleider für die Eisprinzessin

Auf einer Insel, mitten im kalten Nordmeer, lebte Prinzessin Laska. Frost zeichnete Eisblumen auf ihre Arme und Beine und ihre Haare

sahen aus, als hätte man Schneeflocken zu Ketten aufgefädelt. In der Son-ne strahlten und funkelten all die Kristalle so schön, dass so mancher über Laskas Anblick ins Träumen geriet.

Mit der Prinzessin lebten die Schneemänner auf der Insel. Einen hatte Laska besonders gern. Hugo den Alten. In seiner Jugend war Hugo nachts über seine Schlittschuhe gestolpert und hatte sich so furchtbar den Kopf gestoßen, dass seine Nase abbrach und das linke Auge verrutschte.

„Hugo, erzähle noch einmal die Geschichte von den Farben!“Die Prinzessin saß mit dem alten Schneemann am Fenster. Draußen

rüttelte der Wind an den Dächern der Schneemänner-Hütten und brach die Eisblumen im Garten ab. Kein Wetter, um raus zu gehen für eine zier-liche Prinzessin. Bei solchen Stürmen vertrieb Hugo Laska die Zeit, indem er ihr Geschichten erzählte.

Hugo lebte schon sehr lange auf der weißen Insel. Vor vielen Jahren, als sein Auge noch nicht schief und seine Nase spitz und lang war, wurde ein Schiff vom Wind an die Küste der Insel getrieben.

„Oh Laska, war das ein Sturm“, erzählte Hugo und rieb sich an seinem Nasenstumpf. „Niemand wagte sich nach draußen. Alle saßen in ihren Hütten. Die Schornsteine wackelten und knarrten, dass einem Angst wer-den konnte. Und dann sah ich durch das Fenster, wie ein Schiff auf unsere Insel zutrieb. Es schaukelte und wackelte in den Wellen und manchmal dachte ich, jetzt kippt es um. Aber es kippte nicht um. Irgendwann er-reichte das Schiff unseren Strand und ich sah, dass sich Männer darauf festhielten. Ihre Arme und Beine hatten sie um die Masten geschlungen, damit der Wind sie nicht davon wehte. Ich schlug die große Glocke zum Alarm: ein Schlag, eine Pause, ein Schlag, Pause und dann zwei schnelle Schläge hintereinander. Alle Männer des Dorfes eilten nun in mein Haus und allen hatte der Sturm auf ihrem Weg die Zylinder vom Kopf geblasen.

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Alice Karen

Die Königin und das Sternenlicht

Es war einmal eine Königin. Seit vielen Jahren schon regierte sie das Land gütig und weise. Noch jedes Mal, wenn ein benachbartes König-

reich einen Krieg anstrebte, hatte sie es vermocht, den Streit zu schlichten und den Frieden zu wahren. So war ihr Ansehen nicht nur bei ihrem eige-nen Volk, sondern auch bei den Völkern der Nachbarreiche so hoch wie die höchsten Berge, die die damalige Welt kannte.

Doch trotz der Ehrerbietung und Liebe, die der Königin entgegen ge-bracht wurde, war sie nicht glücklich in ihrem Leben. Denn seit sie geboren ward, war sie allein in dieser Welt. Ihre Mutter verstarb bereits im Kindbett, nur kurze Zeit später gefolgt von ihrem Vater, den in seiner Trauer eine schwere Krankheit ereilte und von der er alsbald dahingerafft wurde.

So wuchs die Königin auf zwischen Ammen und Lehrern, Bedienste-ten und Untertanen – doch niemand vermochte ihr Begleiter zu werden, kein Vertrauter offenbarte sich ihr und es gab niemanden, der ihre Ein-samkeit vertreiben konnte.

Eines Nachts stand die Königin schlaflos auf dem Balkon vor den Fenstern ihres Gemaches und blickte hinaus in die Welt. Die Mauern ihrer Burg gaben ihr Sicherheit; doch sie beengten sie, wie der Leib das schlagende Herz beengt.

Ein leiser Seufzer entrang sich ihren Lippen und schwang sich auf den Wind, um auf ihm hinauf zum Sternenhimmel zu reiten. Die Königin beobachtete wehmütig, wie ihr Seufzen sich entfernte – und ein zweites Seufzen entkam ihrem Herzen, überwand ihre Lippen und folgte dem Ersten zum Firmament. Kein Schatten blieb zurück, keine Spur verwies auf das Dasein der beiden Seufzer – und wie sie sich immer weiter von der Königin entfernten, verschwand jeder Hinweis auf ihre Existenz. Nur die Nachtluft blieb kalt und zitternd zurück.

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Johanna Kastberger

Aline und das Tor der Verwandlung

Aline blinzelte in die Sonne. Bald würde es Mittag sein, denn die Sonne stand schon hoch am Himmel. Höchste Zeit sich wieder zu verwandeln.

Wehmütig betrachtete sie ihre weißen Vorderpfoten, streckte den langen ge-schmeidigen Körper, spreizte die Krallen und gähnte. Es war herrlich ein Kätz-chen zu sein. Übermütig sprang sie auf und schnappte nach einer vorbei flie-genden Hummel. Natürlich hütete sie sich davor, die Hummel tatsächlich zu fangen. Hummeln konnten beißen, das tat bestimmt weh. Sie sah der Hum-mel nach. Na ja. Es musste sein. Sie musste durch das Tor, um sich zu verwan-deln und wieder ein Schulkind werden, lernen und Aufgaben schreiben.

Alines Magen knurrte. Sie hatte seit dem Frühstück nichts gegessen. Die Vorstellung eine Maus zu fangen, zu töten und zu fressen, wie richtige Katzen es taten, behagte ihr nicht. Da war sie doch lieber wieder ein Schul-kind. Seufzend lief sie zum Tor der Verwandlung.

Eine merkwürdige Vorahnung kribbelte unangenehm in ihrem Bauch. Nun ja, eigentlich hätte sie Samstagvormittag für den Sachkun-detest lernen müssen. Sie hatte es ihrer Mutter fest versprochen. Aber dem Abenteuer der Verwandlung hatte sie einfach nicht widerstehen können. Es war auch immer ganz einfach gewesen: Durch das Tor laufen und sich dabei ganz fest zu wünschen, ein Kätzchen mit grauen Streifen und weißen Pfoten zu sein. Und schon war sie ein Kätzchen mit grauen Streifen und weißen Pfoten.

Aline war beim Tor angekommen. Das Kribbeln im Bauch verstärkte sich zu einem heftigen Schmerz. Sie schüttelte ihr Köpfchen, als könnte sie damit das ungute Gefühl verjagen, dann sah sie die Bescherung. Das Tor war geschlossen.

Vielleicht hat es der Wind zugeworfen, dachte Aline. Mit den Pfoten aufzudrücken war zu schwierig, denn das riesige Tor war aus dickem Ei-

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Christine Kästner

Das Häuschen im Wald

Der Regen klopfte an das Fenster, gerade erst hatte sie sich einen schönen heißen Tee gemacht. Es war kalt geworden und hier, weit

draußen in ihrem kleinen Häuschen, schien die Welt noch mehr als sonst stehen geblieben. Schon seit ein paar Tagen musste sie ihre „gute Stube“ beheizen. Nur Mimi, ihre Katze fühlte sich pudelwohl und kuschelte sich lustvoll in den Sessel.

Ach, schon lange war niemand bei ihr gewesen. Und sie war alt geworden. Ihre Glieder schmerzten und auch sonst wünschte sie sich ein wenig mehr Unterhaltung. Doch der Umgang mit ihren Mitmenschen fiel ihr schwer und sie vermied ihn am liebsten ganz. Zu ihr hier draußen im Wald kam eh niemand vorbei. Nahezu lautlos setzte sie sich zu Mimi an dem Kamin.

Damals als ihr Bruder noch lebte, ach was hatten wir Spaß miteinan-der. Doch er war schon lange nicht mehr da. Überhaupt war er einer der Wenigen, die ihr jemals etwas bedeuteten. Sie musste etwas lächeln, was für Angst sie als Kind vor dem Wald gehabt hat und nun … Aber ihre Angst war ja keinesfalls unbegründet, denn schließlich hatte sie sich ein-mal fürchterlich verlaufen. Zum Glück war ja ihr Bruder bei Ihr gewesen.

„Ach, wie lange das schon alles her ist“, murmelte sie leise und strich zart über Mimis Fell, während sie die Flammen im Kamin betrachtete. Sie waren ja noch Kinder – und trotzdem mussten sie sich damals allein durchs Leben schlagen. Ihre Familie war arm, sehr arm sogar. Ständig hat-ten sie Hunger und zum Anziehen gab es auch nicht viel.

So kam es wohl, dass ihre Eltern einst beschlossen ihre beiden Kinder auszusetzen, damit sie selbst für sich sorgen würden. Allein diese Erinne-rung versetzte ihr noch immer ein Stich ins Herz.

Erst nachdem sie und ihr Bruder lange gelaufen waren und es fast dun-kel geworden war, erreichten sie tief im Wald ein kleines Häuschen. Wie hungrig sie da waren, und wie sie froren und wie froh sie waren, als die Alte, die dort wohnte, ihnen etwas zu essen gab. Sie ahnten ja nicht, dass die Alte ganz eigene Ziele verfolgte und den beiden nichts Gutes wollte.

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Michaela Keller

Kamron, der Wolf

Vor langer Zeit, als die Welt noch voller Magie war, zogen die Wölfe in großen Rudeln durch das Land. Die Gemeinschaft machte die Wölfe

stark und schützte sie vor vielen Gefahren. Ein Wolf verbrachte meist sein ganzes Leben in dem Rudel, in das er hineingeboren wurde.

Doch es gab einen Wolf, der war anders als die anderen. In der Nacht seiner Geburt kam die Rudelälteste zu den Eltern, um dem Neugeborenen seinen Namen zu geben, wie es üblich war. Sie besah ihn sich und sagte zu seiner Mutter: „Dein Sohn trägt die Sehnsucht im Herzen. Sein Name soll Kamron sein.“ So wurde Kamron in die Gemeinschaft aufgenommen.

Eines Tages, lange bevor Kamron erwachsen war, geriet das Rudel in den Hinterhalt eines Wilderers. Die Wölfe hatten die Fallen auf dem dicht bewachsenen Waldboden nicht bemerkt. Das Rudel schreckte erst auf, als die schweren Eisenzähne zuschnappten. In Panik liefen die Wölfe davon und Kamron wurde mit ihnen getrieben. In sicherer Entfernung gab die Rudelälteste Zeichen, anzuhalten. Kamron suchte zwischen den Wölfen nach seinen Eltern, doch er konnte sie nirgends entdecken. Er blickte zu-rück und sah sie gefangen in den Fallen. Sie versuchten nicht, sich zu be-freien. Kamron wollte zu ihnen, aber die Rudelälteste hielt ihn zurück. Sie waren verloren.

Die Wölfe im Rudel kümmerten sich um Kamron, als wäre er ihr eigener Sohn. Doch so sehr sie sich auch bemühten, Kamron fühlte sich einsam und verlassen. Die Zeit verging und schließlich erwachte in Kamron die Sehnsucht, in die Welt hinaus zu gehen und nach dem zu suchen, was ihm fehlte. Die Rudelälteste kam zu ihm und sagte: „Ich sehe, dass dein Herz hier nicht länger zu Hause ist. Du bist frei zu gehen, wenn es dein Wunsch ist.“ In derselben Nacht verließ Kamron das Rudel, ohne sich zu verabschieden.

Er zog allein durch das Land und nach einigen Wochen wurde die Einsamkeit unerträglich. Als er in einem Gebirge einem Rudel begegnete, bat er um Erlaubnis, mit ihnen zu ziehen und er wurde aufgenommen. Doch sein Herz blieb rastlos und er verließ das Rudel bald wieder. Fast

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Bente Klindt

Lavinia und der Drache

Es war einmal ein Mädchen, das hieß Lavinia und lebte mit seiner Mut-ter zusammen in einem kleinen Dorf, in der Nähe des königlichen

Palastes. Das Dorf lag direkt an dem größten Wald des Reiches. Er war so dicht, dass es keinem gelungen war, ihn zu durchdringen. Nur der wilde Fluss hatte es geschafft und sich seinen Weg gebahnt.

Lavinias Zuhause lag nahe am Fluss, außerhalb des Dorfes auf einem kleinen Hügel. Sie waren nicht reich, aber sie hatten ihr Auskommen. La-vinia konnte sogar die Schule besuchen, mit der sie im nächsten Sommer fertig war. Nach den Schularbeiten half sie ihrer Mutter Vivianne, die als Wäscherin für den Palast arbeitete. Zweimal in der Woche kam ein Wagen, brachte die schmutzige Wäsche und nahm die Saubere wieder mit.

Lavinia nahm sich einige Hemden und ging hinunter zum Fluss. Sie kletterte auf ihren Lieblingsfelsen, der etwas ins Wasser ragte. Sie tauch-te ein Hemd ins Wasser, legte es auf den Stein und verteilte Asche auf dem Hemd. Dann fing sie an, das Hemd mit der Bürste zu bearbeiten, so wie ihre Mutter es ihr beigebracht hatte. Sie nahm das Wäschestück und tauchte es wieder ins Wasser. Lavinia musste die Asche gut ausspü-len, sonst würde das Hemd grau werden. Immer wieder tauchte sie das Hemd tief ins Wasser und schüttelte es. Plötzlich glitt ihr das Hemd aus der Hand, und ehe sie sich versah, war das Kleidungsstück verschwunden.

Lavinia sprang sofort ins Wasser und suchte nach dem Hemd. Sie musste es einfach finden. Immer wieder tauchte sie ihre Arme tief unter die Oberfläche. Sie schaute über das Wasser. Wo war es nur?

Ihre Mutter würde Ärger bekommen, wenn sie das Hemd nicht wieder zurückgab. Vielleicht verlor sie sogar ihre Arbeit. Lavinia hatte Tränen in den Augen. Immer hektischer suchte sie nach dem Hemd, suchte die gan-ze Böschung ab, in der Hoffnung, dass es sich in den Pflanzen, die dort wuchsen, verheddert hatte. Vielleicht war es ja mit der Strömung weiter den Fluss entlang getrieben. Sie schaute sich suchend nach ihrer Mutter um, aber sie konnte Vivianne nirgendwo entdecken und so machte sich

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Bellis Klunkerfisch

Gartenkind

In einer kleinen Stadt am Meer gab es einmal einen großen Garten, ei-gentlich einen Park, in dem ein prächtiges Haus stand. Der Garten und

das Haus gehörten einer Dame, die so vermögend war, dass ich keine Vor-stellung davon hatte, wer reicher sein könnte als sie. Und doch schien ich etwas zu besitzen, was ihr fehlte und was sie deshalb begehrte. Weswegen sie es mir wegnahm.

Ich selbst war arm. Meine Mutter hatte ich nicht kennengelernt. Mein Vater, ein Fischer, war vor Kurzem gestorben und hatte mir nichts hinter-lassen als ein verschuldetes Häuschen und ein löchriges Boot. Beides ver-kaufte ich für ein paar Münzen und zog in die Stadt, um Arbeit zu finden. Ich war jung und kräftig, und als sich für mich die Gelegenheit bot, in der Küche des prächtigen Hauses zu helfen, nahm ich die Stelle gern an. Ein Bett wurde mir auf dem Dachboden in einer kleinen Kammer zur Ver-fügung gestellt. Spätabends nach der Arbeit blickte ich von dort in den Garten; ich sah purpurne Blüten, roch betörend süße Früchte und hörte den Wind in sonderbaren Bäumen rauschen, die selbst wie Blumen aus-sahen, mit geschuppter Rinde und Blättern wie Farnwedel. Und am Tag erkannte ich auf dem feinen Porzellan der wohlhabenden Dame einige Pflanzen aus dem Garten wieder. Wenn ich die festen Kartoffelknollen und die saftigschweren Salatköpfe in den Händen fühlte, wuchs meine Neugier auf die Gartenfülle nur noch mehr. Deshalb fragte ich beharrlich den Koch oder einen der zahlreichen Gemüsegärtner, die von der Dame beschäftigt wurden, nach den Namen der Gewächse.

Die Arbeit der Gärtner schien mir noch schwerer als unsere Arbeit in der Küche zu sein. In den warmen Monaten des Jahres mähten sie den Rasen zwischen den mächtigen Bäumen, beschnitten Hecken und putzten die Scheiben der großen Gewächshäuser, in denen südländisches Gemüse und exotische Blumen gezogen wurden. Im Herbst ernteten sie Beeren, Nüsse und Trauben, fegten Laub und häufelten es um die Rosensträucher an. Im Winter wickelten sie Tannengrün um die Stämmchen der empfind-

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Bellis Klunkerfisch

Der Buch

Die Buche war gelangweilt. Sie stand jetzt schon seit zweihundertund-sieben Jahren am gleichen Platz im Park: etwas abseits des Haupt-

wegs und nah an einer seiner Begrenzungsmauern. Gepflanzt wurde sie zu Ehren von Napoléon Bonaparte. Ursprünglich wies eine Eisentafel am Wegrand auf die Napoléon-Buche hin, und unter der Buche (damals noch neben ihr, denn sie war zu dem Zeitpunkt erst ein kaum zwei Meter hoher Heister) wurde eine steinerne Bank aufgestellt. Irgendwann, als die Alten, die sonntags mit ihren Enkeln auf der Bank ausruhten, nicht mehr von Revolutionen erzählten, wurde die verrostete Tafel entfernt.

Die Bank unter der Buche wurde immer seltener besucht, anfangs noch von Liebespaaren, später von spielenden Kindern oder von Spaziergängern mit Hunden. Doch Brennnesseln und Brombeerranken ließen den schma-len Seitenweg zum Baum immer unsichtbarer werden, und so verirrte sich heute nicht mal mehr ein entwischter Hund hierher. Die Bank gab es aber immer noch, wenn sie auch kaum zu erkennen war unter Moos und abgefallenem Buchenlaub.

Im Augenblick döste die Buche in der heißen Mittagssonne, sanft einge-lullt vom Rascheln des Winds in ihren Zweigen, dem pflichtbewussten, mü-den Flöten eines Amselmännchens und dem Streicheln zweier Eichhörnchen-schwänze. Sie war so träge, dass sie die Ankunft eines Menschen verschlief.

