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194 Der Disput um die »biologische Wirklichkeit« Der Disput um die »biologische Wirklichkeit« Neben all dem Morden und Foltern war eine der am meisten psychisch belastenden Erscheinungen im »Dritten Reich« die Notwendigkeit, um des reinen Überlebens willen sich und die eigene Herkunft zu ver- leugnen. Für diejenigen, die nicht auf Protektion von »ganz oben« bauen konnten, bekannte Schauspieler oder Sänger waren oder sich um die »Bewegung« verdient gemacht hatten, bestand die Möglichkeit, mithilfe sogenannter Abstammungsprüfungen doch noch rassisch »heraufgestuft« zu werden, vom Juden zum »Mischling 1. Grades«, vom »Mischling 1. Grades« zum »Mischling 2. Grades«, in seltenen Fällen gar zum »Deutschblütigen«. Zuständig für die Abstammungsprüfungen war das dem Reichsin- nenministerium unterstellte Reichssippenamt, ursprünglich Reichsstelle für Sippenforschung. Als »Sachverständiger für Rassenforschung« im Reichsministerium des Innern galt Achim Gercke, der eine Dienststelle mit rund sechzig Mitarbeitern leitete. Das Reichssippenamt wurde von den Hardlinern unter den führen- den Nationalsozialisten kritisch betrachtet, denn für sie ging das Amt zu oft auf die Forderungen der Antragsteller ein. Innen-Staatssekretär Wil- helm Stuckart beispielsweise fasste die Ergebnisse einer Besprechung zum Instrument der Abstammungsprüfungen am 11. September 1942 wie folgt zusammen: »Sofern die Möglichkeit besteht, vor ordentlichen Gerichten auf Feststellung der biologischen Abstammung (Anfechtung der Ehelichkeit, Klage auf Bestehen oder Nichtbestehen der Vaterschaft) zu klagen, hat das Reichssippenamt sich stets der Einleitung des Verwal- tungsverfahrens auf Feststellung der Abstammung zu enthalten und die Antragsteller auf den ordentlichen Rechtsweg zu verweisen.« Er kriti- sierte, dass Anträge überhandnahmen, um durch erb- und rassenkundli- che Untersuchungen eine günstigere rassische Einstufung zu erreichen. Nach den bisherigen Erfahrungen hätten solche Untersuchungen nur dann einen hinreichenden Wert, wenn die maßgebenden Personen – insbesondere der angebliche und der auszuschließenden Erzeuger – noch lebten und zur Untersuchung zur Verfügung stünden, oder wenn Brought to you by | Brown University Rockefeller Lib Authenticated | 128.148.252.35 Download Date | 6/2/14 4:04 PM

"Wer Jude ist, bestimme ich" ("Ehrenarier" im Nationalsozialismus) || Der Disput um die »biologische Wirklichkeit«

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194 Der Disput um die »biologische Wirklichkeit«

Der Disput um die »biologische Wirklichkeit«

Neben all dem Morden und Foltern war eine der am meisten psychisch belastenden Erscheinungen im »Dritten Reich« die Notwendigkeit, um des reinen Überlebens willen sich und die eigene Herkunft zu ver-leugnen. Für diejenigen, die nicht auf Protektion von »ganz oben« bauen konnten, bekannte Schauspieler oder Sänger waren oder sich um die »Bewegung« verdient gemacht hatten, bestand die Möglichkeit, mithilfe sogenannter Abstammungsprüfungen doch noch rassisch »heraufgestuft« zu werden, vom Juden zum »Mischling 1. Grades«, vom »Mischling 1. Grades« zum »Mischling 2. Grades«, in seltenen Fällen gar zum »Deutschblütigen«.

Zuständig für die Abstammungsprüfungen war das dem Reichsin-nenministerium unterstellte Reichssippenamt, ursprünglich Reichsstelle für Sippenforschung. Als »Sachverständiger für Rassenforschung« im Reichsministerium des Innern galt Achim Gercke, der eine Dienststelle mit rund sechzig Mitarbeitern leitete.

Das Reichssippenamt wurde von den Hardlinern unter den führen-den Nationalsozialisten kritisch betrachtet, denn für sie ging das Amt zu oft auf die Forderungen der Antragsteller ein. Innen-Staatssekretär Wil-helm Stuckart beispielsweise fasste die Ergebnisse einer Besprechung zum Instrument der Abstammungsprüfungen am 11. September 1942 wie folgt zusammen: »Sofern die Möglichkeit besteht, vor ordentlichen Gerichten auf Feststellung der biologischen Abstammung (Anfechtung der Ehelichkeit, Klage auf Bestehen oder Nichtbestehen der Vaterschaft) zu klagen, hat das Reichssippenamt sich stets der Einleitung des Verwal-tungsverfahrens auf Feststellung der Abstammung zu enthalten und die Antragsteller auf den ordentlichen Rechtsweg zu verweisen.« Er kriti-sierte, dass Anträge überhandnahmen, um durch erb- und rassenkundli-che Untersuchungen eine günstigere rassische Einstufung zu erreichen. Nach den bisherigen Erfahrungen hätten solche Untersuchungen nur dann einen hinreichenden Wert, wenn die maßgebenden Personen – insbesondere der angebliche und der auszuschließenden Erzeuger – noch lebten und zur Untersuchung zur Verfügung stünden, oder wenn

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es wenigstens ausreichend geeignete Lichtbilder gebe. Aufgrund des ras-sischen Erscheinungsbildes des Nachweispflichtigen allein könne in der Regel kein maßgebliches Urteil über eine jüdische oder nichtjüdische Abstammung abgegeben werden. Wichtig sei der Vergleich erbbedingter Merkmale zwischen den Nachweispflichtigen und den infrage kommen-den Vorfahren. Erb- und rassenkundliche Gutachten dürften künftig nur dann eingeholt werden, wenn bereits aufgrund der vorhandenen Grundlagen berechtigte Zweifel an der gesetzlichen jüdischen Abstam-mung bestehen. Und Stuckart bekräftigte: »Grundsätzlich werden Zeugenaussagen von Juden für sich allein überhaupt keine Beweiskraft haben.« Für die Bewertung der erbbiologischen Gutachten im Rahmen der Beweiswürdigung forderte der Staatssekretär einen strengeren Maß-stab. Die Gutachten sollen nur dann für eine Widerlegung der gesetzli-chen jüdischen Abstammung ausreichen, wenn sie sich mit genügender Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit für die behauptete anderweitige Abstammung aussprachen.1

In dieselbe Richtung zielte ein Schreiben des Justizministeriums vom 3. Oktober 1944 an die Partei-Kanzlei der NSDAP. Dort hieß es, dass insbesondere Aussagen von Angehörigen und Freunden sowie mangel-hafte Gutachten für eine Glaubhaftmachung der wahren Abstammung regelmäßig nicht ausreichen dürften.2

Ebenfalls im Justizministerium wurde ein weiteres Schreiben an den Oberreichsanwalt beim Reichsgericht formuliert. Justizminister Otto Georg Thierack verlangte darin für die Überprüfung von Urteilen, durch die die rassische Einordnung von Juden und jüdischen Mischlin-gen verbessert worden sei, strengere Regeln:

Die Belange der Volksgemeinschaft erfordern [es], dass derartige Urteile auch noch nach Jahren richtiggestellt werden. Ich halte es deshalb für erfor-derlich, dass alle Urteile, die ohne voll ausreichende Beweise die rassische Einordnung verbessert haben, überprüft werden, und zwar auch dann, wenn eine Bestätigung der Entscheidung zu erwarten ist.3

Um eine nachträgliche Änderung der Abstammungsbescheide zu errei-chen, verleugneten beispielsweise Kinder ihre Väter, Eltern ihre Kinder oder Ehemänner ihre Frauen, weil sie nur so meinten, in Amt und Wür-den bleiben zu können.

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So wandte sich Alfred Halm aus Berlin Hilfe suchend an Staatskom-missar Hinkel. Jahrelang war er Direktor deutscher Bühnen gewesen und hatte sein gesamtes Vermögen in das Theater am Berliner Nollen-dorfplatz investiert. 1933 wurde er in die Reichskulturkammer aufge-nommen, sodass er als Filmautor weiterhin den Lebensunterhalt für sich, seine Frau und sein damals 14-jähriges Kind verdienen konnte. Am 18. Juni 1935 aber wurde er plötzlich wegen »Nichtarierschaft« aus der Kammer ausgeschlossen und war damit zugleich arbeitslos. Als 73-Jähri-ger flehte er nun Hinkel an, den Ausschluss rückgängig zu machen. Dabei sei er, was er leider nicht nachweisen könne, »nicht einmal Voll-jude, sondern ein uneheliches Kind eines sehr arischen Vaters aus der österreichischen Aristokratie«.4 Wer ihn sehe, seine Gewohnheiten und seinen Charakter kenne, werde bestätigen, dass er von einem Juden gar nichts an sich habe. Das Schreiben schaffte ihm nicht die erhoffte Erleichterung, sondern bewirkte das Gegenteil. Hinkel ließ ihn wissen, dass ihm »ein Verkauf von Filmideen an arische Autoren oder eine sons-tige Betätigung, die das Gebiet der Reichskulturkammer umschließt«, nicht gestattet war.5

Staatssekretär Stuckart war es im Übrigen auch, der im Rahmen der Wannseekonferenz einen radikalen Vorschlag zur Lösung des »Misch-ling-Problems« präsentierte. Er warnte – so ist bei Friedländer zu lesen, »vor der beträchtlichen Menge an bürokratischer Arbeit, welche die mit Mischlingen und Mischehen verbundenen Fragen bereiten würden, und empfahl mit Nachdruck die generelle Sterilisierung der Mischlinge ers-ten Grades als politische Strategie. Darüber hinaus sprach er sich für die Möglichkeit aus, Mischehen durch ein Gesetz zu annullieren«.6

Verleugnung und Änderung der eigenen Abstammung

Die größten Demütigungen, die Abstammungsprüfungen für den Ein-zelnen mit sich brachten, hatten Ehefrauen zu erdulden, wenn sie zugunsten ihrer Kinder »Seitensprünge mit Ariern« einräumen muss-ten. Sie bedeuteten eine psychische Tortur und sind kaum nachvollzieh-bar, wie die folgenden Fälle eindringlich zeigen.

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Gerti Hiller

Für die seelische Notlage, in der sich die Menschen befanden, steht der Fall von Gerti Hiller. Für sie hatte sich der Kunstmaler Anton Leidl ein-gesetzt, der sich am 30. März 1940 an Staatssekretär Hans Pfundtner im Reichsinnenministerium gewandt hatte. Es handelte sich um dieselbe Person, die schon wegen des IG-Farben-Chefchemikers Heisel interve-niert hatte. Die Tochter der ihm nahestehenden Familie eines an einem Kriegsleiden verstorbenen Majors im Bayerischen Generalstab wolle sich kriegstrauen lassen, der Bräutigam, der an der Westfront eingesetzt sei, dränge auf Heirat. »Nun ist aber bei der jungen Dame der Großvater mütterlicherseits nicht ganz so, wie es erwünscht wäre«, schrieb Leidl. Darum habe die Braut schon vor einem halben Jahr beim Reichsamt für Sippenforschung eine anthropologische Untersuchung beantragt. Viel-leicht könne der Staatssekretär als oberster Chef des Amtes helfen, »dass in diesem Fall auch einmal die biologische Wirklichkeit in den Vorder-grund geschoben werden« könne. Fräulein Hiller zeige keine nichtari-schen Züge und »schon der Umstand, dass die nichtarische Reihe der Ahnen Nagelschmiede waren, also ein ehrbares Handwerk betrieben, scheint mir wichtig, ebenso, dass der nichtarische Großvater Haupt-mann d. R. war«. Für die »seelische deutsche Artung« stehe er voll und ganz ein, er könne sich »ein deutscheres Mädchen kaum vorstellen. Bescheiden, pflichtbewusst, national«.7

Beigefügt war der Antrag von Gerti Hiller an die Reichsstelle für Sip-penforschung. Mit einer Vielzahl von Urkunden, Fotos und eidesstatt-lichen Versicherungen wollte sie um ihre »biologische Erhöhung kämp-fen«. Nach ihrem Abstammungsbescheid gelte sie als »Mischling 2. Grades«,

weil mein Großvater mütterlicherseits, Hauptmann d. R. Direktor Heinrich Riegelmann, Fürth, von zwei jüdischen Eltern abzustammen scheint«. Aus der Versicherung seines Sohnes gehe jedoch hervor, »dass Heinrich Riegel-mann nicht der Sohn des Kaufmanns A. Riegelmann ist, sondern dass viel-mehr seine Mutter Babette Riegelmann, geb. Wassermann, Tochter des Nagelschmiedemeisters Wassermann zu Fürth, diesen Sohn von einem nichtjüdischen italienischen Brauereidirektor, einem Geschäftsfreund ihres Mannes, außerehelich empfangen hat. Infolgedessen müsse ihre Ahnentafel

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dahingehend abgeändert werden, dass unter ihren 8 Urgroßeltern nur ein Elternteil nicht deutschen oder artverwandten Blutes ist, sodass ich selbst nicht Mischling zweiten Grades, sondern zivilrechtlich deutschen oder art-verwandten Blutes bin.8

Dies sollten auch die zahlreichen beigefügten Fotos beweisen. Und wei-ter hieß es:

Da der Name meines biologischen Urgroßvaters mütterlicherseits nicht bekannt ist, kann allein eine rassenbiologische Analyse den Beweis erbrin-gen, dass ich durchweg deutschen oder artverwandten Blutes bin. Schon ein flüchtiger Blick auf das Lichtbild Heinrich Riegelmanns lässt erkennen, dass es sich hier um einen jüdisch-mediterranen (also artverwandt-blütigen) Mischling handelt. Heinrich Riegelmann heiratete eine rassisch hoch zu bewertende Angehörige der Sippe Holper. Die Tochter aus dieser Ehe ist meine Mutter, die, wenn ihr Vater nicht Mischling ersten Grades wäre, nie-mals in einer so stark deutschblütigen Prägung der Holperschen Sippe hätte herausgemendelt werden können. (…) Ich darf von mir behaupten, dass ich aufgrund der erbbiologischen Substanz meiner Mutter in Verbindung mit dem Blutserbe meines Vaters im Erscheinungs- und Erbbild als durchaus deutschblütig angesprochen werden kann. Wäre das nicht der Fall, so hätte sich wohl auch ein aktiver deutscher Wehrmachtsangehöriger vor einiger Zeit nicht mit mir verlobt.9

Für Pfundtners Persönlichen Referenten Kaibel reichte die eidesstattli-che Versicherung als Beweis einer »außerehelichen Erzeugung«, nicht aus. Stattdessen kündigte er eine «erbkundliche Untersuchung« an.10 Pfundtner dagegen setzte sich für eine »Ausnahme von den Nürnberger Gesetzen« ein und teilte dies am 25. Oktober 1940 dem Chef der Reichskanzlei mit.11 Gerti Hiller gelte als »Mischling zweiten Grades«, weil ihr halbjüdischer Großvater mütterlicherseits der jüdischen Religi-onsgemeinschaft angehört habe. Blutsmäßig sei sie nur Achteljüdin. Er befürworte »die Gleichstellung mit deutschblütigen Personen und bitte, den Antrag dem Führer zu unterbreiten«.

Trotz dieser Fürsprache zog sich der Fall hin. Am 28. Oktober 1940 informierte Kaibel den Kunstmaler Leidl, die befürwortende Stellung-nahme des Beauftragten des Stellvertreters des Führers sei inzwischen

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eingegangen. Daraufhin sei der Antrag »auf Gleichstellung mit deutschblütigen Personen« dem Chef der Reichskanzlei, Reichsminis-ter Hans Heinrich Lammers, »zur Herbeiführung der Entscheidung des Führers« zugeleitet worden.12 Aber noch am 16. Juli 1943 stand die Entscheidung aus: Kaibel schrieb Leidl diesmal, er könne daran leider nichts ändern, wolle aber betonen, »dass nach der Lage des Falles Hiller an einer positiven Entscheidung des Führers, den wir auch über Herrn Minister Lammers nicht um eine Beschleunigung bitten können, nicht gezweifelt wird«.13

Curt Sonntag

Um eine Änderung der Abstammungsbescheide seiner Kinder ging es Reichsgerichtsrat i. R. Curt Sonntag. Er bemühte sich verzweifelt, sei-nen Kindern eine – wenn auch ungewisse – Zukunft zu sichern. »Wie sich aus den eingereichten Unterlagen ergibt, ist es zweifelhaft, ob meine Kinder arischer Abstammung sind«, schrieb er dem Kölner Regierungs-präsidenten.

Der Zweck meiner Eingabe vom 22. Nov. 1935 war, im Gnadenwege eine authentische Klärung dieser Zweifel im Sinne der arischen Abstammung meiner Kinder herbeizuführen. Diesem Zweck würde es entsprechen, wenn der zu erlassenden Verfügung des Führers und Reichskanzlers folgende Fas-sung gegeben würde:

»Die Kinder des Reichsgerichtsrats i.R. Dr. Curt Sonntag, nämlichErika BierbachElen LorscheidtEdith SonntagHans Joachim Sonntaggelten als Vollarier.«

Sollte der Behörde diese Formulierung zu weit gehen, so erlaube ich mir folgenden Vorschlag:»Soweit in Gesetzen oder Verordnungen der Nachweis der arischen Abstam-mung für erforderlich erklärt ist, gilt dieser Nachweis für die Kinder des Reichsgerichtsrat i. R. Dr. Curt Sonntag, nämlich: (…) als erbracht.«

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Einen Abstammungsnachweis über Staatsanwaltschaftsrat Robert Neuhoff füge ich wunschgemäß bei. Die Angaben entstammen einem umfangreichen, bereits im Jahr 1924 aufgestellten Stammbaum.14

Der Ausgang dieser Petition war den Dokumenten im Bundesarchiv nicht zu entnehmen.

Heinz Wismann

Gegen die Unterstellung der bewussten »jüdischen Versippung« wehrte sich Ministerialrat Heinz Wismann und übte dabei gleichzeitig Verrat an seiner Braut und späteren Ehefrau. Pikant war in diesem Fall zudem, dass Wismann im Propagandaministerium beschäftigt war und dort auch für die »rassische Reinheit« zu sorgen hatte. Dazu hatte SS-Ober-sturmführer Menz am 3. April 1937 dem Reichsführer-SS Folgendes geschrieben:

Der Obengenannte ist seit dem Jahre 1933 im Reichsministerium für Volks-aufklärung und Propaganda tätig. Seit 1934 leitet er als Beamter auf Widerruf mit der Dienstbezeichnung Ministerialrat die Abteilung VIIII (Schrifttum). Zugleich ist er Vizepräsident der Reichsschrifttumskammer.

Seit 1932 gehört Wismann der NSDAP an. Eine Zeit lang galt er als unbekannt verzogen und war aus den Listen der zuständigen NS-Ortsgrup-pe gestrichen. Das Nähere geht aus den Akten der Partei hervor, die bereits durch den Leiter der Gruppe Buchhandel in der Reichsschrifttumskammer, Verlagsleiter des Eher-Verlages, Pg. Wilhelm Baur (Träger des Goldenen Ehrenzeichens) angefordert sind. Durch Pg. Baur hat auch Reichsleiter, SS-Obergruppenführer Amann, von den gegen Wismann schwebenden Vor-gängen Kenntnis erhalten.

Im Jahre 1929 heiratete Wismann ein Fräulein Elsbeth Melanie Faust, Tochter des jüdischen Kaufmanns Moritz Faust und seiner mosaischen Ehe-frau Karoline, Friederike Luise, geborene Fischer. Von dieser wurde er am 21.4.1934 laut Urteil des Landgerichts Berlin rechtskräftig geschieden.

Aus den Akten geht hervor, dass die Klage von der Ehefrau erhoben wurde, die dem Beklagten Verweigerung des ehelichen Verkehrs und seine Bekanntschaft mit der Stenotypistin im Ministerium, Fräulein Hüssener, der jetzigen Ehefrau des Wismann, vorwarf, die er vor der Scheidung als

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seine Frau bezw. Braut ausgegeben hatte. Da Wismann diesen Angaben nicht widersprach, wurde die Ehe innerhalb von drei Wochen geschieden. (…)

Aus den Akten geht nicht hervor, dass die Faust von mosaischen Eltern abstammt; vielmehr ist ihre Religionszugehörigkeit als evangelisch festge-stellt.