Als sie erwachte, sah sie auf der Bank an ihrem Fuß etwas liegen. Es sah aus wie ein breites flaches Holzscheit mit sehr glatten Kanten. Der Buche lief ein Schauer durch die Zweige, denn nichts fürchtete sie mehr, als eines Tages als Brennholz zu enden. Manchmal hörte sie den Wind darüber flüstern, wenn er aus dem Wald zurückkehrte und einen beunruhigend rauchigen Duft mit sich trug. Ein Mensch muss dieses Ding auf der Bank liegen gelassen haben, als ich schlief, dachte sich die Buche.

Schon öfter konnte sie nämlich beobachten, wie menschliche Besucher solche Scheite auseinanderklappten, sodass diese ihr Inneres preisgaben. Dann starrten die Menschen stundenlang hinein und wendeten dabei

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Sabine Kohlert

Das Märchen von der guten Fee

Als die gute Fee eines Tages tatsächlich in meinem Zimmer erschien, war ich wie beseelt: Mein größter Wunsch konnte Wirklichkeit werden!

Nicht im Traum hätte ich daran gedacht, dass es auch Bedingungen gäbe … Seit meiner Kindheit wurde ich pausenlos nur gehänselt. Ich war schon

immer etwas dicklich, besaß kurze Beine, einen untersetzten Körperbau, strähnige gelbe Haare und ein volles, rundes Mondgesicht. Dazu hatte ich noch zwei mopsige Pausbäckchen abbekommen, in die mich sämtliche Tan-ten gerne und oft zwickten, mit den Worten: „Was für ein wonniges Kind.“

Ich fand mich überhaupt nicht wonnig. Ich fand mich einfach nur häss-lich seit dem ersten Moment, in dem ich mich im Spiegel selbst erkannte.

Im Kindergarten war ich nur die dicke Trine. In der Schule „Kürbis-kopf mit Spaghetti“ oder ich musste mir Sprüche anhören wie: „Kein Wunder, dass die Wölfe heulen, wenn sie diesen Vollmond sehen.“ Irgend-wie rackerte ich mich durch die Zeit der Pubertät und wurde erwachsen.

Zwei Seelentröster halfen mir, dies alles zu ertragen: Marmelade, die ich zwischen meinem zwölften und meinem zwanzigsten Lebensjahr in unglaublichen Mengen vertilgte und der Gedanke an meine baldige Er-rettung aus diesem Elend.

Mein Großvater hatte mir nämlich, als ich acht Jahre alt war, ein wunderschönes Märchenbuch geschenkt. Es handelte von einer Fee die Sehnsüchte stillte und Hoffnungen wandelte in Wirklichkeit und Wahr-heit. Man musste nur von ganzem Herzen an sie glauben und von einem immerwährenden und unstillbaren Wunsch erfüllt sein. Dann würde sie irgendwann kommen, ganz bestimmt. Oh, und wie ich an diese Fee glaub-te, aus dem Tiefsten meines Herzens. Mein Wunsch war größer als alles andere in meinem Leben. Nur die Marmelade, die ich für das tägliche Überleben brauchte, hatte einen ähnlichen Stellenwert.

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Rita Krippendorf

Töni und der Zwergenkönig

Es war einmal vor langer Zeit, da lebte in einem Haus etwas außerhalb des Dorfes ein Junge, den seine Eltern Töni riefen, denn er war ein

fröhliches Kind. Fröhlichkeit war ein rares Gut, denn das Dorf war arm. Wie hätte es auch anders sein können, da der Boden von Steinen übersät war und nur karge Erträge brachte.

Einmal, in einem heißen Sommer, gerieten die Menschen dort in eine besonders schlimme Lage. Seit Wochen hatte es nicht geregnet. Die Wie-sen waren verdorrt und das Getreide trug nur kleine Ähren. Das Vieh war mager und die Leute im Dorf sahen mit Sorge in den wolkenlosen Himmel. Das ganze Land stöhnte unter der unbarmherzigen Hitze, nur Töni freute sich über den Sonnenschein und spielte vergnügt am Bach vor dem Eltern-haus. Vom quicklebendigen Bächlein war nur ein dünnes Rinnsal übrig ge-blieben, auf dem Töni um so besser von einem Stein zum anderen springen konnte. Er hüpfte von einem Ufer zum anderen, hin und her, und hin und her, obwohl er sehr genau wusste, dass das verboten war. Er wusste, dass er der Höhlung unter der Uferböschung nicht zu nahe kommen durfte, denn dort, so hieß es, wohne der Zwergenkönig mit seinem Hofstaat.

Immer näher kam er der dunklen Öffnung, die im Ufergestein gähnte, bis er so dicht davor stand, dass er hineinspähen konnte. Er sah winzige leuchtende Punkte, die sich näherten. Noch bevor er sich besinnen konnte, spürte er, dass Hände nach seinem Hemd griffen und daran zerrten. Es waren viele Hände, kleine, aber unerhört kräftige Hände mit langen dün-nen Fingern, die ihn in die Höhle hineinzogen.

Sie gehörten den Salamander-Zwergen. Schemenhaft sah Töni im spär-lichen Licht ihre gedrungenen Gestalten und hörte ihre Schwänze über die Erde schleifen. Sie schleppten ihn eine steinerne Treppe hinab und brachten ihn in einen großen, von siebenarmigen Leuchtern erhellten Raum. Salamander-Soldaten mit dreizackigen Speeren standen Spalier, als er zum erhöhten Podest am Ende des Raumes gebracht wurde. Dort saß der Zwergenkönig auf seinem Thron aus vergoldetem Wurzelholz.

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Rita Krippendorf

Lillibel

Früher einmal wohnte in einem Garten in der Stadtrandsiedlung eine Elfe namens Lillibel. Sie war die jüngste von sechs Schwestern. Die

fünf anderen waren, so wie es sein soll, gleichzeitig zur Welt gekommen. Nur Lillibel war einen Wimpernschlag zu spät aus ihrem Tautropfen geschlüpft. Unglücklicherweise, denn für eine Elfe ist es ein schlechtes Omen, die Letzte zu sein.

Schon beim Verteilen der Kleidung nahm das Verhängnis seinen Lauf. Die Kleider der Schwestern waren Kunstwerke aus spinnwebfeinen Stof-fen in Rosa, Flieder, Zartgrün und Hellblau. Sie waren mit Blendwerk ausgestattet, damit Menschen sie nicht sehen können, und mit Goldglit-ter besetzt, um in der Sonne nicht zu verbrennen. Allerliebst sahen die grazilen Elfen darin aus. Lillibels Anblick dagegen war zum Heulen. Sie hatte nehmen müssen, was niemand sonst haben wollte, ein Gewand aus grobem Stoff, unförmig wie ein Müllbeutel, schweflig gelb gefärbt. Es war viel zu groß. Lillibels zarte Gestalt ging darin fast unter und mit Mühe streckte sie ihren Kopf daraus hervor.

Theodora, die boshafteste der Schwestern, entdeckte sie als Erste. Sie lachte so schrill, dass die Gänseblümchen vor Schreck die Köpfe einzogen.

„Zwiebelchen“, rief sie, „unsere Lillibel sieht aus wie ein hässliches Zwiebelchen.“

Die Schwestern prusteten vor Lachen, bis ihnen die Tränen über die Wangen kullerten, aber Lillibel wäre vor Scham am liebsten im Erd-boden versunken. Alles Klagen nützte nichts. Sie musste als Tollpatsch durchs Leben gehen. Das lag an den schweren Schuhen und am weiten Kleid. Oft verhedderten und verknoteten sich Arme und Beine im Stoff, und sie musste die Schwestern bitten, sie wieder zu befreien. Die taten das nicht umsonst. Lillibel musste alle Töpfe und Schüsseln polieren, alle Bett-decken aufschütteln und alle Schlafstellen blitzeblank putzen. Wenn sie damit fertig war, war ihr Gewand grau vor Staub. Lillibel wusch es dann im Regenfass und hängte es zum Trocknen an einen Zweig.

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Margit Kröll

Der arme, böse Wolf

Heute erzähle ich einmal meine Geschichte. Immer werde ich als „böse“ bezeichnet, aber das bin ich doch gar nicht! Daran sind nur die Ge-

brüder Grimm schuld, die haben überall Lügen verbreitet. Keiner wollte meine Version der Geschichte wissen. Niemand wollte mir zuhören, also nutze ich heute die Gelegenheit.

Mein Name ist „Böser Wolf“. Lange hieß ich nur „Wolf“, aber irgend-wie nannte mich mit der Zeit jeder „Böser Wolf“. Dabei wäre vielleicht

„Hungriger Wolf“ oder „Lieber Wolf“ die bessere Bezeichnung gewesen!Ich habe acht Kinder, die muss ich versorgen. Meine Frau hat mich

verlassen, weil sie mit meinem Ruf nicht mehr zurechtkam. Ich konnte doch nichts für meinen Namen, außerdem war ich nicht der einzige Wolf in diesem Wald, nur gab mir jeder die Schuld für irgendwas.

Als alleinerziehender Wolf ist es nicht einfach. Meine Kinder haben ständig Hunger, und damit sie wachsen, brauchen sie etwas zu essen. Ich kann sie doch nicht einfach verhungern lassen, ich will doch kein schlechter Vater sein! Wir sind nun nicht dafür gemacht, sich von Gras und Blumen zu ernähren, sonst wären wir als Schafe, Ziegen oder als Veganer auf die Welt gekommen.

Eines Tages schlich ich durch den Wald, um nach Beute Ausschau zu halten. Da sah ich es. Ein Menschenkind ganz in Rot gekleidet. Ich hätte weggehen können, aber ich beobachte es. Es wanderte gut gelaunt herum, trug einen Korb mit sich, in den es immer wieder Blumen hineinsteckte. Irgendwann setzte es sich hin und dann traute ich meinen Augen nicht.

Ich wette, dieses Detail haben die Gebrüder Grimm nicht erwähnt. Das Mädchen machte Feuer. Es war kein Feuer auf dem Boden, sondern auf einem kleinen Stock. Diesen steckte sie in den Mund und sog daran. Weißer Rauch stieg aus Nase und Mund. Es stank so sehr, dass sogar Ha-sen, Mäuse, Vögel und viele Tiere mehr die Flucht ergriffen. Ich musste niesen. Da ließ das Mädchen den Stab einfach fallen. Es sah mir direkt in die Augen, schien mich aber trotzdem nicht gesehen zu haben. Als wolle

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Sabine Kühorn

Die drei kleinen Häschen

Es war einmal vor langer, langer Zeit, da lebte ein alter Mann mit sei-ner Familie auf einem niedrigen Hügel in einer kleinen Hütte. Dieser

Mann hatte drei kleine Häschen, die er sehr lieb hatte. Doch leider musste er sie vor seiner Tochter verstecken, denn diese konnte die kleinen Tiere überhaupt nicht leiden. Nur seine nette und liebevolle Enkelin Louise wusste von dem Versteck der Häschen.

Als der alte Mann starb, waren alle sehr traurig, besonders die Häs-chen. Kurz darauf entdeckte die Tochter die Häschen, die gerade so noch vor ihrem schwingenden Besen flüchten konnten. Louise fand sie völlig verängstigt in der hintersten Ecke ihres Zimmers. Daraufhin beschloss sie, die Häschen in Sicherheit zu bringen. Im Wald, so dachte sie, würde ihre Mutter sie nicht finden. So packte sie drei Brötchen und etwas zu trinken ein. Eine Decke durfte natürlich auch nicht fehlen.

In der folgenden Nacht schlich sie sich mit den drei Häschen aus dem Haus und lief in Richtung Wald davon. Damit keines der Häschen verlo-ren ging, hatte Louise sie in die Tasche ihrer Schürze gelegt, welche sie über ihrem grünem Kleid trug.

Der Morgen kam schnell, doch sie hatte schon den Waldrand erreicht und gönnte sich eine Pause. Sie aß und trank etwas, bevor sie einschlief. Als sie wieder aufwachte und sich auf den Weg machte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Die Häschen nahm sie aus der Tasche, damit sie sich bewegen konnten, doch achtete sie stets darauf, sie nicht aus den Augen zu verlieren.

Aber je länger sie so durch den Wald spazierte, desto mehr sank ihr Mut. Was, wenn sie keinen geeigneten sicheren Platz für die kleinen Häschen fand? Sie konnte sie nicht mit nach Hause nehmen, ihre Mutter würde die Tiere umbringen. Und im Wald könnten sie von Wölfen gefressen werden. So lief sie durch den Wald, unentschlossen, was mit den Häschen passieren sollte.

Irgendwann in der Nacht war Louise müde und suchte sich ein weiches Plätzchen, um sich dort schlafen zu legen. Die Häschen kuschelten sich ganz dicht an sie, denn es war kalt geworden.

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Olaf Lahayne

Die Lichtesser

Ruhmreich waren die Jahre, in denen Harun, Sohn des al-Mahdi, als Beherrscher der Gläubigen regierte, und nicht umsonst nannte man

ihn ‚den Gerechten‘. Ruhmreich waren sie – doch nicht immer auch glück-lich. So quälte bald nach Beginn von Haruns Herrschaft eine fürchterliche Hungersnot den Orient: Trockenheit schlug die Länder des Kalifen; Euph-rat und Tigris fielen fast trocken, und selbst die Kornkammern Ägyptens leerten sich. Bald kostete ein Laib Brot so viele Silbermünzen, wie man früher in Kupfer zahlen musste, und schließlich war selbst für Gold kein Brot mehr zu bekommen: Die Menschen aßen Gras, Kräuter und Rinden; sie schlachteten ihre Pferde und Kamele, schließlich gar Hunde und Kat-zen, und es heißt, dass manche gar Menschenfleisch verzehrt hätten.

Wie ausgestorben waren die Straßen Bagdads, wo sich sonst Händler, Huren, Kunden, Handwerker und Gelehrte drängten; nur vor dem Palast des Kalifen verharrten hunderte verzweifelte Männer, Frauen und Kinder, und sie riefen: „Brot! Herr, gib uns Brot!“

Harun hörte diese Rufe sehr wohl, doch was nützte ihm nun all seine Macht? Er schickte seine Truppen in die hintersten Winkel seines Rei-ches, um die letzten Vorräte zu beschlagnahmen; er sandte seine Flotte aus, um Getreide zu kaufen, doch das wenige, was diese fanden, versi-ckerte in der hungernden Menge so schnell wie der Morgentau in der Wüste – und ebenso spurlos.

Harun beriet sich mit seinen Ratgebern, doch diese waren ebenso ratlos wie er. Ein Gelehrter, der bereits Haruns Vater wie seinen Bruder beraten hatte, schüttelte seufzend das Haupt: „Ich esse selbst seit Wo-chen nur noch gekochtes Leder, angerichtet mit Palmwedeln. Lichtesser müsste man sein!“

Der Kalif stutzte: „Was sagst du da, Alter? Was ist das, ein Lichtesser?“„Herr, ich sah nie selber einen“, antwortete der Alte. „Ein Handels-

partner meines Bruders will einen Mann getroffen haben, der jene Brüder selbst sah. Er hätte wochenlang in deren Kloster gelebt, hätte der Weisheit

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Elena Lidenbrock

Die Unterwasserstadt

Vorsichtig setzte Lea das Papierschiff auf das Wasser. Sie hatte es kaum losgelassen, da wurde es auch schon davon getragen. Lea folgte dem

Schiff am Ufer des Baches entlang. Es wich allen Hindernissen behän-de aus und entfernte sich immer weiter von seinem Startpunkt. Immer schneller tanzte das Schiff auf den Wellen, angetrieben vom festen Willen sich nicht von den nassen Fluten unterkriegen zu lassen. Die wilde Jagd endete erst an einer Brücke. Das Schiff verschwand aus Leas Blickfeld und tauchte in die Dunkelheit unter der Überführung ein. Auf der Brücke stehend wartete Lea darauf, dass es auf der anderen Seite erneut ans Tages-licht gelangen würde, aber das Schiff blieb verschwunden.

Lea war enttäuscht. Sie hatte sich fest vorgenommen heute einen neuen Rekord aufzustellen und wieder war ihr Schiff an der Brücke gescheitert.

Langsam ging sie den Weg zurück, den sie gekommen war, und er-reichte bald ihr Elternhaus, dessen Terrasse an den Bach grenzte.

Es war mittlerweile drei Monate her, dass Lea mit ihren Eltern aufs Land und in dieses Haus gezogen war. Seitdem war kein Tag vergangen, an dem sie nicht an ihre alten Freunde hatte denken müssen. Sie vermisste sie schmerzlich, denn es war ihr bisher noch nicht gelungen neue Freunde zu finden. Auch ihre Eltern hatten wegen der Arbeit nur wenig Zeit für sie. Lea war darum oft auf sich allein gestellt. Ihr einziger Trost war der Bach. Wenn sie an ihm spielte, wurde es nie langweilig. Die Natur war ständig im Wandel und kein Tag glich dem anderen.

Heute war zum Beispiel ein besonders warmer Tag und die Enten dösten träge am Ufer. Lea beschloss, es ihnen gleich zu tun. Sie setzte sich ins Gras, streifte ihre Sandalen ab und ließ ihre Füße ins kühle Nass baumeln. Die Sonne brannte vom Himmel und ihre Strahlen brachten das Wasser zum Glitzern. Lea betrachtete das Lichterspiel und stellte sich vor, wie es wohl wäre, wenn dieses Licht ein Portal in eine andere Welt wäre. Wem sie dort wohl begegnen würde? Sie stellte sich Männer und Frauen mit Fischschwänzen vor, die in einer Stadt unter Wasser lebten. Es wäre bestimmt aufregend, diese Stadt zu besuchen.

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Oliver Machander

Der Perlengarten

Vor Zeiten herrschte eine Königin, die war jung und schön, doch ihr Herz war voller Stolz. Viele Königssöhne kamen, um sie zu freien,

doch keinen von ihnen wollte sie zum Gemahl haben. Lieber blieb sie al-lein, so musste sie den Thron mit niemandem teilen. Denn in ihren Hoch-mut hielt sie alle Männer für Tölpel und Narren. Da die Freier sie aber nun so sehr bedrängten, sprach sie eines Tages zu ihnen: „Es soll nur jener mein Gemahl und König werden und neben mir auf dem Throne sitzen, der es vermag mir eine Schüssel voll goldenem Sonnentau, eine Schüssel voll silberner Mondestropfen und eine Schüssel voll Sternenwasser zu bringen.“ Als die Edlen ihre Worte vernahmen, da schüttelten sie traurig ihre Köpfe und zogen unbeweibt von dannen.

Es war aber ein stattlicher, königlicher Jüngling unter ihnen, der kam aus dem Nachbarreich. Sein Herz war tief ergriffen von der Schönheit der Köni-gin und so trat er vor und sprach: „Majestät, ich werde für Euch ausziehen und nicht eher zurückkehren, bis ich das Gewünschte für Euch erlangt habe. Eines aber erbitte ich mir von Euch. Gebt mir Euer seidenes Tuch, das Ihr um Euren Halse tragt, mit auf meine Wanderschaft.“ Und weil er ihr gefiel und sie seine Kühnheit bewunderte, so gab sie es ihm mit. Und als er es hatte, kehrte er zurück in seines Vaters Reich und bat ihn um Rat.

Der alte König sagte: „Mein Sohn! Auch mir ist unbekannt, an wel-chem Ort du die Brautgaben finden kannst. Doch gebe ich dir für deine Reise mein edelstes Pferd, meine schärfste Klinge, meinen besten Wein so-wie Salz und Brot. Und höre meinen Rat. Frage alle Leute, die du auf dei-nem Weg triffst. Denn keiner ist es unwert, gefragt zu werden.“ Dann gab der König seinem Sohn den Reisesegen. Der Jüngling band das seidene Tuch der Königin an seinen Sattel, verabschiedete sich voller Dankbarkeit von seinem Vater und zog hinaus in die weite, schöne Welt.

Als er durch die Fremde ritt, traf er auf die Gelehrten und fragte sie um Rat. Doch sie kannten nur den Staub ihrer Bücher. Er traf die Priester und fragte auch sie, doch diese kannten nur ihre Predigten und Gebote.

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Elevtheria Marinaki

Redcap

Es war einmal ein Mädchen namens Redcap, das alle in der Hoch-haussiedlung fürchteten. Überall, wo das kräftige, sechzehnjährige

Mädchen mit dem karottenroten Pagenkopf, dem roten Basecap und den Springerstiefeln auftauchte, gab es Ärger: Prügeleien, Einbrüche, geknack-te Autos. Man vermutete, dass Redcap die Anführerin der Bande von Dea-lern und Kleingangstern war, die den Stadtteil unsicher machte. Es gab Gerüchte, dass Redcap für die Herstellung von Designerdrogen und den Nachschub an Stoff sorgte. Bisher konnte sie stets vor der Polizei fliehen.

„Wir werden dich auf frischer Tat erwischen“, grinste Zivilfahnder Wolf und hängte ein Plakat mit Redcaps Foto in der Dienststelle auf.

Auf dem Fahndungsplakat sah man ein rundes Kindergesicht mit gro-ßen blauen Augen. An Mund und Nase blinkten Piercings und auf der rechten Wange war ein Totenkopftattoo zu erkennen.

„Ab heute werden wir dich rund um die Uhr observieren“, raunte Wolf weiter, der mit seinen langen strähnigen Haaren, dem grauen Voll-bart und seinem abgeschabten Trenchcoat so ähnlich ausschaute wie die Typen am Bahnhofsplatz, die dort die Flasche Strohrum kreisen ließen oder sich eine Spritze setzten.

Während Wolf den Zugriff plante, traf Redcap sich mit Mirco, den sie „Mutter“ nannten, weil er die „Lunchpakete“ mit den Drogenchemikalien so liebevoll packte. Chemikalien, die Tanja, genannt „Großmutter“, im Labor brauchte. Redcap steckte die neueste Ladung in einen Korb zum Pilze sammeln, legte ein Tuch darüber und spülte dann mehrere Kokain-päckchen mit einem großen Schluck aus der Bierflasche runter.

„Lass doch den Koks hier, wenn du zu Tanja gehst. Ich verstehe sowieso nicht, warum du das noch selber machst und nach Amsterdam fährst! Dafür gibt es doch die Kuriere.“

„Ich brauche den Kick“, lachte Redcap.„Sei vorsichtig, wenn du in den Wald kommst“, sagte Mirco weiter.

„Geh nicht auf den Wegen. Die Bullen sind unterwegs.“

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Philip Militz

Die Farbe des Lichts

Maulwurf und Regenwurm stritten um die Farbe der Sonne. „Sie muss Rot sein!“, sprach der Regenwurm, obwohl er nicht mal Au-

gen im Kopf hatte, „Denn die Sonne brennt wie Feuer.“ Er mochte es halt gern nass und kühl.

„Unsinn!“, sprach der Maulwurf, der ebenfalls die Sonne nie direkt ge-sehen hatte, weil er tagsüber schlief und nur nachts wach war. „Die Sonne muss Weiß sein wie der Mond, denn jeder Dummkopf weiß doch, dass der Mond nur leuchtet, weil er das Licht der Sonne widerspiegelt.“

Und da sie sich nicht einig werden konnten, beschlossen die beiden, den Adler zu fragen.

„König der Lüfte, du kommst bei deinen Flügen der Sonne näher, als jeder andere von uns es jemals könnte. Ist das Licht Weiß wie der Mond?“ fragte der Maulwurf.

„Oder Rot wie Feuer?“, ergänzte der Regenwurm.Der Adler überlegte einen Moment.

„Ich habe noch nie so genau drüber nachgedacht. Aber wenn ich mich recht entsinne, dann könnte es auch Gelb sein. Wisst ihr was? Gleich morgen, wenn die Sonne aufgeht, werde ich für euch die Wolken fragen, denn die kommen der Sonne sicherlich am nächsten von uns allen.“

Und so schwang er sich im Morgengrauen auf in den Himmel.Gleich die erste Wolke, die er traf, fragte er: „Kannst du mir sagen,

welche Farbe das Licht der Sonne hat? Weiß, Rot oder Gelb?“Da antwortete die Wolke:

„Sowohl als auch, doch weder noch. Du wirst überrascht sein. Fliege zurück zur Erde und warte einen Moment. Ich werde einen Freund bitten, es dir zu zeigen. Denn der kennt das Licht wie kein anderer, weil er der Einzige von uns ist, durch den es sogar hindurchscheint.“

Der Adler flog also zur Erde zurück und wartete. Es dauerte gar nicht lange, da fielen Tropfen aus der Wolke – und ihr Freund, der Regen malte die Antwort im hohen Bogen in den Himmel.

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Lothar Mischke

Staubmädchen

Sobald die Dunkelheit über Flower Market hereinbrach, huschten Schatten über Straßen und Plätze, rutschten durch Kamine und Ka-

näle, putzten und fegten, wuschen und schrubbten, bis die Stadt in dem Glanz erstrahlte, für den sie im ganzen Königreich bekannt war.

Staubmädchen. Ein grauer Mantel aus Asche und Staub bedeckte sie von den verfilzten Haaren bis zu den bloßen Sohlen.

Erwachsene ignorierten sie. Zu selbstverständlich hatten sie sich daran gewöhnt, dass die scheuen Wesen ihren Unrat aus der Stadt schafften, als dass sie ihnen besondere Beachtung geschenkt hätten.

Anders die Kinder. Zwar blieben die Staubmädchen auch ihnen meist verborgen. Doch wenn ihnen mal das Weiß in den Augen eines Staubmäd-chens entgegenblitzte, dann hänselten und neckten sie das arme Geschöpf ohne eine Spur von Mitgefühl. „Dreckfresser“ riefen sie oder „Missgeburt“ und warfen mit allem, was ihnen in die Finger kam.

Nicht so Emily. Denn sie kannte das Geheimnis der Staubmädchen. Immer und immer wieder hatte ihre Großmutter ihr erzählt, was sonst niemand wissen durfte. Und dennoch war es etwas Besonderes, als die alte Frau an diesem kalten Novemberabend zitternd Emilys Hand ergriff und leise, fast flüsternd zu ihr sprach:

Ich war ungefähr so alt wie du, mein Kind. Meine Eltern waren morgens zu Hofe aufgebrochen. Vater sah so prächtig aus in seinem Sonntagsstaat und Mutter strahlte wie ein Diamant in der Sonne. Sie sahen so glücklich aus, als sie die Kutsche nach Kingstown bestiegen. Anne, unser Hausmädchen, hatte den ganzen Tag über mit mir gespielt und sich redlich Mühe gegeben.

Doch als die Sonne über den Dächern von Flower Market zu sinken begann, drückte ich ungeduldig meine Nase an der Scheibe platt, bis das Glas von meinem Atem blind wurde. Endlich, nur noch die fahle Scheibe des Mondes erhellte den Nachthimmel, kam eine Kutsche. Doch ihr ent-stieg ein fremder Mann mit ernster und gestrenger Miene.

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Sylvia Mitter-Pilotek

Hans im Glück

Prost, Bärbl.“ Anna trinkt ihren Zwetschgenschnaps in einem Zug aus.„Prost, Anna.“ Bärbl nippt nur.„Das ist schön, dass du mich wieder einmal besuchst, Bärbl.“Anna lehnt sich in ihren Stuhl zurück.„Seit der Hans wieder da ist, krieg’ ich nit oft mal jemand zu sehen.“ Anna

rückt die Schale mit den roten und schwarzen Johannisbeeren näher zu Bärbl.„Greif zu, Bärbl“, sagt sie.Bärbl nickt. „Danke, Anna“Anna blickt versonnen zum Fenster hinaus.„Ach ja, ’s ist ja auch schon wieder eine ganze Weile her.“„Wo ist er denn, der Hans?“, fragt Bärbl.„Draußen, beim Obst“, sagt Anna, ohne den Blick vom Fenster zu nehmen.„Was macht er denn so, der Hans?“, fragt Bärbl weiter.„Er kümmert sich ums Obst.“ Anna schaut immer noch hinaus.„Soso, das ist fein, wenn er dir hilft.“Bärbl trinkt jetzt doch den Schnaps aus. Anna schenkt ihr nach und

sich selbst auch.„Prost, Bärbl.“Anna kippt den Schnaps hinunter. Bärbl trinkt nicht, trotzdem sagt sie:„Prost, Anna.“„Ja“, sagt Anna, „helfen tut er schon. So gut er halt kann.“Bärbl weiß nicht, was sie jetzt sagen soll. Schließlich sagt sie:

„Na ja, wirst dich im Garten wenigstens nit mehr bücken müssen.“„Ja“, sagt Anna und schenkt sich noch einen Schnaps ein.„Er aber heuer auch nit mehr.“„Wieso denn nit?“, fragt Bärbl verblüfft.„’s ist bei uns heuer nix im Garten.“ Anna sagt es ganz ruhig.„Wieso denn nit?“, wiederholt Bärbl.„’s ist einer vorbei’kommen. Der hat dem Hans g’sagt, er soll alles aus-

reißen. Dann soll er die Pflanzen gegen Steine tauschen. Die Steine soll er

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Dörte Müller

Die Hässliche und der Dumme

Es war einmal eine Prinzessin. Sie hieß Adelheid und lebte mit ihrem Vater und ihrer Mutter hoch oben auf einem Berg in einem prunk-

vollen Schloss. Adelheid hatte langes, goldenes Haar, doch sie war nicht so hübsch wie die anderen Prinzessinnen. Ganz im Gegenteil: Sie war hässlich. Statt einer zierlichen kleinen Nase prangte ein gurkenähnlicher Zinken in ihrem stets rosigen Gesicht. Ihre Lippen glichen denen eines Fisches und ihre Ohren standen weit vom Kopf ab, sodass sie nicht von den langen Haaren bedeckt werden konnten.

Viele Leute erschraken bei ihrem Anblick. Die Gleichaltrigen aus dem Dorf am Fuße des Berges verspotteten sie. Es gab unzählige hässliche Rei-me und Lieder, die die Kinder im Laufe der Jahre gedichtet hatten. Des-halb vermied Adelheid es, ins Dorf zu gehen und verbrachte ihre Nachmit-tage einsam im Schloss.

Die Königin versuchte vergeblich sie abzulenken und ihr zu beweisen, dass sie doch ganz gut aussah. Sie schenkte ihr teuren Schmuck und wertvolle Klei-der, aber damit sah sie auch nicht besser aus. Adelheid hatte auch schnell be-griffen, dass die Eltern ihretwegen alle Spiegel aus dem Schloss entfernt hatten.

Ihre einzigen Freunde waren die Bücher und mit der Zeit hatte sie alle Bücher der gesamten Schlossbibliothek von vorne bis hinten mehrfach ge-lesen. Boten mussten ihr neue Bestände aus den umliegenden Büchereien bringen und auch das war ihr nicht genug.

Adelheid wurde immer klüger. Mit sechs Jahren schlug sie ihren Vater im Schachspiel und mit sieben unterstütze sie ihn beim Regieren. Immer, wenn er vor einer wichtigen Entscheidung stand, holte er sich ihren Rat. Die Diener und Hofleute liebten die junge Prinzessin. An ihr außerge-wöhnliches Äußeres hatten sie sich schon lange gewöhnt. Sie mochten ihre freundliche Art und schätzten ihre Großzügigkeit.

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Verena Nagel

Lila Eichhörnchen

Ein sprechender Goldfisch – nie im Leben. Das ist ja wie … wie ein lila Eichhörnchen, oder so.“ Gero schüttelte den Kopf. Nicht zu fassen,

dass sein Freund Finn tatsächlich glaubte, was Lucie ihm da erzählt hatte. Nun ja, Finn war acht und einen halben Kopf kleiner als er selber. Es war der erste Tag der Sommerferien und die Wiese, auf der Gero und Finn standen, dampfte in der Julihitze.

„Doch, Lucie hat gesagt, der Goldfisch kann ganz schön stinkig werden, wenn man ihn reizt. Und gestern ist er ihr ausgebüxt.“

Finn nickte heftig. Nur weil sein Freund Gero ein Jahr älter war, war er noch lange nicht schlauer.

Gero nahm einen Stein und ließ ihn flach über die Wasseroberfläche des kleinen Weihers hüpfen. Jeder wusste, was mit Lucie los war, schließ-lich lebte sie alleine im Wald.

„Die Lucie soll eine Hexe sein, sagen sie im Dorf.“„Eine Hexe? Die sind alt und hässlich“, Finn bekam vor Eifer rote Ba-

cken, „aber Lucie ist jung und überhaupt nicht hässlich.“„Quatsch mit Soße“, antwortete Gero und rief so laut, dass man es noch

im Wald hören musste: „Wenn es einen sprechenden Goldfisch gibt, will ich ein lila Eichhörnchen sein.“

Da hörten die Vögel auf zu singen, die Grillen verstummten und Gero hatte das Gefühl, dass die Welt den Atem anhielt. Mit einem Mal sah er Finn neben sich in die Höhe wachsen. Er wuchs und wuchs, und als er endlich aufhörte, begannen die Vögel wieder zu singen und die Grillen zirpten. Alles war wie zuvor, mit einer Ausnahme, Finn sah aus wie ein Riese. Der schaute ihn verblüfft von oben an und prustete los. Er lachte so sehr, dass er sich neben Gero auf den Boden setzen musste.

„Ich hab noch nie ein Eichhörnchen mit einem lila Fell gesehen“, sagte Finn, als er sich von seinem Lachanfall erholt hatte.

„Ich auch nicht, wieso? Und wieso bist du auf einmal so groß?“„Wieso, wieso“, gluckste Finn, „schau mal in den Spiegel.“

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Verena Nagel

Das Billardspiel

Freitagabend. Daniel sah auf seine Uhr. Es war Zeit für das Billardcafé. Nele war eine Meisterin mit dem Queue gewesen, er hielt sich für Mit-

telmaß. Er löschte die Kerze vor ihrem gerahmten Foto. Es war ein Bild, das er während ihres letzten Urlaubs aufgenommen hatte. Nele vor dem Colloseum in Rom, ihr spöttisches Lächeln, das er so liebte. Die Freunde sagten, dass er nichts dafür könne. Doch es war seine Schuld, denn er war nicht zu ihr gefahren, an diesem Wochenende im Juli. Jetzt, wo es zu spät war, würde er bis zur Hölle fahren, nur um sie zu sehen. Inzwischen war es Februar und er ging wieder ins Billardcafé. Aber er spielte nicht mehr und die anderen ließen ihn in Ruhe.

Er nahm seinen Autoschlüssel und verließ seine Wohnung. Wenig spä-ter betrat er das Café Cosmos. Er mischte sich unter die Zuschauer bei den Billardtischen, sprach mit niemandem und trank sein Bier. Mit einem Mal verspürte er einen eiskalten Luftzug und sah zur Tür.

Ein Fremder betrat die Bar. Daniel konnte nicht anders, er starrte ihn an. Es war nicht die schwarze Kleidung, die der Mann anhatte. Auch nicht der dunkle Stetson auf seinem Kopf. Er merkte, dass der Mann seinen Blick auffing und auf ihn zusteuerte. Daniel wendete sich ab und dem Ge-schehen auf einem der Billardtische zu. Aus dem Augenwinkel sah er, dass der Typ sich neben ihn stellte. Nach wenigen Minuten sprach er Daniel an.

„Hätte Lust ’ne Partie zu spielen, wenn die da fertig sind“, er deutete mit dem Kinn auf den Tisch, „siehst aus, als wärst du ein guter Spieler.“

„Ich spiele nicht mehr seit … seit einem halben Jahr“, brummte Daniel, „und wegen eines Greenhorns wie dir werde ich nicht wieder damit anfangen.“

„Ich hab dir einen Vorschlag zu machen. Ich spiele nie umsonst, es reizt mich nur, wenn der Einsatz stimmt.“

„Ich hab kein Geld, das ich setzen könnte.“ Daniel ging zum nächsten Tisch, doch der Mann in Schwarz folgte ihm.

„Nicht um Geld. Hör zu, so ein Angebot bekommst du nie wieder. Wenn du gewinnst, erfülle ich dir deinen sehnlichsten Wunsch.“

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Jana Oltersdorff

Vom Mädchen mit der roten Kappe

In einem Dorf in einer entlegenen Berggegend erzählte man sich seit vielen Generationen eine unheimliche Geschichte über den Wald, der die Siedlung

umgab. Man sagte, der Wald wäre gefährlich und niemand wagte es, die Wege zu verlassen. Man sagte, der Geist eines toten Mädchens ginge darin um. Ein Mädchen mit roter Kappe. Nur wenige, die es zu Gesicht bekommen hatten, waren mit dem Leben davon gekommen. Kaum einer, der es gewagt hatte, den Wald zu betreten, ward je wieder gesehen. Man sagte, das Einzige, das einen beschützen konnte, wäre ein Wolf. Doch Wölfe gab es in dieser Gegend schon lange nicht mehr. Die Ältesten im Dorf hatten diese Geschichte von ihren Großeltern gehört. Seit Generationen wurde sie an die Jüngeren überliefert. Jeder im Dorf kannte sie, doch wurde sie nur in besonders finsteren Nächten in der gemütlichen Sicherheit des warmen Kamins erzählt.