Die Scheidungsakten sollen eine Zeit lang bei der Personalabteilung des Ministeriums gelegen haben. Da aus den Akten – wie erwähnt – nichts über die nichtarische Abstammung der Faust zu entnehmen ist, entfällt der mög-liche Vorwurf, dass das Ministerium von der jüdischen Versippung des Wis-mann Kenntnis gehabt hat.

Es war dem Unterzeichneten nicht möglich, in Erfahrung zu bringen, wann die Faust getauft worden ist; ob Wismann bei seinem Eintritt in das Ministerium hinsichtlich der Abstammung seiner damaligen Ehefrau, geb. Faust, unwahre Angaben gemacht hat; ob Wismann der Partei gegenüber in dieser Hinsicht unwahre Angaben gemacht hat.15

Allein diese Beispiele machen deutlich, in welcher seelischen – und häu-fig auch materiellen – Notlage sich Menschen befanden, wenn sie ihren Abstammungsbescheid ändern lassen wollten – und in der Regel waren es Frauen, denen besondere Opfer abverlangt wurden. Um die »rassi-sche« Einordnung ging es auch in den nachfolgenden Fällen.

Julius Alban

Julius Alban war offensichtlich Sohn des Uhrmachers Julius Alban sen., einem Volljuden, und dessen Ehefrau Rahel, geb. Mendel. Der Großva-ter mütterlicherseits war Volljude, die Großmutter mütterlicherseits, Johanna, geb. Reditschker, war Russin und Arierin und war bei ihrer Heirat zum jüdischen Glauben übergetreten. Um im Nationalsozialis-mus eine Überlebenschance zu bekommen, focht Julius Alban die Vater-schaft von Julius Alban sen. an. Dazu schrieb Oberregierungsrat Kaibel der Reichsstelle für Sippenforschung:

In Wirklichkeit ist jedoch nicht der gesetzliche Vater des Dr. Julian Alban sein Erzeuger, sondern sein leiblicher Vater ist der Konditoreibe-sitzer Rudau in Rössel. Demzufolge würde, wenn man von der gesetz-

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lichen Abstammung ausgeht, Herr Dr. Julius Alban 3 jüdische Großel-tern und 1 arischen Großelternteil haben (Großmutter mütterlicher-seits), wobei jedoch Letztere nach § 5 der ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz deshalb als jüdisch gilt, da sie zur jüdischen Religi-onsgemeinschaft übergetreten ist. Mit anderen Worten würde, wenn man von der gesetzlichen Vaterschaft ausgeht, Dr. Julius Alban nach den Gesetzesbestimmungen Volljude sein.

In Wirklichkeit ist jedoch blutmäßig, da Herr Rudau der natürliche Vater ist, Dr. Julius Alban nur zu 25%, nur vom Großvater mütterlicher-seits her Jude und unter Berücksichtigung des oben zitierten § 5 zu 50%.

Dr. Alban nimmt für sich in Anspruch, dass er sich seit seiner frühes-ten Jugend an in jüdischen Kreisen nicht wohlgefühlt hat, sich seiner ganzen Einstellung und Geisteshaltung nach nicht als Jude, sondern voll und ganz als Arier fühlt, wie er dies auch durch seine ganze Laufbahn in Krieg und Frieden und durch seine sportliche Betätigung bewiesen hat. Insbesondere spricht hierfür, dass er seinem gesetzlichen Vater gegen-über mit 19 Jahren seinen Austritt aus der jüdischen Religionsgemein-schaft und seinen Übertritt zum evangelischen Glauben erzwungen hat.

Nicht um materieller Vorteile wegen legt Herr Dr. Alban Wert dar-auf, dass seine Abstammungsfrage dahingehend geklärt wird, dass er nach dem Gesetz zum mindesten als Nichtjude gilt. Denn materiell kann die Stellung von Herrn Dr. Alban als angesehener Zahnarzt sowohl in Deutschland als auch im Falle einer Verlegung seines Wohnsitzes ins Ausland als gesichert angesehen werden. Es ist für Herrn Dr. Alban ein inneres Bedürfnis, Deutscher zu sein, mit allen Pflichten, die im Frieden und Krieg die Reichsangehörigkeit auferlegt. Insbesondere aber hält sich Dr. Alban seinem Sohn gegenüber für verpflichtet, für die Klarheit der Rassefrage zu sorgen, was praktisch nur möglich ist, solange seine Mutter noch lebt.

Als Beweis trägt Herrn Dr. Alban vor:Die Ehe seiner Eltern sei schon vor seiner Geburt und auch weiterhin

bis zuletzt denkbar unglücklich gewesen, Julius Alban sen. nahm sich in der Ehe jede Freiheit und vernachlässigte seine Frau, sodass diese in Beziehungen zu Rudau trat. Alban sen. hat von der Geburt an seinen Sohn niemals als seinen leiblichen Sohn angesehen, weil er genau wusste, dass er nicht der Vater gewesen sein konnte. (…) Weiterhin hat die Mut-ter des Herrn Dr. Alban an Eides statt versichert, dass Rudau der natür-

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liche Vater ist. Diese Dokumente müssten allein genügen, um den vollen juristischen Beweis dafür zu erbringen, dass a) Julius Alban sen. nicht der Vater ist, b), dass es Rudau ist.16

In diesem Fall lehnte die Reichsstelle für Sippenforschung den Antrag ab und bekräftigte, dass Alban sen. der Vater sei.

Otto Lummitzsch

Otto Lummitzsch hatte 1919 die »Technische Abteilung« aus ehema-ligen Angehörigen der Kriegsmarine und der Armee geschaffen. Im Herbst 1919 wandelte er sie aufgrund der Bestimmungen des Versailler Friedensvertrags zur Technischen Nothilfe (TN) um, die dem Reichs-ministerium des Innern unterstand. 1934 wurde er seines Postens entho-ben, weil er sich weigerte, sich von seiner »halbjüdischen« Frau schei-den zu lassen. Lummitzsch trat dann in die Leitung der AEG ein und war dort bis Juni 1946 Direktor in der Zentralverwaltung Berlin.

Aus der Ehe waren zwei Töchter hervorgegangen, die nach den NS-Rassengesetzen als »Mischlinge« galten. Mithilfe von Staatssekretär Pfundtner gelang es Lummitzsch, seine Töchter »rassisch« aufwerten zu lassen. Dafür dankte er in einem Schreiben vom 9. November 1940:

Mit Schreiben vom 4. 11. 1940 wurde mir von dem Herrn Reichsminister und Chef der Reichskanzlei mitgeteilt, dass der Führer meine Töchter deutschblütigen Personen gleichgestellt hat. Ich weiß, dass ich diese für das ganze Leben meiner Töchter so außerordentliche bedeutungsvolle Entschei-dung Ihrer Befürwortung verdanke und bitte Sie, meinen wärmsten, unaus-löschlichen Dank entgegennehmen zu wollen.17

Heinz Rabe

Am 27. März 1934 bescheinigte der NSDAP-Ortsgruppenleiter von Halle-Lutherlinde, dass der Parteigenosse Dr. Heinz Rabe am 4. April 1933 in die Partei eingetreten war, sich an allen Parteiveranstaltungen, an den Nachtstreifen und beim »Wahlschleppdienst« rege beteiligt hatte.18 Seine Einstellung zum »heutigen Staat« sei »außerordentlich aktiv«, im Übrigen sei Rabe seit November 1933 in der Motor-SA tätig.

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Für Rabe setzte sich auch der Generalinspekteur des Bundes Natio-nalsozialistischer Juristen, Erwin Noack, ein. Er bescheinigte Rabe, »ein äußerst rühriger und fleißiger Mitarbeiter« sowie ein »unbedingt zuverlässiger Nationalsozialist« zu sein.19 Ähnlich äußerte sich Karin Ottens als Parteigenossin und Trägerin des »Ehrenzeichens der Bewe-gung«.20 Es liege sicherlich ein Ausnahmefall vor, »der nach nochmali-ger Prüfung vom Führer entschieden werden könnte«, schrieb sie. Mit Nanny Dietlein meldete sich eine weitere Trägerin des »Ehrenzei-chens«. Sie kam auf den Kern der Angelegenheit zu sprechen, als sie meinte: »Die nichtarische Frau würde in diesem Falle praktisch keine nachteiligen Folgen haben, da die Ehe kinderlos ist und nach ärztlichem Gutachten bleiben wird und lediglich der Mann um Aufnahme als Par-teimitglied bittet, der seinerseits aber arischer Herkunft ist.«21

Nach über einem Jahr befürwortete der Reichsminister der Justiz das Verbleiben Rabes im Vorstand der Anwaltskammer für den Bezirk des Oberlandesgerichts Naumburg, im Bund Nationalsozialistischer Deut-scher Juristen (BNSDJ) sowie im Fliegersturm.22 Dem schloss sich der Chef der Reichskanzlei Lammers an, der am 12. Dezember 1935 fest-stellte, die »nicht rein arische Abstammung Ehefrau Rabe« stehe der Mitgliedschaft in den genannten Einrichtungen nicht entgegen.23

Heinrich Veit Simon

Heinrich Veit Simon, Rechtsanwalt am Berliner Kammergericht, war Jude und mit einer »reinen Arierin« verheiratet. Beide hatten die Auf-nahme in den Kulturbund Deutscher Juden beantragt, doch das wurde ihnen verwehrt. »Der Kulturbund hat die Aufnahme meiner Frau mit der Begründung abgelehnt, dass er nach Vorschrift des Herrn Ministers Arier nicht aufnehmen dürfe«, beklagte sich Simon. »Da ich annehme, dass sich dieses Verbot nicht auf die Ehefrauen von Juden bezieht, bitte ich zu gestatten, dass meine Frau Irmgard, geb. Gabriel, Tochter des ver-storbenen Kaiserlich-Deutschen Generalkonsuls für Niederländisch-Indien, Dr. Hermann Gabriel, und seiner Ehefrau Zella, geb. Wolter, in den Kulturbund Deutscher Juden aufgenommen wird und ich ermäch-tigt werde, dem Kulturbund die Genehmigung vorzulegen.«24 Diese Bitte wurde abgelehnt.

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Elisabeth Niemann

In einer extremen, aber für die damalige Zeit geradezu typischen Not-lage befand sich Elisabeth Niemann, die sich am 14. Juli 1936 Hilfe suchend an Staatskommissar Hans Hinkel wandte:

Da mir bekannt ist, dass die mit dem Arier-Paragrafen zusammenhängenden Angelegenheiten zu Ihrem Ressort gehören, möchte ich Ihnen einen Fall darlegen, um Klarheit darüber durch die erste Instanz zu erlangen. Im Früh-jahr 1933 erst erfuhr ich, dass mein Vater nichtarischer Abstammung sei. Er war früh verwaist bei katholischen Verwandten aufgezogen und katholisch getauft. Ich bin seit 1923 mit einem Arier verheiratet, habe zwei Söhne, 12 und 9 Jahre alt, und erwarte Ende dieses Monats ein drittes Kind. Meine Jungens sind also zu einem Viertel nichtarisch, wovon ihnen aber weder äußerlich noch im Charakter etwas anzumerken ist. Sie sind evangelisch wie mein Mann, ich selbst und auch meine Mutter (Arierin). Der jüngere Knabe weiß von diesem »Manko« noch nichts, während ich gezwungen war, es dem Älteren bei der im Frühjahr stark einsetzenden Jungvolk-Werbung mit-zuteilen. Da das Kind sich noch nie anders denn als Deutscher gefühlt hatte, war es sehr bestürzt, und die immerwährenden Fragen von Werbern, Leh-rern und Mitschülern steigerten seine Beschämung, die, verbunden mit der Angst, die Kameraden könnten den wahren Grund seines Nichteintritts erfahren, zu fieberhafter Erkrankung führte. Während der Junge krank lag, teilte ich dem Ordinarius den Sachverhalt mit, da das Kind wohl als Einziges in der Klasse ausgeschlossen war. Auch versuchte ein anderer Lehrer unseres Sohnes festzustellen, ob eine Aufnahme möglich wäre, erhielt aber von den mit der Werbung beauftragten Oberprimanern den Bescheid, es sei nicht möglich, auch bei nur einem Viertel. Sie müssten sich nach ihren Vorschrif-ten richten. Auch beim Zehlendorfer Turn- und Sportverein (1888) wird auf dem Aufnahmeformular die Versicherung der arischen Abstammung der Kinder verlangt. Wo bleibt da die Anwendung der Beschlüsse vom Reichs-parteitag in Nürnberg 1935?25

Es zeigt sich hierbei übrigens auch, wie vergiftet von der nationalsozia-listischen Ideologie bereits die Oberprimaner waren. Hinkel ließ lapidar antworten, er sei für »die Überwachung der in Deutschland lebenden Juden und Nichtarier lediglich auf geistigem und kulturellem Gebiet«

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zuständig, Frau Niemann solle sich doch direkt an die Reichsjugendfüh-rung wenden. Geholfen war der Familie damit keinesfalls.26

Hildegard Burghardt

Am 2. November 1937 meldete sich Hildegard Burghardt in der Dienst-stelle des Hitler-Stellvertreters Heß, weil sie auf der Suche nach ihrem arischen Vater angeblich fündig geworden war. Dazu liegt folgender Ver-merk vor:

Fräulein Hildegard Burghardt, Frankfurt a.M., spricht hier am Dienstag, den 2. 11. vor und legt einen Antrag auf Arisch-Erklärung an den Stellvertreter des Führers vor, der jedoch – wie sie erklärt – nicht an diesen, sondern auf dem Wege über die Reichskanzlei an das Reichsministerium des Innern und von hier an den Regierungspräsidenten in Wiesbaden weitergegeben worden sei. Ihre in dem Antrag enthaltene Erklärung, ihr außerehelicher Vater sei Jude, entbehre nach neueren Nachforschungen der Unterlage, ihr Erzeuger sei vielmehr nun bekannt. Sie bittet um Nachforschung nach dem Schicksal ihres Gesuchs. (Adresse des angeblichen Erzeugers: Walter Nassauer, Ober-ursel/Taunus, Fabrikant, Frontkämpfer, hat angeblich Ehrenkreuz.)27

Niemand kann heute wohl noch nachvollziehen, welche Höllenqualen Mutter und Tochter durchlitten haben müssen, um den Ehemann bezie-hungsweise Vater derart zu verleugnen.

Zynisch berichtete das antisemitische Hetzblatt Der Stürmer über solche Fälle:28 Beim Ostrauer Kreisgericht häuften sich die Klagen, die sich mit der Feststellung der Abstammung beschäftigten: »Juden wollen nicht mehr Juden sein.« Sie strebten ein Urteil an, wonach festgestellt werden sollte, dass ein Elternteil arisch sei und sie demnach nicht mehr Juden seien. 1942 titelte das Blatt: »Erbärmliche Judenschwindelei im Protektorat. Juden suchen arische Väter. Mein Mann [meine Mutter] hat Ehebruch betrieben.«29

Felix William Wickel

Formell war zwar das Reichsministerium des Innern für die Erstellung beziehungsweise Abänderung von Abstammungsentscheiden zuständig,

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doch abgesehen von Hitler selbst, war in diesen Fällen der »Stellvertre-ter des Führers« und später die Partei-Kanzlei der NSDAP dazu berech-tigt. Das »Amt für Gnadensachen« innerhalb der Partei-Kanzlei befasste sich unter anderem mit dem Fall eines gewissen Felix William Wickel, der wegen seiner Abstammung damit rechnen musste, aus der NSDAP ausgeschlossen zu werden. Derzeit werde ein Gnadengesuch behandelt, nach dem er trotz nicht rein arischer Abstammung in der Partei bleiben dürfe, ließ das Amt am 30. März 1938 Hitlers Adjutantur wissen. »Wickel ist nach den einwandfreien Feststellungen der Reichs-telle für Sippenforschung Halbjude.« Eine abschließende Äußerung Hitlers stehe noch aus, hieß es jedoch.30

Wilhelm Vogel

An Staatskommissar Hinkel wandte sich Wilhelm Vogel am 6. August 1936. Er habe am 9. Juli bereits ein »Bittgesuch an den Herrn Reichs-kanzler und Führer« gerichtet, »um eine Ausnahme vom Verlegergesetz für mich zu erwirken. Ich bin Arier, bin aber mit einer nichtarischen Frau verheiratet. Da ich inzwischen hörte, dass Sie, Herr Staatskommis-sar, in diesen Angelegenheiten das entscheidende Wort sprechen, erlaube ich mir, an Sie die ergebene Bitte zu richten, mir Gelegenheit zu persönlichem mündlichen Vortrag derjenigen Gründe und Tatsachen zu geben, die eine Sonderbehandlung in meinem Falle rechtfertigen könn-ten«.31

Heinrich Braun

Um Hitlers »Gnade« bat Professor Heinrich Braun aus Wien am 14. April 1940. Mit Bescheid der Reichsmusikkammer vom 11. März 1939 war sein Aufnahmegesuch abgelehnt worden, weil er die nach der Reichskulturkammergesetzgebung erforderliche Eignung im Sinne der nationalsozialistischen Staatsführung nicht besaß. Braun bat nun

Ihre Gnaden, mein Führer (…) in Würdigung der folgenden Ausführungen mir ausnahmsweise die Aufnahme in die Reichsmusikkammer zu bewilligen.

Der Grund, warum die Reichsmusikkammer mir die Aufnahme als Mit-glied verwehrt, ist darin zu suchen, dass ich als Sohn eines jüdischen Vaters

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und einer rein arischen Mutter nach den Nürnberger Gesetzen Mischling 1. Grades bin. Meine ganze Erziehung war frei von jüdischem Einfluss, da ich als Zögling der national gefärbten staatlichen Lehrerbildungsanstalt in Wien, III., nur deutsches Gedankengut in mich aufnahm. Demgemäß habe ich auch sofort nach der Reifeprüfung im Jahre 1910 das Elternhaus verlas-sen und mich nationalen Vereinigungen angeschlossen, war z. B. im Verein mit dem Tondichter Hans Wagner-Schönkirch Gründer des Wiener Lehrer-A-capella-Chores, solistisches Mitglied des Wiener Männer-Gesangverei-nes, Mitglied des Deutschen und Oesterr. Alpenvereines. (…)

Mein Führer! Nach 30 Jahren musikalischer Lehrtätigkeit wird es mir jetzt unmöglich gemacht, auf dem mir vertrauten und lieb gewordenen Gebiete weiterzuarbeiten. Was eine derartige Verurteilung zur Untätigkeit bedeutet, vermag wohl nur ein Musiker zu ermessen. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass schon die erste ablehnende Entscheidung mich tief unglücklich gemacht hat, immerhin durfte ich hoffen, dass das Reichsminis-terium dieselbe aufheben werde. Nun auch diese Entscheidung zu meinen Ungunsten ausgefallen ist, bleibt mir nichts übrig, als Sie, mein Führer, zu bitten, mir wieder den Weg zu der Tätigkeit zu eröffnen, mit der ich seit Jahren verwachsen bin.32

Immerhin: Die Partei-Kanzlei wandte sich noch einmal an das Propa-gandaministerium und regte an, »die Angelegenheit des Professors Braun einer nochmaligen Prüfung zu unterziehen. Sollte das Ergebnis dieser Prüfung wieder negativ sein, bitte ich, mir eine Äußerung zukom-men zu lassen, die mich instandsetzt, dem Gesuchsteller eine Antwort zu erteilen«.33

Harriet von Campe

Die Willkür der NS-Behörden offenbart in dramatischer Weise der Fall der Freifrau Harriet von Campe.34

Der Amerikaner T. St. Gaffney, Generalkonsul in München, wurde am 22. September 1936 beim Staatssekretär im Reichsministerium des Innern, Hans Pfundtner, vorstellig, um sich für Harriet von Campe, Enkelin des Bankiers Gerson Bleichröder, einzusetzen und einen Reichs-bürgerbrief für sie zu erbitten.35 Dem beigefügten Gesuch war zu ent-nehmen, dass der Vater der damals 45-jährigen Freifrau »nichtarisch«

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war. Ihre Familie lebte seit zweihundert Jahren in Berlin, hieß es in dem Schreiben, und die Freifrau sei »vollkommen nationalsozialistisch ein-gestellt«.

Bleichröder war ein konservativer deutscher Jude, der die privaten Geldangelegenheiten von Reichskanzler Otto von Bismarck geregelt und für den preußischen Staat Millionen-Transaktionen organisiert hatte. Als Anerkennung für seine loyalen Dienste wurde Gerson Bleich-röder 1872 in den Adelsstand erhoben. Die Erben des Bankiers versuch-ten auf verschiedene Weise, sich in die preußisch-wilhelminische Gesell-schaft einzugliedern. Anita Wilhelmine Sammy Harriet, 1892 auf dem ehemaligen sächsischen Rittergut Schloss Drehsa in Weißenberg bei Bautzen als Tochter von James und Harriet von Bleichröder geboren, heiratete Jordan von Campe, einen Freiherrn aus uralter braunschweigi-scher Adelsfamilie. Die Ehe war von kurzer Dauer und blieb kinderlos. Die Zeitgenossen argwöhnten, sie habe durch die Eheschließung der Einordnung als Jüdin entgehen wollen. In Gaffneys Schreiben hieß es weiter, die Freifrau habe sich ihr Leben lang als »Mischling« betrachtet und sei dreizehn Jahre mit einem »Arier«, Jordan Freiherr von Campe, verheiratet gewesen.

Trotz aller Eingaben teilte der Reichsminister des Innern Harriet von Campe am 7. Juni 1937 mit, dass ihrem Anliegen nicht entsprochen werde und der Bescheid endgültig sei.36 Doch da sie nicht aufgab, zog sich die Angelegenheit bis April 1942 hin. Das Reichssippenamt befand, dass sie als Jüdin zu gelten habe. Daraufhin teilte der »Vollarier« Rudolph A. Herrschel, zugleich Campes Vermieter, dem Chef der Reichskanzlei, Hans Heinrich Lammers, mit, die Freifrau sei bereit, ihr Vermögen von 60 000 RM sofort für gute Zwecke zur Verfügung zu stel-len, wenn sie ein Gnadengesuch an den »Führer« richten dürfe, um wenigstens als Halbarierin eingestuft zu werden.37

Ins Spiel gebracht wurde nun, dass der tatsächliche Erzeuger der Frei-frau der arische Architekt Hermann Ende sei, mit dem die Mutter Ehe-bruch begangen habe. Aber das Reichssippenamt erkannte eine eides-stattliche Versicherung des angeblichen Erzeugers Hermann Ende nicht an und verwies auf »die Rassemerkmale«, die auf einen jüdischen Vater hindeuteten. Der Reichsminister des Innern kam zu dem Ergebnis, es könne »unterstellt werden, dass die Mutter der Freifrau von Campe mit Hermann Ende tatsächlich Ehebruch getrieben hat. Nach dem eindeuti-

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gen Ergebnis der vom Reichssippenamt herbeigeführten erb- und ras-senkundlichen Untersuchung ist aber die Tochter nicht aus diesem Ehe-bruch hervorgegangen, sondern von ihrem gesetzlichen jüdischen Vater gezeugt worden.«38

Am 10. März 1942 erfolgte die endgültige Ablehnung des Gesuchs. In einem Schreiben des Reichsinnenministers an den Polizeipräsidenten von Berlin hieß es, »Harriet Sara Freifrau von Campe« habe erneut Ein-wendungen gegen ihre rassische Einordnung als Jüdin erhoben und die gnadenweise Gleichstellung mit jüdischen Mischlingen zweiten Grades beantragt.

Ich ersuche ergebenst, der Gesuchstellerin auf ihre Einwendungen zunächst zu eröffnen, dass ich mich nicht veranlasst sehe, die Entscheidung vom 26. Januar 1942 zu ändern, wonach sie als Jüdin rassisch einzuordnen ist. Ferner ersuche ich, sie auf die Eingabe vom 6. Februar 1942 zu bescheiden, dass ich ihren Antrag auf gnadenweise Gleichstellung mit jüdischen Misch-lingen gemäß der mir vom Führer übertragenen Ermächtigung abgelehnt habe und dass diese Entscheidung endgültig ist.39

Hinzu kam in diesem speziellen Fall, dass Nazi-Funktionäre ein Auge auf die prominent gelegene Wohnung der Freifrau mit Blick über den Kurfürstendamm zum Lehniner Platz geworfen hatten. Seit November 1935 lebte sie im dritten Stock des Prachthauses am Kurfürstendamm 75. Für zwei geräumige Zimmer mit Balkon, Bad und Fahrstuhl bezahlte Harriet von Campe 120 RM Miete an den Hauseigentümer Rudolph A. Herrschel in Lichterfelde-Ost, mit dem sie auch freundschaftliche und geschäftliche Beziehungen unterhielt. Außerdem verfügte sie über eine Zweitwohnung in Garmisch-Partenkirchen in der Höllentalstraße 63. In einer eidesstattlichen Erklärung über den ehemaligen NSDAP-Kreislei-ter vom 1. Oktober 1949 steht: »Am 10. November 1938 erhielt ich von Kreisleiter Johann Hausböck den Auftrag, die Jüdin Frau Bleichen-röder [sic!] zu veranlassen, sich zwecks Entgegennahme einer Erklärung des Gauleiters unverzüglich zur Kreisleitung zu begeben.« Näheres ist darüber nicht mehr zu erfahren.

Einerseits genossen Harriet von Campe und ihre drei Geschwister, die jeweils 120 000 RM (was nach heutigen Begriffen einem Millionen-vermögen entspricht) geerbt hatten, einige Privilegien. Das Finanzamt

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Moabit-West verfügte am 24. Mai 1940 nach dem Tod ihres Onkels Hans eine Ausnahme: »Der Nachlass ist nicht judenvermögensabgabe-pflichtig.« Und die Behörde des Reichsführers-SS, Heinrich Himmler, bestätigte am 28.1.1942 eine Sonderregelung für die Bleichröder-Erben: »Da sich die vorbezeichneten Erben noch im Reichsgebiet aufhalten und auch nicht die Absicht haben auszuwandern, ist von einer Sicher-stellung der inländischen Vermögenswerte des verstorbenen Hans von Bleichröder Abstand genommen worden.«

Harriet von Campe, die ein materiell sorgenfreies Leben führen durfte, überwies jeden Monat 50 RM an ihre Mutter Harriet von Bleich-röder, die in München lebte. Dem befreundeten Rudolph A. Herrschel, der ihr Vermögen verwaltete, hatte sie mehrere Darlehen vergeben, ins-gesamt 58 000 RM, die zu 4 Prozent verzinst wurden.

Trotz hochrangiger Bekanntschaften wusste Harriet von Campe, dass sie sich weder in Garmisch-Partenkirchen noch in der Berliner Gesell-schaft sicher fühlen durfte. Einen genauen Bericht darüber hat der Hausbesitzer Herrschel hinterlassen. Unter dem »Betreff: Mietrück-stände« schrieb er später an den ihm persönlich bekannten Oberfinanz-präsidenten Karl Kuhn, der seinen Dienstsitz im Haus Cumberland am Kurfürstendamm 193/194 hatte, Harriet von Campe sei »am 22. 7. 42 von der Gestapo abgeholt und am selben Tage auch die Wohnung v.d. Gestapo versiegelt. Die Baronin war 3 Wochen noch in Berlin in Haft. Der Herr Reichsminister Lammers hatte mir geschrieben, dass er sich bei Herrn Minister Frick für die Baronin verwenden wolle. Vielleicht wurde deshalb mit ihrem Abschub noch etwas gewartet. Sie ist am 15. 8. 42 nach dem Osten dann abgeschoben worden.« Lammers war als Chef der Reichskanzlei direkt Hitler unterstellt. Bei ihm hatte sich auch der berühmte Felix von Luckner (der Autor von Seeteufel. Abenteuer aus meinem Leben), der beste Beziehungen zu Nazi-Oberen hatte, für die Freifrau eingesetzt. Doch am 21. Februar 1942 erhielt Herrschel Nach-richt aus der Reichskanzlei, es gebe keine Ausnahmeregelung.

Eines Tages wurde Harriet von Campe in das Sammellager in der Synagoge an der Levetzowstraße verschleppt. Dort musste sie wie alle in dieser Massenunterkunft am 13. August 1942 ihre Vermögenserklärung abliefern. In die Spalte Beruf schrieb sie: »Wicklerin A.E.G. Dronthei-merstraße Wedding«. Offenbar war sie in den letzten Tagen als Zwangs-arbeiterin verpflichtet worden.

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Zwei Tage später musste sie mit wenig Handgepäck in einer Kolonne zum Güterbahnhof Moabit an der Putlitzstraße marschieren. Mit fast tausend Menschen, darunter siebenundfünfzig Kindern unter zehn Jah-ren, wurde sie in einen Sonderzug der Reichsbahn gesteckt, der drei Tage später auf dem Bahnhof Riga-Skirotava ankam. Nur eine Frau aus die-sem Transport, die als Krankenschwester ausgebildet war und zur medi-zinischen Versorgung der Bewohner des Ghettos Riga abkommandiert wurde, überlebte den Zweiten Weltkrieg. Alle anderen wurden sofort nach der Ankunft des Todeszugs aus Berlin im Wald von Bikernieki erschossen und in Massengräbern verscharrt.

Über Harriet von Campes wertvollen Besitz – Orientteppiche, einen achtarmigen Kronleuchter, eine Frisiertoilette, kostbares Meißner Por-zellan – machten sich sogleich die auf den Raub jüdischen Eigentums spezialisierten Händler B. Tiekötter und H. Giesecke (NAMÖ Neu- und Altmöbel) her und kauften für 5060,30 RM all das auf, was sie abtransportieren konnten.

Aber auch Herrschel war nicht untätig. Er schwenkte sofort um und erklärte: »Die Möbel des Wohnzimmers sind mein Eigentum.« Er sei im Übrigen bereit, »auch die Einrichtung des Schlafzimmers zu erste-hen« und bot an, die gesamte Einrichtung der Wohnung »dem Büro d. Herrn Generalbauinspektor Speer zur Verfügung zu stellen. Heil Hitler! Sehr ergebenst R. A. Herrschel«.

Am 3. Juni 1944 schrieb die Behörde des Oberfinanzpräsidenten einen trockenen Vermerk an die Deutsche Bank, wo Harriet von Cam-pes Konten geplündert werden sollten: »Die Jüdin ist außerhalb des Reichs abgeschoben worden.« Und die Berliner Städtischen Elektrizi-tätswerke BEWAG meldeten noch Ansprüche von 18,24 RM für Stromverbrauch der Freifrau bis zum 2. März 1943 an.

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Hans Hinkel – Goebbels’ Wächter der Kulturpolitik

Staatskommissar Hans Hinkel ist in der bisherigen Darstellung schon häufig erwähnt worden. Dieser NS-Funktionär ist darum einer näheren Untersuchung wert.1

Hinkel, 1901 in Worms als Sohn eines Kaufmanns geboren, studierte nach dem Besuch der Oberrealschule Philosophie und Staatswissen-schaften an der Universität Bonn. Er gehörte dem »Freikorps Ober-land« – auch »Bund Oberland oder Kameradschaft Freikorps und Bund Oberland« genannt – an, einem zur »Schwarzen Reichswehr« zählenden Wehrverband in der Anfangsphase der Weimarer Republik. Der »Bund Oberland« bildete ab 1921 den Kern der Sturmabteilung (SA) in Bayern. Zu diesem Freikorps gehörten neben vielen späteren führenden Nationalsozialisten übrigens auch Heinrich Himmler und Hitlers Vertrauter, der »Halbjude« Emil Maurice. In München fand Hinkel über Dietrich Eckardt am 4. Oktober 1921 zur NSDAP. Im März 1923 wurde er von der Interalliierten Militär-Kontrollkommission zur Überwachung der Entmilitarisierung Deutschlands nach dem Ers-ten Weltkrieg wegen »Widerstandes gegen die Besatzungsarmee« aus Bonn ausgewiesen, darum setzte er sein Studium in München fort.

Am 8. November 1923 beteiligte sich Hinkel an Hitlers »Marsch auf die Feldherrnhalle« in München. 1924 wurde er Schriftleiter an baye-rischen Zeitungen, 1925 an dem von den Brüdern Gregor und Otto Strasser in Berlin gegründeten NS-Kampf-Verlag, in dem die nationalso-zialistischen Publikationen erschienen. Nach dem Scheitern des Hitler-Putsches und dem Verbot der NSDAP wurde die Partei am 27. Februar 1925 neu gegründet, und Hinkel trat ihr mit der Mitgliedsnummer 4686 erneut bei. 1927/28 war er Gaugeschäftsgeschäftsführer von Hessen-Nassau. 1930 wurde er Mitglied der Schriftleitung des Völkischen Beob-achters (für den er bis 1932 als Redakteur tätig war). Im selben Jahr wurde er Reichstagsabgeordneter und war zugleich »Reichsredner«, zudem bis 1933 Gaupresseleiter des Gaus Berlin, also in direkter Nähe von Goebbels. Mit der Mitgliedsnummer 9148 trat er 1931 der SS bei.

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Politische Macht gewann Hinkel als Reichsorganisationsleiter der »Nationalsozialistischen Gesellschaft für deutsche Kultur«, später umbenannt in »Kampfbund für deutsche Kultur« (KfdK) besonders als Leiter der Abteilung II A, des sogenannten Judenreferats im Reichs-ministerium für Volksaufklärung und Propaganda. Ab Juli 1933 über-wachte Hinkel als Staatskommissar und »Reichskulturwalter« den »Kulturbund Deutscher Juden«.

Seit 1935 war Hinkel im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda als Sonderbeauftragter für »Kulturpersonalien« zuständig – »Sonderreferat Hinkel – Judenfragen«. In dieser Funktion betrieb er verantwortlich den Ausschluss jüdischer Deutscher aus dem Kulturbe-trieb.

Hinkel, der sich selbst als Journalist bezeichnete, war in keiner Weise qualifiziert, eine verantwortungsvolle Stellung zu bekleiden, geschweige denn, über Menschenschicksale zu entscheiden.

Interessant ist, wie Goebbels, Hinkels Dienstherr, den Staatskommis-sar einschätzte: Er misstraute ihm zutiefst, wie zahlreiche Tagebuchein-träge verraten:

21. April 1931Gestern großes Reinemachen: morgens mit Lippert2 und Hinkel Angriff durchgesprochen. Ich muss jetzt klug sein. Hinkel schwankt noch zwischen Amann3 und mir. Aber ich werde ihn schon gewinnen.“ 4

2. Mai 1931Ich trau dem Pgn. Hinkel nicht recht. 5

4. September 1935Hinkel ist nicht immer loyal, altes Lied.6

8. September 1935Große Reformen in der RKK. Hinkel arbeitet gut, aber er ist persönlich nicht zuverlässig.7

19. September 1935Ein geborener Intrigant und Lügner. Ob er auf die Dauer zu halten ist?8

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26. Juni 1936Hinkel arbeitet nicht zuverlässig. Man kann ihm kaum trauen. Ein Windma-cher! Ich werde ihm etwas mehr auf die Finger schauen.9

19. November 1937Hinkel hat einen gemeinen und dummen Vortrag gegen das Staatstheater gehalten und ihn auch noch drucken lassen. Ich komme mit Göring überein, dass der ihn sich mal vorknöpft. Hinkel ist ein ekelhafter Intrigant.10

25. Dezember 1937Hinkel ist nun auch glücklich, dass er nun die Arisierung der Kulturunterneh-men vornehmen kann. Nun soll er aber auch Ruhe geben und keinen Blödsinn mehr [machen]. 11

14. Februar 1938Hinkel zieht sich jetzt auf seine Judenarbeit zurück. Er ist ganz resigniert. Die Arisierung der Kulturunternehmen hat er zu groß aufgezogen. Mit 90 000 Fra-gebogen. Ich stoppe das ab.12

12. November 1938Mit Hinkel lege ich eine Verordnung fest, dass die Juden keine Theater und Kinos mehr besuchen dürfen.13

Ungeachtet dieser Einschätzung bekleidete Hinkel folgende Posten:Ostern 1931: Verlagsleiter des Berliner NS-Organs Der Angriff;Herbst 931: Leiter des Presseamts des NS-Gaus Groß-Berlin;Januar 1933:Staatskommissar im Preußischen Ministerium für Wissen-schaft, Kunst und Volksbildung;Sommer 1933: Leiter des Amtlichen Preußischen Theaterausschusses von Ministerpräsident Göring;Mai 1935: Geschäftsführer der Reichskulturkammer;Herbst 1935: Vorsitzender Vereinigung Künstlerischer Bühnenleiter.Er war Träger des Goldenen Ehrenzeichens der NSDAP und des Abzei-chens für die die NS-Kämpfer von 1923.

Als »Reichsredner« bestritt er über 3000 Parteiversammlungen.Heftige Vorwürfe richtete die Sängerin Lale Andersen am 6. Dezem-

ber 1949 in einem Schreiben an den Generalankläger beim Kassations-

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hof des Staatsministeriums für Sonderaufgaben in München. Sie habe Hinkel als einen »harten, gefühllosen Antisemiten« kennengelernt. An Hinkels »Lustfahrten« durch das Lodzer Ghetto hatten mehr oder weniger beschämt und widerwillig auch Emmi Leisner, Kirsten Heiberg, Marika Rökk, Willy Fritsch, Willi Höhe und andere teilnehmen müs-sen, ebenso am dortigen Gastspiel der sogenannten Berliner Künstler-fahrt. Lale Andersen selbst sei 1942 nach einem Verhör durch Hinkel wegen »philosemitischer Äußerungen« und wegen einiger Briefe an ihre jüdischen Freunde in der Schweiz, die Hinkel in die Hände geraten seien, verhaftet und mit einem Auftrittsverbot belegt worden.14

Ein anderes Bild zeichnete der Münchner Kammersänger Erich Mauck, der Hinkel seit etwa 1930 kannte. Er habe mit Hinkel Verbin-dung aufgenommen, um das Verbleiben von Kammersänger Richard Tauber, dessen Lehrer Mauck zeitweilig war, in Deutschland zu ermögli-chen.15 Der weltberühmte österreichische Tenor war 1933 in Berlin vor dem Hotel Kempinski von einem SA-Trupp mit den Worten »Judenlüm-mel, raus aus Deutschland« beschimpft und niedergeschlagen worden. Eigentlich wollte Tauber sofort emigrieren, blieb aber doch, um an seiner Operette Der singende Traum zu arbeiten. Nach dem »Anschluss« Österreichs emigrierte Tauber nach Großbritannien. Hinkel habe – offenbar im Einvernehmen mit Wissenschaftsminister Rust – den Vor-schlag gemacht, Tauber für arisch zu erklären und in Deutschland weiter zuzulassen.

Auch Hinkels Sekretärin Ursula Framm gab in dem Spruchkammer-verfahren gegen Hinkel an, dieser habe verschiedentlich »Mischlin-gen« oder »jüdisch Versippten« geholfen.16 Häufig habe er sich für Künstler eingesetzt, die den erforderlichen »Abstammungsnachweis« nicht vorlegen konnten. Sie nannte in diesem Zusammenhang die Schauspielerin Anneliese Born, Ehefrau des Schauspielers Albrecht Schoenhals sowie die Sängerin und Kabarettistin Eva Busch, die auf-grund einer Denunziation in ein Konzentrationslager gebracht und nach intensiven Bemühungen Hinkels freigekommen sei.

Eine Fürsprecherin hatte Hinkel nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes auch in der Schauspielerin Käthe Dorsch gefunden. In einer eidesstattlichen Erklärung zählte sie im Dezember 1949 unter anderen folgende Fälle auf:17

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Der Theaterdirektor und Schauspieler Leopold Kramer, jüdischer Abstammung, hatte binnen vierundzwanzig Stunden aus Wien abtrans-portiert werden sollen. Seine Frau, die bekannte Schauspielerin Josefine »Pepi« Glöckner-Kramer, wandte sich Hilfe suchend an Käthe Dorsch, diese rief Hinkel an, und nach ein paar Stunden wurde er von der Deportationsliste gestrichen.

Mehrmals habe sich Hinkel für die Entlassung prominenter Künstler aus Konzentrationslagern eingesetzt, so für die des Theaterdirektors Arthur Hellmer oder des mit einer Jüdin verheirateten Schriftstellers August Hermann Zeiz (Pseudonym: Georg Fraser). Hermine Mutzner, die Tochter eines jüdischen Vaters war plötzlich verhaftet worden und wurde – so Käthe Dorsch – dank der Intervention von Hinkel wieder freigelassen. Schließlich soll Hinkel auch die Sängerin Anita Spada aus einem Konzentrationslager geholt haben.