Das Mädchen hatte einst wirklich in jenem Dorf zusammen mit seiner Mutter gelebt. Es war sehr hübsch gewesen und sein liebstes Kleidungsstück war eine rote Kappe aus fein gehäkeltem Wollgarn, die seine Mutter einst für das Mädchen gefertigt hatte.

Eines Tages wurde die Großmutter, die nicht im Dorf, sondern auf einer klei-nen Lichtung mitten im Wald lebte, sehr krank und konnte das Haus nicht mehr verlassen. Weil die Mutter nicht immer Zeit hatte, schickte sie einmal in der Wo-che ihre Tochter mit einem Korb voller Essen und Medizin zur Großmutter.

Doch dem Mädchen wurden diese Besuche schnell lästig. Es wollte seine Zeit lieber mit den Burschen im Dorf verbringen, die es mit seinem Liebreiz leicht um den Finger gewickelt hatte. Die Großmutter wurde schwächer und schwächer, und das Mädchen musste sie noch öfter besuchen, um sie zu pfle-gen und ihr Essen zu bringen. Das Mädchen war es leid und fasste schließ-

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Birgit Otten

Die kleine Blume

Eine kleine Blume wuchs einmal allein auf einer Wiese in der Nähe eines Bachs. Was aus ihren Gefährten geworden war, wusste sie nicht

– große Füße mochten sie zertreten haben, Tiere sie gefressen, der Wind sie hinweg gefegt. Wer konnte das sagen? Die Blume erinnerte sich nicht daran, ob es einmal andere Zeiten gegeben hatte, denn es spielte keine Rolle. Das ist so bei Blumen, sie blühen im Jetzt. Nur Bäume wurzeln in der Vergangenheit.

Wenn die Nacht kam und der Wind mit ihr spielte, wenn die Dunkel-heit sie umschloss, dann zitterte die Blume und bebte und dachte für sich:

„Ach, wie schutzlos bin ich doch hier allein – jeder kann mich treten, jeder kann mich reißen. Ich bin ein schwaches, hilfloses, schwankendes Geschöpf. Hätte ich nur eine Stütze, einen Halt, etwas Bewahrendes, das alle Gefahr von mir fernhalten könnte!“

Diese Gedanken hörte eine Fee, denn Feen können mit Blumen spre-chen. Sie tun dies ohne Worte, denn die sind nicht nötig, weil beide ver-wandt miteinander sind. Wenn eine Blume blühen soll, steckt eine Fee ein Stück von sich selbst hinein, einen Hauch, einen Wunsch, einen Gedan-ken. Die Blume merkt das nicht einmal, denn die Fee ist verschwunden, sobald sie erwacht.

„Kleine Blume“, sagte die Fee, auf die ihr eigene Zauberart. „Ist das wirklich dein größter Wunsch? Denn bedenke: Das, was man sich wünscht, kann eines Tages in Erfüllung gehen. Gedanken haben ihre Macht.“

„Oh ja“, nickte die kleine Blume. „Denn so will ich hier nicht mehr sein, klein und schutzlos und von jedem verwundbar.“

„Dann sei es so“, meinte die Fee und nickte ebenfalls zurück, und dann verschwand sie, wie es Feenart ist, auf ihren eigenen, verschlungenen Wegen.

In der nächsten Nacht regnete es, und der Bach trat über die Ufer. Als die kleine Blume am Morgen erwachte, lagen Kieselsteine rund um sie verstreut, und sie freute sich sehr, dass ihr Wunsch erfüllt worden war.

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Karoline Pauluhn

Die Vogelbraut

Sie saßen zu dritt in Jasmins Wintergarten. Seit Jasmin denken konn-te, waren sie immer zu dritt gewesen. Sie kannte Gabriele und Hanna

schon seit ihrer frühen Kindheit. Die Luft war erfüllt von Blütenduft.Jasmin verspürte eine leichte Übelkeit und verfolgte nur am Rande das

Gespräch der beiden anderen. Sie versuchte, in sich hinein zu fühlen, um die Ursache des Unwohlseins zu ergründen. War es wieder der Traum ge-wesen? Der Traum, in dem sich riesige, schwarz schillernde Vogelschwingen mit einem Rauschen zusammenfalteten und sich um ihren Körper legten.

Sie schüttelte sich und kam mit den Gedanken in die Wirklichkeit zurück. Es gab keine Vogelschwingen mehr. Alle Vögel auf der Insel waren vor vielen Jahren ausgerottet worden. Die einzig existierenden Vogelfedern waren künstlich hergestellt. Und eine ganze Menge davon war hier im Wintergarten verteilt.

Sie und ihre beiden Freundinnen waren dabei, für das Fest die tradi-tionellen Vogelmasken zu basteln. Das alljährliche Vogelfest sollte daran erinnern, dass früher Federtiere in allen Größen und Farben friedlich auf der Insel gelebt hatten. Bis die Jäger kamen …

Auf dem Fest würde die Trägerin der schönsten Maske den Titel „Vo-gelbraut“ erhalten und reich beschenkt werden. Jasmin wollte keine Ge-schenke. Sie war reich. Obwohl erst siebzehn Jahre alt, war sie eine der reichsten Frauen der Insel. Ihre früh verstorbenen Eltern hatten ihr wert-volles Land hinterlassen.

„Jasmin, aufwachen!“ Gabriele, die mit Hanna zusammen in der gro-ßen Hängematte schaukelte, rings um sich Federn in allen Farben ver-streut, grinste Jasmin spöttisch an.

„Wo warst du wieder? Lass uns an Deinen Höhenflügen teilhaben. Spielst du schon mit dem Gedanken, die Königin des Festes zu sein?“

Gabriele zog Jasmin gerne auf. Sie fand, dass Jasmin so gar nichts Kö-nigliches an sich hatte, eher etwas Lebensfremdes und Versponnenes.

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Karoline Pauluhn

Immer Theater mit dem Zwerg

Es geschah vor langer, langer Zeit, als Hexen, Zauberer, Waldelfen und Zwerge noch unbehelligt in der Welt der Menschen lebten. Im großen

Wald, hinter dem Berg Schmausenbuck, jenseits der Dutzend Seen, regier-te der geizige König. Dieser hatte zwei Söhne und der geizige König rief eines Tages die beiden Prinzen zu sich und teilte ihnen mit, dass derjenige das Königreich erben werde, der zuerst eine Ehefrau nach Hause führte. Nun waren die Prinzen noch sehr jung und ungestüm und nicht willens, jetzt schon das Ehejoch auf sich zu nehmen. Sie vertändelten lieber ihre Zeit mit Fischen, Jagen und wilden Ritten über die Felder, als sich ernst-haften Dingen zuzuwenden.

Da ließ der König einen mächtigen Zauberer zu Hilfe rufen, der den Prinzen heimlich einen Trank geben sollte, damit ihr Herz in Liebe zu einer jungen Dame entbrenne und sie sich endlich verheirateten. Der Zauberer braute einen solchen Trank, jedoch die schlauen Prinzen durchschauten den Plan und gaben den Trank einem Stallburschen, der daraufhin um die Hand der Köchin anhielt.

Nun war der König ja bekannt dafür, dass er so geizig war und er bezahlte dem Zauberer nicht den vereinbarten Lohn, da sich ja kein Erfolg eingestellt hatte. Dieser wurde sehr wütend und verwandelte daraufhin den Jüngeren in einen Falken mit traurigen Augen und den Älteren in einen zottigen Bä-ren. Sie würden erst erlöst werden, wenn der Zauberer durch die Hand der zukünftigen Frau eines der Prinzen den Tod fände. Und so zogen die beiden Prinzen in den Wald, um unter wilden Tieren zu leben. Sie nahmen sich jedoch aus der Schatzkammer Gold und Schmuck mit und vergruben dieses im Wald. Vielleicht ließe es sich damit auch als Tier leichter leben.

Der Falke kreiste hoch oben über dem Wald und suchte nach bewohn-ten Gegenden und so kam es, dass er jenseits eines Sees eine kleine, be-scheidene Hütte entdeckte, aus der Rauch aufstieg. Er erzählte seinem Bruder, dem Bären, davon und beide machten sich auf den Weg dahin, um im kalten Winter nicht draußen im Schnee übernachten zu müssen.

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Ute Petkelis

Die Kette aus Muschelschalen

Einst warben zwei junge Männer um die Gunst der Fürstentoch-ter Amalie. Der eine war fleißig und warmherzig, jedoch arm wie

eine Kirchenmaus, der andere hingegen habgierig und ungerecht, aber mit Reichtum gesegnet. Dem kleinen Fürstentum ging es zu jener Zeit schlecht. Eine Missernte und riesige Überschwemmungen im vergange-nen Jahr hatten das Land in die Armut getrieben.

Nun suchte der Herrscher einen reichen Ehemann für seine Tochter, der die Besitztümer retten sollte. Daher war es kein Wunder, dass der Fürst letzteren Bewerber vorzog. Dies war aber überhaupt nicht nach dem Sinn der Fürstentochter. Ihr war der arme Bauernsohn wesentlich lieber als der hartherzige, reiche Gutsbesitzer.

So kam es, dass sich Vater und Tochter eines Tages beim Mittagsmahl stritten. „Du kannst nicht einen armen Schlucker heiraten, Amalie. Ver-steh das doch! Wir verlieren unser gesamtes Hab und Gut.“

„Aber ich liebe den Gutsherren nicht“, entgegnete Amalie.„Die Gelder, die ich für das diesjährige Saatgut aufgenommen habe,

werden am Ende des Jahres fällig und ich weiß nicht, wie ich sie beglei-chen soll“, versuchte der Fürst sie zu belehren. „Sei doch nicht so starrsin-nig! Was findest du eigentlich an dem dahergelaufenen Burschen, außer, dass er ganz manierlich aussieht?“

„Es kommt mir nicht auf das Aussehen meines zukünftigen Gatten an, Vater. Ich glaube einfach, dass ich mit dem Gutsbesitzer nicht leben kann und außerdem ist er viel zu alt für mich!“

Das war natürlich ein Grund für eine junge Frau. Aber beim Fürsten zählte das nicht. Nach längerem Schweigen erwiderte Amalie. „Was haltet Ihr davon, wenn ich beide bitte, mir ein Geschenk zu machen?“

„Und ich entscheide dann, welche der Gaben deiner Person angemessen ist“, unterbrach der Fürst seine Tochter.

„So hatte ich es mir jedoch nicht gedacht. Aber bevor wir uns weiterhin streiten, soll es mir recht sein“, antwortete Amalie.

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Ute Petkelis

Die Seerosen

Einst lebte in einem Teich das Volk der Nixen in friedlicher Eintracht mit der Dorfbevölkerung rund um das Ufer. Die wendigen Wasserbewohner

wurden kaum von den Menschen bemerkt. Die Nixen hatten ihre eigene Welt auf dem Grund des Dorfteiches errichtet.

Beaufsichtigt wurden diese quirligen Wesen von einem Wassermann. Es war nicht immer einfach für ihn, sich gegen so viel Weiblichkeit durchzuset-zen. Eines Tages äußerte eine Nixe, dass sie sich nach einem Partner aus dem Reich der Menschen sehnte.

„Das darf nicht sein!“ Der Wassermann war entsetzt. „Schau dich um, es gibt genug Partner hier im See, die für dich geeignet sind. Noch nie in mei-nem langen Wassermannleben ist es vorgekommen, dass sich eine von meinen Schützlingen mit einem Wesen außerhalb des Wassers verbunden hat.“

„Irgendwann ist immer das erste Mal!“, entgegnete die kleine Seejungfrau schnippisch. „Auch, wenn du es mir nicht erlaubst, werde ich mir einen Mann nach meinen Vorstellungen suchen.“

„Wie willst du das anstellen?“Der Wassermann bekam noch mehr Runzeln in seinem Gesicht.

„Das wirst du schon sehen. Warts nur ab!“Nach diesem Gespräch verging eine lange Zeit, bis sich endlich für die

kleine Nixe eine Gelegenheit bot.Jedes Jahr zur Sonnenwende feierten die Bewohner des Dorfes ein riesiges

Fest am Seeufer. Schon am Abend vorher wurde ein großer Holzstoß aufge-schichtet, den man in der Nacht zum Sommeranfang entzündete. Ausgelassen tobten dann junge und alte Leute um das brennende Feuer. Es wurde getanzt und natürlich auch getrunken. Besonders wild trieben es die jungen Männer aus dem Dorf, gerieten untereinander in Streit und es kam zu Raufereien.

Diesen Tag hatte die kleine Seejungfrau gewählt, um sich ihren zukünfti-gen Gatten in den See zu holen. Schon am Morgen begann sie damit, sich ihr

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Sonja Rabaza

Schattenblumen

Auf einer kleinen Insel mitten im Ozean lebte ein Königspaar mit seinen zwei Töchtern. Ihr prächtiger Palast stand auf der einzigen

Anhöhe des Eilands. Die Familie regierte die Inselbewohner in all den vergangenen Jahren mit viel Freude und Mitgefühl. Das Volk liebte seine Herrscher; stets waren sie zufriedene Untertanen. Die meisten der Insel-bewohner waren Fischer und lebten vom Fang aus dem Meer. Abends hörte man sie mit ihren Frauen am Sandstrand singen, wenn sie ihre Netze flickten und ihre Boote reparierten.

Seit einiger Zeit war nur wenig von der kleinen Insel zu hören. Seit-dem die Königin von einer tiefen Traurigkeit erfasst worden war, legte sich auf alle Bewohner ein Schleier der Beklemmung. Es hieß, die Herr-scherin habe zwischen Weihnachten und Ostern ihr Lächeln verloren. Sie konnte es nicht wiederfinden. Der König, seine Töchter und alle Inselbe-wohner machten sich auf die Suche und durchkämmten die ganze Insel. Aber man fand es nicht. Es blieb verschwunden und mit jedem Tag, der verging, spürten sie, wie die Trauer sich wie ein zäher Nebel auf die ganze Insel mit ihren Bürgern legte. Man hörte kein übermütiges Lachen mehr, kein Singen der Fischerfrauen in den Abendstunden. Selbst die Vögel waren verstummt, alles schien erstarrt zu sein. Sogar die Meereswellen schlugen nur zögernd auf die Felsen auf.

Nur ein einziger Bewohner schien davon nicht betroffen zu sein, und zwar Adolfo, der Sohn einer Fischerfamilie. Adolfo war taub, schon von Geburt an. Trotzdem war er ein sehr fröhlicher Junge. Wenn er sich in den Abendstun-den am großen Felsen in einer kleinen Bucht mit Sirena, der Meerjungfrau und dem Seeadler Jonathan traf, lauschte er ihren Worten, die nur er ver-stand. Adolfo erzählte Sirena und Jonathan von den Vorgängen auf der Insel: von der tiefen Traurigkeit, die alle Menschen gefangen zu halten schien.

„Wisst ihr, was hier geschehen ist?“, fragte er sie.„Ja“, antwortete Sirena als Erste. „Eure Königin hat ihr Lächeln verlo-

ren. Die Sternenkönigin hat es gefunden, als sie sich auf der Erde befand.

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Tanja Rathjen

Das Haus

An einem geheimen Ort, weit weg von den Dörfern und Städten des Lan-des, steht ein großes, prächtiges Haus. Es ist eins dieser besonderen Häuser,

denn es ist aus Holz, es ist weiß, es hat große, einladende Fenster mit grauen Fensterläden, die geöffnet viel Sonne in die Zimmer lassen und es steht auf einem Hügel. Nur ein mächtiger Ahornbaum steht neben dem Haus, sonst nichts. Nicht mal ein Busch hat dort das Recht zu stehen, so imposant sind Hügel, Haus und Ahornbaum. Die Haustür dieses Hauses ist so groß, dass sie ein Pferdegespann einlassen könnte und wenn sie sich öffnet – und das tut sie oft – dann knarrt sie wie die Saite eines Cellos, das falsch gespielt wird. Dieses Haus strahlt wie ein heller Diamant in der Sonne. Das sieht man besonders gut, wenn man unten vor dem Hügel steht und hinauf blickt. Die Sonne mag dieses Haus auch, denn sie zaubert lustige Schatten auf das Haus, wenn sie ihre Strahlen durch den mächtigen Ahornbaum schickt.

Erstes Kapitel: Daniel

Daniel ging durch die Stadt und suchte nach einem Geschenk für seine Freundin Mia. Er stolperte das Pflaster entlang und war an diesem Tag mal wieder viel zu hastig unterwegs. „Immer diese Hetzerei, ich kann es ein-fach nicht ertragen!“, murmelte Daniel und schaute besorgt auf seinen an-gestoßenen Schuh. Warum in aller Welt musste er noch nach Feierabend Besorgungen in der Stadt machen? Warum musste gerade er sich seine nagelneuen Schuhe anstoßen, die, als er zuhause war, so schön geglänzt hatten? Das Einzige, was jetzt glänzte, war sein Gesicht und das glänzte nur, wenn es voller Schweißperlen war.

Er war nervös und unachtsam. So war er immer, wenn er schnell etwas erledigen wollte … nein musste, denn Mia hatte morgen Geburtstag und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als ein Paar silberne Ohrringe. Daniel wollte ihr gerne diesen Wunsch erfüllen und dachte dabei an seinen letzten Lohn, den er von seinem Chef bekommen hatte. Viel war nicht übrig, aber

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Anne Reinéry

Drei Drachen

Seit zwei Wochen fällt der Regen Tag und Nacht. Der Fluss Li, der sonst so ruhig zwischen den grünen, runden Hügeln dahin fließt, hat sich

in einen wilden Strom verwandelt. Alle Straßen sind überschwemmt. Die Schule ist wegen der Regenfälle geschlossen.

Auch meine Fahrradtouren mit meinem funkelnagelneuen Fahrrad im Tal sind vorbei. Ich habe es zu meinem zehnten Geburtstag bekommen und ich bin furchtbar stolz darauf. Es ist ein richtiges Mountainbike und hat achtzehn Gänge. Außerdem ist es rot, das ist meine Lieblingsfarbe. Ich habe es im Flur unseres kleinen Häuschens abgestellt. Immer wieder setze ich mich darauf und stelle mir vor, damit zu fahren. Ich heiße Long und wohne mit meinen Eltern und Großeltern in Yangshuo, das ist im Süden Chinas.