Trotz dieser entlastenden Aussagen war Hinkel ein entschiedener Antisemit. Bei seiner Mutter hatte er sich in einem Brief vom 9. Februar 1937 darüber beklagt, dass er und seine Mitarbeiter zahlreiche Schrei-ben erhielten, in denen »irgendwelche halbjüdischen Musikerfamilien« an ihn heranträten.18 Er bat seine Mutter, niemandem zu raten, sich in solchen Fällen an ihn zu wenden. Er könne sich nämlich nicht mit den Schulden oder den jüdischen Großmüttern von mehreren Hundert Wormsern befassen.

In der »Judenfrage« brachte Hinkel immer wieder seinen unheilvol-len Einfluss zur Geltung. Obwohl Hinkel sich in Einzelfällen für »Mischlinge« und »jüdisch Versippte« eingesetzt hat, war er ein über-zeugter Antisemit und Zyniker zugleich. 1938 hatte er einen Beitrag unter der Überschrift »Die Lage der Juden in Deutschland« geschrie-ben, der sein wahres Denken wiedergibt.19 Darin schrieb er, dass die Juden in Deutschland trotz der »Sondergesetzgebung« weder einen ängstlichen noch bedrückten Eindruck machen, nach wie vor in wohl-habenden Stadtgegenden wohnen und einen verheerenden Einfluss haben würden. Dann stellte er diese Statistik auf: »In Preußen waren 1926 4,6 Prozent aller Redakteure, 4,8 Prozent aller selbstständigen bil-denden Künstler, 11,0 Prozent aller Regisseure und 7,5 Prozent aller Schauspieler Angehörige einer jüdischen Religionsgemeinschaft, und dies bei einem Anteil von nur 0,9 Prozent ›Glaubensjuden‹ an der Gesamtbevölkerung.« Für Berlin nannte er bei einem jüdischen Bevöl-

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kerungsanteil von 4,29 Prozent im Jahr 1933 4,8 Prozent aller selbst-ständigen bildenden Künstler, 14,2 Prozent aller Regisseure, 12,3 Pro-zent aller Schauspieler Angehörige der jüdischen Religionsgemeinschaft. Dabei seien die »Rassejuden« noch nicht einmal erfasst.

Nach ellenlangen Beschreibungen der Mischlingsformen kam Hinkel zu dem Ergebnis, die Nürnberger Gesetze seien im Ausland missverstan-den worden, denn sie trügen zur »Befriedigung der Beziehungen zwi-schen dem deutschen Wirtsvolk und dem jüdischen Gastvolk bei«. Im Übrigen hätten die vielen jüdischen Bühnen- und Filmkünstler dem deutschen Publikum unter gar keinen Umständen mehr zugemutet wer-den können. Man hätte die jüdischen Künstler ihrem Schicksal überlas-sen können, aber eine solche Haltung liege nicht in der Natur des deut-schen Menschen, »der gegen den überwundenen Widersacher immer großmütig ist«.20

Hinkels Ausfälle gipfelten in dem Irrsinn, dass es unter den in Deutschland lebenden Juden eine wachsende Zahl gebe, die in der »Sondergesetzgebung« einen zwar harten, aber rettenden Zwang zur Selbstbesinnung für das durch die Assimilierungsversuche zersetzte und gefährdete Judentum sehe. Die »Sondergesetzgebung« endete mit sechs Millionen ermordeter Juden – und Hinkel wurde für die Verdrän-gung der Juden aus dem Kulturbetrieb und seine antisemitische Hetze nie zur Rechenschaft gezogen. Er starb unbehelligt 1960 in Göttingen.

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Die Wehrmacht und die »Judenfrage« 219

Die Wehrmacht und die »Judenfrage«

Heute bekanntester – in der NS-Diktion – »Mischling« in der Wehr-macht ist zweifellos der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt. Er war Oberleutnant der Luftwaffe und »Vierteljude«. Schmidts Vater Gustav, unehelicher Sohn des jüdischen deutschen Privatbankiers Ludwig Gum-pel und einer Kellnerin, wurde von der Familie Schmidt adoptiert. Im Haus eines Hafenarbeiters aufgewachsen, hatte sich Gustav Schmidt nach einer Lehre in einer Anwaltskanzlei mit dem Berufsziel Bürovor-steher zum Volksschullehrer fortgebildet. Später machte er das Handels-lehrerdiplom und war zuletzt Studienrat. Nach Aussage Helmut Schmidts, selbst Protestant, vertuschten er und sein Vater dessen jüdi-sche Abstammung durch Urkundenfälschung, sodass der Ariernachweis erteilt wurde. Als »jüdischer Mischling zweiten Grades« wäre Schmidt benachteiligt worden; auch seine Verwendung als Offizier der Wehr-macht wäre fraglich gewesen. In der Öffentlichkeit gab Helmut Schmidt diese Zusammenhänge erst 1984 auf Nachfrage bekannt, als Journalis-ten den Sachverhalt von Valery Giscard d’Estaing, dem ehemaligen fran-zösischen Staatspräsidenten und Freund Schmidts, erfahren hatten.1

Der Fall Helmut Schmidt zeigt, auf welch brüchigem Eis sich jüdi-sche »Mischlinge« oder »jüdisch Versippte« innerhalb der Wehr-macht bewegten. Viele Offiziere der kaiserlichen Reichswehr, die den entsprechenden Gruppen angehörten, hatten darauf gehofft, in der neuen Wehrmacht eine Perspektive zu finden, denn trotz aller Rassenge-setze sollte es für Frontsoldaten Ausnahmeregelungen geben. Sie wurden bitter enttäuscht. Exemplarisch hierfür ist das nachfolgend beschriebene Schicksal.

Die Brüder Robert und Ernst Borchardt

Im August 1941 wurde dem damaligen Hauptmann Robert Borchardt, Kompaniechef einer auf dem nordafrikanischen Kriegsschauplatz einge-setzten Panzerspähkompanie, das Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes

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verliehen. Aus den Zeitungsmeldungen ging allerdings nicht hervor, dass es sich bei dem hochdekorierten Offizier um einen Mann handelte, der nach den im »Dritten Reich« gültigen Bestimmungen eigentlich in der deutschen Wehrmacht unerwünscht war.2 Denn Hauptmann Robert Borchardt, der noch vor der Machtergreifung Hitlers als Offiziersanwär-ter in die Reichwehr eingetreten war, gehörte schließlich zu jenen Solda-ten, die aufgrund der Nürnberger Rassengesetze von 1935 für unwürdig befunden wurden, eine deutsche Uniform zu tragen: Er war nämlich Halbjude.

Seine damaligen Vorgesetzten sorgten jedoch dafür, dass Borchardt seine in China bei der dort für die Regierung des Marschalls Chiang Kai-shek arbeitenden Militärmission unter Führung der Generäle Wet-zel, von Seeckt und Falkenhausen erworbenen soldatischen Fähigkeiten angemessen einsetzen konnte. Diese Tätigkeit endete im Herbst 1940, nachdem am 27. September 1940 der sogenannte Dreimächtepakt zwi-schen dem Deutschen Reich, Japan und Italien geschlossen worden war und sich damit die Tätigkeit einer größeren Gruppe deutscher Offiziere für den Japan-Gegner Chiang Kai-shek erübrigte. Somit wurde auch Robert Borchardt, dessen Vater 1938 im Konzentrationslager Dachau inhaftiert worden und inzwischen nach England emigriert war, nach Deutschland zurückgerufen. Mit dem Vater floh auch die Schwester nach England. Roberts Bruder Ernst hingegen erhielt eine »Deutsch-blütigkeitserklärung«, beging aber später schwer verwundet Selbst-mord. Robert Borchardt wurde Ende Juli 1941 in den Sonderverband 288 nach Nordafrika versetzt. Er kämpfte an der Front aus Liebe zu Deutschland: «Ich diente, weil ich beweisen wollte, dass Hitlers Rassen-Nonsens falsch war. Ich wollte beweisen, dass Menschen jüdischer Abstammung tatsächlich tapfere und mutige Soldaten waren.«3 Dies war bitter nötig, nicht weil Vorwürfe gegen jüdische Soldaten von der Sache her gerechtfertigt gewesen wären, sondern weil sie in der Öffent-lichkeit als feige diffamiert wurden.

Kampagne gegen jüdische Soldaten

Nicht nur die Nationalsozialisten verbreiteten das Gerücht, die Juden seien Drückeberger und hätten sich als Kriegsgewinnler nach dem Ersten

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Kampagne gegen jüdische Soldaten 221

Weltkrieg an der Not des Vaterlandes bereichert. Hitlers wahnhafte Furcht vor einer jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung, die durch eine »Lösung der Judenfrage« abgewendet werden müsse, fiel bei einem von Existenzängsten und wirtschaftlicher Not geplagten Volk auf frucht-baren Boden.

In Berlin war nach Kriegsende ein jüdischer Soldatenbund aus der Taufe gehoben worden, der sich im Februar 1919 zusammen mit ande-ren Ortsgruppen zum »Reichsbund jüdischer Frontsoldaten« (RjF) zusammenschloss. Initiator war der Hauptmann der Reserve Leo Löwenstein. Die Hauptaufgabe des Bundes war die Wahrung der Ehre der jüdischen Frontsoldaten. In Zusammenarbeit mit dem »Zentralver-ein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens« sollte den antisemiti-schen Agitatoren durch gezielte Aufklärung über den Einsatz jüdischer Soldaten im Krieg der Wind aus den Segeln genommen werden. Gleich-zeitig wollte man den Veteranen eine »Heimat« bieten und sie auch bei Bedarf in sozialen Fragen beraten und unterstützen.

Viele Soldaten folgten dem Aufruf und traten dem neuen Bund bei. Die schlechten Erfahrungen, die sie im Laufe des Krieges, insbesondere im Zusammenhang mit der »Judenzählung« und mit einem ständig zunehmenden Antisemitismus gemacht hatten, ließ sie die Notwendig-keit einer Interessenvertretung erkennen. Der RjF hatte im Zeitraum seines Bestehens von 1919 bis zu seiner im Jahre 1938 im Zusammen-hang mit der Pogromnacht erfolgten Auflösung stets zwischen 30 000 und 40 000 Mitglieder, der Verband vertrat also mehr als die Hälfte der überlebenden jüdischen Frontsoldaten des Ersten Weltkriegs.

Beispielhaft für die antijüdischen Kampagnen und die Vorwürfe, jüdische Soldaten hätten sich an der Front »gedrückt« ist folgende, am 13. Januar 1934 in der Fränkischen Tageszeitung abgedruckte Behaup-tung: »Vielmehr ist Rosenkranz Arier und Frontsoldat mit einer Reihe Tapferkeitsabzeichen, die ein Jude auf ehrlichem Wege nie in der Lage wäre zu erwerben.«4 Damit wurde unterstellt, Juden seien grundsätz-lich feige. In diesem vergifteten Klima entstanden dann auch Gedichte, in denen jüdische Soldaten und Juden überhaupt geschmäht wurden. Das Gedicht »Der erkannte Rattenfänger« aus dem Jahr 1921 gibt ungeschminkt all die Stereotypen von der »jüdischen Drückebergerei« und den Juden als »Halsabschneider, Wucherer und Schacherer« wie-der:

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222 Die Wehrmacht und die »Judenfrage«

Wandern, ach wandern musst Du jetzt wohl,Du, mein lieb’ s Jüdche, dein Maß ist jetzt voll,Weiter, nur weiter, hinaus aus dem Land,Du bist als Gauner uns allen bekannt.Du kennest nicht Sorgen, nicht Kummer und Plag’,Dich rührt nicht die Not, der Elenden Klag’Du pressest die Armen wie ’ne Citron’,Und nimmst ihm das Letzte, beraubst Vater und Sohn!Ein ew’ger Jude, von allen bekannt,Ein Halsabschneider, bist Du von Stand!Wuchern und Schachern von früh bis spät,Und überall ernten, wo du nicht gesät;Ob mein oder Dein unterscheidest du nit,Die Hauptsache ist dir stets der Profit!Du füllst dir den Beutel, du füllst dir den Bauch,und raffen und prassen, das ist bei dir Brauch;Ob Tausende hungern, das lässt dich kalt,Du gieriger Vampir in Menschengestalt!Fahr in die Hölle! Dort wartet bereitsDein Bruder, der Teufel! Eine glückliche Reis’!Bald Fürstendiener, bald Bolschewist,Bald Mohammedaner, und bald ein Christ,als Volksverführer lügst du wie gedruckt,bis dessen Groschen du hast geschluckt.Doch pfeifen die Kugeln, drückst du dich schnell,Zu wertvoll erscheint dir dein erbärmliches Fell.Als schamloser Hetzer im deutschen LandUnd elender Feigling bist du bekannt.Du hast im Weltkrieg, den du hast entfacht,Geschoben in Massen, ’s G’schäftle gemacht!Im Schützengraben fand man dich nicht,Da warst du herzkrank und hattest die Gicht!Doch in der Etappe im Café und BarDa warst du ein Held, ein Maulheld sogar!Auf dem Rückzug der Erste, da warst du paratUnd ließest dich wählen in den Soldatenrat! Dann machtest du behende »in Revolution«zu daitschen Ministern »Hirsch, Elsner und Kohn«.5

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Zurückhaltung im Reichswehrministerium

Die Wehrmacht hatte zweifellos ein Interesse daran, auch »Mischlinge« zum Wehrdienst einzuziehen. Sie stellten einerseits Tausende junger Wehrpflichtiger, zum anderen dienten im sogenannten Friedensheer zahlreiche hervorragend qualifizierte jüdische Offiziere bzw. »Misch-linge«. Die antisemitische Hetzkampagne der Nationalsozialisten hatte schon vor deren Machtergreifung in Deutschland für Unruhe gesorgt, nicht nur bei den Juden. Ein halbes Jahr, bevor Hitler die unumschränkte Herrschaft an sich riss, hatte der Staatssekretär in der Reichskanzlei in einem Brief an Heinrich Levy in Frankfurt am Main noch zu beruhigen versucht:

Gemäß Artikel 109 der Reichsverfassung sind alle Deutschen vor dem Gesetz gleich. Der Herr Reichskanzler ist selbstverständlich gewillt, diese Vorschrift der Reichsverfassung streng einzuhalten.6

Reichskanzler war zu dieser Zeit – und nur für einige Wochen – Kurt von Schleicher. Er hatte vergebens versucht, die Nationalsozialisten zu spalten, und wollte den Reichstag ohne anschließende Neuwahlen auf-lösen. Diese Form des »Staatsstreichs« lehnte Reichspräsident Paul von Hindenburg ab, von Schleicher demissionierte, statt seiner ernannte der greise Hindenburg Hitler zum Reichskanzler. Hitler aber dachte überhaupt nicht daran, sich an die Verfassung zu halten. Unverzüglich begannen er und seine Anhänger mit der Verfolgung von Juden, »Mischlingen« und »jüdisch Versippten«, zunächst mit ihrer rigoro-sen Entfernung aus dem öffentlichen Dienst.

Natürlich gab es auch in der Reichswehr, später in der Wehrmacht, konkrete Bestimmungen, wie mit »Nichtariern« umzugehen war, die Minister Werner von Blomberg nicht ignorieren konnte. In einer Gehei-men Kommandosache über eine Besprechung im Reichskriegsministe-rium traten jedoch die Differenzen in der Behandlung der »Juden-frage« zwischen dem Reichswehrministerium,7 der NSDAP und den meisten übrigen staatlichen Stellen zutage.8 In dem am 2. April 1934 verfassten Papier war unter anderem die Rede davon, dass Reichsminis-ter Hermann Göring von »allen Angehörigen der Luftfahrt den Nach-weis der arischen Abstammung, ohne Rücksicht auf ihre Eigenschaft als

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Frontkämpfer« verlangte. Der Verfasser des Protokolls nahm damals an, dass die Regelung »vermutlich verhindern [soll], dass Nichtarier in höhere Kommandostellen gelangen (siehe Fall Düsterberg)«. Der Hin-weis auf Düsterberg bezog sich auf folgenden Vorgang: Theodor Düs-terberg war Vorsitzender des Stahlhelmbundes gewesen und wurde 1932 von der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) als Kandidat für das Amt des Reichspräsidenten aufgestellt. Die NSDAP machte seine Abstammung als »Vierteljude« publik, woraufhin Düsterberg im ersten Wahlgang nur 6,8 Prozent der Stimmen erhielt und seine Kandidatur zurückzog. Das geradezu Absurde: Düsterberg hatte 1924 gegen den Widerstand vieler in der DNVP den Arierparagrafen eingeführt, dem er als »Mischling« nun selbst zum Opfer fiel.

Verlangt wurde im Reichskriegsministerium ein einheitliches Vorge-hen aller drei Wehrmachtsteile, dies vor allem vor dem Hintergrund, dass gerade Offiziere häufig versetzt würden und dabei den Wehr-machtsteil wechselten. Im Übrigen aber – und hier schloss sich das Reichskriegsministerium den anderen Partei- und staatlichen Stellen nicht an – brauche man nicht über die Bestimmungen zur Wiederher-stellung des Berufsbeamtengesetzes hinauszugehen.

Entsprechend dieser Haltung ordnete Minister Werner von Blom-berg mit Erlass vom 28. Februar 1934 die Nachprüfung der arischen Abstammung für die Soldaten von Heer und Marine an, während die Luftwaffe in Görings Zuständigkeitsbereich fiel. Diesen ließ von Blom-berg am 7. Juni 1934 wissen, wenn er für alle Angehörigen der Luftfahrt die Überprüfung verlange, werde er, von Blomberg, sich an die Be stimmungen die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums halten.9 Er jedenfalls sehe keinen Anlass, über diese Bestimmungen hinauszuge-hen.

Diese Kontroverse zeigt übrigens erneut, dass Göring keineswegs der »Judenfreund« war, als der er bisweilen dargestellt wird. Aber auch Blomberg kam nicht umhin, jüdische Offiziere beziehungsweise »Mischlinge« noch vor den Nürnberger Rassengesetzen vom Septem-ber 1935 zu entlassen. Eine von ihm in Auftrag gegebene Bestandsauf-nahme ergab, dass bis zum 22. Juni 1934 beim Heer auf sieben Offiziere, acht Offiziersanwärter, 13 Unteroffiziere und 28 Mannschaften der sogenannte Arierparagraf anzuwenden war.10 Bei der Marine waren es drei Offiziere, vier Offiziersanwärter, drei Unteroffiziere sowie vier

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Mannschaften. Allerdings hatten in Heer und Marine »Frontkämpfer« den urkundlichen Ariernachweis nicht zu führen. Die genannten Zah-len konnten jedoch nicht – wie es hieß – als »endgültig« betrachtet werden. Die Zahl der »Mischlinge« und »jüdisch Versippten« war erheblich höher, wie auch die zahlreichen Hilferufe von Betroffenen an von Blomberg, an Hitler direkt und an viele andere Partei- und staatli-che Dienststellen zeigen. Andererseits setzte Blomberg durch, dass vor-läufig noch »Mischlinge« zur Ableistung der Wehrpflicht herangezo-gen werden konnten.