Mein Vorname bedeutet „Drache“. Mein Großvater, also mein Yeye, wie wir hier in China sagen, hat diesen Namen für mich ausgesucht. Er liebt Drachen und kennt alle alten Mythen und Märchen. Jetzt, während dieses endlosen Regens, sieht er aus dem Fenster und murmelt: „Dieser verwünschte Gelbe Drache, jemand muss ihn aufhalten!“

Ich steige von meinem Fahrrad und erkundige mich: „Warum, Yeye?“Ich frage ihn nur, weil mir so langweilig ist. Die Geschichte vom Gel-

ben Drachen kenne ich auswendig, mein Yeye hat sie mir mindestens schon hundert Mal erzählt. Mein Yeye lässt sich nicht lange bitten. Er klopft mit seiner Hand auf den Sitz des Stuhls neben sich. Ich lümmle mich darauf, er räuspert sich und beginnt:

„Der Gelbe Drache ist der Herr der Wolken. Er ist verantwortlich dafür, uns Menschen den Regen zu bringen, damit unsere Pflanzen wachsen und gedeihen. Und weißt du, wie er das macht?“ Er macht eine Pause und schaut mich erwartungsvoll an. Natürlich weiß ich es, aber ich kenne mei-nen Einsatz und frage ihn mit großen Augen: „Nein, wie denn?“

Befriedigt fährt mein Yeye fort: „Er sammelt die winzigen Wolkenba-bys an den vier Ecken des Himmels ein. Weißt du, wenn sie noch klei-ne, durchsichtige Tupferchen sind. Vorsichtig bringt er sie in seine kleine

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Vera Richter

Zwei Riesen auf Abwegen

In einem finsteren Wald lebten einstmals zwei Riesen, mit Namen Gorli und Torli. Sie waren Soldaten im Dienste des Oberriesen Gierschlund.

Dieser von Macht- und Geldgier besessene Oberriese hatte einen Plan. Er beauftragte zunächst Gorli und Torli als Späher das angrenzende Zwergen-land aufzusuchen, um unzufriedene Zwerge möglichst unauffällig ins Rie-senreich zu locken. Später jedoch würde er ganz allmählich, ohne Gebote zu verletzen, das gesamte Zwergenreich in seine Gewalt bekommen. Gorli und Torli erhielten viele Goldtaler für das schäbige Vorhaben.

Die beiden ausgesuchten Soldatenburschen waren nicht die klügsten, doch die gehorsamsten. Ob ihrer Auswahl durch Gierschlund waren sie so voller Stolz, dass ihr Gehirn wie benebelt und die ohnehin sparsamen Denkprozesse kaum noch möglich waren.

Mit Riesenschritten marschierten sie auf das Ziel ihrer bösen Absicht zu und schon standen sie auf dem Plateau eines Berges. Im Tal erblickten sie die ersten Häuser des Zwergenlandes. Eine grimmige Vorfreude erfass-te sie und ihr Gehorsam für Gierschlund war wie weggeblasen. Sie brüll-ten mit donnernder Stimme zu den Einwohnern hinunter, dass sie sich ergeben sollen. Ab sofort übernähmen sie die Herrschaft über das Land, würden dem Zwergenvolk beibringen, nach welchen Regeln sie zu leben hätten. Widerstand sei zwecklos.

Die Zwerge verkrochen sich ängstlich in ihren Häusern. Ein kleines Schusterlein jedoch, stellte sich den beiden Großmäuligen mutig entgegen, weil ihm der Inhalt eines Gebotes zwischen dem Riesen- und Zwergen-land bekannt war, in dem geschrieben stand, dass jedem Eindringling ein Rätsel aufgegeben werden müsse. Wüssten sie des Rätsels Lösung nicht, müssten sie sofort das Land verlassen. Anderenfalls bliebe das Land in der Gewalt der Störenfriede. Daran erinnerte der Schuster die beiden garstigen Gesellen. Diese schauten sich zunächst verwirrt an. Nach einem abschätzenden Blick auf den kleinen Schuster schüttelten sie ihre dicken Bäuche vor Lachen und nahmen ihn nicht ernst. Was sollte der schon für

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Friedhelm Rudolph

Jonna, Jonas und der Bunker

Jonna?“ Wo ist sie hin? Durch den Wald, bergauf, Hand in Hand, end-lich einmal allein. „Jonna!“ Er hatte alles vermasselt. „Jon-na!“ Er drehte

sich um seine Achse, bis ihm schwindelig wurde. Zu weit gegangen, die Lichtung, der alte Hochbunker. „Joon-naa!“ Er verharrte, keuchte. Sein Herz trieb die Übelkeit in den Kehlkopf. „Jonna!“ Tränen standen in sei-nen Augen. Was sollte aus ihm werden – ohne sie?

Ein Vogel zwischen seinen Füßen. Beinahe wäre er draufgetreten. Der Vogel flatterte auf und verschwand in einer Stechpalme. Wo kommt der her? Eine Eule mit glühenden Augen. Dreimal flog sie herum um ihn und die Stechpalme. Dreimal schrie sie. Er wollte hinübergehen zum Strauch, doch er war wie in Beton gegossen. Er konnte nicht sprechen, nicht ein-mal die Augenlider bewegen. Eine Gestalt trat hinter der Stechpalme her-vor. Nur eine alte Frau. Eine alte Frau!

„Deine Jonna wirs du dein Lebtag nich wiedersehn, mein kleiner Jonas.“Wer war das? Woher kannte sie ihre Namen? Die Alte riss den Mund

auf und gähnte. Jonas sah in ihrem Rachen die Zähne, die ihr verblieben waren: schwarz und zerfressen. Auf ihrem Kinn prangte eine Hautflechte, Fixpunkt ihrer Kratzbewegungen. Hautschuppen rieselten auf ihren Parka, der die Farbe des welken Buchenlaubes am Boden angenommen hatte. Die Pudelmütze ribbelte sich über der Stirn auf, als wollte sie der Alten bedeuten: Wir haben Frühsommer, nicht Winter. Die Alte schnäuzte sich mit den Fingern und spuckte aus.

„Dein Lebtag nich, Liebchen, wirs du deine Jonna wiedersehn.“Die Alte kam auf ihn zu. Ohne Mühe schob sie einen Einkaufswagen

über den Waldboden. Im Wagen stapelten sich Plastiktüten, obenauf eine Puppe ohne Kleider, ein Vogelkäfig.

Jonas schwitzte vor Angst. Er wollte weglaufen, aber es ging nicht. Zwei Meter vor ihm stoppte die Alte. Gestank von Alkohol, Moder und Dreck stach in seine Nase.

„Se is nu mein Vögelken, meine Nachtigall. Für alle Zeit.“

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Petra S. Rosé

Der junge Mann, die Glückskatze und die Mühle

Im Bundesland Brandenburg, in der Nähe von Parey steht eine alte Müh-le an einem Feldrand. Ein älterer Mann, der Müller hieß, hatte dieses

Objekt 1980 erworben, wollte es zu einer Gaststätte umbauen, um damit seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Es gab aber zu dieser Zeit kaum Bau-material, noch Dinge für die Inneneinrichtung, dafür aber viele Vorschrif-ten. Die Mühle stand unter Denkmalschutz, was die strenge Einhaltung aller Bestimmungen erforderte. Das machte dem Käufer das Leben schwer. Als die Mühle endlich für Gäste eröffnet werden konnte, blieb der erwar-tete wirtschaftliche Erfolg des gastronomischen Betriebs aus. Herr Müller hatte keine Kraft mehr und dachte über seinen Lebensabend nach. Weil er weder Frau noch Kinder hatte, wählte er von den Männern, die für ihn arbeiteten, drei aus und lud sie zu einem ernsten Gespräch ein:

„Ich werde demnächst das Rentenalter erreichen und möchte mich zur Ruhe setzen“, begann er. „Doch vorher soll die Mühle, um eine Attraktion reicher werden. Hier sollen Pferde stehen, mit denen unsere Gäste schöne Ausritte oder Kutschfahrten in die Umgebung unternehmen können. Es ist September und am Wochenende eröffnet der Pferdemarkt in Havelberg. Ihr drei sollt dorthin fahren und jeder soll ein Pferd kaufen. Wer mir das beste Pferd bringt, hat bewiesen, dass er auch etwas von Pferden versteht, und darf den Hof führen. Demjenigen überschreibe ich die Mühle und das dazugehörige Land. Ich habe nur eine Bedingung: Wer das alles bekommt, muss mich, falls ich krank werde, gut pflegen bis zu meinem Tode.“

Die drei Ausgewählten stimmten der Aufgabe zu. Zwei von ihnen, die namentlich nicht bekannt sind, hielten sich für besonders klug und für etwas Besseres und wollten dem Dritten das Anwesen nicht gönnen.

Der Dritte hieß Hans, war sehbehindert, konnte schlecht lesen und war dadurch in seiner geistigen Entwicklung zurückgeblieben. Hans be-

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Gabriele Susanne Schlegel

Schneeröllchen

Es war einmal mitten im Winter, als die Schönheitskönigin aus ihrem schwarzen Rolls-Royce stieg und sich dabei einen Fingernagel einriss.

Ein Tropfen ihres Blutes fiel in den Schnee und das sah so schön aus, dass die Schönheitskönigin bei sich dachte: Hätte ich doch ein Kind, so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie dieser Rolls-Royce.

Bald darauf bekam sie ein Töchterlein, mit einer Haut so weiß wie Schnee, die Lippen so rot wie Blut, die Haare so schwarz wie der Rolls-Royce. Des-halb wurde es Schneeröllchen genannt. Bald darauf starb die Königin.

Nach einem Jahr nahm sich der Schönheitskönig eine andere Frau. Sie war Sängerin, stolz und übermütig und konnte den Gedanken nicht er-tragen, dass jemals eine andere sie an Schönheit und Stimme übertreffen könne. Überall ward sie nur die Königin genannt. Sie brachte ihren Pro-duzenten mit in das Haus. Jeden Tag trat sie vor ihn hin und fragte:

Sieglein, Sieglein, reich mir die Hand wer singt die schönsten Lieder im Land?

Und der Produzent antwortete:

Meine Königin, Ihr verkauft die meisten Platten im Land.

Da war sie zufrieden, denn sie wusste, dass der Produzent die Wahrheit sagte.

Schneeröllchen wuchs heran und wurde immer schöner und ihre Stimme war so klar und rein, dass die Vöglein ans Fenster kamen, wenn sie sang. Als die Königin wieder einmal ihren Produzenten fragte:

Sieglein, Sieglein, reich mir die Hand, wer singt die schönsten Lieder im Land?

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Gabriele Susanne Schlegel

Cyberpilzchen

Herr Müller war Bürodiener in der Firma König & Sohn, schon seit 20 Jahren. Er verdiente nicht viel Geld dabei, es reichte gerade so

zum Leben. Da begab es sich, dass er Herrn König Junior persönlich traf, der ihm erzählte, dass sein Vater, Herr König Senior sich bald zur Ruhe setzen wolle und nur darauf warte, dass er, Herr König Junior sich eine Frau nähme. Da lobte Herr Müller seine Tochter in höchsten Tönen und erzählte, sie könne jeden Computercode knacken, ja sie wäre sogar eine Meisterhackerin. Herr König sprach zu Herrn Müller: „Das ist ein Talent, dass wir sehr gut brauchen können, schicken sie ihre Tochter morgen zu mir, da will ich sie auf die Probe stellen.“

Als nun das Mädchen am nächsten Morgen zu Herrn König kam, führte er es in ein kleines Zimmer und setzte es vor einen Computer mit Internetanschluss und sprach: „Du wirst Dich nun in das Netz unseres Konkurrenten, der Firma Kaiser & Töchter, hacken und uns alle Daten ihrer Forschungsabteilung herunterladen. Wenn Du es bis morgen früh nicht geschafft hast, werde ich Deinen Vater entlassen, und dafür sorgen, dass er nie mehr eine Anstellung bekommt.“ Dann ging er und schloss die Türe von außen zu.

Da saß nun Müllers Tochter vor dem Computer und wusste keinen Rat. Sie hatte zu Hause immer nur Computerspiele gespielt und wusste nicht einmal, wie sie ins Internet kommen sollte. Ihre Angst wurde immer größer und sie fing an zu weinen.

Plötzlich hörte sie auf der Straße vor ihrem Fenster Bremsen quiet-schen und als sie hinausblickte, sah sie drei Stockwerke weiter unten einen roten Porsche parken. Heraus sprang ein kleines Männchen, hob den Kopf und sah ihr genau in die Augen.

Wenig später ging auf einmal die Türe auf und der Wicht spazierte herein. Mehrere Goldkettchen hingen um seinen Hals und jeden Finger zierte ein goldener Ring, sogar die Daumen.

„Guten Abend, Fräulein Müller, warum weinen Sie so sehr?“

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Jeannine Schäfer

Die Tränen der Fee

In einem fernen Königreich lebte einst ein habgieriges, missgünstiges Volk. Obwohl die Felder fruchtbar waren und niemand hungern musste,

neideten die Menschen einander ihr Hab und Gut. Es dauerte nicht lange, da begannen sie, einander zu bestehlen und zu betrügen, dass es ein Graus war. Als die Feen und Elfen dies sahen, kamen sie nicht mehr, um ihre kleinen Wunder wirken zu lassen. Sie schickten keinen Regen mehr, wenn die Sonne allzu heiß brannte und die Ernte auf den Feldern verdorren ließ. Sie beschwichtigten den Sturm nicht mehr, wenn er so unbeherrscht wü-tete, dass er Häuser und Viehställe zum Einsturz brachte. So kam es, dass die Menschen in bittere Not gerieten, und bald war es keine Seltenheit mehr, dass jemand seinen Nächsten wegen eines Kanten Brots oder eines warmen Mantels erschlug.

In diesem finsteren Land gab es nun einen Jungen, der keine Mutter und keinen Vater mehr hatte und der nichts besaß, außer einem reinen Herzen und den Lumpen, die er auf dem Leib trug. Eines Tages kam die-ser Junge an einem Apfelbaum vorbei, der bereits abgeerntet war. Unter dem Baum lag noch ein vergessener, wurmstichiger Apfel. Der Junge hatte großen Hunger, und so sagte er sich, dass der Besitzer des Baumes diesen kleinen, verschrumpelten Apfel wohl nicht vermissen würde.

Doch kaum hatte er sich nach der Frucht gebückt, da donnerte auch schon eine wütende Stimme: „Dich werd’ ich lehren zu stehlen!“ Erschro-cken blickte der Junge auf und sah einen riesigen Kerl mit einer Mistforke auf sich zu eilen. Da nahm der Junge die Beine in die Hand. Er rannte, so schnell er nur konnte, doch der Fremde ließ sich nicht abschütteln.

So schlüpfte der Junge in einen kleinen Hain am Wegesrand, um sich zwischen Bäumen und Gebüsch zu verstecken. Er entdeckte eine mächtige alte Eiche, die durch einen Blitzschlag gespalten worden war. Rasch kroch er in den hohlen Stamm. Kaum hatte er sich im Inneren des alten Bau-mes zusammengekauert, als dieser von einem heftigen Beben erschüttert wurde. Es polterte und knarzte so furchterregend, dass der Junge glaubte,

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Regina Schleheck

Wie der Mond sein Herz verlor

Wo Ost- und Nordsee sich küssen wollen und doch nie zusammen kommen, lebte ein Mädchen, das war so schön, dass seine Eltern

ihm strengstens verboten, bei Tageslicht das Haus zu verlassen, weil sie fürchteten, dass alle Männer ihr sofort verfallen würden.

Das Mädchen, Runhild hieß es, fügte sich dem Willen seiner Eltern, aber sein Name verriet es schon: Auch wenn es aller Welt ein Geheimnis bleiben sollte, was das Wort „run“ besagt, das von „Raunen“ herrührt, so war ihr doch gleichzeitig eine eigenwillige Natur gegeben, denn „hiltja“ heißt so viel wie „Kampf“. Da die Eltern ihm verboten hatten, das Haus bei Tageslicht zu verlassen, stahl es sich nachts vor die Tür, wenn alles schlief.

Da aber erblickte es der Mond und verliebte sich unsterblich in das schöne Menschenmädchen. Seine Frau, die Sonne, sorgte sich sehr, als sie ihn so schmachten sah. Mochte er doch nichts mehr essen und trinken! Es dauerte keine fünfzehn Tage, da war er nur noch ein Strich am Himmel und in der nächsten Nacht war er überhaupt nicht mehr zu sehen.

Die Sonne gab sich alle Mühe ihren Mann aufzumuntern und redete ihm gut zu. Ihr zuliebe nahm er endlich wieder etwas zu sich und wurde von Tag zu Tag wieder runder, bis er schließlich prall wie eine Kugel war.

Kaum aber hatte die Sonne sich ihren Tagesgeschäften zugewendet, gab der Mond sich wieder seinem Liebeskummer hin, verlor den Appetit, magerte ab, und erst als er schon nicht mehr am Himmel zu erkennen war, gab er schließlich dem erneuten Drängen der Sonne nach und futterte sich wieder rund und voll.

So ging das nun Monat für Monat, Jahr für Jahr. Die Sonne war eine erfahrene Frau und hatte viel Verständnis, aber irgendwann ging es ihr doch über die Hutschnur. Sie wartete einen günstigen Zeitpunkt ab, um das Mädchen zu erwischen.

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Armin Schmidt

Die beiden Töchter

Es lebte einmal irgendwo in fernen Landen ein Kaiser, der mit dem Regieren seines weiten Reiches sehr viel Arbeit hatte. Als seine Frau

starb, übergab er deshalb seine Tochter in die Obhut einer Amme und ver-gaß sie. Genau an dem Tag allerdings, als das Mädchen elf Jahre alt wurde, erinnerte er sich daran, dass er eine Tochter hatte, und wollte mit ihr zu Mittag essen. Seine Kammerdiener gaben sich Mühe, nicht allzu ratlos auszusehen. Unschlüssig standen sie beieinander. „Beeilt euch“, rief der Kaiser ungeduldig, „worauf wartet Ihr noch?“ Sie verbeugten sich tief und verließen im Rückwärtsgang die kaiserlichen Gemächer.

„Schickt Boten zur Amme der Königstochter, übermittelt ihr den Wunsch unseres kaiserlichen Gebieters!“ Doch wo auch immer die Män-ner suchten, Amme und Kind hielten sich nicht im Palast auf. Der kaiserli-che Leibdiener gab sich alle Mühe, seinen Herrn zu beruhigen. Die Hofbe-amten kamen zu einer Krisensitzung zusammen und palaverten lautstark miteinander, ohne einen Ausweg zu finden.

Als sich die peinliche Angelegenheit zu einer Staatskrise auszuweiten drohte, hatte der Hofnarr die rettende Idee. „Ich kenne ein Mädchen, das im gleichen Jahr geboren wurde wie die Tochter des Kaisers.“

„Bring sie so schnell wie möglich her.“Der Hofnarr lief los und holte Mutter und Kind. Das Mädchen hat-

te wegen einer gerade überstandenen schweren Krankheit eine ungesund bleiche Hautfarbe, zu der die roten Haare in auffälligem Kontrast standen.

„Nehmt ihre Tochter für seine.“ Die Hofbeamten blickten auf und lach-ten trotz der bedrohlichen Situation wie aus einem Munde. „Hatte das Mäd-chen nicht schwarze Haare? Rote Haare jedenfalls hatte sie sicher nicht.“

„Seit heute eben doch. Der Kaiser hat sie viele Jahre nicht mehr gesehen. Er wird sich kaum an ihre Haarfarbe erinnern.“

Der Narr konnte die Bedenken der Beamten zwar nur zum Teil zer-streuen, doch griffen sie dankbar nach jedem Strohhalm, der einen Aus-weg aus der Krise versprach.

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Petra Schmidt

Von Einer, die auszog und das Fürchten lernte

Wenn du gern anderen Menschen zuhörst, sei es um dein Gegenüber kennenzulernen oder einfach nur, um dir die Zeit zu vertreiben,

dann setz dich zu mir, mach es dir bequem und lausche meinen Worten. Vielleicht kann ich dich überraschen, vielleicht stehst du anschließend auch auf und sagst: „Kenn ich, wohnt gleich nebenan.“

Angefangen hatte es schon, als ich noch ein kleines Kind war. Ich hatte vor nichts Angst. Und das machte umgekehrt meiner Mutter Angst. Ich rann-te über die Straße, ohne nach den Autos zu schauen. Wozu auch, die hat-ten doch Bremsen. Kletterte auf alles, was ich ohne Hilfsmittel besteigen konnte. Sprang von allem herunter, was mir meine Mutter nicht schnell genug verbieten konnte.

Schon als ich vier oder fünf Jahre alt war, erzählte mir später meine Mutter, legte ich mich mit den größeren Jungs an, die meiner Freundin im Sandkasten das Spielzeug klauten. Obwohl ich viel kleiner als die Jungs war, hatte ich mich auf sie gestürzt und zu Fall gebracht.

Während der Schulzeit war ich nicht besser. Anfangs verhaute ich nur die Schüler, die meine Freunde ärgerten. Später machte es mir einfach nur Spaß, mich zu prügeln und zu sehen, wie andere Angst vor mir hatten.

Meiner Mutter gefiel diese Entwicklung nicht. Aber was wollte sie ma-chen? Bei uns gab es noch nicht „Die strengsten Eltern der Welt“, sie musste mit mir allein klarkommen. Mein Erzeuger hatte sich aus dem Staub gemacht, als ich ein paar Monate alt war.

Mein Respekt Erwachsenen gegenüber und Männern im speziellen, hielt sich sehr in Grenzen. Das zeigte ich den wenigen Typen, die meine Mutter sich traute mal mit nach Hause zu bringen, auch sehr deutlich. Die Pfeifen waren selten lange da. Anfangs bedauerte ich meine Mutter noch, wenn sie

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Sissy Schrei

Fünf im Überfluss

In einer kleinen Hütte am Rande eines dichten Waldes lebte einmal ein armer Mann mit Frau und Kindern. Mühsam versuchte der Familien-

vater, seine Familie mit dem bisschen, das er im Wald finden konnte, am Leben zu erhalten. Sein einziger Schatz war ein altes Huhn namens Hanna, das täglich ein Ei legte, und damit einen wichtigen Beitrag zur Ernährung der Familie lieferte. Doch eines Morgens stürzte die jüngste Tochter auf-geregt in die Stube. „Vater, Mutter, die Hanna liegt am Boden und rührt sich nicht! Und Ei habe ich auch keines gefunden.“

Sofort liefen alle zu dem kleinen Käfig, in dem Hanna die Nächte ver-brachte. Mit einem Stoßgebet auf den Lippen legte die Mutter ihre zittern-de Hand auf das Huhn und ließ sie scheinbar eine Ewigkeit dort liegen. Zuerst beobachteten die Kinder hoffnungsvoll ihr Tun, doch als sie sahen, dass sich die Augen der lieben Mutter mit Tränen füllten, senkten sie den Blick und bissen sich auf die Unterlippen. Niemand wollte die schreckli-che Tatsache aussprechen: Hanna war tot.

Endlich fasste sich die Mutter ein Herz, lächelte tapfer ihre Kinder an und sagte mit zitternder Stimme: „Heute gibt es ein besonderes Mittag-essen!“ Fragend und neugierig blickten die Kleinen zu ihrer Mutter auf.

„Hühnersuppe“, konnte diese noch schnell hervorpressen, bevor ihr der Gram die Stimme nahm.

Der Vater sagte zu all dem nichts, schulterte einen alten Sack, nahm einen ebenso alten Korb und ging mit festen Schritten in den Wald.

„Lieber Gott, lass den gestrigen Regen nicht vergeblich gewesen sein. Lass die Pilze wachsen. Heute ist Markttag. Da kann ich sie sicher gegen ein junges Huhn eintauschen.“

Doch der Himmel hatte kein Erbarmen. Außer ein paar Eierschwam-merln fand der arme Mann nichts. Als die Sonne schon hoch am Himmel stand, kam er zu einer Lichtung, die er noch nie gesehen hatte, obwohl er doch den ganzen Wald wie seine Westentasche kannte. Aber der Mann verschwendete daran keinen Gedanken, denn in der Mitte dieser Lichtung

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Simone Schwarze

MondkindFür Steffi. Weil du mir die Welt verständlich machst.

Wenn die Sonne am Abend in der Erde versinkt, stürzt die Welt in vollkommene, endlose Dunkelheit. Angst und Feindseligkeit geht

um, wie am Tage noch das Lachen. Die Menschen fürchten sich vor dem Sonnenuntergang und ersehnen den Morgen. Aber sie beklagen sich nicht, denn die Nacht war schon immer dunkel und wird es immer sein. Einer jedoch, ja einer kann sich damit einfach nicht abfinden.

Sein Name war Monsaro, aber jeder nannte ihn Mohn. Er war ein Junge, fast wie jeder andere – äußerlich. Sein Haar war dunkel, voll und so wuschelig, dass jeder gern darin herumwühlte. Vor allem ältere Frauen. Seine Augen waren groß und rund und sein Augenaufschlag so honigsüß, dass jeder ihm gern eine Nascherei zusteckte. Vor allem ältere Frauen. Und seine Hände waren unverbraucht und so zart, dass jeder ihn fortschickte, wenn die Arbeit hart war. Vor allem ältere Frauen.

Er war kein Junge, wie jeder andere – innerlich. Er war schweigsam, sprach nur, wenn es nötig war. Er dachte viel nach über die Welt, in die er hinein-geboren worden war. Er war hilfsbereit und immer zur Stelle, wenn er sich nützlich machen konnte – und wenn man ihn wegen seiner zarten Hände ließ.

Seine Welt war nicht groß, obwohl er wusste, dass sie nicht am Ende seines Heimatdorfes einfach aufhörte. Und auch nicht hinter den Hügeln, die das Dorf in eine Talsenke betteten wie ein Vogelei in einem Nest. Er kannte die zweihundertachtzig Menschen, die mit ihm in dem Dorf leb-ten. Und die zweihundertachtzig Menschen kannten Mohn.

Zwölf davon waren seine Familie. Sein Vater war Schäfer, seine Mut-ter Näherin. Sein Großvater war ebenfalls Schäfer und seine Großmutter ebenfalls Näherin. Mohn fragte sich schon sehr früh, ob das Zufall sein konnte. Er fragte seine Eltern nicht danach. Er kam selbst darauf, dass es wohl so normal war. Bestätigung für diese Theorie bekam er, als sein größter Bruder ebenfalls Schäfer wurde. Aber er schwankte in seiner An-nahme, als seine älteste Schwester nicht auch die Nadel für sich entdeckte,

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Udo Seelhofer

Rotkäppchen

Mürrisch schnappte sie sich den Korb. Das hatte ihr gerade noch ge-fehlt. Nicht nur, dass ihre Mutter sie zu zwei Wochen Hausarrest ver-

donnert hatte, musste sie jetzt auch noch ihre altersschwache Großmutter besuchen. Widerwillig griff sie sich ihre kirschrote Mütze mitsamt ihrem Wintermantel. Zum Schluss setzte sie sich die Kopfhörer ihres MP3-Players auf, drehte ihn auf volle Lautstärke und machte sich auf den Weg. Natürlich war ihre werte Erzeugerin auch nicht dazu bereit, ihr den Wagen zu leihen. Dabei hatte sie sich den alten VW letzten Samstag doch nur für eine kleine Spritztour ausgeliehen. Gut, sie hatte keinen Führerschein und war eigent-lich auch erst sechzehn Jahre alt, aber ihre Mutter hatte da eindeutig überre-agiert. Trotzdem musste sie jetzt zu Fuß zum Haus ihrer Großmutter gehen.

Der Weg durch den Wald zog sich schier endlos dahin, ein Baum sah so aus wie der andere. Gelangweilt setzte sie sich unter eine große Eiche und zog einen Korkenzieher aus ihrer Manteltasche. „Die Kalkleiste kriegt das sowieso nicht mit“, dachte sie sich, während sie den ersten Zug aus Omas Rotweinflasche nahm.

„Na, so alleine im Wald, Rotkäppchen?“ Der Typ war ihr erst gar nicht aufgefallen, so sehr hatte sie sich auf den Rotwein konzentriert. Als sie nun ihren Blick hob, sah sie einen jungen Mann, der vor allem eines war: haarig. Unzählige kleine Härchen zogen sich über seine Unterarme und Waden. Sein sommerlicher Auftritt in Shorts und einem T-Shirt stand in krassem Gegensatz zu den eher frostigen Temperaturen. Dennoch schien er die Kälte nicht zu spüren, während er sich locker neben Rotkäppchen setzte und bedächtig an seiner Marlboro zog.

„Wie hast du mich gerade genannt?“„Rotkäppchen“, antwortete er und tippte dabei spöttisch mit dem Zei-

gefinger an ihre Mütze.„Verpiss dich einfach wieder, ja? Vorhin war es so schön ruhig hier.“

Rotkäppchen sprach betont beiläufig, während sich die Miene ihres Ge-genübers schlagartig verfinsterte.

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Johannes Siegl

Das listige Aschenputtel

Es war einmal ein reicher Mann. Seine Frau war schwer krank und lag im Sterben. Als sie merkte, dass ihre Zeit gekommen war, da rief sie

die einzige Tochter zu sich und sprach: „Sieh mich an! Ich bin mein Leben lang eine ehrliche Haut gewesen und nun sterbe ich jämmerlich und qual-voll an dieser schlimmen Krankheit! Es gibt keine Gerechtigkeit in dieser Welt. Wohl ist dem, der sich mit List zu helfen weiß, vergiss das nie! Ich will vom Himmel auf dich hinab blicken und zusehen, dass es dir gelingt!“ Kurze Zeit später verstarb sie. Das Mädchen ging oft zum Grab, weinte und dachte daran, was die Mutter ihr zuletzt gesagt hatte.

Als ein Jahr vorüber war, da nahm sich der Vater eine neue Frau. Die Stiefmutter brachte zwei Töchter mit ins Haus, die sehr hübsch waren, aber voller Boshaftigkeit. Sie triezten das arme Mädchen und überließen ihm alle Hausarbeit. Sie nahmen ihm seine schönen Kleider und gaben ihm einen grauen Kittel und alte Latschen. Da lachten sie das arme Mädchen aus, wie es da stand und ganz schäbig aussah. Von nun an musste es jeden Tag schwere Arbeit tun und bekam davon Schwielen an den Händen, so-dass es bald mehr als genug davon hatte. Als dann die Schwestern, um sie zu ärgern, ihr eine Schüssel voll Linsen in die Asche warfen und meinten, sie solle die Linsen wieder heraussuchen, da fasste sie sich ein Herz und dachte an den Rat ihrer Mutter. Sie las die Linsen auf und brauchte lange Zeit dafür. Dann bereitete sie einen Eintopf daraus.

Als es Zeit zum Essen war, füllte sie in die beiden Teller der Schwestern, zu den Linsen jeweils noch einen harten Stein, der einer Linse ähnlich sah. Und so trug sie die dampfenden Teller warmen Eintopfs zu den beiden Schwestern. Sie war noch ganz staubig und schwarz von der Asche und so lachten die Schwestern sie lauthals aus und nannten sie „Aschenputtel“. Aschenputtel aber ließ es zu, denn sie wusste wohl, dass der am besten lacht, der zuletzt lacht. Und so kam es, dass die Stiefschwestern beherzt ihren Eintopf löffelten und plötzlich vor Schmerzen aufschrien. Sie hat-ten beide in den Stein gebissen, den Aschenputtel hineingetan hatte und

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Annegret Sommer

Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Wölfe

Es war einmal in einem Arbeitsamt irgendwo auf der Welt. An einem Schreibtisch saß ein gelangweilter Sachbearbeiter und spielte grade

eine Partie Sudoku auf dem PC. Da klopfte es an der Tür, aber der Sachbe-arbeiter stöhnte nur genervt und spielte weiter. Gleich darauf wummerte es heftig an der Tür. Verärgert schloss der Sachbearbeiter das PC-Fenster mit dem Spiel und schnauzte: „Herein!“

Ein Wolf betrat das Zimmer und brummte: „Tach!“„Ah, Herr Wolf! Kommen Sie doch rein!“„Reißwolf … mein Name ist Reißwolf!“„Ähm … ja … Herr … äh, Reißwolf.“ Der Sachbearbeiter bearbeitete seine Tastatur.

„Wie ich sehe, waren Sie letzte Woche schon bei meinem Kollegen. Laut meinen Unterlagen sollten Sie jetzt um diese Zeit im Märchen „Der Wolf und die sieben Geißlein“ unterwegs sein, zum … äh … Kreidekaufen.“

„Ja,“ gab der Wolf einsilbig zu.„Und wieso sind Sie jetzt nicht bei der Arbeit?“, wollte der Beamte des

Arbeitsamtes wissen.„Ich war ja schon gestern hier wegen ‘nem Fahrtkostenzuschuss und ‘ner

Beihilfe für den Kreidekauf. Wurde aber abgelehnt, weil das angeblich in den Leistungen für die Arbeitsbeschaffungsmaßnahme nicht enthalten ist.“

„Das ist richtig,“ bestätigte der Mann hinter dem Schreibtisch. „Sie können nach Erledigung des Auftrages bei erneuter Arbeitslosigkeit die Quittungen einreichen und einen Zuschuss für außergewöhnliche Ausgaben beantragen!“

Der Wolf starrte den Beamten durchdringend an.„Und wieso kann ich das Geld nicht jetzt kriegen, wo ich‘s brauche?“„Herr Reißwolf, nun erzählen Sie mir jetzt erst mal, wieso Sie nicht bei

der Arbeit sind“, versuchte der Sachbearbeiter abzulenken.

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Martina Sprenger

Die Hexe muss sterben!

Das strohige Haar. Die teigige Haut. Die trüben, wässrigen Augen. Die klumpige Nase. Die kotbraune Warze. Hannes starrte die alte Frau an,

die gebückt und mit einem Stock in einer Hand an seinem Tisch vorbei humpelte. Sie war es! Der Schrecken seiner Kindheit. Das Trauma seines Lebens. Und hier, direkt vor seinen Augen, schlurfte sie unerkannt und unbehelligt zwischen all den Menschen herum, die an diesem Vormittag im warmen Schein der Aprilsonne an den Geschäften entlang schlenderten. Die Tasse entglitt Hannes‘ Hand und zerbrach auf dem Kopfsteinpflaster.

„Hannes! Was soll das?“ Gretas Stimme riss ihn aus den Erinnerungen, die auf ihn einstürmten. „Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.“

Hannes nickte. „Ja, das habe ich. Ein Gespenst aus unserer Vergangenheit. Sie.“„Sie?“„Wir müssen ihr folgen. Wir können sie nicht einfach entwischen lassen.“Greta legte eine Hand auf seinen Arm. „Das kann nicht sein und das

weißt du. Sie ist in ihrem Ofen verbrannt. Man fand einen Fingerknochen, der ihr gehörte.“

Hannes schüttelte Gretas Hand ab und sprang auf. Der Stuhl landete mit einem lauten Knall auf dem Pflaster. Greta warf die Zeitung auf den Bistrotisch und folgte ihrem Bruder. Der Kellner des Eiscafés wedelte wild mit den Armen und schrie hinter ihnen her. Greta holte Hannes an der Bordsteinkante ein, krallte ihre Finger in seinen Jackenärmel und riss ihn ge-rade noch zurück. Fast wäre er vor den heranbrausenden Linienbus gelaufen.

„Bist du wahnsinnig?“, schrie sie und brach in Tränen aus. „Willst du dich umbringen?“

Hannes zitterte am ganzen Körper. „Sie ist es. Glaub mir doch. Ich er-kenne sie überall wieder.“

Greta holte ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche und schnäuzte sich die Nase. „Okay“, sagte sie. „Du wirst von deiner Wahnidee nicht lassen. Zeig mir die Frau und ich werde dir beweisen, dass du dich geirrt hast.“

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Reinhard Staubach

Hans, Greta und der Web-Dschungel

Bist du bescheuert“, zischte die dreizehnjährige Greta, als sie in das Zimmer ihres ein Jahr älteren Bruders Hans platzte. „Du gibst der

Schlampe auch noch Nachhilfe im Internet, obwohl wir vereinbart haben, sie fertigzumachen?“

Hans blinzelte Greta an und kniff kurz das rechte Auge zu.„Mir ist eine Fee erschienen.“„Ne? Wie abgedreht ist das denn?“ Greta ließ sich auf den Sitzsack fallen

und tat interessiert. „Wie sah sie aus?“„Goldblondes Haar, ein wunderschönes Gesicht, schlank, in einem wei-

ßen langen Kleid und mit einer sanften Stimme.“„Und deshalb gibst du Rosita jetzt Nachhilfe am PC? Bist du noch zu

retten?“ Rosita war die Stiefmutter; die Frau, die ihr Vater nach dem töd-lichen Autounfall ihrer Mutter geheiratet hatte.