Schon 1933 und dann verstärkt in den folgenden Jahren erreichten von Blomberg zahlreiche Bittbriefe aus Heer und Marine. Sie hatten alle die Forderung zum Inhalt, in der Reichswehr bleiben zu dürfen. So wandte sich Oberstleutnant a.D. Albert Benary an das Reichswehrmi-nisterium und bat darum, »ihn und seine Nachkommen für alle Zeit für deutsch zu erklären«.11 Zur erforderlichen »Abstammungsüberprü-fung« wurde der »Sachverständige für Rasseforschung« im Reichsin-nenministerium, Achim Gercke, eingeschaltet, der sein Prüfungsergeb-nis am 20. Juli 1933 dem Reichswehrministerium meldete und dabei auch Bezug auf die »Nachkommen« nahm: Benary sei zwar Front-kämpfer, konzedierte er, aber im Hinblick auf die Nachkommen hielt er fest: »Der Großvater der Studentin Eleonore Benary war nichtarisch, da von jüdischen Eltern geboren. Damit ist auch die Studentin nicht-arisch.« Der Reichswehrminister teilte dann Benary am 28. Juli 1933 lapidar mit, die Ausnahmeregelungen beträfen nur die Frontkämpfer selbst, nicht deren Nachkommen:12 »Die Kinder erlangen keine Son-derstellung.«13

Von Blomberg erhielt bereits in dieser frühen Phase der NS-Diktatur zahlreiche Briefe von Offizieren – aktiven und ehemaligen – sowie von deren Angehörigen, die ihn um Unterstützung bei der »rassischen« Einordnung baten. Am 20. März 1934 beispielsweise meldete sich der ehemalige Kapitänleutnant Pfinstler, der zwar im Kaiserreich hatte kämpfen dürfen, dessen Abstammung aber nun den rassischen Anforde-rungen der Nationalsozialisten nicht entsprach. Er wollte jetzt die Aus-nahmebestimmungen der Nürnberger Gesetze für »Frontkämpfer« in Anspruch nehmen:

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Zur Frage des Arierparagrafen melde ich:

Von August 1915–September 1918 an Bord S.M.S. »König Albert« kom-mandiert, habe ich an allen kriegerischen Unternehmungen des Schiffes wäh-rend dieser Zeit (Ösel-Unternehmung14) sowie als Angehöriger der Marinebri-gade Löwenfeld an den Unterdrückungen der Unruhen in Oberschlesien 1919 und Kiel 1920 teilgenommen.15

Pfinstlers Hoffnung, dies qualifiziere ihm zum Verbleib in der Reichs-wehr, wurde enttäuscht.

Auch Ernst Grüneberg aus Berlin war der – irrigen – Auffassung, Reichskriegsminister und Generaloberst von Blomberg könne ihm zur Seite stehen, wenn schon nicht in eigener Sache, so doch zumindest im Hinblick auf die Zukunft seiner Tochter. Er wandte sich am 9. Februar 1935 an ihn und schilderte ihm, er verfolge mit Sorge sein Schicksal als Jude im eigenen Vaterland. Seit vierzehn Jahren sei er mit einer »ari-schen« Frau verheiratet. Seine zwölfjährige Tochter erziehe er im »vaterländischen« Sinn. Er bat Blomberg dringend, »dass das Kind, das in der christlichen Religion erzogen wird, nicht unter dem Gesetz für Frontkämpfer zu leiden hat«.16

Der Wahnsinn nationalsozialistischer Rassenideologie kam beispiels-weise auch in dem Schreiben zum Ausdruck, das »Frau Josef Gnott« aus Düsseldorf am 10. August 1935 an Blomberg17 gerichtet hatte: »Als Deutsche arischer Abstammung evangelischer Konfession« hatte sie 1909 den Ingenieur Josef Gnott, »jüdischer Abstammung, früher mosa-ischen Glaubens, seit vielen Jahren evangelischer Konfession«, geheira-tet. Josef Gnott war 1903 aus Warschau nach Deutschland gekommen und hatte 1928 die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten. Er stellte Gum-mischläuche für Gasmasken und andere kriegswichtige Güter her. Das Ehepaar hatte vier Kinder – zwei Söhne und zwei Töchter – im Alter von achtzehn bis sechsundzwanzig Jahren und war von den Nationalsozialis-ten wegen der Abstammung Gnotts ausgebürgert worden. Als Staatenlo-ser jedoch durfte Gnott nicht mehr arbeiten. In dieser verzweifelten Situ-ation wandte sich seine Frau an den Reichswehrminister, der für den wichtigsten Auftraggebers des kleinen Betriebs stand. Der Hilferuf an Blomberg verhallte wie viele andere auch. Am 14. August 1935 ließ er ihr mitteilen, er sei nicht in der Lage, irgendetwas zu unternehmen.

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Max Lichtenberg, Major a.D. in Berlin, setzte seine Hoffnung auf Hitler direkt. Ihm schrieb er am 3. Dezember 1935 einen Brief, der den enormen psychischen Druck widerspiegelt, unter dem »Mischlinge« und »jüdisch Versippte« standen:

Erst vor wenigen Wochen habe ich durch eine vor längerer Zeit an die Reichsstelle für Sippenforschung gerichtete Anfrage erfahren, dass mein im Jahre 1804 geborener Großvater väterlicherseits Jude war. Er hat sich im Jahr 1832, also vor mehr als 100 Jahren, taufen lassen. Ein weiterer jüdischer Bluteinschlag liegt in meiner Familie nicht vor.

Ich bin bis Ende 1919 aktiver Offizier gewesen (Stammregiment ehema-liges Feldartillerie-Regiment Nr. 29 in Ludwigsburg/Württemberg).

Bei beabsichtigten Übungen in der Wehrmacht sowie bei einer etwaigen Wiederverwendung im Mobilmachungsfalle könnten meiner Abstammung wegen Schwierigkeiten entstehen. Ich bitte daher ergebenst, im Sinne des Paragrafen 7 der ersten Verordnung zur Durchführung der in Nürnberg beschlossenen Gesetze, mir eine Bestätigung zu erteilen, aus der hervorgeht, dass ich meinen vollarischen Kameraden gleichgestellt und gleichgeachtet werde.18

Erstaunlicherweise verfolgte der »Reichsbund der höheren Beamten« die Bemühungen von Juden und »Mischlingen« mit erheblichem Arg-wohn. Er fragte am 17. Januar 1934 das Reichswehrministerium, ob es stimme, dass über 800 Offiziere der Reichswehr nichtarischer Abstam-mung seien und trotzdem im Heer belassen würden.19

Auf dem Schriftstück findet sich jedoch der handschriftliche Vermerk, die Nachricht sei unzutreffend. Überhaupt stand das Reichswehrministe-rium unter »Beobachtung«. Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß monierte am 27. Februar 1934, dass das Reichswehrministerium angeblich der jüdi-schen Metallgesellschaft in Frankfurt am Main den Auftrag erteilt hatte, die gesamte inländische Kampfmotorenfabrikation zu prüfen und zu überwachen.20 Der Vertrag solle unverzüglich aufgehoben werden. Außer-dem, so ein weiterer Vorwurf, sei bei einer wehrpolitischen Besprechung in Königsberg der »Kleiderjude Barschall« anwesend gewesen. Der Vor-wurf der Auftragsvergabe stellte sich schnell als falsch heraus, und zum Fall Barschall hieß es zu dieser Zeit noch, man könne Vertretern der Wirt-schaft die Teilnahme an derartigen Veranstaltungen nicht verwehren.

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228 Die Wehrmacht und die »Judenfrage«

Der Kampf um die Wehrwürdigkeit der Juden

Die jüdische Bevölkerung und die jüdischen Soldaten hatten sich in mehreren Verbänden organisiert, die dem Nationalsozialismus anfangs sehr unterschiedlich gegenüberstanden und ein gemeinsames Handeln gegenüber dem NS-Staat verhinderten. Die assimilierten Kreise, wie der »Verband nationaldeutscher Juden«, der »Reichsbund jüdischer Front-soldaten« und der »Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens«, erkannten viel zu spät die Gefahren ihrer Aufforderung, in Deutschland zu bleiben und von innen heraus der NS-Politik zu trotzen. Statt einer organisierten Auswanderung stand etwa bei den Mitgliedern des »Central-Vereins« der Geist des Ja-Sagens zum Judentum im Mit-telpunkt ihrer Arbeit. Die Assimilanten beriefen sich auf ihr »Heimat-recht«.

Der Gedanke an eine Auswanderung wurde in der ersten Phase der NS-Judenpolitik noch von vielen Gruppen eindeutig negiert. Charakte-ristisch hierfür ist die Ansicht des Reichsbundes jüdischer Frontsolda-ten:

Der RjF sieht die Grundlage seiner Arbeit in einem restlosen Bekenntnis zur deutschen Heimat. Er hat kein Ziel und kein Streben außerhalb dieser deut-schen Heimat und wendet sich aufs schärfste gegen jede Bestrebung, die uns deutsche Juden zu dieser deutschen Heimat in eine Fremdstellung bringen will.

Ein Schreiben von Leo Löwenstein, dem Gründer und weltanschauli-chen Leiter des Reichsbundes, an Hitler zeigt, dass die Vorschläge des Bundes immer wieder die Bitte mit einschlossen, die alteingesessenen jüdischen deutschen Familien besonders zu berücksichtigen. Dabei wird deutlich, dass man in der Illusion lebte, nur den »zugewanderten« Juden würde eine schlechte Behandlung widerfahren. Viele glaubten, die NS-Verfolgung sei nur auf die seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ein-gewanderten Ostjuden zurückzuführen.

Exemplarisch hierfür ist dieses Schreiben des »Verbandes National-deutscher Juden« (VnJ) vom 20. März 1935 an Hitler. Der Verband gebärdete sich dabei teilweise »völkischer« als die Nationalsozialisten selbst. Ungeachtet dessen wurde auch dieser Verband am 18. November

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Der Kampf um die Wehrwürdigkeit der Juden 229

1935 verboten. In dem Schreiben hieß es unter anderem, seit seiner Gründung 1921 habe sich der Verband »in schärfstem Kampf gegen alle deutschfremden Volksschädlinge befunden, insbesondere auch gegen Ostjuden und die ihnen geistesverwandten Politiker und Literaten«. Der Vorsitzende Max Naumann hob hervor, dass er seit dreiunddreißig Jahren deutscher Soldat sei, Frontkämpfer und das Eiserne Kreuz I. und II. Klasse sowie andere Militärauszeichnungen erhalten habe:

Der ausländische Jude war für mich stets nur ein Ausländer; dem in Deutsch-land lebenden undeutschen Juden habe ich stets mit dem gleichen Gefühl wie jedem anderen Fremden gegenübergestanden. Alles dies habe ich durch meine ganze Lebensführung sowie durch unzählige im nationalen Sinne gehaltene Schriften, die ich insbesondere seit 1920 veröffentlicht habe und die mir wütende Angriffe seitens fremdfühlender Juden und Nichtjuden eingebracht haben, unter Beweis gestellt. Seit dem März 1921 führe ich eine sorgfältig gesiebte Schar gleichfühlender Stammesgenossen, die in dem »Verband nationaldeutscher Juden« zusammengeschlossen sind. Unser Verband betrachtet sich selbst nur als Stoßtrupp derjenigen Juden, die abstammungs- und gefühlsmäßig völlig eingedeutscht sind, die nicht anders als deutsch denken und fühlen können und die in einer internationalen »alljüdischen« Gemeinschaft unter Fremden wären.

Es ist mir gesagt worden, dass in Erwägung gezogen sei, sämtliche Nichtarier von der Teilnahme an der allgemeinen Wehrpflicht auszu-schließen. Wir nationaldeutschen Juden, die wir die Proklamierung der allgemeinen Wehrpflicht mit Begeisterung begrüßt haben, vermögen nicht daran zu glauben, dass wir wirklich nicht zur Ausübung unserer Ehrenpflicht, unser deutsches Vaterland mit der Waffe zu verteidigen, zugelassen werden sollten. Wir würden in einer solchen Zurücksetzung eine ebenso tiefe wie unverdiente Entehrung sehen. Wer »die Juden« wirklich kennt, weiß genau, dass nicht ein Jude wie der andere ist, dass es vielmehr unter den Juden Wesensunterschiede gibt, die angestammt, unauslöschlich und daher im wahrsten Sinne des Wortes volkhaft sind. Wir nationaldeutschen Juden gehören, obwohl wir unsere nichtarische Abstammung niemals verleugnet oder vertuscht haben, unserer Über-zeugung nach zum deutschen Volke, weil wir nicht anders können. Es wäre für uns unfassbar und unerträglich, waffenlos zusehen zu müssen, wie die Menschen, mit denen wir uns gefühlsmäßig aufs engste verbun-

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den fühlen, für Deutschlands Ehre und Freiheit kämpfen. Wir richten daher an Sie, hochgeehrter Herr Führer und Reichskanzler, die Bitte zu befehlen, dass man die nationaldeutschen Juden, die sich ohne Zögern Mann für Mann zum Heeresdienste melden werden, als den Ariern gleichgestellte und gleichverpflichtete Angehörige der Wehrmacht auf-nimmt. Unsere Jugend wird durch die Tat beweisen, was wir Älteren in früheren Kriegen bewiesen zu haben glauben, dass sie bei der Erfüllung der Wehrpflicht für Deutschland ebenso Wertvolles leistet, wie jeder zum Waffendienst eingezogene Arier.

Eine Überwindung der aus der Judenfrage für Deutschland unzwei-felhaft sich ergebenden Gefahren kann auf dem Gebiete der Wehrpflicht ebenso wie auf andren Gebieten nur in der Weise erfolgen, dass zwischen nationaldeutschen Juden und Fremdjuden – unter denen wir nicht nur die Ostjuden, sondern alle fremdfühlenden Juden verstehen – unter-schieden wird. Der nationaldeutsche Jude empfindet seine Tätigkeit für das deutsche Volk und Vaterland nicht nur als Recht, sondern in erster Linie als Pflicht. Wir – und wohl auch die ganze Welt – würden es nicht begreifen, wenn man Menschen, die stets ihre deutsche Pflicht getan haben und sie auch in Zukunft tun wollen, durch Zwang zu Fremden stempeln und von ihrer Pflichterfüllung ausschließen würde. Deutsch-land kann und darf nicht auf Menschen verzichten, die am Aufbau mit-arbeiten wollen. Demgemäß bitte ich Sie, hochgeehrter Herr Führer und Reichskanzler, namens der durch mich vertretenen nationaldeutschen Juden um Zulassung zur Erfüllung der Wehrpflicht. Bezüglich der orga-nisatorischen Einzelheiten, insbesondere der notwendigen Abgrenzung zwischen den zuzulassenden nationaldeutschen Juden und den nicht zuzulassenden Fremdjuden bin ich in der Lage, bestimmte Anregungen zu unterbreiten. Ich würde es mit größter Freude begrüßen, wenn mir hierüber Gelegenheit zu persönlichem Vortrag gegeben würde.21

Und der »Reichsbund jüdischer Frontsoldaten« erklärte am 23. März 1935:

Bei der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht durch den Führer und Reichskanzler und Oberbefehlshaber der deutschen Wehrmacht drängt es uns, auf unsere stets bewährte Treue zum deutschen Vaterlande hinzuwei-sen. Seitdem es eine allgemeine deutsche Wehrpflicht gibt, seit den Befrei-

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Kultur als Instrument der Politik 231

ungskriegen, hat die waffenfähige Mannschaft der deutschen Juden stets ihre Pflicht erfüllt. Auch in dem letzten und größten aller Kriege haben die deutschen Juden 100 000 Mann, darunter 2000 Offiziere, zum Heeresdienst gestellt. 12 000 sind auf dem Felde der Ehre geblieben.22 (…) Der Reichs-bund jüdischer Frontsoldaten als Wahrer der soldatischen Tradition und der soldatischen Erziehung der deutschen Juden hält es für deren unveräußerli-ches Recht, mit der Waffe unter der allgemeinen Wehrpflicht Deutschland zu dienen. Diese Ehrenpflicht gilt uns neben dem Recht auf unsere Heimat als höchstes Gut.23

Im März 1934, gut ein Jahr nach der Machtergreifung der Nationalsozi-alisten, hatte der RjF-Vorsitzende Löwenstein einen letzten verzweifel-ten Versuch unternommen, die Entlassung der jüdischen Soldaten aus der Reichswehr abzuwenden. Doch sein Appell an den Reichspräsiden-ten und Obersten Befehlshaber der Reichswehr, Paul von Hindenburg, blieb erfolglos. Mit der von Reichswehrminister Werner von Blomberg am 28. Februar 1934 angeordneten Anwendung des »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« auf Soldaten mussten außer den ehemaligen Frontkämpfern sämtliche jüdischen Soldaten die Armee verlassen.

Am 5. Oktober 1935 wandte sich der »Reichsbund Jüdischer Front-soldaten« daher mit einem Appell an Hitler. Er bezeichnete sich

als Wahrer des Andenkens und der Ehre von mehr als 12 000 für Deutsch-land im Kriege 1914 bis 1918 gefallener jüdischer Soldaten,als Betreuer vieler Tausender jüdischer Kriegereltern, Kriegerwitwen, Krie-gerwaisen und kriegsbeschädigter Kameraden als Vertreter der überlebenden jüdischen Frontsoldaten

und erinnerte

den Führer und Reichskanzler, den Obersten Befehlshaber der Wehrmacht,

daran, dass

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232 Die Wehrmacht und die »Judenfrage«

die Gesetzgebung des Jahres 1933 hat die ehemaligen jüdischen Frontsolda-ten und die Nachkriegskämpfer in ihren Ämtern und Berufen belassen und ihnen damit die Sorge für unsere Kinder ermöglicht hatte.24

Ideologisch stand der RjF dem «Central-Verein« nahe, der den Zionis-mus ablehnte und sich zur deutschen Nation bekannte. Für den RjF war es daher zutiefst schockierend, als deutsche Juden unmittelbar nach der Machtübernahme 1933 für wehrunwürdig erklärt wurden. Ab 1936 durfte sich der RjF auch politisch nicht mehr betätigen, sondern musste sich auf die Betreuung jüdischer Kriegsopfer beschränken. Als der RjF 1938 aufgelöst wurde, war bereits ein Großteil seiner Mitglieder aus Deutschland emigriert.

Ferner existierte ein »Reichsverband nichtarischer Christen«, der in einem Schreiben an die NSDAP, Stab des Stellvertreters des Führers, am 16. Juli 1936 festhielt:

Die Nachforschungen nach den Mischlingen im Reichsverband nichtari-scher Christen haben ergeben, dass eine Entscheidung, wer als Mischling und wer als Volljude gilt, noch nicht feststeht; an dieser Frage wird z. Zt. gearbeitet. Sobald das endgültige Ergebnis vorliegt, erfolgt Mitteilung.«25

Verschärfter Kurs der Wehrmacht

In einer Vorlage von Bernhard Lösener an Minister Frick hieß es:

Der Führer hat während des Krieges eine Anzahl von halbjüdischen Offizie-ren (und Offiziersfrauen) Deutschblütigen gleichgestellt und sie im aktiven Dienst belassen; er hat bisher rund 125 Mischlingen die Qualifikation zum Vorgesetzten in der Wehrmacht erteilt, teils unter Gleichstellung, teils mit Aussicht auf Gleichstellung nach dem Kriege; er hat in diesen Tagen lt. Mitteilung von Herrn M. Dir. Kritzinger zwei ehemalige aktive Offiziere, die als Halbjuden entlassen worden waren, reaktiviert und Deutschblütigen gleichgestellt.26

Einer der ärgsten Scharfmacher gegen jüdische Soldaten und Offiziere beziehungsweise solche mit »Mischlingsblut« war einmal mehr Hitlers

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Verschärfter Kurs der Wehrmacht 233

Sekretär Martin Bormann. Bei einem Gespräch im kleinen Kreis am 13. August 1938 hatte Hitler sich vorbehalten, »Mischlinge« im Staats-dienst und in der Wehrmacht zu belassen.27 Allerdings könne er nur bis zu 50 Prozent »Mischlingsblut« akzeptieren, alles was darüber liege, sei von Übel. Heeresadjutant Gerhard Engel kam mit Hitler über die zahl-reichen »jüdisch versippten Offiziere« ins Gespräch. Hitler habe dies nicht gern gehört, aber zugesagt, die einzelnen Fälle zu prüfen. Die unangenehmste Rolle aber, so Engel, »spielte wie immer Bormann, der mir auf das heftigste widersprach und zum Ausdruck zu bringen ver-suchte, dass jüdisch versippte Offiziere noch Dienst täten«. Engel meinte anschließend, er habe in dieser Hinsicht »ein nicht allzu ange-nehmes Ressort. Aber manches könne man ja auch heute noch tun«.28

Bisherigen Veröffentlichungen zufolge soll es weit über 100 000 jüdische Soldaten oder Soldaten mit jüdischem Blut in der Reichswehr und dann in der Wehrmacht gegeben haben. Tatsächlich dienten aber in der nur 100 000 Mann starken Reichswehr nur wenige jüdische Sol-daten, wie das Militärgeschichtliche Forschungsamt der Bundeswehr (MGFA) nachweist.29 Am 14. Mai 1936 erließ Hitler einen Befehl, nach dem er es für die Wehrmacht als eine selbstverständliche Pflicht bezeichnete,

ihre Berufssoldaten und damit ihre Führer und Unterführer über die gesetz-lichen Vorschriften hinaus nach schärfsten rassischen Gesichtspunkten aus-zuwählen und dadurch als Erzieher in der soldatischen Schule des Volkes eine Auslese besten deutschen Volkstums zu erhalten.30

Auch der gesellschaftliche Umgang mit den noch verbliebenen »ras-sisch nicht einwandfreien« Offizieren sollte unterbunden werden:

Ergibt sich, dass eine im Offizierskorps verkehrende Persönlichkeit jüdi-scher Mischling ist, so kann von Fall zu Fall erwogen werden, ob ein Abbruch der gesellschaftlichen Beziehungen zur Wahrung des Ansehens der Wehr-macht erforderlich ist.31

Immerhin wurde hierbei »großes Taktgefühl« angemahnt.Offensichtlich unterlag Hitler hinsichtlich der »Gnadenmöglichkei-

ten« starken Stimmungsschwankungen. Einerseits unterschrieb er zahl-

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234 Die Wehrmacht und die »Judenfrage«

reiche Deutschblütigkeitserklärungen, andererseits zog er unerwartet und grundlos die Zügel wieder an. Bormann hatte Anfang 1940 vor der Gefahr gewarnt, verbitterte »Mischlinge« könnten militärische Geheimnisse verraten und deshalb den Ausschluss aus der Wehrmacht empfohlen. Obwohl noch am 20. Januar 1940 verheiratete Soldaten, deren Frauen Jüdinnen oder »Mischlinge 1. Grades« waren, die Zusi-cherung erhalten hatten, in der Wehrmacht verbleiben und bis zum Dienstgrad Feldwebel befördert werden zu können, ordnete Hitler am 8. April 1940 die Entlassung dieses Personenkreises an. Ausnahmen solle es nur noch bei besonderer Tapferkeit geben.

Am 2. Mai 1940 ereiferte sich Bormann, als es darum ging, dass »Zigeuner« in der Wehrmacht ihre Dienstpflicht erfüllten. Hitler zeigte sich laut Heeresadjutant Engel sehr erregt und stellte ihm gegen-über fest, »Zigeuner seien artfremd und seien bezüglich der Ausnahme-gesetze in gleicher Weise wie Juden zu behandeln«. Hier würde es sich, sicherlich wieder um eine der üblichen »Mogelversuche« handeln, um – wie schon bei vielen Judenabkömmlingen – zu versuchen, sie im Heer verschwinden zu lassen. Er beklagte, dass dieser Einsatz für Mischlinge und ähnliche Personengruppen allmählich unangemessen sei und er mit dem Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Wilhelm Keitel, darü-ber sprechen werde.32

Am 3. Dezember 1942 schaltete sich Bormann energisch in die Dis-kussion um das Schicksal der Zigeuner ein. Er schrieb Himmler, er sei davon unterrichtet worden, dass die Behandlung der sogenannten »reinrassigen Zigeuner« im Reich neu geregelt werden solle. »Diese Zigeuner – mit Ausnahme der sogenannten Roma-Zigeuner – sollen die Erlaubnis erhalten, ›Sprache, Ritus und Brauchtum‹ zu pflegen, sollen sogar frei im Lande herumziehen und gegebenenfalls in besonderen Ein-heiten der Wehrmacht den Wehrdienst ableisten dürfen.« Diese Son-derbehandlung sei gerechtfertigt, weil sie sich im Allgemeinen nicht asozial verhalten hätten und in ihrem Kult wertvolles germanisches Brauchtum überliefert sei, das erforscht werden müsse. Entschieden wandte sich Bormann gegen solche Pläne und verschanzte sich hinter Hitler: »Auch der Führer würde es nicht billigen, wenn man einem Teil der Zigeuner seine alten Freiheiten wiedergäbe.«33

Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hatte die Wehrmacht ihr Vorgehen gegen Juden und »Mischlinge« verschärft. Wilhelm Kei-

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Verschärfter Kurs der Wehrmacht 235

tel, Generalfeldmarschall und Chef des Oberkommandos der Wehr-macht, erteilte am 8. April 1940 den »Befehl zur Behandlung von jüdi-schen Mischlingen in der Wehrmacht«:

1. Jüdische Mischlinge oder Männer, die mit 50%igen jüdischen Mischlingen oder Jüdinnen verheiratet sind, sind je nach Lebensalter der Ersatzreserve II bzw. der Landwehr II zu überschreiben, jedoch mit dem jeweiligen Zusatz »n.z.v.« (nicht zu verwenden), um sie von den übrigen Wehrpflichtigen dieser Kategorien grundsätzlich zu unterscheiden.

Ausgenommen hiervon sind Offiziere, die aufgrund der Führerentschei-dung in der Friedenswehrmacht verblieben sind.

In besonders gelagerten Fällen hält sich der Führer Ausnahmen vor, die über OKW zu beantragen sind.

2. 25%ige Mischlinge und Wehrmachtsangehörige, die mit 25%igen Misch-lingen verheiratet sind, verbleiben in der Wehrmacht und können während des Krieges ausnahmsweise befördert und als Vorgesetzte verwendet wer-den, wenn eine besondere Bewährung erwiesen ist. (…)

Der Beförderungs- bzw. Wiedereinstellungsantrag ist dem Führer über OKW zur Entscheidung vorzulegen.34

Das heißt: Jüdische »Mischlinge« oder »jüdisch Versippte« wurden sehr wohl gemustert und eingezogen, galten allerdings nicht mehr als vollwertige Soldaten. Andererseits entschied Hitler aber, dass »diejeni-gen Mischlinge, die infolge persönlicher Tapferkeit vor dem Feind mit Kriegsauszeichnungen bedacht oder befördert wurden, für deutschblü-tig zu erklären« waren.35

Nach einer Übersicht des Oberkommandos der Wehrmacht galten zusammenfassend diese Bestimmungen über die deutschblütige Abstammung beziehungsweise das Verbleiben oder Entfernen von Angehörigen mit jüdischen Blutsanteilen in der Wehrmacht. Wesentli-che Grundlagen hierfür waren die Befehle OKW–WZ II/J – Nr. 651/39 vom 15. März 1939, OKW 121 10–20 J, Ic – Nr. 524/40 vom 8. April 1940 sowie der Befehl 6840/41 des Oberkommandos des Heeres vom 16. Juli 1941:

1. Mischlinge 1. Grades (50%) oder Wehrmachtsangehörige, die mit 50%igen jüdischen Mischlingen verheiratet sind und bei denen nicht die Genehmi-

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gung des Führers auf Belassung vorliegt, sind aus der Wehrmacht zu entlas-sen. Gnadengesuche sind nicht mehr vorzulegen.

2. Mischlinge 2. Grades (25%) oder Wehrmachtsangehörige, die mit 25%igen jüdischen Mischlingen verheiratet sind, dürfen ohne Genehmigung des Führers nicht Vorgesetzte sein. Anträge auf Ausnahmegenehmigung sind P 2 einzureichen. Voraussetzung ist Feindbewährung und Besitz von Tap-ferkeitsauszeichnungen aus diesem Kriege bzw. besondere Verdienste um Partei und Staat. Berufssoldaten oder deren Ehefrauen dürfen auch in wei-ter zurückliegender Geschlechterfolge nicht jüdisch versippt sein. Deutsch-blütigkeitserklärungen werden vom Führer während des Krieges nicht erteilt, Ausnahmen lediglich nachträglich für Gefallene und Versehrte der Stufe III und für akt. Wehrmachtsangehörige.

3. Zigeuner oder Zigeunermischlinge, die von den Zigeunerlisten der Staats-polizeistellen erfasst sind, sind zu unterlassen.36

Halbjuden wurden der Ersatzreserve II oder der Landwehr II zugewie-sen, Vierteljuden hingegen verblieben in der Wehrmacht und konnten während des Kriegs ausnahmsweise befördert werden.37 Ebenfalls war es möglich, halbjüdische ehemalige Offiziere, Unteroffiziere und Beamte im Krieg zu verwenden. Diese Bestimmungen galten auch für alle, die mit Halb- oder Vierteljuden verheiratet waren. Alle Kann-Bestimmun-gen und Ausnahmefälle mussten von Hitler persönlich genehmigt wer-den. Bei dessen Entscheidungen spielten die in den Anträgen beizufü-genden Fotos eine wichtige Rolle. Hatte Hitler nichts zu bemängeln, war ein Gnadenakt wahrscheinlich.

Mit dem Erlass des OKW vom 25. September 1942 trat nach Hitlers Entscheidung jedoch eine wesentliche Verschärfung in der Behandlung von halbjüdischen Angehörigen der Wehrmacht in Kraft. Gesuche auf Ausnahmebehandlung durften nicht mehr gestellt werden, bereits vor-liegende wurden unbearbeitet zurückgegeben. Halbjüdische Wehr-machtsangehörige, die zu dieser Zeit noch keine Ausnahmegenehmi-gung Hitlers besaßen, wurden sofort aus der Wehrmacht entlassen.

Selbst kurz vor dem völligen Zusammenbruch Deutschlands gab die Wehrmacht noch Befehle zum Umgang mit Juden und »Mischlingen« heraus. Am 3. Januar 1945 erließ der Chef des Heerespersonalamts, Generalleutnant Wilhelm Burgdorf, diese »Arbeitsrichtlinie«:

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»Mischlinge« auch in Himmlers SS 237

Offiziere, welche selbst jüdische Mischlinge (25%ige oder darunter) oder mit solchen Mischlingen verheiratet sind und mit Ausnahmegenehmigung des Führers im aktiven Wehrdienst weiterverwendet werden, sind, um das Hineinwachsen in Spitzenstellungen unter allen Umständen zu vermeiden, grundsätzlich nach Erreichen des Dienstgrades Oberst in der Beförderung zu sperren.

Die Überwachung erfolgt durch Ag P 2/3b; durchgeführte Beförde-rungssperren sind dieser mitzuteilen.38

»Mischlinge« auch in Himmlers SS

Weitgehend unbekannt und eher überraschend ist, dass selbst Judenhas-ser Heinrich Himmler als Reichsführer-SS innerhalb der SS Angehörige mit jüdischer Abstammung duldete. Dafür stehen SS-Rottenführer Fritz Katzenstein sowie SS-Obersturmführer Julius und Rolf Sütterlin. Die drei hatten den um 1663 geborenen Juden Abraham Reinau als gemein-samen Vorfahren und wären damit eigentlich für die SS untragbar gewe-sen, auch wenn sich Reinau 1685 hatte taufen lassen. Der Chef des Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS, SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS Richard Hildebrandt, nahm dazu am 1. Dezem-ber 1943 gegenüber seinem Chef Himmler Stellung. Katzenstein hatte sich »im Felde« gut bewährt, das Eiserne Kreuz II. Klasse, das Infante-rie-Sturmabzeichen, die Ostmedaille sowie das Verwundetenabzeichen erhalten und konnte laut Hildebrandt »rassisch als nordisch-fälisch angesprochen werden«. Er habe daher Bedenken, ihn »wegen dieser weit zurückliegenden jüdischen Abstammung aus der SS zu entfernen«. Das Gleiche galt für die SS-Obersturmführer Julius und Rolf Sütterlin, die »rassisch gesehen«, einen »guten Eindruck« machten. »Keines-falls ist im Erscheinungsbild der ahnentafelmäßig feststellbare jüdische Bluteinschlag festzustellen«, befand Hildebrandt. Zugleich kritisierte er, dass über die von Himmler festgelegte Grenze von 1750 hinaus SS-Angehörige entlassen würden, wenn es aus der Zeit zuvor jüdische Vor-fahren gebe.

Er regte an, den Ahnennachweis auf sechs Generationen zu beschrän-ken und »falls vorher noch jüdisches Blut nachweisbar ist, durch rassi-sche Musterung bzw. charakterliche Beurteilung durch Vorgesetzte und

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238 Die Wehrmacht und die »Judenfrage«

Bürgen zu entscheiden, ob der Betreffende in der SS verbleiben kann oder nicht«. Er sei der Meinung, »dass das Ausmendeln des jüdischen Blutes wahrscheinlich ist, wenn sich durch solche rassischen und charakterlichen Beurteilungen keine jüdischen Züge mehr nachweisen« ließen.39

Himmler schloss sich den Überlegungen Hildebrandts teilweise an und erlaubte den drei, »auf eigene Verantwortung« zu heiraten; zugleich verlangte er Wiedervorlage der Akten »nach dem Krieg«.40 Kinder aus diesen Ehen dürften jedoch nicht in die SS aufgenommen werden.

Gesonderte Einheiten für jüdische »Mischlinge«

Himmler selbst hatte vor, »Mischlinge« und »jüdisch Versippte« ein-ziehen zu lassen, allerdings sollten sie in gesonderten Einheiten zusam-mengefasst und isoliert werden. In einem geheimen Vermerk an Walter Tießler wurde jedoch gefragt, ob der Reichsführer-SS »aufgrund der Vorkommnisse in Warschau auch jetzt noch mit einer Zusammenfas-sung des oben genannten Personenkreises zu besonderen Einheiten ein-verstanden ist«. Mit den »Vorkommnissen« war der Aufstand der Juden im Warschauer Ghetto gegen ihre Deportation in Vernichtungs-lager gemeint, den vor allem Einheiten der SS am 16. Mai 1943 blutig niedergeschlagen hatten. Offensichtlich hatte dieser Aufstand der NS-Führung zu denken gegeben. Sobald das Reichssicherheitshauptamt geklärt habe, wie viele »Mischlinge 1. Grades und jüdisch Versippte« überhaupt infrage kämen, solle die Partei-Kanzlei der NSDAP Weiteres veranlassen, hieß es dann abschließend in dem Vermerk.41

Derartige Einheiten wurden zwar im »Dritten Reich« nicht gebil-det, doch ordnete Hitler an, dass

Mischlinge 1. Grades und jüdisch Versippte aus dem Betrieb herausgenom-men werden. Sie werden von der Wehrmacht gezogen und in Form von Arbeitsbataillonen bei Aufräumungsarbeiten in bombengeschädigten Gebieten unter Wehrmachtsaufsicht eingesetzt werden. Bei Vorbestraften, Entmannten, Zigeunern, Hundertfünfundsiebzigern etc. ist noch kein Ent-scheid getroffen, da dies eine rein sicherheitspolitische Angelegenheit ist.42

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Gesonderte Einheiten für jüdische »Mischlinge« 239

Solche jüdischen Arbeitsbataillone gab es u. a. in einigen mit Deutsch-land verbündeten Staaten in Südosteuropa – vor allem Bulgarien, Rumä-nien, der Slowakei und Ungarn.43

Diese wandernden Zwangsarbeitslager für Juden wurden während des Zweiten Weltkriegs im Rahmen antisemitischer Maßnahmen der jeweiligen nationalen Regierungen gebildet und waren diesen unter-stellt. Bei der Bildung der Bataillone beziehungsweise der Gestaltung der Haft- und Arbeitsbedingungen spielten aber auch rassenideologische und militärstrategische Interessen der deutschen Führung eine Rolle. Von deutscher Seite wurde entsprechend Druck auf die betreffenden Regierungen ausgeübt. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen in den jüdischen Arbeitsbataillonen in Bulgarien, Rumänien, der Slowakei und Ungarn unterschieden sich stark voneinander. Sie hingen von der unter-schiedlichen Stärke des in den amtlichen Stellen und in der Bevölkerung ausgeprägten Antisemitismus sowie vom jeweiligen Einfluss des NS-Staates auf die jeweiligen Regierungen ab.

Nachdem Bulgarien etwa 12 000 Juden aus den bulgarisch besetzten Gebieten sowie etwa 8000 bulgarische Jüdinnen und Juden im März 1943 zur Vernichtung an die Deutschen ausgeliefert hatte, wurden wei-tere Deportationen aufgrund von Protesten aus der Bevölkerung einge-stellt. Dennoch war die jüdische Bevölkerung zwischen Anfang 1941 und dem Einmarsch der Roten Armee im September 1944 zunehmend antisemitischen Entrechtungs- und Verfolgungsmaßnahmen der bulga-rischen Regierung ausgesetzt. Nachdem jüdische Männer – zunächst zwischen zwanzig und vierzig Jahren, später auch Ältere – bereits Anfang 1941 zum Arbeitsdienst in der bulgarischen Armee verpflichtet worden waren, wurden im August 1941 auf deutschen Druck hin spezi-elle Arbeitsbataillone für Juden gebildet. Diese waren dem bulgarischen Ministerium für öffentliche Arbeiten, Straßen und Städtebau unter-stellt. Sie waren bei unzureichender Verpflegung und Unterbringung und fehlender medizinischer Versorgung in bewachten Lagern unterge-bracht, wurden zu körperlicher Schwerstarbeit im Straßen- und Eisen-bahnbau zur Sicherung der deutschen Versorgungswege, beim Holzfäl-len und bei Befestigungs- und Entwässerungsarbeiten gezwungen. Viele kamen aufgrund der auszehrenden Arbeit ums Leben. Zwischen August 1941 und September 1944 gab es über hundert wandernde Zwangsar-beitslager, die meisten auf bulgarischem Territorium, einige auch in den

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von Bulgarien besetzten Gebieten Jugoslawiens und Griechenlands. Im Zuge des Einmarschs der Roten Armee in Bulgarien wurden die jüdi-schen Arbeitsbataillone aufgelöst.

Die Zahl der zwischen 1941 und 1944 dort eingesetzten jüdischen Männer wird auf bis zu 15 000 geschätzt. In Rumänien waren bereits 1938 die ersten antisemitischen Gesetze erlassen worden. Ende 1940 wurden Juden aus der Armee ausgeschlossen und jüdische Männer im Alter zwischen achtzehn und fünfzig zum Arbeitsdienst verpflichtet. Später wurden auch jüdische Jugendliche und Frauen zur Zwangsarbeit eingesetzt. Ab 1941 übte die deutsche Führung zunehmend Einfluss auf die antisemitischen Maßnahmen des mit Deutschland verbündeten rumänischen Staates aus. Vor dem Hintergrund der von Rumänen und Deutschen gemeinsam verübten Massenmorde an der jüdischen Bevöl-kerung in Bessarabien und der Bukowina und der Vertreibung von Hun-derttausenden Juden in das von Rumänien annektierte Transnistrien verschlimmerte sich auch die Situation der jüdischen Zwangsarbeiter auf rumänischem Gebiet. So musste ein großer Teil der Männer in vom rumänischen Militär bewachten Arbeitsbataillonen schwerste Zwangs-arbeit im Eisenbahnbau, in Steinbrüchen und bei der Flussbegradigung leisten. Medizinische Versorgung war höchst notdürftig vorhanden, ein Teil der Inhaftierten besaß kaum Kleidung, Schläge und drakonische Lagerstrafen waren an der Tagesordnung. Nach dem Übertritt Rumäni-ens auf die Seite der Alliierten wurden diese Bataillone im August 1944 aufgelöst.

In der Slowakei waren der slowakischen Armee ab einem nicht näher bekannten Zeitpunkt neben einer Sträflingskompanie und einer Kom-panie für »Zigeuner« auch drei Arbeitskompanien für Juden zugeord-net. Circa tausend jüdische Zwangsarbeiter waren in der Westslowakei und zeitweilig auch im besetzten Polen zur Zwangsarbeit bei Entwässe-rungsbauten und Ausschachtungsarbeiten sowie im Straßenbau einge-setzt. Ihre Unterbringung und Verpflegung sowie die hygienischen Bedingungen in den Lagern waren mangelhaft. Im Gegensatz zu den Inhaftierten anderer Zwangslager für Juden in der Slowakei waren die Angehörigen der Arbeitskompanien durch ihren Arbeitseinsatz jedoch zumindest vor den bis Oktober 1942 durchgeführten Deportationen und damit vor der systematischen Ermordung geschützt. Im Mai 1943 wurden die jüdischen Arbeitskompanien in der Slowakei aufgelöst und

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Einschränkung der Ausnahmegenehmigungen 241

die Angehörigen in die slowakischen Zwangslager für Juden deportiert, die bis Oktober 1942 der Deportationsvorbereitung gedient hatten und die von den Deutschen nach der Besetzung der Slowakei ab September 1944 als Sammellager für Deportationen genutzt wurden.