Hans berichtete, dass die Fee im weißen Kleid ihm versprochen habe, dass er reich werde, wenn er täte, was sie ihm rate. Zu allererst müsse er freundlich zur ungeliebten Rosita sein und ihr helfen, den Computer zu benutzen. Danach würde er weitere Anweisungen erhalten. Es falle ihm ja auch nicht leicht, so von heute auf morgen freundlich zu ihr zu sein. Aber er wolle es ausprobieren.

„Du hast doch nicht alle Pixel in der Linse“, lachte Greta los und warf die Tür hinter sich zu. Drei Tage später berichtete Hans, dass ihm die Fee wieder erschienen sei.

„Die Blonde im weißen Kleid?“„Nein, diesmal trug sie ein rotes Kleid“, sagte Hans.„Und sie hat mir fantastische Tipps gegeben, wie ich an Geld komme.

Falls du mitmachst, ist auch etwas für dich drin. Außerdem werden wir Rosita dabei ganz elegant los.“

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Ronja Storck

Das Märchen vom Brot

Es war einmal ein Sauerteigbrot, das aus einer der besten Bäckereien der Stadt stammte. Neben ihm lagen zwei Körnerbrote, die sich freund-

lich und lachend unterhielten, und ein Dutzend Brötchen, die mit hohen Stimmchen Lieder über Honig sangen. Denn der Honig, so erklärten sie immer, sei eindeutig das Beste, was ein Mensch auf einem Brötchen essen könne. Das Sauerteigbrot jedoch blieb stumm.

Einmal kam eine alte Frau in die Bäckerei. Als sie das Brot sah, rief sie aus: „Oh, was für ein herrliches Brot! Wie gut würde es zu etwas Käse schmecken.“ Und sie hatte recht. Es war wirklich ein herrliches Brot, mit einer braunen Kruste, die wunderbar duftete.

Doch das Brot wollte nicht gegessen werden. Und so starrte es die Frau so lange wütend an, bis diese rief: „Oh, was für ein hässliches Brot!“ So kaufte sie lieber ein Körnerbrot. Das Sauerteigbrot jedoch freute sich, denn es würde nicht gegessen werden.

Am selben Tag kam ein Mann in die Bäckerei. „Dieses Brot dort“, sagte er und deutete auf das Sauerteigbrot. „Dazu werde ich meine Wurst essen!“

Da wurde das Brot noch saurer und starrte den Mann wütend an. Die-ser starrte zurück, doch schließlich gab er es auf, kaufte ein paar Brötchen und murmelte: „Was für ein hässliches Brot.“

So lag das Sauerteigbrot Tag um Tag in der Bäckerei und sah jeden böse an, der es kaufen wollte. Der Bäcker war ganz verwundert, schüttelte den Kopf und fragte sich, warum niemand sein leckeres Brot kaufen wollte.

Eines Tages dachte er sich: „Bald muss ich das Brot wegschmeißen, sonst wird es ganz trocken.“

Doch da kam ein kleines Kind in die Bäckerei. Es hatte kein Geld und war sehr hungrig. Der Bäcker war ein sehr gutherziger Mann und dachte sich: „Ich werde dem armen Kind das Brot schenken, damit es etwas zum Essen hat.“

Das Sauerteigbrot, das gerade ein Nickerchen gemacht hatte, wachte auf und wollte wieder böse gucken, als es in das hungrige Gesicht des Kin-

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Lisanne Surborg

Trümmermann

Leise rieselte der Putz von der Decke, tagelang schon und kein Ende schien in Sicht. Der Staub brachte mich immer wieder zum Niesen.

Meine Mutter sah mich dann besorgt an, meine Schwester Anna lachte vergnügt, weil ich dabei unweigerlich Grimassen zog. Unser Haus war mal recht stattlich gewesen, mit schönen Tapeten und Bildern an den Wänden, mit Holz und Teppichen zu unseren Füßen. Jetzt stand ich auf nacktem Beton, in ausgetretenen Sandalen und einem schmutzigen Sommerkleid.

Meine Mutter schrieb gerade einen Brief an Großmutter in München. Ein Nachbar würde bald dorthin aufbrechen und ihr den Brief überrei-chen. Mutter sagte uns Kindern nicht, was sie ihr schrieb, aber sie ver-sprach, dass wir auch unterschreiben dürften, wenn sie fertig war.

Anna saß auf dem wackligen Holzstuhl, die Puppe, der ein Arm und ein Auge fehlten, auf dem Schoß. Aber sie spielte nicht richtig, sondern versuchte immer wieder der Mutter über die Schulter zu sehen, bis diese völlig entnervt die Feder zur Seite legte.

„Wieso geht ihr nicht raus und sucht Ilse? Sie ist auf der Straße, viel-leicht könnt ihr ihr helfen?“, schlug sie vor, obwohl es eher ein Befehl war.

Anna starrte sie an, ihr Mund halb geöffnet, die kleinen Finger um Arm und Bein der hässlichen Puppe geschlossen. Dann schüttelte sie den Kopf, als hätte die Mutter etwas Dummes gesagt.

„Aber da ist doch gar keine Straße mehr!“, rief sie. Die Mutter blickte das kleine Mädchen entsetzt an und sah dann fast flehend zu mir herüber.

„Lotte, bitte …“ Ich gehorchte, nahm mein kleines Schwesterlein an die Hand und führte es auf die … nein, ich führte sie aus dem Haus, nicht weiter.

„Die Mutter weiß nicht, dass die Straße fort ist“, kicherte Anna über diese traurige Wahrheit.

„Sei still“, wies ich sie an und zog sie dort lang, wo die schöne, breite Straße einmal gewesen war. Jetzt war die Welt hier grau. Tiefgrau, blass-grau, hellgrau, dunkelgrau, mausfarben, eselfarben, schon verschieden, aber immer grau. Immer tot.

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Isabel Terhaag

Rotkäppchen

Am Rande eines Waldes lebte einst ein kleines Mädchen mit seiner Mut-ter. Sein Vater war vor langer Zeit gestorben und das Einzige, was er

zurückgelassen hatte, war eine rote Kappe. Das Mädchen trug diese Kappe jeden Tag und jede Nacht. Deswegen nannten es alle „Rotkäppchen“.

Rotkäppchen war kein liebes Mädchen, es ärgerte seine Mitmenschen so oft es ging, spielte Streiche und schwänzte die Schule. Besonders seine Mutter litt unter dem schwierigen Kind. Eines Tages hielt sie es nicht mehr aus und sie sagte zu Rotkäppchen: „Rotkäppchen! Ich bin es leid, dass du immer nur Ärger machst! Du gehst und bleibst bei deiner Großmutter, bis du dich geändert hast!“

Die Großmutter war alt, sehr alt, sie saß nur in ihrer Hütte draußen im Wald und tat nichts. Rotkäppchen mochte sie nicht, weil sie langweilig war, es stank dort und es gab nichts Interessantes zu tun. Seine Mutter ließ sich aber nicht von dem Plan abbringen, sodass sich Rotkäppchen kurz darauf auf den Weg machte. Dabei trug es einen Korb mit einem Kuchen, den die Mutter extra gebacken hatte.

Sobald es außer Sichtweite war, setzte sich Rotkäppchen auf einen Stein und aß den Kuchen allein auf. Plötzlich hörte es ein Rascheln im Gebüsch. Rotkäppchen kaute langsam, schluckte die Kuchenkrumen hin-unter, rutschte leise vom Stein und näherte sich dem Gebüsch.

„Hab ich dich!“, schrie es dann und zerrte einen Wolf, den es im Na-cken gepackt hielt, aus dem Gebüsch. Der Wolf zog den Schwanz ein und winselte. Rotkäppchen überkreuzte die Arme und legte den Kopf schief.

„Was bist du denn für ein Wolf, das du dich nicht mal ordentlich an-schleichen kannst?“

Der Wolf machte große Augen und wollte verschwinden, doch Rotkäpp-chen verstellte ihm den Weg. „Nichts da. Wenn schon keine Menschen da sind, die ich ärgern kann, dann lass mich wenigstens dich ärgern!“ Nun setzte sich der Wolf aufrecht hin. „Was bist du für ein Kind, das du so voller Hass und Ärger bist? Es scheint mir, als hättest du nie gelernt, was Liebe ist!“

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Sabine Tetzner

Das Seevolk

Anna stolperte planlos durch den dunklen Wald. Nur der Mond zeigte, wohin sie ihre Füße setzen musste. Doch sie empfand keine Angst,

wollte nur weg. Weg von zu Hause. Weg von ihrem Vater, der krank war. Krank in seinem Kopf. So lief sie immer weiter. Die Tränen rannen in Strömen über ihr Gesicht. Das Leben schien so hoffnungslos. Zwar war sie jung und schön. Aber Schönheit allein zählte nicht. Und ein goldenes Herz schon gar nicht.

Plötzlich hielt sie mitten in der Bewegung inne. Die Bäume lichteten sich. Sie zwinkerte, glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Da lag ein See. Ein riesiger See verborgen im Wald. Es erklang leises Lachen. Anna horch-te auf, trat zurück in den Schatten der Bäume. Man konnte nie wissen. Immerhin war sie allein. Allein im Wald und das mitten in der Nacht. Ihr Herz klopfte laut vor Aufregung. Sie erinnerte sich an alte Geschichten. Sie erzählten von einem See. Einem See verborgen unter dichten Bäumen. Einem See, den das Mondlicht liebte. Einem See, der lockte, Vergnügun-gen versprach. Tief und gefährlich. Schwarz und geheimnisvoll.

Anna reckte sich, sah den Felsen im Wasser. Sah die zwei Gestalten, die sich im Arm hielten. Sie fühlten sich unbeobachtet. Langes, nasses Haar klebte an ihren Körpern. Ein Mann und eine Frau. Wie sie wohl des Nachts in den See gekommen waren? Es war kalt, viel zu kalt um zu baden, viel zu kalt um zu schwimmen. Die Frau lachte, reckte sich neckisch. Sie war nackt. Nackt trotz der Kühle. Ein Liebespaar, dachte Anna. Aber wie waren sie auf den Felsen gekommen? Kein Boot, nichts.

Die Frau beugte ihren Oberkörper nach vorne, beugte ihn nach hinten. Wie ein Grashalm im Wind. Dann sprang sie, ihre Arme weit ausgestreckt, im hohen Bogen ins Wasser. Glitzernde Perlen brachen sich – Anna zog entsetzt die Luft ein – an ihrem Fischschwanz. Augenblicklich fuhr der Mann herum, starrte auf die Bäume. Er hatte sie gehört, sie wusste es. Grü-ne Augen, wie zwei Strahler. Grüne Augen, die das Dickicht durchleuch-teten. Anna drückte sich noch näher an den Stamm. Das Licht huschte an

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Kerstin Tümmel

Prinzessin Annabell und die drei Edelsteine

Vor langer Zeit lebte ein armer Bauer mit seiner Frau in einem kleinen Dorf, ganz in der Nähe von einem Wacholderhain. Sie hatten zwei

Söhne, auf die sie sehr stolz waren.Der Ältere hieß Fred, weil er aber über zwei Meter groß war, nannte

man ihn heimlich Riese. Der Riese war sehr begabt, er schnitzte in Win-deseile aus Holz Schiffchen, die auf dem Wasser schwimmen konnten.

Sein Bruder, Wilhelm war nicht minder geschickt. Er malte diese Schiffchen an. Es waren die Schönsten weit und breit, ach, auf der ganzen Welt. Wilhelm ähnelte seinem Bruder nicht, er war klein, na ja, etwas länger als ein Zwerg.

Wenn die beiden genug Schiffchen gebaut hatten, verkauften sie diese auf dem Markt. Vom Verdienst brachten sie Brot und Gemüse mit. Gern gingen sie nicht auf den Markt, der Weg war sehr beschwerlich und weit. Er dauerte einen halben Tagesmarsch. Als wieder ein Handkarren mit Schiffchen gefüllt war, beschloss Fred:

„Morgen ist Markttag, diesmal werden wir eine Abkürzung nehmen. Ich habe keine Lust, eine Ewigkeit zu vertrödeln.“

„Du meinst wir sollten das Verbot unserer Mutter brechen?“Fred nickte, er war immerhin schon so alt, dass er nicht mehr jedem

Ammenmärchen Glauben schenken wollte. Dabei warnte die Mutter ihre Söhne seit vielen Jahren vor den Gefahren des Waldes. Wilhelm grauste bei diesem Gedanken. Er wollte aber nicht als Feigling vor seinem Bruder da stehen und willigte per Handschlag ein.

„Abgemacht, kein Sterbenswort dürfen unsere Eltern erfahren.“Ganz früh, noch bevor die Sonne aufging, standen die beiden auf. Die

Mutter drückte Wilhelm und Fred zum Abschied noch einen trocknen Brotkanten in die Hand und strich ihnen zärtlich über das Haar.

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Sigrid Varduhn

Der Riesenkönig

Als die Mauer fiel, war Anna erst fünfundsechzig. Reihe für Reihe trug Hanno, ihr Nachbar, die Ziegelsteine ab, die sein Vater und er vor fast

fünfzig Jahren sorgfältig aufgeschichtet hatten, um die Grundstücke von-einander abzugrenzen. Zum ersten Mal seit vielen Jahren konnte sie von ihrem Wohnzimmer aus bei Hanno in die Küche schauen. Und er bei ihr. Aber wenn sie was von Hanno wollte, hatte sie schließlich auch ums Haus gehen können. Ihretwegen hätte die Mauer stehen bleiben können.

Jetzt ist Anna fünfundachtzig und das Dorf so gut wie leer. Außer ihr wohnen nur noch Krögers dort und die auch nur von Frühjahr bis Herbst, wenn ihre Feriengäste kommen. Mit den letzten Urlaubern Ende Oktober schließen Inge und Heinz Kröger ihre Wohnung ab und ziehen in die Stadt zu Tochter und Enkeln.

Annas Haus steht oberhalb des Sees. Auf der anderen Seite des Wassers hat sie früher nachts die Lichter der Häuserblöcke beim ehemaligen Gutshof gesehen, dann auch die der neuen Straßenbeleuchtung, später nur noch die Straßenbeleuchtung und jetzt haben sie auch die abgeschaltet, um zu sparen. Und weil da keiner mehr fährt, weder im Hellen noch im Dunkeln.

„Die lassen dich da nicht mehr lange allein wohnen“, hat Hanno ge-unkt, bevor er selbst mit einundachtzig ins Altersheim drei Orte weiter zog. „Das ist sicher nicht erlaubt.“

„Das soll nicht erlaubt sein, dass ich in meinenm eigenen Haus woh-ne?“, hat sie sich empört. Seit drei Generationen im Besitz der Familie und nie eine Hypothek, darauf ist sie besonders stolz.

Aber Hanno denkt sich ja manchen Quatsch aus. Das mit der Mauer war auch so etwas. Nach fünfzig Jahren meinte er, die Steine für eine Ga-rage zu brauchen. Sicherheitshalber fragte sie wegen des Hauses aber doch Lena, ihre Enkelin, als sie das nächste Mal kam. Lena studiert Wirtschafts-recht in Berlin, da muss sie doch so etwas wissen. Lena meinte, nein, solan-ge sie sich selbst versorgen könne, könne sie da auch wohnen bleiben. Aber Anna ist sich nicht sicher, ob Lena das nur gesagt hat, um sie beruhigen.

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Vincent von Ableben

Die drei gerechten Recken

Es war einmal ein pfiffiger Bursche, der keine Arbeit finden konnte, weil die Handwerker, Händler und Bürokraten, bei denen er sich vor-

gestellt hatte, seine Besserwisserei leid waren. Er kam just von einem wei-teren deprimierenden Versuch, und zwar hatte er sich in Lönickerheide als Wetterhahnhilfsschmied beworben. Es lief ganz gut an, denn er war handwerklich recht geschickt, aber schließlich hatte er gesagt: „Wozu überhaupt Wetterhähne auf die Türme setzen? Nehmen wir doch Stadt-räte, die drehen sich noch besser mit jedem Wind.“ Und da hatte man ihn gebeten zu gehen.

So war er auch gegangen, und zwar Richtung Larkenwreda, aber dabei war es dunkel geworden. Als die Nacht einbrach und es kalt wurde, sah er jedoch in der Ferne das Flackern eines Feuers, und darauf strebte er zu.

Am Feuer am Wegesrand saß ein riesiger Kerl. Der röstete gerade einen Hasen, den er eigenhändig gefangen und erwürgt hatte. Unser Bursche, nicht faul, setzte sich gleich dazu und sprach: „Viele Hunde sind des Ha-sen Tod, aber dieser ist wohl allein Dein Verdienst.“ Der andere glotzte ihn nur missmutig an, nickte schließlich und warf ihm einen Hinterlauf des gebratenen Tieres hin. „Da will ich mal das Hasenpanier ergreifen“, scherzte der Geselle und nagte an der Pfote, bis er satt war.

In derselben Nacht kam noch ein abgerissener Rittersmann vorbei. Auch er erhielt seinen Anteil am Hasen, und als Dank erzählte er, dass er zum verdorbenen Königreich wolle, weil es da noch Handlungsbedarf für einen waschechten Ritter gäbe. Die Bevölkerung und mehr noch der Adel sei so verdorben, dass man sich dauernd gegen allfällige Gefahren zu weh-ren habe, gegen Versuchungen aller Art, und sogar vor dem Klerus müsse man sich in acht nehmen, da bei diesem die Frömmigkeit nur an drittletz-ter Stelle stünde. Er überließ es den beiden Jünglingen zu spekulieren, was ansonsten an welcher Stelle stand, und legte sich zur Ruhe.

Der junge Bursche aber vermochte keinen Schlaf zu finden und rechne-te sich aus, dass es in jenem Königreich viel zu tun für ihn gäbe, dass man

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Renate Walter

Von Bäumen und Menschen

Verwirrende Gedanken quälten Jonas und verursachten ihm schon seit einiger Zeit ständig Kopfschmerzen. Er blickte hinüber zu Iris, seiner

Frau, und fand, dass sie in letzter Zeit schlecht aussah. Er machte sich Sorgen um sie. In den vergangenen Wochen hatte sie viel von ihrer Le-bensfreude eingebüßt, und ihr einst so blühendes Aussehen schwand stetig dahin. Sie sah kränklich aus und hatte ihr hinreißendes Lächeln verloren.