In Ungarn bestand bereits seit August 1940 eine Arbeitspflicht für jüdische Männer im wehrpflichtigen Alter. Später wurden die Alters-grenzen zunehmend erweitert und auch jüdische Frauen zur Arbeit ver-pflichtet. Ab 1941 waren jüdische Arbeitsbataillone in Ungarn, 1942/43 auch an der Ostfront sowie 1943/44 in Serbien eingesetzt. Während sich die ungarische Regierung bis zum Einmarsch der Deut-schen im März 1944 den deutschen Forderungen nach Deportation der jüdischen Bevölkerung widersetzte, kamen im gleichen Zeitraum den-noch über 60 000 Juden in Ungarn durch antisemitischen Terror ums Leben. Etwa ein Drittel der Opfer waren Angehörige der jüdischen Arbeitsbataillone.

Einschränkung der Ausnahmegenehmigungen

Hitler war beim Erlassen von »Gnadenerweisen« unberechenbar und durchaus auch von Stimmungen abhängig. In den von Henry Picker auf-gezeichneten Tischgesprächen berichtete er beispielsweise am 1. Juli 1942 von einem gewissen Freiherrn von Liebig, der als streng national gegol-ten habe und deshalb in sein Blickfeld geraten sei. Ihn habe jedoch das ausgesprochen jüdische Aussehen des Mannes abgestoßen. Man habe ihm aber immer wieder versichert, dass dem besonders weit zurückrei-chenden Stammbaum des Freiherrn zufolge keinerlei Anzeichen für einen nichtarischen Blutanteil bei ihm vorlägen. Nun stelle sich durch Zufall heraus, dass eine Urahnin von ihm 1616 in Frankfurt am Main als Tochter volljüdischer Eltern zur Welt gekommen sei.

Über dreihundert Jahre lägen also zwischen der Jüdin und dem heuti-gen Freiherrn von Liebig. Und obwohl er außer dieser Jüdin nur Arier zu seinen Vorfahren zähle, zeige er in seinem Aussehen eindeutig die rassi-schen Merkmale eines Juden. Dies bestätige seine schon bezüglich des Engländers Cripps vertretene Auffassung, »dass sich bei Mischlingen – selbst wenn der jüdische Bluteinfluss noch so gering sei – im Laufe der Generationen immer wieder ein reinrassiger Jude ausmendele. (…) Eine

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weitere Belastung unseres Blutes mit rassisch fremden Elementen sei nicht zu verantworten«.44

An dieser Stelle ist der Hinweis erforderlich, dass es im »Dritten Reich« und selbst bei der SS Funktionäre gab, die Hitlers Thesen vom »Ausmendeln« widersprachen. Zu ihnen gehörte SS-Standartenführer Bruno Kurt Schultz, der das Rasseamt im Rasse- und Siedlungshaupt-amt (RuSHA) leitete. Er erdreistete sich, am 12. November 1943 in einem Papier Hitlers Ansichten zu widerlegen. Hinsichtlich der 9. zurückliegenden Generation kam er zu folgendem Ergebnis:

Die Zahl der den Juden speziell auszeichnenden Erbanlagen ist jedenfalls wesentlich kleiner und wird vermutlich nur in einzelnen Chromosomen lokalisiert sein. Es kann daher, wenn die fremdrassige Beimischung so weit zurückliegt, eine Belastung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlich-keit ausgeschlossen werden, wenn diese Personen selbst sowie ihre nächsten Vorfahren hinsichtlich des rassischen Erscheinungsbildes, ihrer charakterli-chen Veranlagung und in ihrer Lebensbewährung keinerlei Anhaltspunkte für jüdische Wesensart und jüdisches Aussehen bieten.

In diesem Fall sind die betreffenden Personen mit vollem Recht als frei von jüdischer Belastung anzusehen und verdienen dementsprechende Behandlung.45

Dies bedeutet allerdings nicht, dass Schultz die Rassenpolitik der Nati-onalsozialisten grundsätzlich anzweifelte. Im Gegenteil. Er verlangte sogar »Mischlinge 2. Grades« nicht ausnahmslos den Deutschblütigen zuzuordnen, »sondern dieselben einer rassischen Sichtung durch das Rasse- und Siedlungshauptamt-SS zu unterziehen« und sie gegebenen-falls den »Mischlingen 1. Grades« gleichzustellen.46

Hitler dürfte solche Überlegungen nicht gekannt oder ernst genommen haben. Er hielt an seiner Überzeugung fest, Ausnahmegenehmigungen für »Mischlinge« seien auf ein Minimum zu beschränken. In dieser Phase des Tischgesprächs brachte eine Ordonanz eine Notiz Bormanns herein: »Dr. Picker, besonders genau und ausführlich aufschreiben, was der Führer über Behandlung und Gefährlichkeit unserer jüdischen Mischlinge sagt, warum diese Mischlinge nicht in Wehrmacht und nicht gleichgestellt werden sollen.«

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Einschränkung der Ausnahmegenehmigungen 243

Picker merkte später dazu an, dass 1939 die Statistik im Deutschen Reich nur 72 738 jüdische »Mischlinge 1. Grades« (mit zwei jüdischen Großeltern) und 42 811 jüdische »Mischlinge 2. Grades« (mit einem jüdischen Großelternteil) aufgewiesen habe. Aber es habe einen Ausweg gegeben, den auch er bei seinen Bekannten mit Erfolg gegangen sei:

Man ließ die Betroffenen zur Wehrmacht einziehen und beantragte dann ihre Gleichstellung mit Deutschblütigen. Das Mischlingsreferat des FHqu., d.h. Hitlers Heeresadjutant [Gerhard] Engel, stempelte im Schnellverfahren fast alle ihm vorgelegten Wehrmachtsfälle als genehmigt ab, womit die Belästigungen und Beschränkungen für die Betroffenen schlagartig aufhör-ten. (…) Hitler murrte natürlich über diese Handhabung des Problems durch Engel und versuchte, ihm dienstlich und bei Tisch eine härtere Ver-fahrensweise beizubringen, ohne ihm einen ausdrücklichen dienstlichen Befehl zu erteilen.47

Mit einem Erlass des Oberkommandos der Wehrmacht vom 25. Sep-tember 1942, einem absoluten Vorlagestopp, habe Hitler Engels großzü-giger Mischlingspraxis dann ein Ende bereitet.

Picker schönte hier zweifellos die Geschichte, denn so einfach war es nicht, die begehrte »Deutschblütigkeitsbescheinigung« zu bekommen, zumal auch nicht alle Offiziere und Soldaten die Gelegenheit hatten, sich direkt an Hitlers Heeresadjutanten zu wenden.

Dennoch: Gerhard Engel nutzte seine Möglichkeiten, um Menschen zu helfen. Am 28. Mai 1942 notierte er:

Schm.48 lässt mich kommen und bereitet mich darauf vor, dass F. künftig ganz andere Maßstäbe an die Bearbeitung der Mischlingsgesuche zwecks Belassung im Wehrdienst zu legen gedenke. Ich habe das Referat von Anfang an und eine ganz schöne Erfolgsserie aufzuweisen. Hunderte von 50%igen, 25%igen und im Einzelnen sogar 75%igen konnten sich durch Sonderge-nehmigung ins Heer retten und dort bleiben. Das ist nun wohl einer Anzahl von Gau- und Kreisleitungen aufgefallen, als man die 50%igen erfassen und registrieren wolle. Ich sprach mit Frey49 vom OKW darüber, der genauso unglücklich ist wie ich. Wir vertauschten manches Bild aus »Versehen« und halfen, wo wir nur konnten.50

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Nur zwei Tage später verdüsterte sich das Bild. Engel brachte am 30. Mai 1942 zu Papier:

Habe wieder neue Gesuche zur Ausnahmegenehmigung vorgelegt und war-tete darauf, was F. sagen würde. F. ist sehr scharf, spricht von Mogelversu-chen. Künftig würden derartige Gesuche von der Partei-Kanzlei geprüft werden und müssten zur Gegenzeichnung dem Chef OKW vorgelegt wer-den.

Das durfte nicht sein. Ich versuchte, noch eine Lanze für Weltkriegsteil-nehmer und diejenigen zu brechen, die in diesem Krieg schon Frontbewäh-rung hatten. Aber es war ratsam, bei der augenblicklichen Einstellung von F. nicht weiterzugehen. Bin mit meiner Weisheit am Ende und weiß gar nicht, was man machen kann. Denke an den Reichsmarschall, der hier schon immer großzügig war.51

Die »Mischlingsthematik« stand am 28. Mai 1942 auf der Tagesord-nung. Schmundt unterrichtete Heeresadjutant Engel, dass Hitler »künf-tig ganz andere Maßstäbe an die Bearbeitung der Mischlingsgesuche zwecks Belassung im Wehrdienst zu legen gedenke«.52 Engel nahm in diesem Zusammenhang für sein Referat in Anspruch, »von Anfang an eine ganz schöne Erfolgs-Serie« aufweisen zu können. Das war nun offenbar einer Anzahl von Gau- und Kreisleitungen aufgefallen, als man die 50%igen »Mischlinge« erfassen und registrieren wollte.

Am 30. Mai 1942 legte Engel Hitler neue Gesuche um Ausnahme-genehmigungen vor, doch der reagierte scharf und sprach von »Mogel-versuchen«.53 Engel unternahm zwar noch einen Versuch, sich für Weltkriegsteilnehmer und aktive, an der Front stehende Offiziere einzu-setzen, hielt es aber »bei der augenblicklichen Einstellung von F.« für ratsam, nicht zu insistieren.

Schmundt deutete in wenigen Zeilen am 31. Oktober 1942 an, dass auch die Wehrmacht schärfer gegen jeglichen jüdischen Einfluss vorge-hen werde.

In seinem Tagebuch ist dazu zu lesen:

Mehrere Vorfälle gaben Veranlassung, auf die Einstellung der Offiziere zum Judentum als einen entscheidenden Teil der nat. soz. Haltung des Offiziers

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Einschränkung der Ausnahmegenehmigungen 245

eindeutig hinzuweisen. Eine entsprechende Verfügung, die den einzuneh-menden Standpunkt klarstellt, wird durch die Ag P 2 herausgegeben.54

Am 2. Januar 1944 hielt Schmundt dann fest, dass eine Liste aufgestellt werden würde, auf der alle Offiziere enthalten sein sollten, die selbst 25- oder 50-prozentige »Mischlinge« beziehungsweise mit solchen verhei-ratet waren.55 Verbunden damit wurde innerhalb des Heerespersonalamts eine Arbeitsbestimmung erlassen, die besagte, »dass diese Offiziere in Zukunft nicht in maßgeblichen Stellen Verwendung finden dürfen und bei älteren, sofern diese Voraussetzungen geben sind, die Verabschiedung vorzubereiten ist«. Ähnlich ging der Reichsführer-SS Himmler vor. Auch er bereitete sich auf die Entlassung aller »Mischlinge« und »jüdisch Versippten« vor und ordnete daher laut einem Vermerk für SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS Richard Hildebrandt an, »dass in der Polizei-Adjutantur eine Sonderkartei angelegt wird, in der alle die Offiziere und ihre Angehörigen, die gleichgestellt worden sind, erfasst sind«.56

Engels obige Notizen passen zu den Inhalten der Tischgespräche, die Henry Picker festgehalten hatte. Für die Zulassung von »Mischlingen« zum Wehrdienst beziehungsweise für ihren Einsatz als Vorgesetzte ist beispielsweise ein Tischgespräch Hitlers vom 10. Mai 1942 erhellend. Beim Nachmittags-Geburtstagstee für General Alfred Jodl meinte Hit-ler, »er bedauere die vielen Ausnahmen, die die Wehrmacht bei der Einstellung fünfzigprozentiger Juden-Mischlinge mache. Denn die Erfahrung beweise, dass aus diesen Judennachkommen doch vier, fünf, sechs Generationen lang immer wieder reine Juden ausmendelten. Diese ausgemendelten Juden bedeuten eine große Gefahr. Er werde jetzt grundsätzlich nur noch in ganz besonderen Fällen Ausnahmen zulassen«.57

Hitler schien nicht immer so gedacht zu haben. Denn sein Heeresad-jutant Engel hielt in seinen Notizen am 13. August 1938 unter dem Stichwort »Mischlinge« fest: »F. sprach in kleinem Kreis wiederum über die Nürnberger Gesetze und die sich daraus ergebenden Folgen. Wenn er es sich rückläufig überlege, seien diese Gesetze eigentlich viel zu human gewesen.« Man habe zwar die Juden aus dem staatlichen Bereich entfernt, nicht aber aus dem Wirtschaftsleben, und gerade das liege ihnen besonders. Problematisch sei noch immer die Frage der vielen

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246 Die Wehrmacht und die »Judenfrage«

Mischehen, der »Versippten« also. Er wisse noch gar nicht, wie er das Problem lösen solle:

Manches täte ihm leid, denn man kann sagen, was man wolle, es habe im Weltkrieg auch tapfere jüdische Soldaten, ja sogar Offiziere gegeben. Bei denen kann man ja eine Ausnahme machen, denn die Kinder könnten ja nichts dafür. In jedem Falle aber behielt er bei Mischehen die Belassung im Staatsdienst und in der Wehrmacht vor. Ausschlaggebend hierfür sei die festzustellende Haltung zum Staat, doch vor allem das rassische Aussehen. Im Übrigen ginge er in diesem Falle nur bis zu 50% Prozent Mischblut, was darüber sei, sei von Übel und könne nicht berücksichtigt werden. Wegen der zahlreichen jüdisch versippten Offiziere kam ich mit F. ins Gespräch und konnte eine ganze Anzahl Fälle aufführen, in denen wirklich tragische Umstände eine Rolle spielten. Ich merkte, dass er das nicht gerne hörte; er versprach aber in jedem Fall Prüfung.58

Wozu »Prüfungen« auch führen konnten, sei an dem Beispiel von Obersturmbannführer Wiehler dargestellt, der in der SS-Bosniaken-Division diente. Bei ihm hatte sich herausgestellt, dass es in der Ahnen-reihe seiner Frau im 18. Jahrhundert einen Juden gab. Himmler erlaubte ihm am 25. November 1943 dennoch, in der SS zu bleiben, er müsse sich jedoch darüber im Klaren sein, dass keines seiner Kinder in der SS die-nen oder keine seiner Töchter einen SS-Mann heiraten dürfe.59 Aber auch Eheschließungen mit »Mischlingen« sollte es für Wehrmachtsan-gehörige nicht mehr geben. Am 28. September 1944 gab das Oberkom-mando der Wehrmacht die Anordnung Hitlers bekannt, »dass in Zukunft eine Heirat mit Mischlingen für Wehrmachtsangehörige grundsätzlich verboten ist«.60 Ausnahmeanträge sollten erst gar nicht mehr vorgelegt, geschweige denn bearbeitet werden. Es wurde sogar befohlen, dass Zug um Zug alle Offiziere, die sich in besonderer Stellung befanden und unter diese Bestimmungen fielen, zu entlassen waren.

Die Liste »auszusondernder« Offiziere hatten die Amtsgruppen P 1 und P 2 im Heerespersonalamt zu erstellen. Oberst Georg Erdmann, der die Amtsgruppe IV in P 2 leitete, sandte sie am 11. Januar 1944 an die zuständigen Stellen weiter. Auf ihr befanden sich die Namen von 77 Offizieren, darunter zwölf Generäle, die selbst »Mischlinge« waren oder mit »Mischlingen« verheiratet waren.61 Steiner und von Cornberg

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Hauptsache Protektion 247

weisen aber darauf hin, dass es sich nicht immer um Gleichstellungen mit Deutschblütigen gehandelt haben muss.62 Vielmehr habe das Ober-kommando der Wehrmacht in einer Anmerkung zu der Liste betont, dass möglicherweise nicht alle in den ersten Jahren nach 1935 erfolgten Gleichstellungen erfasst seien.

Hauptsache Protektion

In der Wehrmacht war es – wie in allen anderen Bereichen des »Dritten Reichs« auch – wichtig, einflussreiche Fürsprecher zu haben. Die einen wurden dank des Einsatzes von Propagandaminister Goebbels als »uk« (unabkömmlich) gestellt und brauchten keinen Kriegsdienst zu leisten. Andere aber legten es geradezu darauf an, die Uniform anziehen zu kön-nen, denn dort fühlten sich die rassisch verfolgten »Mischlinge« und »jüdisch Versippten« einigermaßen sicher, wie die folgenden Fälle zei-gen.

Hans Pfundtner

Staatssekretär Hans Pfundtner korrespondierte mit Fritz Todt, dem damaligen Generalinspektor für das deutsche Straßenwesen, über die Gleichstellung mit »Deutschblütigen«. Todt hatte sich für August Ganghofer eingesetzt, und im Reichsministerium des Innern befasste sich Pfundtner mit dem Fall. In der Angelegenheit Ganghofer habe man bereits im Februar dem Stellvertreter des Führers mitgeteilt,

dass wir, seine Zustimmung vorausgesetzt, die Reichsstelle für Sippenfor-schung zur Erteilung eines die deutschblütige Abstammung bestätigenden Abstammungsbescheides anweisen würden. Andernfalls wäre ein Verfahren auf Befreiung im Gnadenwege von den für nicht deutschblütige Personen geltenden Einschränkungen einzuleiten. Der Stellvertreter des Führers hat daraufhin durch Schreiben vom 17. April d. J. den ersten Weg für nicht gangbar erklärt, sich dagegen auch für einen Gnadenerweis durch den Füh-rer ausgesprochen, den er über die Kanzlei des Führers erwirken wolle. (…) Vorstehende Auskünfte bitte ich als nur für Ihre Person bestimmt zu betrachten.63

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248 Die Wehrmacht und die »Judenfrage«

Am 27. Oktober 1937 erhielt Ganghofer dann die ersehnte »Deutsch-blütigkeitserklärung«. »Nach Vortrag des Chefs der Kanzlei des Füh-rers der NSDAP habe ich auf dem Gnadenweg entschieden, dass ihre sowie ihrer Geschwister Nachkommen trotz nicht einwandfrei geklärter Abstammung als arisch im Sinne der Vorschriften der NSDAP sowie der reichgesetzlichen Bestimmungen zu gelten haben«, lautete die von Hit-ler unterzeichnete Verfügung.64

Gobert von Sternbach65

Der Österreicher diente in der k. u. k.-Armee, wurde nach dem »An-schluss« der Alpenrepublik am 31. Mai 1938 in die Wehrmacht über-nommen und stand bald an der Spitze einer Batterie des I. Gebirgs-Artillerie-Regiments 79 in Bad Reichenhall. Doch seine militärische Karriere schien am Ende zu sein, als der Offizier Maria von Edelmann heiratete. Bei der Überprüfung ihrer Abstammung stellte sich nämlich heraus, dass die Braut ein »jüdischer Mischling mit einem der Rasse nach volljüdischem Großelternteil« war. Der Direktor der Reichsstelle für Sippenforschung stellte am 20. Dezember 1939 in einem »Gutach-ten« fest, dass die Großmutter väterlicherseits der Maria von Edelmann Tochter jüdischer Eheleute aus Hamburg war. Die Nachforschungen hatten ferner ergeben, dass der Vater der Großmutter väterlicherseits Sohn jüdischer Eltern – ebenfalls aus Hamburg – und die Mutter der Großmutter väterlicherseits Tochter jüdischer Eheleute war. Die drei anderen Großelternteile waren »deutschblütig«.66 Damit galt die Braut als »Mischling«, und ein Offizier der Wehrmacht konnte eigentlich nicht damit rechnen, die erforderliche Heiratserlaubnis zu bekommen.

Offensichtlich in Unkenntnis dieser Abstammungsergebnisse hatte das Oberkommando der Wehrmacht jedoch im Dezember 1939 die Genehmigung zur Heirat erteilt, woraufhin die Hochzeit im Januar 1940 stattfinden sollte. Doch Sternbachs Regimentskommandeur war augenscheinlich ein NS-treuer Rassenfanatiker. Durch sein Eingreifen musste die Hochzeit vorerst abgesagt werden.67

Damit nicht genug: Am 3. April 1940 wurde die Heiratsgenehmi-gung für ungültig erklärt, doch Sternbach und seine Verlobte gaben nicht auf. Maria von Edelmann wandte sich Hilfe suchend an die »Adjutantur der Wehrmacht beim Führer«, und ausgerechnet hier

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Hauptsache Protektion 249

stieß sie auf offene Ohren. Am 14. Januar 1941 musste das OKW/OKH der Heerespersonalabteilung ein Fernschreiben schicken, dem zufolge die Braut »von der Adjutantur der Wehrmacht beim Führer Verständi-gung erhalten habe, dass der Heirat nichts im Wege steht«.68 In dem »Führerentscheid« hieß es:

Der Führer hat entschieden, dass

Fräulein

Maritschi von Edelmann

in Nahoschitz, Post Blisowa (Sudentengau), geboren am 14. Januar 1916 in Wien, als deutschblütig im Sinne der deutschen Rassengesetzgebung und der hierzu erlassenen Gesetze mit allen sich daraus ergebenden Rechten und Pflichten zu gelten hat.