Als er sich vor vielen Jahren in sie verliebt hatte, war es gerade ihre Frische und ihre Ausstrahlung, die ihn so angezogen hatten. Als Iris seinen sorgenvollen Blick bemerkte, lächelte sie ihm ermutigend zu:

„Mach dir keine Sorgen. Du wirst sehen, Jonas, am Ende wird alles gut. Du musst nicht immer gleich das Schlimmste annehmen.“

Jonas glaubte allerdings schon lange nicht mehr, dass alles gut ausgehen würde. Es hatte ganz harmlos angefangen. Eines schönen Tages waren vie-le Menschen zu ihnen in den Wald gekommen und mit Zollstöcken und Werkzeug umher gelaufen. Sie hatten gemessen, gerechnet, Flächen abge-steckt und Markierungen aufgestellt. Iris und Jonas hatten das geschäftige Treiben mit Neugierde verfolgt, konnten jedoch nichts mit den Vorgängen anfangen, die um sie herum geschahen.

„Was tun diese Leute da?“, hatte Iris nervös geflüstert und Hilfe su-chend nach Jonas’ Hand gegriffen. „Ich weiß es auch nicht, aber ich denke, das werden wir bald erfahren“, war seine ausweichende Antwort.

Er wollte Iris nicht unnötig ängstigen, doch er hatte davon reden hören, dass die Menschen mehr und mehr Platz für sich brauchten und daher zu ihnen in den Wald kommen würden. Erst neulich war sein bester Freund Joe, der als Krähe stets viel herumkam, bei ihm gewesen und hatte ihm seine Beobachtungen mitgeteilt. „Sie breiten sich immer weiter aus. Ihre eigenen Flächen genügen ihnen längst nicht mehr, und sie rücken immer näher an euch heran. Bald werden sie hier sein.“

Und jetzt war es so weit, das wusste Jonas instinktiv. Die Menschen ka-men näher, es wurde immer lauter und hektischer. Von der früheren Idylle

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Uwe Wartha

Vom kleinen Stein, der Freundschaft suchte

In einem dunklen Wald, gleich hinter dem großen Fluss, lebte ein einsamer kleiner Stein allein in einer kargen Holzhütte. Eines schönen Tages im Juli,

die Sonne hatte gerade ihren höchsten Stand erreicht und brannte mit voller Kraft auf die Kronen der hohen Bäume, beschloss der kleine Stein, einen Ausflug an den Fluss zu machen. Dort wollte er in den kühlen Fluten ein Bad nehmen. Er kramte seinen Rucksack hervor, legte eine Flasche Wasser und einen Apfel hinein, zog seine Wanderstiefel an und lief los.

Angenehme Kühle empfing den kleinen Stein im Innern des Waldes. Das Sonnenlicht fiel gedämpft durch die Wipfel der alten Tannen, Spechte trommelten an den Stämmen der Buchen und Eichen, und vergnügt pfiff der kleine Stein ein Lied. Er sprang und hüpfte freudig über den weichen, moosgepolsterten Waldboden, beobachtete Rehe und Hasen, die mit ih-rem Nachwuchs auf einer Lichtung umhertollten, und pflückte Blumen, die im warmen Sonnenlicht ihre Blüten weit geöffnet hatten.

Nach einiger Zeit erreichte der kleine Stein eine farbenprächtige Wiese, auf der die bunten Blumen im sanften Wind tanzten. Da wurde es ihm immer schwerer ums Herz. Erst konnte er sich nicht erklären, warum die Freude verschwunden war. Doch dann wurde ihm der Grund für seine Wehmut bewusst. Er war unglücklich, weil er keine Freunde hatte, die mit ihm zusammen durch den wunderschönen Wald gingen, mit ihm im Fluss baden würden und mit denen er zusammen picknicken konnte.

Traurig setzte sich der kleine Stein auf einen Baumstamm am Wegrand in die Sonne und weinte.

Einige Minuten später kam ein Tropfen Wasser den sonnigen Weg ent-lang, dessen samtige Haut in den schönsten Regenbogenfarben funkelte.

„Warum weinst du?“, fragte der Tropfen den kleinen Stein. „Weil ich keine Freunde habe und an so einem schönen Tag wie heute ganz allein auf

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Silke Wiest

Des Königs Rettung

Ich erfriere! So helft mir doch!“, ruft König Thorben mit klappernden Zähnen. Er sitzt schlotternd auf seinem Thron. König Thorben friert

wie ein junges Kätzchen im Regen und das, obwohl er mit Bergen von Federkissen zugedeckt ist, eine dicke Webpelzmütze auf dem Kopf hat, einen polargetesteten Hightech-Outdoor-Overall und darunter drei La-gen Funktionsunterwäsche trägt. Aber König Thorben bibbert.

„Was können wir noch tun, um Euch zu helfen?“, fragt Randolf, ein Wichtel aus dem unterirdischen Reich König Thorbens.

„Ach“, stöhnt König Thorben, „Ich weiß es doch auch nicht. Wir haben schon alles versucht und mir ist immer noch kalt, und wenn uns nicht bald etwas einfällt, werde ich sterben und mit mir das ganze Wichtelvolk.“

Eine Wichtelfrau tritt aus der ratlos drein schauenden Wichtelschar hervor und legt König Thorben ihre Hand auf die Wange.

„Aber ihr fühlt euch ganz warm an Majestät“, stellt sie fest.„Ja, ja, das mag sein, mir ist ja auch innen kalt. Hier drinnen, da ist mir

so kalt“, König Thorben legt seine Hand in der Herzgegend auf seinen Overall. Die Wichtel sehen sich hilflos an.

„Was können wir dagegen tun, König Thorben?“, fragt Winnifreda, ein ganz kleines Wichtelmädchen. König Thorben schweigt eine ganze Weile, dann sagt er:

„Ich hätte da eine Idee! Holt mir Wärme von den Menschen, die oben auf der Erde leben, dort wo tags die Sonne scheint und nachts der Mond.“

Ein Raunen geht durch die Wichtelschar. Als das Flüstern und Tu-scheln verstummt, fragt Winnifreda:

„Aber König Thorben, die Menschen schaffen sich doch mühsam auf alle erdenklichen Arten Wärme. Aus Sonnen- und Windenergie, aus Erdöl und Erdgas. Wenn wir ihnen die Wärme nehmen, müssen sie frieren. Sie werden im Winter sterben!“

„Ach Winnifreda, du Dummkopf, diese Wärme meine ich doch nicht“, sagt König Thorben und versucht trotz klappernder Zähne ein Lächeln.

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Andreas Wöhl

In der Hexenhütte

Es war ein Mal aus verkrustetem Blut, das er dort an seinem Hals er-tastete, wo der Schmerz am heftigsten war. Mehrere kleine Punkte,

die ein Oval formten. Während seine Fingerkuppen sachte darüber glitten, klopfte aus dem Nebel des Vergessens eine schemenhafte Erinnerung an die Fenster seines Gedächtnisses. Hannes wagte jedoch nicht, sie genauer in Augenschein zu nehmen, denn eine düstere Aura ging von ihr aus. Und so verschmolz sie wieder mit dem grauen Nebel, der sein Hirn durchwogte und seinen Körper mit bleierner Müdigkeit füllte.

Vogelgezwitscher und das Knacken von Holz brachten ihn ins Hier und Jetzt. Hannes blinzelte. Das helle Tageslicht blendete ihn noch immer. Er bedeckte seine Augen mit der rechten Hand und konzentrierte sich auf den Duft, der ihm in die Nase stieg. Vertraut und doch fremd. Es roch nach Badezusatz und Pilzen. Überrascht stellte er fest, dass er auf einem Bett aus feuchter Erde und alten Kiefernnadeln lag. Um ihn herum eine seltsame Stille. Nur ab und an zwitscherte ein Vogel.

Er war definitiv nicht mehr in der Stadt. Vorsichtig nahm er die Hand von den Augen. Lichtlanzen einer tief stehenden Sonne stachen durch die Wipfel und Äste der umgebenden Bäume, tasteten über Unterholz und vorbei an dunklen Schatten. Hannes atmete den Herbst ein.

Wie war er hierher gekommen? Er fasste sich an die Stirn, als könne er nach der Erinnerung greifen. Und im selben Moment durchzuckte ihn ein Gedanke wie ein Blitz: Grit!

Hannes schnappte nach Luft, sah sich um. Grit! Wo war sie?! Die Sorge um seine Schwester ließ alle Müdigkeit verfliegen. Er rappelte sich auf die Beine. Dort, hinter dem Baumstamm! Sein Herzschlag trommelte einen wilden Takt, als er die rosafarbenen Hello-Kitty-Schuhe und die reglosen Beine in der Bluejeans entdeckte. „Grit!“

Er stolperte durch das Unterholz, sah ihren braun-weiß-rosa gestreiften Rollkragenpulli, die schlaffen Arme und Hände. „Grit!“ Ihr langes blondes Haar verdeckte wie ein Totenschleier ihren auf der Seite liegenden Kopf.

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Verena Wolf

Die Zeit der Rose

Ich weiß nicht, was sie für ein Wesen ist. Ich weiß nur, zu spitze Finger-nägel sind ein Omen des Bösen. Viel Schlimmer als jede Dorne. Auch

mein Körper trägt die Narben ihrer Nägel, aber sie hat mir so die Seele nicht nehmen können. Aber sie wird mich töten, noch heute verbrennen als Zeugin und damit die letzte Erinnerung an das, was wirklich geschah. Ich muss mich beeilen. Denn die Geschichte, die wie so viele mit einem Nostalgie und Abstand versprechenden „Es war einmal“ in den Büchern steht, ist falsch, verbreitet von Unwissenden oder denjenigen, die ihre Nä-gel zu spüren bekamen. Behauptet dementsprechend nicht, es nicht besser gewusst zu haben, wenn sie mit honigsüßem Gesicht die Hände mit den langen spitzen Fingernägeln zu einer Umarmung ausstreckt.

Es war – so weit ist alles wahr – wirklich vor langer, langer Zeit ein Kö-nigspaar, das alles hatte, was das Herz sich wünschte, nur kein Kind. Und wie es so oft ist, wurde das eine, das sie nicht haben sollten, zu dem, wonach sie allein trachteten. Zuerst konsultierten sie die zwölf weisen Frauen im Lande. Elf von ihnen verkauften Königin und König Kräuter und Tränke gegen viel Gold und Edelsteine, nur die älteste, weiseste, die Zwölfte im Bunde, in deren Garten ich wohnte, die mich groß zog und später meine Kinder als Schmuck und Schutz in das Schloss brachte, sie zögerte.

Sie befrug behutsam ihren Spiegel, in dem sie die Möglichkeiten der Zukunft sehen konnte, denn sie hatte das Zweite Gesicht.

Die Wahrheit war unbequem, aber das ist sie oft. Die weise Fee erklär-te bedauernd dem Königspaar, dass die Sterne kein Kind für sie hätten, dass es nicht sein sollte, beide aber klug und lange regieren sollten und Glück fänden, auch ohne Kind. Das Königspaar ließ dies nicht gelten. Sie verbannten die Botin als Unglücksbringerin und untersagten ihr jeden weiteren Zugang zum Schloss. Das tat ihr nicht viel, denn sie blieb gern für sich mitten im Wald, der ihr zugetan war, aber sie ahnte, für welche Möglichkeit sich die Zukunft mit dieser Reaktion des Paares entschieden hatte und das machte ihr Angst.

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Ulla Worringer

Das Pferd im Schlafanzug

Es war einmal vor langer Zeit, da lebte ein junger Bursche in einer kleinen Hafenstadt am Meer. Er war von edler Herkunft und hatte

die beste Bildung genossen, die für einen Menschen zu dieser Zeit über-haupt möglich war. Die Studien seiner Jugend aber entflammten ein un-bestimmbares Verlangen in ihm. Eine Sehnsucht und Unruhe, die er nicht in Worte zu fassen wusste. Eine unbekannte Kraft, wie die eines Magneten, zog ihn unerbittlich in die Ferne. Die Welt wollte er entdecken. Er wollte all die wundersamen Dinge, die es bestimmt irgendwo dort geben würde, mit seinen eigenen Augen sehen.

Und so kam der Tag, da packte er sein Bündel, umarmte seine Eltern ein letztes Mal und verließ das Land, dass bisher seine Heimat war. Ihm sollte es anders ergehen, als den vielen reiselustigen Burschen vor ihm. Diese waren nicht selten schon hinter der ersten Stadtmauer, ruchlosen Wegelagerern oder anderen Vagabunden zum Opfer gefallen. Unser Bur-sche, der eben noch seinen Eltern zum letzten Male die Ehre bekundet hatte, wollte diesem Schicksal entgehen.

Er bereitete seine Reise mit Bedacht und Mühe vor, damit ihm auch alles nach Wunsch gelingen möge. Seine schweren goldenen Taler, die er später zum Handel in der fremden Welt gebrauchen wollte, hatte er sorg-sam von einer Dienstmagd in einfache Kleidung nähen lassen. So wollte er verhindern, dass etwas verloren gehen oder gar gestohlen werden könnte.

Er heuerte, auch damit sein Reichtum verborgen blieb, als einfacher Schiffsjunge auf einem prächtigen Segelschiff an, und alsbald blies ihm die raue Meeresluft um die Nase.

Es wäre an dieser Stelle zu viel des Guten, die Reise des guten Burschen im Detail zu schildern. Reisen in ferne Länder waren zu diesen Zeiten eine lange und mühselige Angelegenheit. Nicht selten dauerte es ein ganzes Le-ben lang, bis ein Reisender sein Ziel erreichte. Oder er gar seinen Fuß das erste Mal auf die Erde, eines wahrhaft fremden Landes jenseits der Meere, setzen konnte. Dann war der erfolgreiche Reisende aber oftmals schon so

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Inhalt Vorwort 3 Carolin Arden Das Wasser der Weisheit 5 Julia Bardag Ein Tag wie im Märchen 9 Sabine Barnickel Die Wahrheit über Witta Winter 12 Irene Beddies Die singende Prinzessin 15 Christa Bellanova Die Mitte des Lebens 19 Stephan Binder Anders als die anderen 22 Susanne Blümlein Von der klugen Prinzessin, die nicht heiraten wollte 29 Susanne Böckle Sternschnupfen 36 Chenila Booker Interview mit Rapunzel 45 Angelika Brox Drei goldene Haare 47 Annika Dick Kurisu 51 Natalie Elblein Die Wunschkugel 57 Bettina Ferbus Die drei roten Haare des Teufels 61 Bettina Forbrich Die Ermordung des Froschkönigs 66 Doris Fürk-Hochradl Der kluge Hund des Bauern 76 Ursula Gressmann Das Schloss mit den sieben Türmen 80 Johanna Gruner Beim Friseur 84 Johanna Gruner Dumme Gans 87 Thomas Häbe Knusper, knusper, Knäuschen 2.0 90 Eva Heinhold Die Froschkönigin 95 Jeanette Holdinghausen Der Maultaschendepp 104 Judith Holle Der Geschichtenerzähler 108 Bernhard Horwatitsch Rote Sage 111 Béla Jancso Vom Grashalm, der lieber eine Blume sein wollte 116 Yvonne Kaeding Kleider für die Eisprinzessin 118 Alice Karen Die Königin und das Sternenlicht 122 Johanna Kastberger Aline und das Tor der Verwandlung 129 Christine Kästner Das Häuschen im Wald 135 Michaela Keller Kamron, der Wolf 137

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Bente Klindt Lavinia und der Drache 150 Bellis Klunkerfisch Gartenkind 171 Bellis Klunkerfisch Der Buch 180 Sabine Kohlert Das Märchen von der guten Fee 185 Rita Krippendorf Töni und der Zwergenkönig 187 Rita Krippendorf Lillibel 190 Margit Kröll Der arme, böse Wolf 193 Sabine Kühorn Die drei kleinen Häschen 197 Olaf Lahayne Die Lichtesser 203 Elena Lidenbrock Die Unterwasserstadt 215 Oliver Machander Der Perlengarten 225 Elevtheria Marinaki Redcap 229 Philip Militz Die Farbe des Lichts 234 Lothar Mischke Staubmädchen 236 Sylvia Mitter-Pilotek Hans im Glück 244 Dörte Müller Die Hässliche und der Dumme 248 Verena Nagel Lila Eichhörnchen 252 Verena Nagel Das Billardspiel 257 Jana Oltersdorff Vom Mädchen mit der roten Kappe 262 Birgit Otten Die kleine Blume 265 Karoline Pauluhn Die Vogelbraut 267 Karoline Pauluhn Immer Theater mit dem Zwerg 273 Ute Petkelis Die Kette aus Muschelschalen 282 Ute Petkelis Die Seerosen 287 Sonja Rabaza Schattenblumen 293 Tanja Rathjen Das Haus 297 Anne Reinéry Drei Drachen 309 Vera Richter Zwei Riesen auf Abwegen 316 Friedhelm Rudolph Jonna, Jonas und der Bunker 320 Petra S. Rosé Der junge Mann, die Glückskatze und die Mühle 330 Gabriele Susanne Schlegel Schneeröllchen 338 Gabriele Susanne Schlegel Cyberpilzchen 342 Jeannine Schäfer Die Tränen der Fee 346 Regina Schleheck Wie der Mond sein Herz verlor 353 Armin Schmidt Die beiden Töchter 356 Petra Schmidt Von Einer, die auszog und das Fürchten lernte 361

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Sissy Schrei Fünf im Überfluss 368 Simone Schwarze Mondkind 373 Udo Seelhofer Rotkäppchen 379 Johannes Siegl Das listige Aschenputtel 382 Annegret Sommer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Wölfe 387 Martina Sprenger Die Hexe muss sterben! 390 Reinhard Staubach Hans, Greta und der Web-Dschungel 394 Ronja Storck Das Märchen vom Brot 397 Lisanne Surborg Trümmermann 399 Isabel Terhaag Rotkäppchen 406 Sabine Tetzner Das Seevolk 410 Helen Trepling Blattmusikanten 418 Kerstin Tümmel Prinzessin Annabell und die drei Edelsteine 421 Sigrid Varduhn Der Riesenkönig 436 Vincent von Ableben Die drei gerechten Recken 439 Renate Walter Von Bäumen und Menschen 445 Uwe Wartha Vom kleinen Stein, der Freundschaft suchte 447 Silke Wiest Des Königs Rettung 450 Andreas Wöhl In der Hexenhütte 455 Verena Wolf Die Zeit der Rose 470 Ulla Worringer Das Pferd im Schlafanzug 475

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