Berlin, 31. Januar 194169

Es ist nicht bekannt, ob Hitler sich tatsächlich mit der Angelegenheit befasst hatte. Auf jeden Fall aber folgte er der Empfehlung der Wehr-machts-Adjutantur und stellte damit Sternbachs Kommandeur wie auch die Reichsstelle für Sippenforschung gleichermaßen bloß.

Ernst Bloch70

Dass die »Gleichstellung mit Deutschblütigen« durch Hitler vor Ver-folgung nicht schützte, zeigt das Schicksal des 1898 in Berlin geborenen Offiziers Ernst Bloch. Er war ins Visier des Reichsführers-SS, Heinrich Himmler, geraten, der sich am 15. September 1944 an den Chef des Heerespersonalamts, Generalleutnant Burgdorf, wandte. Unter »betr.: Gleichgestellten jüdischen Mischling 1. Grades Oberstleutnant Dr. Ernst Bloch« forderte Himmler Burgdorf auf – im Schreiben hieß es: »bittet« – »den Oberstleutnant Dr. Ernst Bloch, jüdischer Mischling 1. Grades, zu pensionieren, damit er dem Arbeitseinsatz zugeführt wer-den kann«.

Die Antwort erfolgte durch Burgdorfs Stellvertreter, der am 29. Sep-tember 1944 Himmlers Dienststelle darüber informierte, dass Bloch »im Herbst 1939 durch Führererlass den deutschblütigen Personen

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250 Die Wehrmacht und die »Judenfrage«

uneingeschränkt gleichgestellt worden« war. Seine Frontverwendung erfolge auf eigenen Wunsch am 1. Mai 1943 trotz seiner schweren ent-stellenden Weltkriegsverletzungen. Lapidar hieß es dann: »Die Entlas-sung von Obstlt B. aus dem aktiven Wehrdienst ist angeordnet wor-den.« Offensichtlich konnte Bloch dazu veranlasst werden, seine Entlassung selbst zu beantragen, denn die Wehrmacht kam seinem »Wunsch« nach. Der Chef des Heerespersonalamtes teilte dem inzwi-schen zum Oberst beförderten Offizier am 15. Februar 1945 mit: »Der Führer hat Ihrem Antrag entsprochen und Ihre Entlassung aus dem akti-ven Wehrdienst mit Wirkung vom 31. Januar 1945 verfügt. Es ist mir eine Ehrenpflicht, Ihnen im Auftrag des Führers für die im Krieg und Frieden im Einsatz für Volk und Vaterland geleisteten Dienste zu dan-ken.«

Günther Kessel71

Um Oberstleutnant Günther Kessel ging es in einem Vermerk des Chefs »Ag P 1« des Heerespersonalamtes an die Abteilung »P1 7« vom 9. Januar 1944. Im Haus war eine Liste mit aktiven Offizieren erstellt worden, die »nichtarisch« waren. Auf ihr fand sich auch der Name von Oberstleutnant Günther Kessel, der zu dieser Zeit einen Posten als Sach-bearbeiter im Wehrbezirkskommando Cilli, Steiermark, bekleidete. Es wurde nun um Auskunft ersucht, ob Kessel dort noch tätig war. Wenn dies der Fall war, sollte seine Versetzung ins Feldheer angeordnet wer-den. Dieser Anordnung wurde Folge geleistet, sodass Kessel zum Kom-mandanten O.K. I/268 in Marsch gesetzt wurde. Allerdings neigte sich seine Zeit in der Wehrmacht dennoch dem Ende. Der Chef des Heeres-personalamts entschied am 28. August 1944, dass der Oberstleutnant »für weitere Verwendung in der Wehrmacht nicht mehr in Betracht« komme und zum Jahresende zu entlassen sei. Immerhin sollte Kessel als Sonderregelung weiterhin Uniform tragen dürfen. Ob er dies nach sei-ner Entlassung tatsächlich getan hat, geht aus den erhaltenen Personal-unterlagen nicht hervor.

Die Liste mit »nichtarischen« Offizieren hatte insbesondere den Reichsführer-SS Himmler beschäftigt. Erhalten hatte er sie von SS-Bri-gadeführer Gerhard Klopfer im Braunen Haus in München, dem er am 5. September 1944 schrieb:

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Hauptsache Protektion 251

Lieber Brigadeführer!

Ich danke Ihnen für Ihren Brief vom 21. 8. 1944 mit der sehr interessanten Liste über Berufsoffiziere, welche Deutschblütigen gleichgestellt wurden.72

Diese fünfseitige Liste umfasste rund 80 Namen mit Dienstgrad, Dienststelle und – was für die Nationalsozialisten noch wichtiger war – einer Aufschlüsselung der »Blutsanteile«.

Wolf von Werlhof73

Wie so oft, wollten die Verantwortlichen in Reichswehr beziehungs-weise Wehrmacht nicht dulden, dass einer ihrer Offiziere eine Frau mit jüdischem Blut in den Adern heiratete. Diese bittere Erfahrung mussten der am 16. April 1908 geborene Wolf von Werlhof und seine Braut Erika Schomburgk machen. Noch vor der Eheschließung waren beim Chef des Heerespersonalamts Zweifel über die »arische Abstammung« der Braut aufgekommen. In der Folge wandte sich das Kavalleriekom-mando Dresden am 18. April 1934 an die Inspektion der Kavallerie und forderte sie auf zu prüfen, ob die Großeltern der Braut zu den Juden zu zählen seien. Wieder einmal wurde der Sachverständige für Rassefor-schung beim Reichsministerium des Innern mit der Angelegenheit betraut und kam zu einem Ergebnis, das er am 12. Juni 1934 der Inspek-tion der Kavallerie im Reichswehrministerium zukommen ließ: »Die Braut des Oberleutnants Wolf von Werlhof, Erika Schomburgk, ist nichtarisch«, schrieb er. Der Großvater mütterlicherseits, Bankier Meyer, war der Sohn der jüdischen Eheleute Max und Julie Meyer. Beide gehörten bis zu ihrem Tod der israelitischen Kultusgemeinde an, hatte der Sachverständige herausgefunden.

Entsprechend wurde am 16. Juni 1934 die Eheerlaubnis verweigert, aber von Werlhof beantragte am 19. Oktober 1934 eine Änderung des Bescheids. In einem Fernschreiben an das Heerespersonalamt befürwor-tete der Kommandeur des Reiterregiments Dresden am 30. November 1934 »wärmstens« eine Ausnahmebewilligung, doch schien von Werl-hof darüber nicht informiert worden sein, denn im Dezember 1934 löste er die Verlobung.

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Damit allerdings war die Liebesgeschichte noch nicht beendet. Fast vier Jahre später, am 23. März 1938, befürwortete der Kommandeur der 1. Panzerdivision in Weimar eine Eheschließung und plädierte für die erforderliche Heiratserlaubnis: »Ein Abweichen von den über die Nürnberger Gesetze hinausgehenden Sonderbestimmungen halte ich in vorliegendem Fall für gegeben.« Dieser Haltung schloss sich mit Schrei-ben vom 25. März 1938 nun auch das Heerespersonalamt an. Kurz zuvor hatte Erika Schomburgk als »Mischling 2. Grades« am 23. Feb-ruar 1938 ein Gnadengesuch an Hitler gerichtet und auch den Chef der Reichskanzlei, Hans Heinrich Lammers, darüber informiert. In dem Brief an Hitler hieß es: »Seit 1931 bin ich verlobt mit dem jetzigen Oberleutnant Wolf von Werlhof. Meine Mutter ist durch ihre Abstam-mung Mischling 1. Grades, ich selbst bin Mischling 2. Grades.« Warum Hitler sich erweichen ließ, ist nicht nachvollziehbar. Fest steht jedoch, dass die Adjutantur der Wehrmacht beim Führer und Reichskanzler am 3. Mai 1938 Werlhof, seiner Braut und Werlhofs Regiment mitteilte: »Der Führer und Oberste Befehlshaber der Wehrmacht hat aufgrund der in diesem Falle vorliegenden besonderen Umstände die Genehmi-gung zur Heirat erteilt.«

Hans-Günther von Gersdorff74

Der Fall dieses Offiziers des Jahrgangs 1915 ist symptomatisch für den Einsatz von Verwandten, häufig der Mütter, die nicht hinnehmen woll-ten, dass ihre Angehörigen nun plötzlich als »rassisch« nicht mehr ein-wandfrei gelten sollten. Schon 1934 hatte sich die Reichsstelle für Sippenforschung mit Gersdorff befasst und war in einem Vermerk vom 6. Mai 1934 gegenüber dem 4. Artillerieregiment zu dem Ergebnis gekommen:

Bei der Auslegung des Begriffs »arische Abstammung« ist nicht die Religi-on, sondern die Abstammung, die Rasse, das Blut entscheidend. Die Tatsa-che, dass die Großmutter des Lt. v. G. (Henriette Seligmann) der jüdischen Religionsgemeinschaft nicht angehört hat, und dass die Eltern der Groß-mutter, also die Urgroßeltern, bereits getaufte Christen gewesen sind, genügt sonach nicht, Lt. v. G. als »arisch« anzusehen. Anhand der Abstam-mungsnachweise des Dr. Adolf Leopold Seligmann und seiner Ehefrau

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Hauptsache Protektion 253

Christine, geb. Figdor, muss vielmehr festgestellt werden, ob v. G. von einer der Rasse nach arischen oder jüdischen Großmutter abstammt.

Über ein Jahr später, am 12. Juli 1935 wandte sich der Chef des Heeres-personalamts an die Reichsstelle für Sippenforschung, um für seine Behörde festzustellen, dass

nach diesseitiger Auffassung (…) die Großmutter väterlicherseits des Leut-nants von Gersdorff (Frau Henriette Seligmann) von der Rasse nach jüdi-schen Eltern ab[stammt]. Auch dürfte als erwiesen angesehen sein, dass der Großvater väterlicherseits (Dr. Adolf Seligmann) am 8.1.1815 in Koblenz von jüdischen Eltern abstammt.

Hans-Günther von Gersdorff galt demnach als »nichtarisch«. Der Offizier wurde aufgefordert, aus dem Militärdienst auszuscheiden. Doch ausgerechnet seine Mutter wollte nicht aufgeben. Sie, die zum zweiten Mal geheiratet hatte und nun Maria Fritsch hieß, bat um Audi-enz bei Hitler. Gersdorff reichte hingegen wie verlangt seinen Abschied ein. Dem Gesuch der Mutter wurde natürlich stattgegeben, woraufhin der Chef P des Heerespersonalamts am 27. August 1936 Gersdorff in einem Schreiben noch wissen ließ, dass seine Verwendung im Krieg einer späteren Regelung vorbehalten bleibe.

Zu diesem Zeitpunkt war nicht absehbar, dass der Kampf von Maria Fritsch von Erfolg gekrönt sein könnte. Doch ihre Hartnäckigkeit führte zum Ziel. Weniger durch ihre ständigen Interventionen bei General-oberst von Blomberg als vielmehr ausgerechnet durch die Adjutantur der Wehrmacht beim Reichskanzler und Führer. Von dort kam am 5. April 1940 die befreiende Nachricht:

Ich genehmige ausnahmsweise die Wiedereinstellung des Leutnants a.D. Hans von Gersdorff. Ich entscheide hiermit, dass der Leutnant a.D. Hans von Gersdorff, Dresden, geb. 16.2.15 zu Berlin, als deutschblütig im Sinne der deutschen Rassengesetzgebung und die hierzu erlassenen Gesetze mit allen daraus sich ergebenden Rechten und Pflichten zu gelten hat.

Entsprechend informierte das Oberkommando der Wehrmacht das Oberkommando des Heeres am 20. April 1940 über die neue Sachlage:

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Der Führer hat entschieden, dass der Leutnant a.D. Hans von Gersdorff als deutschblütig im Sinne der deutschen Rassengesetzgebung und die hierzu erlassenen Gesetze zu gelten hat.

Der Genannte ist darauf hinzuweisen, dass die Gleichstellung auch für die Nachkommen gilt, soweit nicht etwa bei ihnen ein fremdrassiger Blut-einschlag von anderer Seite hinzukommt; dass der Gleichgestellte und seine Nachkommen berechtigt sind, sich als deutschblütig besonders auch in Fra-gebogen zu bezeichnen.

Angesichts dieser Entscheidung Hitlers äußerte natürlich die zuständige Wehrmachtsabteilung P 2 keinerlei Bedenken mehr gegen die »Deutsch-blütigkeitserklärung«, sodass Gersdorff seinem Wunsch entsprechend zum 1. Mai 1940 als Berufsoffizier mit dem Dienstgrad eines Oberleut-nants dem Artillerieregiment 156 im Wehrkreis IV zugewiesen wurde.

Emil Sommer

In diesen Zusammenhang gehört auch Emil Sommer, der nach dem Besuch des Gymnasiums die Infanterie-Kadettenschule in Budapest, die Korpsoffiziersschule in Hermannstadt, dann den Stabsoffizierskurs in Wien absolvierte. Seit 1889 war er Berufsoffizier

Im Ersten Weltkrieg war er Bataillonskommandeur an der russischen Front und wurde 1915 am Uszokerpass verwundet. Er geriet in russische Gefangenschaft, konnte aber nach einem ersten erfolglosen Versuch aus dem Lager Novo-Nikolajewsk in Sibirien über Finnland in seine Heimat flüchten und wurde danach Oberstleutnant und sofort nach Italien abkommandiert, wo er als Regimentskommandant an der Piave-Offensive im Juni 1918 teilnahm. Im selben Jahr wurde er zum Oberst befördert.

1922 war er Leiter der militärischen Eroberung des Burgenlandes und wurde daraufhin Generalmajor. 1924 wurde er in den Ruhestand versetzt.

Nachdem sein Schwiegersohn 1938 nach dem »Anschluss« Öster-reichs von den Nationalsozialisten im KZ Buchenwald inhaftiert wor-den war, gelang es Emil Sommer, ihn zu befreien, indem er sich für ihn bei Generalfeldmarschall und Oberbefehlshaber des Heeres Walther von Brauchitsch einsetzte, der ihn zur allgemeinen Verwunderung in

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Ehren empfing und ihm die Freilassung des Schwiegersohns versprach. Tatsächlich hielt Walther von Brauchitsch dann sein Versprechen.

Leonhard Schlüter und seine Familie75

Franz Leonhard Schlüter wurde am 2. Oktober 1921 in Rinteln im Weserbergland geboren. Sein Vater, Friedrich Schlüter, hatte als aktiver Offizier bis zum November 1918 dem Kaiser treu gedient, zuletzt als Feldartillerie-Premierleutnant im Stab einer Heeresgruppe.

Der Kriegsausgang hatte die vaterländische Gesinnung von Friedrich Schlüter zwar nicht erschüttern können, aber er hatte seinen sozialen Status eingebüßt, die Uniform ablegen und eine Anstellung suchen müs-sen.

Wichtiger noch als das Aufgeben des Militärdienstes seines Vaters war für Leonhard Schlüters Entwicklung der Umstand, dass seine Mut-ter laut NS-Terminologie »Volljüdin« war. Im Februar 1945 erging gegen die Mutter ein Deportationsbefehl, den Leonhard, assistiert von einem SA-Standartenführer und einem Gestapo-Beamten, in letzter Minute abwenden konnte. Damals war die Schwester von Schlüters Mutter im KZ Theresienstadt inhaftiert, und der Bruder seiner Mutter war schon vor Kriegsbeginn ins KZ Buchenwald abgeführt worden. Wieder auf freien Fuß gesetzt, war der Onkel über Belgien nach Frank-reich emigriert. Die Franzosen hatten ihn in einem Lager an der Mittel-meerküste festgehalten. Später war er von der Gestapo in Belgien ein zweites Mal verhaftet worden.

Auch dieser Onkel von Leonhard Schlüter hatte im Ersten Weltkrieg als Offizier im Feld gestanden und zahlreiche Auszeichnungen erhalten. Er war Mitglied des »Verbandes nationaldeutscher Juden« und hatte – ungeachtet Hitler, Gestapo und Buchenwald – zu Beginn des Zweiten Weltkriegs gesagt: »Was sie auch immer mit uns anstellen mögen, wenn sie mich brauchen, gehe ich noch morgen freiwillig an die Front.«

In diesem Geist wuchs Leonhard Schlüter auf, der sich nichts sehnli-cher wünschte, als kein »Halbjude« zu sein, sondern ein gleichberech-tigter deutscher Patriot.

Zweifellos hatte Leonhard Schlüter nach 1933 darunter gelitten, in der Hitlerjugend nicht mitmarschieren zu dürfen. Die Evangelische Jun-genschaft war kein vollwertiger Ersatz dafür. In der Schule wurden ihm

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aber keine besonders großen Schwierigkeiten in den Weg gelegt. Der Abiturient Schlüter meldete sich freiwillig zu einem halben Jahr Reichs-arbeitsdienst (RAD) und danach, im November 1939, wiederum frei-willig zum Wehrdienst. Grundstellung und Ehrenbezeigungen lernte er im Ersatzbataillon des Infanterieregiments 74, und in den Krieg gegen Frankreich zog er mit dem II. Bataillon I.R. 194, dem zweiten Kriegsba-taillon der Goslarer Jäger. Seine ersten Gefechte gingen um das Magi-not-Panzerwerk 505, um Verdun und Nancy. Am 1. Juni 1940 avan-cierte der Jäger Leonhard Schlüter zum Gefreiten.

Vor Pont St. Vincent wurde er aber durch eine Wurfgranate verwun-det: Durchschuss durch Oberschenkel und linkes Handgelenk, Steck-schuss in der Brust. Sein Kommandeur schlug ihn für das Eiserne Kreuz 2. Klasse, Sturmabzeichen und Verwundetenabzeichen in Schwarz vor und beförderte ihn am 1. Juli 1940 zum Oberjäger (Unteroffizier).

Leonhard Schlüter drängte es aber, Offizier zu werden, und sein Bataillonskommandeur regte denn auch an, ihn zum Kriegsoffiziersbe-werber (KOB) zu ernennen. Mit dem Erfolg, dass die vorgesetzte Dienststelle herausfand, dass Schlüter »Halbjude« war. Das KOB-Vor-haben scheiterte, der Vorschlag des Bataillons, Schlüter zum Feldwebel zu befördern, wurde vom Regiment abgelehnt.

Mehr noch, man machte sich sogar daran, Schlüters Oberjäger-Beför-derung zurückzunehmen. Das schien schon deshalb nötig, weil es »Voll-, Halb- und Vierteljuden« in der Wehrmacht verwehrt war, Vor-gesetzte zu sein, der Unteroffizier-Dienstgrad aber bereits mit der Eigen-schaft eines ständigen Vorgesetzten ausgestattet war.

Die Beförderung wurde jedoch nicht aufgehoben, denn Schlüters Bataillonskommandeur hatte daraufhin gemeldet, er habe sie in Kennt-nis der Tatsache ausgesprochen, dass Schlüter »Halbjude« sei. Doch er konnte nicht verhindern, dass der Oberjäger Schlüter aus der Wehr-macht entlassen wurde.

Ein Jahr später reichte Schlüter ein Gesuch ein, ihn zum Wehrdienst wieder einzuberufen. Schlüter zufolge wurde »das Gesuch sogar Hitler vorgelegt«. Aber der »Führer« wollte auf Schlüters Mitwirkung lieber verzichten. Der Bruder des Generalfeldmarschalls Wilhelm Keitel, General der Infanterie Bodewin Keitel, war es dann, der Schlüter am 24. September 1942 unter der Brieftagebuchnummer 9153/42 Ag P2/3a (4) und dem Aktenzeichen li20 schrieb:

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Betr.: Ihr Gesuch um Wiedereinstellung zum aktiven Wehrdienst. Ihr Antrag auf Wiedereinstellung in den aktiven Wehrdienst ist abgelehnt wor-den. Sie erhalten die Ihnen gehörenden Unterlagen anliegend zurück.

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